Helmut Blepp «Im kalten Advent» – Die Lücke 1/7

Der Morgen ist klirrend kalt, eigentlich zu kalt für Dezember. Max und Wulle treten aus dem Schlafwerk, wo sie für die Nacht eine Unterkunft gefunden hatten. Sie stellen ihre Krägen hoch und vergraben die Hände in den Parka-Taschen. 
„Lausiger Service da drinnen“, sagt Wulle, und Max bestätigt: „Nicht mal der Tee war richtig heiß. So sind die Katholen, sparen an allem.  Aber komm, lass uns zum Bahnhof gehen, ein paar Münzen sammeln für einen starken Kaffee.“ 
„Nein“, widerspricht Wulle. „Ich habe jetzt Bock auf einen Glühwein.“
„Wäre schön, aber ich bin völlig blank. Hast du etwa Geld?“ 
„Nicht wirklich. Aber ich kenne einen auf dem Weihnachtsmarkt, der hoffentlich eine Runde springen lässt.“ 

Auf dem Markt ist noch nicht viel los. Die meisten Händler öffnen jetzt erst ihre Verkaufsstände, legen gerade ihre Waren aus oder machen ihre Kassen einsatzbereit. Hinter dem Tresen des Stands, zu dem Wulle seinen Kumpel führt, steht ein großer Mann mit Walross-Schnauzer und putzt Keramiktassen. 
„Moin, Atze“, grüßt Wulle ihn. „Echt frostig heute, was?“ 
Atze schaut auf, legt die Stirn in Falten und brummt ein „Moin“. 
„Du, Atze, wäre es möglich, dass mein Freund und ich an einem so kalten Tag einen Glühwein spendiert kriegen?“ 
Die Stirnfalten des Angesprochenen vertiefen sich. 
„Wulle“, sagt er verärgert, „du hast mir zwar beim Aufbau der Hütte hier geholfen, aber ich habe dich dafür auch bezahlt. Dass du ab und zu mal einen Glühwein haben kannst, war ausgemacht. Aber ich versorge nicht auch noch deine Kumpels mit.“ 
„Ist klar“, stimmt Wulle devot zu. „Der Max hier ist aber nicht irgendein Kumpel, und ich verspreche dir, wenn der Markt vorbei ist, wird auch er uns beim Abbau und Verpacken helfen. Das macht der gern!“ 
Max nickt bestätigend.
„Sei´s drum“ lässt Atze sich erweichen. „Dann ist das halt meine gute Tat für heute.“ 
Er gießt zwei Portionen dampfenden Glühwein aus einer großen Pumpkanne ein. 
„Aber die Tassen will ich wieder haben, sonst gibt es Ärger!“

In den Markt kommt langsam Leben. Die ersten Besucher schlendern durch die Gänge, eine heiße Wurst oder ein Getränk in der Hand. Aus allen Ecken ertönen Weihnachtslieder. Überall leuchten bunte Sterne auf, Engel aus Kunststoff oder Holz verteilen Segen, Nikoläuse tanzen zu alten Rock-Songs.
Max und Wulle trinken, die Ellbogen auf einen hohen runden Tisch gestützt, langsam ihren Wein. 
„Und was machst du an Heiligabend“, fragt Max. 
Wulle reibt sich nachdenklich über das ausgeprägte Grübchen am Kinn, das unter seinem struppigen Bart versteckt liegt. 
„Eigentlich wollte ich zur Speisung bei der Caritas, aber ich denke, dieses Jahr gehe ich mal in die Vesperkirche. Ich habe gehört, die haben einen neuen Pfarrer, der nicht so ein nerviger Betbruder ist. Außerdem heißt es, dass die dort gut kochen. Und am Schluss kriegt man noch eine Tüte mit Obst und Süßem. Manchmal sind auch ein Paar Strümpfe von den Landfrauen mit drin.“ 
„Klingt gut!“ Max ist beeindruckt. „Ich glaube, da schließe ich mich an.“ 
Er schaut über Wulles Schulter und beobachtet Atze, vor dessen Stand sich bereits eine kleine Schlange gebildet hat. 
„Ist gut im Geschäft, unser Gönner“, stellt er fest. „Kennst du den schon lange?“ 
„Ja“, antwortet Wulle. „Seit Jahren. Wir waren mal Kollegen sozusagen. Damals hatte ich eine Imbiss-Bude.“ 
„Nee, was!“ Max ist erstaunt. „Du und Imbiss! Mann, das wusste ich gar nicht. Und warum hast du den nicht mehr?“ 
Wulle dreht seine Tasse in den Händen, sagt aber nichts und guckt an Max vorbei zu einem Verkaufsstand gegenüber, in dem Aufziehäffchen verkauft werden. Der Verkäufer lässt immer wieder welche über den Tresen hüpfen. Einige Leute, die vorbeikommen, amüsieren sich. 
Max wird die Stille peinlich, deshalb stößt er seinen Freund leicht an der Schulter und sagt: „Du, tut mir leid, die Fragerei! Geht mich ja auch nichts an.“ 
„Schon gut“, beruhigt Wulle ihn. „Ist lange her, fast dreißig Jahre. Ich hatte die Metzgerlehre geschmissen, war auf Zeit beim Bund. Von der Abfindung habe ich mir den Stand gekauft. Dann traf ich Marie, und wir heirateten. Den Imbiss führten wir zusammen. Wir arbeiteten praktisch Tag und Nacht, verdienten auch nicht schlecht dabei. Und meine Frau war ein Engel.“ 
Wulle verstummt wieder und schaut nach drüben zu den Äffchen. Die Leute lachen, aber niemand kauft eins der Spielzeuge.
Max ist jetzt doch richtig neugierig geworden und kann es nicht abwarten, bis sein Freund weitererzählt. „Ja, und dann“, fragt er ungeduldig. 
„Sie wurde schwanger.“ 
„Und? Wolltet ihr denn keine Kinder?“ 
„Sie wurde schwanger von einem anderen.“ 
Max rutscht spontan: „Scheiße“ heraus und, nachdem er tief Luft geholt hat, fragt er: „Weißt du das sicher?“ 
Wulle lächelt freudlos und hebt den Blick. 
„Ich bin zeugungsunfähig. Das wussten wir schon vor der Hochzeit.“ 
Max ist sprachlos. Ganz langsam dreht er sich eine Zigarette, schaut auf das glitzernde Treiben ringsum, auf den von Glühbirnchen erzeugten Sternenschein, die immergrünen Plastiktannen, die kitschigen Himmelsboten mit den vergoldeten Flügeln, deren Münder aus einem aufgedruckten O bestehen und auf ihre leblos starrenden Augen, die über alles und jeden hinwegblicken. Weihnachten, denkt er, das hier kann doch nicht alles sein. Und dann spricht er es aus. 
„Sie war ein Engel, sagst du! So eine geht doch nicht fremd!“ 
„Aber ich bin doch unfruchtbar“, empört sich jetzt Wulle über den Freund. „Kapierst du das nicht? Ich habe das nicht ertragen, dass sie mich hintergangen hat. Ich konnte das nicht. Deshalb musste ich weg.“ 
„Was ist dann aus ihr geworden?“ Max will es jetzt wissen. „Und aus dem Kind?“ 
„Keine Ahnung“, bekennt Wulle mit rauer Kehle. „Sechs Monate habe ich das ausgehalten, habe mich mit Schnaps betäubt, neben ihr und ihrem dicker werdenden Bauch. Dann bin ich abgehauen.“ Völlig aufgelöst, mit Tränen in den Augen, sieht er Max an. „Ich weiß einfach nicht, was aus ihnen geworden ist.“ 
Max ist fassungslos, hat keine Ahnung, wie er mit dieser Situation umgehen soll. Das sich überlappende Weihnachtsgeplärre aus den Lautsprechern, das Geglitzer und Geflitter, diese Stimmung, als gäbe es noch Weihnachten wie früher, all das bietet ihm keinen Ausweg aus dieser Situation. Wulle braucht Trost, aber woher nehmen! 
Max tritt an seine Seite, umarmt ihn unbeholfen, sucht nach Worten. 
„Wenn sie ein Engel war, und ich glaube dir das aufs Wort“, flüstert er ins Ohr des anderen, „vielleicht ist sie dann gar nicht fremdgegangen. Vielleicht war es ein Wunder!“ 
Wulles unkontrolliertes Lachen schreckt die Marktbesucher auf. Eilig gehen sie weiter. 

Heiligabend. Die beheizte Vesperkirche ist mit Tischen und Bänken in einen Speisesaal verwandelt worden. Es riecht schon nach gekochtem Essen, aber noch redet der Pfarrer. Der bärtige junge Mann steht auf der Kanzel und spricht über jene, denen gegeben wird. 
Max hat gedrängt, also sind sie früh losgegangen und haben einen guten Platz erwischt, ziemlich weit vorne in der Nähe des mit Kerzen geschmückten Altars. Voller Genuss trinken sie ihren Eierpunsch, der zur Begrüßung gereicht wurde, und genießen die wohlige Wärme. Später wird von den Helfern Gänsebraten mit Rotkohl und Klößen serviert werden, und am Ausgang steht ein langer Tisch mit den Geschenktüten, zu deren Inhalt auch wieder die Wollerzeugnisse der Landfrauen gehören. 
Wulle hat in den vergangenen Tagen viel nachgedacht. Es hat ihm gutgetan, Max von seiner Vergangenheit zu erzählen. Er schaut den Freund an, der ihm gegenübersitzt, und ist immer noch berührt von dessen Bemerkung mit dem Wunder. Seither lässt ihn diese Idee nicht mehr los. Auch jetzt nicht. Deshalb hört er dem Pfarrer auch nicht wirklich zu und bemerkt gar nicht, dass der jetzt kurz innehält, voller Empathie auf seine Gemeinde herunterblickt und sich nachdenklich über das ausgeprägte Grübchen am Kinn reibt, das unter seinem Bart verborgen ist.

Helmut Blepp, geboren 1959 in Mannheim, bis 2024 selbständiger Berater, lebt in Lampertheim, zahlreiche Veröffentlichungen in deutschsprachigen Zeitschriften und Anthologien, fünf Lyrikbände, zuletzt „Erinnerungen im Kartenhaus“ (Moloko plus, 2025)

Adventsgeschichten 2024

Adventsgeschichten 2023

Adventsgeschichten 2022

Die Illustration von Lea Le ist ein Geschenk von literaturblatt.ch und der Künstlerin als Preis für einen der 7 ausgewählten Texte.

Michael Stavarič «Die Schattenfängerin», Luchterhand

Michael Stavarič erfindet sich mit jedem seiner Bücher neu. Er kennt keine Grenzen. Seine Fähigkeit, sich in beinahe kindliche Welten zu versetzen, seinen Blick auf die Welt von allen Konventionen zu befreien, macht Michael Stavaričs Literatur zu einer echten Tiefenerfahrung. Sein Roman „Die Schattenfängerin“ ist bestes Beispiel dafür.

„Die Schattenfängerin“ erzählt aus der Sicht von Stella, einer Jugendlichen, die zur jungen Frau wird, einem jungen Menschen, die den jugendlichen Blick bewahren, ihre ganz eigene Welt bewahren kann, obwohl es ihr das Schicksal nicht leicht macht. Michael Stavarič macht sich zur Stimme dieser jungen Frau, lässt seiner Erzählfreude freien Lauf, entkrampft und losgelöst. Da schreibt einer, der nicht einfach eine Geschichte wiedergeben will, nacherzählen. Michael Stavarič schöpft Neues, evoziert Bilder, die während des Lesens Fragen stellen, wichtige Fragen. „Die Schattenfängerin“ erzählt von Rätseln und lässt sie stehen, von einem rätselhaften Kind, das sich nach dem Tod seines Vaters auf den Weg macht. Das mag märchenhaft klingen, was bei „Die Schattenfängerin“ auch nicht falsch ist. Und doch bleibt der Roman ganz nah an der Welt.

Michael Stavarič «Die Schattenfängerin», Luchterhand, 2025, 288 Seiten, CHF ca. 33.50, ISBN 978-3-630-87674-0

Stella wohnt mit ihrem Vater in einem Haus weg vom Dorf, auf einem Hügel. An ihr Grundstück grenzt nur dasjenige der Nachbarn, die dann nach Stella schauen, wenn ihr Vater wieder einmal weit weg auf Reisen ist, wenn er sich aufmacht, einmal mehr Zeuge einer Sonnenfinsternis zu werden, weit weg. Ein Umstand, den Stella zu akzeptieren gelernt hat, ohne zu verstehen, warum sie ihren Vater auf diesen Reisen nicht begleiten darf. Die Beziehung zwischem ihm und Stella, zwischen Vater und Tochter, ist eine beinah symbiotische. Stella geht nicht zur Schule, wird von ihrem Vater unterrichtet. Er zeigt ihr seine Welt, erklärt der immer hungrigen Stella all die Geheimnisse, die sich im Grossen und Kleinen auftun, wenn man bereit ist, hinzuschauen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Stella Pflanzenlexika, Anatomiebücher und juristische Werke wie einen Schatz hortet, Bücher aus der grossen Bibliothek ihres Vaters. Das Haus am Hügel ist das Tor zur Welt.

Doch eines Morgens wacht ihr Vater nicht mehr auf. Stella muss akzeptieren, dass ihr Vater eine Reise angetreten hat, von der er nicht zurückkommt. Stella ist fünfzehn, als es geschieht. Und nur weil Stella es schon immer gewohnt ist, auf eigenen Füssen zu stehen und ihr die Nachbarn auch in dieser Zeit fürs erste an ihrer Seite sind, darf sie bleiben, zwingen sie die Ämter nicht dazu, das Haus des Vaters verlassen zu müssen. Auf sich selbst gestellt, finanziell von ihrem Vater abgesichert, macht sich Stella auf, jenen Teil ihres Lebens zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb. Der in vielen Kisten auf dem Dachboden ihres Hauses lagert. Hin zu ihrer Mutter, die seit vielen Jahren in einer Klinik vegetiert, von der ihr ihr Vater fast nichts erzählte, die in ihrem Leben kaum eine Rolle spielt. In ein Leben, das sich auch ausserhalb ihrer kleinen Welt abspielen muss. Auf den Friedhof, wo das Grab ihres Vaters ist, wo sie sich mit Kurti, dem Totengräber anfreundet und zur jüngsten Totengräberin des Landes wird. Und auf diese eine, erste, grosse Reise zur nächsten Sonnenfinsternis, jener Reise, zu der ihr Vater sie nie mitnehmen wollte, von der sie ahnt, das mehr zu fangen ist, als der lange Schatten der Sonne.

Es ist die Art des Erzählens, die fasziniert. Michael Stavarič scheint einer der wenigen Erwachsenen zu sein, die in sich den kindlichen Blick bewahren konnten, die unverbaute Sicht auf die Welt. Seine Art des Beschreibens erinnert an den Blick eines Autisten, der alles in sich aufnimmt, nicht filtern will und kann. Es gibt Stellen in diesem Buch, in denen sich Sinneseindrücke förmlich über mich ergiessen. Beschreibungen, die mir bewusst machen, wie gezielt, wie kausalisiert, wie ordnend mein Blick ist.

Ein wundersames Stück Literatur!

„Romane, wie sie Michael Stavarič schreibt, schreibt gegenwärtig sonst niemand.“ Frankfurter Rundschau

Interview

Der Buchmarkt ist voll mit Literatur, die sich mit Müttern und Vätern abmüht, Abrechnungen, Prozesse, Befreiungen, Konfrontationen… Dein Buch ist eine gegenseitige Liebeserklärung zwischen Tochter und Vater, auch wenn Schatten im Leben des Vaters geblieben sind. Gleichzeitig ist es ein Statement dafür, den eigenen Weg, den eigenen Blick zu finden, ohne Rücksicht auf Konventionen. Ein grosses Stück Michael Stavarič!?
Besser vielleicht: Ein weiteres Stück von Michael Stavarič auf seinem literarischen Weg. Selbstverständlich ist die Literatur voller Beziehungen und Befindlichkeiten, schließlich ist das der Faktor „Mensch“. Autor*innen schreiben über Dinge, von denen sie hoffen, dass sie bei Lesenden nicht auf taube Ohren stoßen; Vater-Tochter-Mutter-Sohn –  es ist ein absolutes Grundmotiv in nahezu jedem Buch. Ich habe in der „Schattenfängerin“ versucht, ein positives Bild einer Beziehung zu zeigen (was eigentlich so gar nicht meiner literarischen Tradition entspricht), vor allem auch deshalb, weil ich dieses Buch nicht nur für Erwachsene, sondern auch Jugendliche schrieb. Zumindest schwebte mir vor, dass es auch Jugendliche lesen können sollten – und dementsprechend habe ich meine übliche Konzeption etwas geändert. Ich dachte auch, in diesen Zeiten brauchen wir alle eine positive Heldin. Und einen ungewöhnlichen Twist.

Dein Roman spielt in der Gegenwart, auch wenn die Welt von Stella entrückt scheint. Stella wächst auf in einer Welt, in der Neugier den Puls ausmacht. Stella betäubt sich nicht, ihr Vater lässt sich und seine Tochter nicht betäuben – das Gegenteil von dem, was in vielen Familien geschieht. Alles an deinem Schreiben ist ein Statement für die Neugier, kindliche, unregulierte Neugier. Schreiben als Spur deiner eigenen Neugier?
Weltoffenheit entgegen allen Widerständen, so könnte ich es für mich zusammenfassen. Die Neugier ist dabei ein unerlässlicher Motivationsfaktor, sich auf die Welt einzulassen, sich in ihr zu orientieren, die hellen und dunklen Momente zu erkennen. Und sich vielleicht selbst aktiv entscheiden, auf welcher Seite man stehen mag. Außerdem ist die Welt nicht einfach nur unsere Erde, hierzu zähle ich auch das Sonnensystem, ja den ganzen Kosmos. Und die Sonne ist nicht zuletzt auch der Angelpunkt in diesem Roman. Ich erkenne für mich immer mehr, dass es beim eigenen Schreiben auch darum geht, die Lücken zu füllen, die man selbst aufweist. Das Schreiben macht mich kompletter, wissbegieriger und neugieriger. Vermutlich eine Erfahrung, die ich auch an meine Protagonisten weitergeben möchte.

Und doch ist Stellas Familie alles andere als ein harmonisches Gefüge. Stellas Vater taucht für seine Reisen immer wieder einmal für Wochen ab und Stellas Mutter vergetiert in einer Klinik, von ihrem Mann aufgegeben, von der Medizin parkiert. Viele Schatten in deiner Geschichte. Schatten, denen Stella zu begegnen versucht. Du räumst nicht auf in deinem Roman. „Aufräumen“ scheint ein weit verbreitetes Erzählprinzip zu sein. Ein Konterroman?
In einem Leben (egal wer es lebt) geht es nun mal nicht ohne Zäsuren, Tragödien, Bewährungsproben etc. ab; Identitätsstiftung ist anders nicht zu haben, denn nur so können Persönlichkeiten entstehen. Oder ich bleibe in diesem Fall lieber dabei: Heldinnen. Ich verstehe ein „Nicht-Aufräumen“ als erzählerische Qualität, es scheint mir näher am Leben zu sein. Vieles lässt sich auch gar nicht schlüssig begründen, analysieren und zu Ende erzählen (und erklären!). Insofern ist es wohl ein Konterroman, weil die übliche Haltung wohl wäre: Ich erzähle alles zu Ende – und auch gleich mit, was der/die Leserin davon zu halten hat. Das machen viele Romane unserer Zeit. Aber ihnen fehlt dann (aus meiner Sicht) der Zauber …

Manchmal erinnert mich das Personal in deinem Roman an ein Theaterstück; Ein Kind an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, eine Peter-Pan-Figur, der Totengräber Kurti, der Bürgermeister, der besorgte und mahnende Pfarrer… Wie hast du dich durch deine Ideen geschrieben? War da ein Plan oder sind die Personen während des Schreibens aufgetaucht? 
Da hast du absolut recht. Theaterstück/Filmdrehbuch, etwas dazwischen. Ich habe es wirklich auch selbst so aufgefasst, insofern war ich die ganze Zeit über damit beschäftigt (beim Schreiben), Stella mit einer imaginären Kamera zu folgen. Oder wie ein Dramaturg/Regisseur die Handlung mit „Zurufen“ zu steuern. Alle prägenden Figuren in ihrer Kindheit sind Männer, insofern waren diese von Anfang an bewusst so konzipiert. Stella versucht sich nicht zuletzt auch im Umgang mit dem männlichen Prinzip.

Du hat deine Lust auf Fussnoten ausgelebt. Darin finden sich immer wieder Listen, Aufzählungen, Assoziationen. Texte, die mich mit einem Sternchen aus dem Lesefluss ziehen, die das Buch zwinkern lassen, die etwas von Stellas Lebensfreude, ihrem Blick auf die Welt zeigen. Wie kam es zu diesen literarischen Kringeln?
Du weißt ja, meine Romane sind oft von formalen Fragen geprägt, um nicht wieder mal zu sagen, Form vor Inhalt. In der Schattenfängerin habe ich mich aufs Erzählen konzentriert, wobei das Buch ja für jüngeres Publikum lesbar bleiben musste. Die Fußnoten sind gewissermaßen ein „formales Augenzwinkern“, wo ich diesen Hang zum Experimentellen kurz ausleben durfte. Minimal, aber doch. Schließlich würde wohl niemand in einem solchen Buch Fußnoten erwarten? 

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, darunter: Adelbert-Chamisso-Preis und Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Roman «Das Phantom».

Mehr von und über Michael Stavarič auf literaurblatt.ch

Beitragsbild © Yves Noir

Eva Schmidt «Neben Fremden», Jung und Jung

Was bleibt von einem Leben? War es das, was man sich erhoffte? Welcher Rest davon ist geblieben? Eva Schmidt ist eine Autorin der kleinen Gesten. Umso eindringlicher ist die Geschichte von Rosa, die sich am Schluss ihres Lebens, das ganz dem Helfen gewidmet war, vor einem Scherbenhaufen sieht.

Vielleicht ist es genau das, was ich so sehr an den Büchern dieser Autorin mag; das Unspektakuläre. Eva Schmidt erzählt keine wilden Geschichten, sondern das Leben, oder zumindest das, was davon übriggeblieben ist. Ihre Romane schäumen nicht über und sind schon gar nicht plottorientiert. Es ist, als würde Eva Schmidt ein Buch lang eine Tür öffnen, um mich an femdem Leben teilhaben zu lassen, ganz nah, ganz direkt, ungeschönt und unverklärt. Für mich fremdes Leben, für die Autorin ganz vertrautes Leben. Nicht weil ich Autobiographisches vermuten würde, sondern weil ich der Autorin, seit sie schreibt, ein hohes Mass an Empathie zuschreibe.

„Neben Fremden“ ist nicht nur Titel, sondern Programm dieses Romans. Wir leben immer enger beieinander. „Dichtestress“ ist zu einem Schlagwort geworden. Gleichzeitig steigt die Vereinsamung, die Anonymität und die Wahrscheinlichkeit, dass man unbemerkt tot in seiner Wohnung vergessen geht, weil alle Verbindungen gekappt sind. Ich kenne meine Nachbarn nicht einmal mit Namen. Und wenn man sich mit ihnen beschäftigt, dann nur, wenn es zu laut ist oder der Geruch von Zigarettenrauch durch die gekippten Fenster schleicht. Und was man Jahrhunderte lang als die Idealform des Zusammenlebens propagierte, was die Politik nur zu gern als kleinste Zelle einer funktionierenden Gesellschaft propagiert, die Familie, wird immer mehr zerrieben zwischen idealisiertem Wunschtraum und vermintem Krisengebiet.

Eva Schmidt «Neben Fremden», Jung und Jung, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-426-2

Rosa war Krankenpflegerin. Jetzt ist sie pensioniert. Der Mann, mit dem sie ein Stück Leben teilte, mit einer anderen verheiratet und erst kürzlich gestorben. Von ihrem Sohn hat sie schon ein halbes Leben ausser ein paar wenigen Ansichtskarten, nichts mehr gehört. Und ihr alter Hund wird es auch nicht mehr lange machen. Ihre Mutter ist schwierig, voller ungestillter Erwartungen, muss ins Altenheim, weil es im Haus nicht mehr funktioniert. Mit ihrer einzigen Freundin, wenn sie denn wirklich ihre Freundin ist, trifft sie sich nicht wirklich gerne und in der Nachbarwohnung unter ihr fliegen die Fetzen. Die einzige, mit der sie sich wirklich versteht, ist die Tochter dieser Nachbarn. Eine Jugendliche, die ganz ähnlich einsam und abgeschlagen zu sein scheint wie sie. Eine, die manchmal bei ihr in der Küche sitzt , eine Omlette von ihr isst und erzählt.

Aber seit dem Tod jenes Mannes, ihres Ex, steht ein Camper vor ihrem Haus. Er hatte ihn ihr gekauft. Ohne sie zu fragen. Rosa sieht in dem Wohnmobil eine Chance, eine Tür, aus ihrem festgefahrenen Leben auszubrechen, etwas zu wagen, all die Zwänge, Verstrickungen und Verwachsungen hinter sich zu lassen, wenn auch nur eine Reise lang. Sie packt ihre Sachen und fährt zur Probe zusammen mit ihrem immer kränklicher werdenden Hund in die Berge, auf einen stillen Campingplatz. Dort lernt sie eine Holländerin kennen, die sich an sie hängt, mit ihrem Hund Unn und einem bettlägerigen Mann im Camper. Eine Frau, für die Rosa einmal mehr zum Strohhalm wird. Bis die Holländerin eines Morgens mit ihrem Camper verschwunden ist. Aber Unn bleibt an Rosas Camper angebunden.

Rosas Leben ist wie eingeschweisst. So sehr sie sich bemüht, Fenster und Türen aufzureissen, so sehr wird sie von Umständen zurückgebunden. Aber Rosa bewahrt sich das letzte Stück Kraft. Jenes ganz eigene, das ihr niemand nehmen kann. Hoffnung. Hoffnung, dass auch sie es dereinst sein wird, der sich ein kleines Stück Glück auftut. Hoffnung, dass sie ihren Sohn zurückgewinnen kann, wenn auch nur die Gewissheit, dass es ihm gut geht. Eva Schmidts Roman ist derart zärtlich geschrieben, dass ich nach der Lektüre mir selbst Zeit geben musste. Eva Schmidt erzählt wahrhaftig, ganz in der Realität und feinem Gespür für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.

Eva Schmidt debütierte 1985 mit Erzählungen («Ein Vergleich mit dem Leben», Residenz Verlag), der erste Roman folgte erst zwölf Jahre später unter dem Titel «Zwischen der Zeit» (1997). Nach einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren erschienen die beiden gefeierten Romane «Ein langes Jahr» (2016) und «Die untalentierte Lügnerin» (2019), mit beiden war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt veröffentlichte sie einen Band mit Prosastücken («Sonne in einem leeren Zimmer», Golden Luft Verlag) und Erzählungen unter dem Titel «Die Welt gegenüber» (2021).

Beitragsbild © Klaudia Longo

Martina Clavadetscher «Die Schrecken der anderen», C. H. Beck

Martina Clavadetscher ist eine jener Autor*innen, die sich thematisch mit jedem Buch neu erfindet. In ihrem neusten Roman brennt sie ein Loch in die Gegenwart. Ein Loch in die Tiefen des Verdrängten, ein Loch in den Mief unter Oberflächen, ein Loch in die Selbstverständlichkeit.

Im Vorsatz des Romans steht ein Zitat des literarischen Grossmeisters helvetischer Literatur Friedrich Dürrenmatt: Die Welt ist grösser als ein Dorf: über den Wäldern stehen die Sterne. Nicht nur ein Zitat, sondern ein Patenspruch. Martina Clavadetschers Roman hat viel von Dürrenmatt’scher Dynamik. Man kann den Roman als einen clever konstruierten Kriminalroman lesen, wird doch schon auf den ersten Seiten ein Toter im Eis gefunden und ein schrulliger Beamter, den man für eine erste Beurteilung schnell an den Ort des Geschehens, mitten im zugefrorenen Ödwilersee, ordert, sitzt sonst in den Katakomben seines Polizeiarchivs.
Man kann den Roman aber auch als Psychogramm einer im Untergrund schwelenden Gesinnung lesen, einer Mannschaft, der Geld und Macht Recht zu geben scheint, die fest daran glaubt, dass die Zukunft mit dem Totengeld der Vergangenheit zu kaufen ist. Oder als kümmerlichen Befreiungsversuch eines in Traditionen und Generationen gefangenen Schwächlings und seiner kontrollsüchtigen greisen Mutter, die den Schatz aus einer unrühmlichen Vergangenheit ins Trockene bringen will, um jeden Preis.

Martina Clavadetscher «Die Schrecken der anderen», C. H. Beck, 2026, 333 Seiten, CHF 34.00, ISBN 978-3-406-83698-5

Martina Clavadetscher baut nicht nur auf mehreren Ebenen eine Geschichte, sie inszeniert. Vielleicht spürt man hier die Theaterfrau, die genau weiss, wann es den Blick auf die Totale braucht und wann den Fokus auf Details. Schibig, den man aufs Eis des Ödwilersees schickt, nimmt die Spur auf, obwohl es in der Folge gar nicht seine Aufgabe wäre und die Polizei den Fall mit genügsamen Erklärungen vorschnell ad acta legt. Schibig verbeisst sich. Vielleicht auch wegen der Alten auf dem Campingplatz am Ufer, die ziemlich schnell klar macht, dass sie viel mehr weiss, als sie mit Bemerkungen preis gibt, dass da etwas schon lange auf kleiner Flamme kocht und ein ganz persönlicher Rachefeldzug Genugtuung will. Schibig und die Alte werden zu einem Duo, jeder vom andern gleichermassen angezogen wie verunsichert, beide sicher, dass unter dem Eis noch viel mehr verborgen ist als bloss ein einziger Toter.

Wenn Verbrechen wie hierzulande seit Jahrhunderten ununterbrochen und in Zeitlupe begangen werden, wenn der grosse Akt des Bösen sich in unzähligen kleinen, zögerlichen, ja geradezu nichtig erscheinenden Momenten vollzieht, dann wird die Menschheit getrost dabei zuschauen, ohne dahinter Schlimmes zu vermuten, ohne es zu sehen, was tatsächlich geschieht – es geschieht zwar vor aller Augen, aber niemand erkennt es als das, was es wirklich ist. Eine barbarische List.

Nicht weit vom Ödwilersee wohnt Kern mit seiner Frau Hanna. Kern ist Sohn eines Industriellen, der während des Weltkriegs mit Verbindungen zu den Nationalsozialisten zu Reichtum und Beziehungen gekommen war. Ein Imperium, das vom Glanz vergangener Zeiten lebt und das zu sterben droht, weil es Kern nicht gelingen will, seine Frau Hanna mit einem Stammhalter zu bestücken. Die Ehe ist längst erkaltet. Hanna sucht sich das Glück ausserhalb. Und über allem thront die Mutter Kerns. Über allem ganz wörtlich, denn sie haust in ihrem Zimmer unter dem Dach der Villa, greise und krank, betreut von immer und immer wieder wechseldem Pflegepersonal, weil die alte Frau nicht nur ein Drachen im Haus ist, sondern Wächterin über einen schlummernden Vulkan, der dereinst seine heisse Glut über dem ganzen Land ausspeien soll, um eine neue Ordnung zu erzwingen.

Dulden ist die scheinheiligste Form von Verbrechen.

Dass der Reichtum unseres Landes, die Konten unserer Banken noch immer mit dem Geld jener gefüllt sind, die während der Herrschaft Hitlers mit dem Leben bezahlen mussten, ist längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem wird es allzu leicht vergessen. Schon allein mit der Tatsache, dass antisemitisches und nationalistisches Gedankengut kein Unding mehr zu sein scheint und die Krise im Nahen Osten Tür und Tor öffnet, um lange Moderndes in die Atmosphäre zu speien. Während und nach dem Tausendjährigen Reich und dem Schrecken eines Weltkrieges wurde unsäglich viel Reichtum in die Schweiz verschoben oder auf Konten, die einen ganz anderen Zweck signalisierten. Nicht nur, um Finanzkraft in Sicherheit zu bringen, sondern um all jenen eine Zukunft zu ermöglichen, die mit dem Ende des Naziregimes gezwungen waren unterzutauchen – oder noch viel schlimmer; darauf hofften, irgendwann wie Phönix aus der Asche zu steigen.

Martina Clavadetschers Roman „Die Schrecken der andern“ tarnt sich als Krimi, ist aber viel mehr. Nicht zuletzt eine scharf gezeichnete (manchmal wohl auch bewusst überzeichnete) Anlayse einer Welt unter der Postkartenidylle. Wir wissen, dass der Drache lauert, und dass kein Kissen reicht, um das Böse zu ersticken.

Martina Clavadetscher geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert und zu den Autorentheatertagen Berlin 2020 eingeladen. Für ihren Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» wurde sie 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Sie lebt in der Schweiz.

mehr über und von Martina Clavadetscher auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ingo Höhn

Sophia Klink «Kurilensee», Frankfurter Verlagsanstalt

Auch die letzten noch intakten Gegenden unseres Planeten drohen im Sog wirtschaftlicher Interessen zu kippen. Am „Ende der Welt“ forscht eine kleine Gruppe, ob mit dem Einsatz künstlicher Stoffe den Veränderungen von Klimawandel und Wirtschaftinteressen entgegnet werden kann. Der Debütroman von Sophia Klink ist ein Sprachkunstwerk – für einmal etwas, das der Welt nur gut tun kann!

Der Kurilensee, ein riesiger Kratersee, 77 km2 gross, liegt ganz im Süden der dünn besiedelten Halbinsel Kamtschatka, auf russischem Staatsgebiet, aber 6773 Kilometer von der Hauptstadt Moskau entfernt. Wenn es also einen Ort gibt, der weit ab vom Schuss ist, und normalerweise nur mit Helikopter erreichbar, dann der Kurilensse, an dem eine Forschungsstation liegt, in der eine kleine internationale Crew sich mit den Auswirkungen des Klimawandels beschäftigt, vor allem darum, weil der See wirtschaftlich eine grosse Bedeutung für die Lachsfischerei hat, einem Wirtschaftszweig, der mehr und mehr in Bedrängnis kommt, weil natürliche Lachspopulationen rückgängig sind, der Überfischung ausgesetzt und die Tiere empfindlichst gestresst auf die Einwirkungen des Menschen reagieren. Ein kleiner, von einem Zaun gegen Bären geschützer Ort, an dem die Protagonistin Anna das drohende Ungleichgewicht zwischen Lachsen und Phytoplankton, zum Beispiel Kieselalgen, untersucht, Lachsfische vor der Laichablage zählt und Teil einer Equipe von Wissenschaftler*innen und Rangern ist. Zur Gruppe gehört Vowa, ein Ranger, der jeden Bären an seinem Fell zu kennen scheint, mit dem Anna schon im sechsten Jahr den Sommer über in der Forschungsstation lebt. 

Anna und Vowa sind ein Paar, was für die anderen in der Station längst kein Geheimnis mehr ist. So wie wenig ein Geheimnis bleibt an einem Ort, von dem man ohne Gewehr, Boot oder Hubschrauber kaum weiter weg kommt. Jeder in der Station hat seine fixe Aufgabe und als Ganzes hat man in diesem Sommer die Aufgabe, wissenschaftliche Grundlagen dafür zu schaffen, ob man mit einer Phosphatdüngung das aus dem Gleichgewicht kippende Ökosystems des Lachssees aufhalten kann, oder ob der Einsatz von 5 Tonnen künstlicher Düngung nicht der Anfang vom Ende ist, ein nicht wieder gut zu machender Eingriff mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen. Die Crew auf der Station ist nicht nur auf den Lebensmittel- und Materialnachschub per Helikopter angewiesen, sondern auch auf die finanziellen Mittel derer, die daran interessiert sind, dass wirtschaftliche Interessen wissenschaftlich abgestützt sind.

Wir könnten einfach alle Daten auflisten und ganz ehrlich eingestehen, dass wir keine Ahnung haben, was das Beste für den Kurilskoye ist.

Sophia Klink «Kurilensee», FVA, 2025, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-627-00330-2

Anna ist nicht nur fasziniert von der Artenvielfalt in und um den See, sie ist auch erfüllt von ihrer Arbeit, sieht in den Kleinstlebewesen im See nicht nur einen Forschungsgegenstand, sondern eine Spiegelung der Natur, ihrer Schönheit, ihrer Vollendung als Teil der Evolution. Aber so wie das ökologische Gleichgewicht dieses Sees weitab von der Zivilisation bedroht ist, so bedroht ist die Station selbst. Nicht nur weil jeder Winter an den Bauten nagt, Bären sich immer wieder einmal an den Einrichtungen zu schaffen machen und auch den Bewohnern bedrohlich nahe kommen können, sondern weil man der Station auch ganz leicht über die Finanzen die Nabelschnur zur Zivilisation kappen kann. Eine permanente Ungewissheit, die zusammen mit der zu treffenden Entscheidung wegen der Düngung mehr und mehr zu einer Belastung wird. Trifft man die richtigen Entscheidungen? Wohin führt Annas Weg? Wohin soll es gehen mit Anna und Vowa? Als Anna spürt, dass auch ihre Gesundheit Kapriolen schlägt, weitet sie ihre Untersuchung aus auf den eigenen Körper, misst die Temperatur. Ist sie schwanger, obwohl die beiden mit Gummi verhüten?

Werfe nie einen gestressten Fisch zurück ins Wasser, sagt Vowa.

Alles an diesem menschenfeindlich scheinenden Ort schreit nach einer Entscheidung, bevor die Crew die Station im September für den Winter wieder verlassen wird. Was an Sophia Klinks Debüt fasziniert, ist aber weit mehr als die Geschichte und die Psychologie unter Wisschenschaftler*innen und Rangern. Sophia Klink hängt die Spannung auch an keinen Showdown, kein Psychodrama auf der Forschungsanlage. Absolut faszinierend ist der Blick der Autorin auf die Natur, ihr Tun, auf die Zusammenhänge, die mir als Leser über weite Strecken verborgen bleiben. Sophia Klink ist nicht einfach Schriftstellerin, die sich mit sorgfältiger Recherchearbeit das nötige Wissen holte, um einen „Ökoroman“ zu schreiben. Sophia Klink ist promovierte Biologin und erzählt von ihren eigenen Erfahrungen in einer Sprache, die ihre Liebe, ihre Faszination und ihre Ehrfurcht vor der Natur und ihren Zusammenhängen widerspiegelt. Und weil Sophia Klink „nebenbei“ auch noch preisgekrönte Lyrikerin ist, wird ihre Sprache zu einem magischen Instrument, schillernd, ohne abgehoben zu wirken, schön wie Kieselalgen selbst.

„Kurilensse“ ist ein Roman wie der grosse, weite See selbst; tief und voller Zauber!

Interview

Was für ein Roman! Ich bin hell begeistert! Habe das Gefühl, einem Unikat begegnet zu sein. Ein Unikat darum, weil sie in ihrer ganz eigenen Sprache ihrem Stoff begegnen, aus Sicht einer Wissenschaftlerin literarisch schreiben. Was sie wissenschaftlich vermitteln, bleibt selbst für Laien wie mich verständlich. Gekoppelt mit ihrer Begeisterung in ihrer Sicht auf die Schönheit der Natur und ihrem sprachlichen Können werden aus ganzen Abschnitten literarische „Nahaufnahmen“, Stilleben ganz eigener Art. Wissenschaftliches Schreiben klingt sonst so ganz anders, eine eigene, analytische Sprache. Inwieweit half ihnen bei der Findung einer eigenen Sprache ihr lyrisches Gespür?

Das war ein längerer Prozess über viele Texte hinweg. Ich schreibe ja seit Jahren literarisch über Natur und Wissenschaft und habe viel herumexperimentiert, welche sprachliche Form zu welchem Inhalt passt. Dem Klang nachzuspüren, ist mir dabei sehr wichtig. In der naturwissenschaftlichen Sprache liegt schon an sich so viel poetisches Potential. Es erzeugt aber auch eine Reibung, die ich ästhetisch spannend finde. Diesen Kontrast herauszuarbeiten, hat mich in diesem Roman besonders interessiert. Als ich angefangen habe zu schreiben, hat sich die Sprache dann schönerweise wie von selbst eingestellt. Da musste ich gar nicht mehr lange suchen. Die Sprache stellte sich einfach ein.

Wie leicht wäre es gewesen, die Story dramatisch aufzublasen; noch mehr Countdown in die Handlung, eine dramatische Liebesgeschichte oder ein fatales Psychospiel in einer abgelegenen Forschungsstation. Aber darum ging es ihnen nicht. Es ging ihnen nicht einmal darum, einen „Ökoroman“ zu schreiben, auch wenn es doch einer ist. Aus ihrem ganzen Roman spricht der Respekt, die Ehrfurcht und die Sorge um eine Welt, die durch die Eingriffe des Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Die Liebe zu ihrer Arbeit, sowohl als Biologin, als Wissenschaftlerin wie auch als Sprachgestalterin, als Künstlerin. Was stand zu Beginn ihres Schreibens an diesem Roman? Waren es Verarbeitungen eines eigenen Forschungseinsatzes? Und wie weit mussten sie sich als Wissenschaftlerin zügeln?

Inspiriert haben mich auf jeden Fall meine eigenen Forschungserlebnisse. Im Masterstudium bin ich auf einer meeresbiologischen Station im nordwestlichen Russland gewesen und wusste schon damals, dass ich über diesen Ort schreiben muss. Mich hat beim Schreiben eine Sehnsucht angetrieben und die Trauer darüber, dass es diese unberührte Wildnis irgendwann nicht mehr geben wird. Dass ich auf den Kurilensee gestossen bin, war ein Glücksfall. Dadurch konnte ich viel übertragen, ohne meine eigenen Erinnerungen überschreiben zu müssen. Und natürlich war ich neugierig auf dieses andere Ökosystem, das mir gleichzeitig fremd und bekannt vorkam. Zügeln musste ich mich als Wissenschaftlerin dabei gar nicht so sehr. Es gibt so viele Details über Kieselalgen, Lachse und den menschlichen Körper, die ich liebend gerne im Roman angesprochen hätte. Aber natürlich versuche ich beim Recherchieren jenen Informationen nachzuspüren, die sich mit den Gefühlen meiner Protagonistin Anna verknüpfen lassen. Für mich sind es doch zwei sehr unterschiedliche Modi, Informationen für ein Paper konzise darzustellen oder sie auf eine Emotion hin zu befragen. Allein aus Fakten lässt sich keine Geschichte entwickeln. Zellen und Moleküle müssen auch erst mal so beschrieben werden, dass man sie sich vorstellen kann. Das geht in vielen Fällen einfach nicht auf. Ich freue mich eher, wie viele Proteine, Wasserstoffbrückenbindungen und Dinoflagellaten es am Ende doch in den Roman geschafft haben.

Man kann den Kurilensee sehr gut auch als Metapher für das globale Gleichgewicht sehen. Ist Literatur so etwas wie die verbliebene Hoffnung angesichts der im düster werdenden Prognosen?

Ich hoffe schon, dass Literatur einen kleinen Anstoss geben kann. Wo sollen wir anfangen, eine bessere Welt zu imaginieren, wenn nicht in der Sprache? Ich verstehe die Literatur als Mittel, immer wieder unsere Perspektive zu verschieben und uns emotional für andere Lebenswirklichkeiten zu öffnen. Auch mal den Blick auf winzige Kieselalgen und unsichtbare Stoffwechselprozesse zu richten, die wir sonst nicht wahrnehmen. Ich finde, dass Literatur da nachhaltig unseren Blick auf die Welt verändern kann. Geschichten haben eben eine ganz andere Kraft als Zahlen. Und sie können trösten, wenn die Prognosen immer düsterer werden.

Ich habe mir im Netz Bilder und Illustrationen von Kieselalgen angesehen und bin restlos fasziniert, sei es von ihrer Geometrie, ihrer Körperlichkeit, sei es von ihrer Aufgabe, ihrem Dasein. Es ist der faszinierte Blick in die Kleinheit, der auf das Grosse überschlägt. Ihre Begeisterung, die in ihren Beschreibungen lesbar wird, ist pure Verzückung. Auf der andern Seite der Schmerz darüber, dass Profitgier und kurzfristiges Denken so viel Zerstörung mit sich ziehen. Sie moralisieren in ihrem Roman nicht. Anna hat die Hoffnung nicht verloren. „Kurilensee“ ist auch eine Liebesgeschichte. Eine ganz zarte. Auch eine Liebesgeschichte an die Natur, ihre Arbeit als Wissenschaftlerin, an die Sprache. Wo holen sie den Dünger, um ihre Hoffnung nicht sterben zu sehen?

Vielleicht ist die Wissenschaft auch hier ein wichtiger Anker für mich. Wenn ich mich mit Kieselalgen, Pilzen und Bakterien beschäftige, verliert die winzige Gruppe der Trockennasenprimaten ganz schnell an Bedeutung. Mir diese Dimensionen immer wieder vorzustellen, was wir alles nicht verstehen oder kontrollieren können, daraus ziehe ich persönlich viel Zuversicht. Dass es Lebensformen gibt, die unsere Zerstörungswut überdauern werden. Der Ohnmacht zu verfallen, hilft auch einfach nicht. Anna entscheidet sich schliesslich auch dafür, an das Schöne zu glauben und in eine neue Generation zu investieren, der man diese Liebe mitgeben muss, um die Zukunft besser zu machen.

Nicht vor den Bären oder dunklen Nächten habe ich Angst, sondern vor den Menschen, die glauben, alles unter Kontrolle zu haben, schreiben sie in „Kurilensee“. Das gilt überall, auch in der Politik, denken wir nur an all die Männer, die der Überzeugung sind, ihre Macht mit Kriegen demonstrieren zu müssen. Hat nicht die Spezies Mensch versagt, weil sie den Profit über die Empathie stellt? Sie moralisieren nicht, zumindest spüre ich das nicht. Wie sehr mussten sie sich davor hüten?

Mir ist wichtig, dass die Moral meiner Texte subtil mitschwingt. Meine Kritik an Überfischung, Geldgier und blindem Anthropozentrismus wird hoffentlich auch so deutlich. Es hat sich richtig angefühlt, gerade die Ambivalenzen in der Schwebe zu halten und auch zu zeigen, wie Anna letztendlich bei der Manipulation des Sees dabei ist. Bis zum Schluss weisss sie eben nicht, was richtig oder falsch ist. Aber sie will sich nicht ihrer Verantwortung entziehen, sondern sich der ganzen Tragweite ihres Verhaltens bewusst sein und genau hinsehen.

Lyrik vom Feinsten: Sophia Klink «Ich lösche die Kirschen aus meinen Genen», hochroth Verlag, 2025, 54 Seiten, ISBN 978-3-949850-62-2

Sophia Klink, geb. 1993 in München, hat Biologie studiert und promoviert zurzeit über die Symbiose zwischen Bakterien und Pflanzen. Sie wurde mit dem Literaturstipendium München und dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim Literarischen März ausgezeichnet und mit Stipendien des British Council und der Stiftung Kunst und Natur gefördert. Sie war Finalistin beim open mike, Aufenthaltsstipendiatin der Roger Willemsen Stiftung, des Adalbert Stifter Vereins und der Villa Sarkia in Finnland. Im Frühjahr 2025 erschien ihr Lyrikdebüt bei hochroth München. Durch einen Forschungsaufenthalt am Weissen Meer in Russland zu ihrem Roman »Kurilensee« inspiriert, stand sie mit einem Auszug daraus auf der Shortlist des W.-G.-Sebald-Preises. 

Beitragsbild © Heike Bogenberger

Ein kleines Jubiläum: Das 70. analoge Literaturblatt ist auf dem Weg zu den Abonnent*innen

„Vielen Dank für das wunderbare Literaturblatt. Man liest es wie einen handgeschriebenen Brief, langsam und bedächtig. Man versucht, die schöne Schrift zu entziffern, um zu erfahren, was Gallus zu unserem Buch sagt. Und schon sind wir wieder Leser.“ Romain Buffat

«Danke, hast du deine Worte zu meinem Buch nun auch noch mit Kugelschreiber aufgeschrieben, mit anderen Worten zu anderen Texten zusammengebracht und lässt darauf einen Baum wachsen. Ich habe mich sehr gefreut, als ich das Blatt in meinem Briefkasten fand.» Agnes Siegenthaler

„Schon lange wollte ich mich bedanken für das wunderschön und liebevoll gestaltete Literaturblatt, das du uns hast zukommen lassen. Was für eine gute Idee, der Literaturkritik eine künstlerische Form zu geben. Und mit grossem Interesse habe ich natürlich dein spannendes Interview mit Romain Buffat gelesen. Danke für dein riesiges Engagement fürs Sichtbarmachen der Literatur.“ Adrian Künzi

«Wir freuen uns sehr, dass „So nah, so hell“ Teil des analogen Literaturblatts ist – einzigartig, persönlich und mit spürbarer Hingabe gemacht. Ein echtes Sammlerstück!» A. Kunz, Zytglogge

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Seit Januar 2022 ist das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar und seit April 2025 die Schweizerische Nationalbibliothek prominente Abonnenten des Literaturblatts!

Leon Engler «Botanik des Wahnsinns», DuMont

Manchmal erbt man „Dinge“, die man nicht verweigern kann. Von Generation zu Generation. Und wenn es nur die Angst davor ist, Opfer zu werden von etwas, was sich in der Abfolge der Generationen wie eine genetische Unverückbarkeit festgesetzt hat. Leon Engler erzählt in seinem Romandebüt von einen jungen Mann und seiner Angst, verrückt werden zu müssen.

Als seine Mutter stirbt, bleiben sieben Kartons in einem Lagerabteil in Wien. Die falschen Kartons, denn alles, womit man die Schulden seiner Mutter noch hätte begleichen können, wanderte in die Müllverbrennung. Übrig blieben sieben Kartons mit Dingen, die seine Mutter aussortiert hatte; alte Rechnungen, Steuererklärungen, ungeöffnete Briefe, Müll. Als er seine Mutter zum letzten Mal in der Wohnung besuchte, bevor sie nach der Zwangsräumung in die Klinik kam, war die Mutter nicht nur aus ihrer Wohnung, sondern auch aus ihrem Leben ausgezogen. Einem Leben, das nie zur Ruhe gekommen war, einem Leben mit wenigen Höhen und einer langen Kette von Tiefen. Schon die Mutter seiner Mutter war wie Wasser, ständig in Bewegung, ständig den Zustand wechselnd. Bipolar, zwölf Suizidversuche. Der Vater depressiv und dem Alkohol verfallen, schon lange von seiner Frau getrennt, war schon lange nicht mehr der Fels, der er hätte sein wollen und müssen.

Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit.

Dass er als Junge in ein Internat kam, war eine Befreiung. Und das Studium in den Staaten ein einzig grosser Versuch, um sich aus den festgeschriebenen Mechanismen einer zum Wahnsinn verurteilten Familie zu befreien. Er studiert Psychologie. Nicht zuletzt darum, um eben jene Mechanismen zu verstehen, seine Angst vor dem Wahnsinn zu zähmen. Bis er als Arzt zurückkehrt, in der Psychiatrie arbeitet, dort, wie man alle nach Diagnosen sortiert, um sich selber von seiner Angst zu heilen. Ich leide unter Agateophobie, der Angst, verrückt zu werden.
Was bei der Mutter zu einer Selbstverständlichkeit wurde, war es schon bei der Grossmutter. Sie schluckte Pillen mit sedierender, hypnotischer und narkotischer Wirkung wie Bonbons. Zwölf Mal verkündete sie ihren Glauben, dass es sich nicht lohne zu leben. Immer wieder verschwand die Grossmutter in der Psychiatrie. Ein Muster, dass sich in seiner Mutter fortsetzte.

Leon Engler «Botanik des Wahnsinns», DuMont, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-7558-0053-8

Er studierte, schloss das Studium ab, von dem er überzeugt war, dass es ihn zu nichts qualifizierte. Er beginnt eine Stelle in der Psychatrie, wird mehr hineingestossen, als dass er die Aufgaben in Angriff genommen hätte – und er liest. Er liest viel. Weil das Lesen das einzige ist, das ihn vor dem Verrücktwerden zu schützen scheint. Lesen, um nicht nachzudenken. Er schickt sich in den riesigen Apparat einer Klinik, von Abteilung zu Abteilung „weiterbefördert“, immer unsicher darüber, auf welcher Seite er wirklich steht. Wir versuchen hier, schreckliches Elend in ganz normales Unglück zu verwandeln.

Entweder passen wir den Patienten der Therapie an. Oder wir passen unsere Theorie an den Patienten an.

Was ist normal? Wer ist normal? Warum gibt es so vieles, dass nie dieser Norm entspricht? Warum fallen jene, die dieser Norm nicht entsprechen durch alle Netze, die sich eine Gesellschaft zum täglichen Überleben eingerichtet hat? Warum hat unsere Gesellschaft keinen Platz für jene Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen? „Botanik des Wahnsinns“ hat nichts, gar nichts von einer Abrechnung. Es ist auch kein Hadern mit der Geschichte, der Herkunft, der Familie. Der Roman ist in aller Offenbarung und Ehrlichkeit eine Liebeserklärung, ein liebvoller Erklärungs- und Ordnungsversuch. Da erzählt jemand, der sich beinahe schämt, übergelaufen zu sein. Der Roman ist aber auch eine stille und gleichermassen subtile Kritik am Umgang mit den „Verrückten“ in den dazu eingerichteten Institutionen, ohne damit pampig oder besserwisserisch zu klingen. Neben der Liebeserklärung an seine Familie, den Bildern, die mit so viel Respekt geschrieben sind, ist es auch eine Liebeserklärung an all die Gestrandeten, die Gesellschaft die «Kranken» nennt.

Das schreibt einer, der die Menschen ernst nimmt, erst recht jene, die durch die Maschen fallen. Ein Buch, in dem ich Sätze lese, die hängen bleiben, die sich tief eingraben. Ein Buch, das zu verstehen hilft!

Leon Engler wuchs in München auf und studierte Theater-, Film-, Medien-, Kulturwissenschaft und Psychologie in Wien, Paris und Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten und wurde 2022 mit dem 3sat-Preis beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet. Er ist tätig als Autor, Psychologe und Dozent für Psychologie und Literarisches Schreiben. «Botanik des Wahnsinns» ist sein Debütroman.

Beitragsbild © Niklas Berg

Katinka Ruffieux «Zu wenig vom Guten», Arche

Eine Familiengeschichte? Eine Exilgeschichte? Ein Roman über Nähe und Distanz? Über Verlust und die Suche nach Identität? Katinka Ruffieux erzählt in ihrem literarischen Debüt kunstvoll und gekonnt, mit jener Portion Witz, die das Schwere leicht macht und mit Sätzen, die man festhalten will.

Manchmal beseelt einem die Lektüre so sehr mit Feinheiten, dass man das Buch nur in kleinen Schlucken geniessen will. Was mir dann doch nicht gelingt, weil, wie der Erstling von Katinka Ruffieux beweist, hier eine Autorin erzählt, die nicht nur sprachlich glänzt, sondern auch in ihrer Erzählstrategie. „Zu wenig vom Guten“ ist mit einer derartigen Reife geschrieben, dass man erstaunt ist, einer literarischen Debütantin zu begegnen, denn Katinka Ruffieux erzählt mit grosser Souveränität. In ihrem Erzählton steckt jene unverkrampfte Leichtigkeit, die man in helvetischer Literatur nur selten trifft, jene Portion Schalk und Humor, die das Lesen leicht macht und nicht zuletzt ein ordentlicher Schuss Lebensweisheit, den man wohl erst dann erreicht, wenn man selbst in den Tiefen der eigenen Existenz den Erfahrungen die richtigen Fragen stellt.

Katinka Ruffieux erzählt von einer Familie, die in der Folge des Ungarnaufstands ihr Land verlassen hatte, um wie viele andere Familien ihr Glück in der Schweiz zu suchen. Ich selbst erinnere mich gut an eine Nachbarsfamilie im Quartier meiner Kindheit, bei der zuhause noch immer Ungarisch gesprochen wurde und die Besuche bei meinem Schulkameraden zu Expeditionen in eine andere Kultur wurden. Nicht nur roch es in jener Wohnung anders als bei mir zuhause. Der Vater jenes Jungen war ein hagerer, grosser Mann mit Schuhgrösse 48, dessen riesige Hände die meinigen bei der Begrüssung zu Puppenhänden machten. Ein Mann der immer freundlich und immer leise sprach, als ob er in der Luft um ihn herum nicht zu grosse Wellen machen wollte.

Unsere Familie gleicht einem Hühnerstall. Wer wen hacken darf, steht fest. Trotzdem lassen alle Federn.

Katinka Rufieux «Zu wenig vom Guten», Arche, 2025, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03790-161-8

Genauso die Familie in „Zu wenig vom Guten“. Man wohnt zu fünft in einer winzigen Wohnung in der grössten Stadt der Schweiz, versucht um jeden Preis nichts falsch zu machen und tut alles, um den Traditionen und stillen Gesetzen des neuen Zuhauses zu genügen. Mutter, Vater, zwei Töchter und der Grossvater, den man regelrecht entwurzeln musste. Weil der Platz in der Wohnung gering ist und man die freien Stellen lieber mit den Errungenschaften des Westens auffüllt, leben die beiden Töchter zusammen mit dem Grossvater in einem Zimmer unter dem strengen Diktat der Mutter, mit einem Vater, der lieber durch Abwesenheit glänzt und einem Grossvater, der ganz unverblümt die Enge in der Wohnung mit In diesem Haus wird man kein echter Mensch, hier wird man bloss verrückt! kommentiert. Ein Grossvater, der im Reduit seiner kleinen Familie von dem träumt, was er zurücklassen musste und mit dem hadert, womit er sich in seinem Exil konfrontiert sieht. Kommentare, die die Mutter stoisch erträgt, die Töchter aber meist wörtlich nehmen, was die Stimmung in der Wohnung alles andere als entlastet.

Auch zwischen den Schwestern herrscht keine Verschwesterung, ganz im Gegenteil. Die Erzählerin versucht die Wogen in der Familie zu glätten, sieht sich im Gefüge als jene, die für das Gute zuständig ist und doch immer das Gefühl mit sich herumträgt, nicht zu genügen, letztlich verantwortlich zu sein für all das, was der Familie widerfährt. 

Schon zu Beginn des Romans wird von der Asche der Schwester erzählt und dass nicht einmal diese sich den Wünschen der Familie beugt. Der Roman beginnt mit einem Verlust. Ein Thema, das sich durch das ganze Buch zieht; der Verlust der Heimat, der Identität. Der Verlust des Vaters, der irgendwann aus der Enge auszieht und ein anderes Leben beginnt, eine neue Familie gründet. Der Verlust des Grossvaters, jener Person, die auf alles eine Antwort hatte, der für die Erzählerin trotz der räumlichen Enge der Fels in der Brandung war. Und der Verlust der Schwester, die immer tiefer in ihrer Revolte gegen alles und jeden abrutschte, die sie aus dem Drogensumpf zu retten versuchte, die ihr Leben aber unrettbar gegen eine Wand fuhr.

„Zu wenig vom Guten“ ist eine literarische Perle. Wie schade wäre es, man würde sie zwischen all den bunten Kieseln nicht sehen!

Interview

Ein grosses Thema ihres Romans ist Verlust. Die Familie verliert ihre Heimat – Ungarn. Sie verliert den Vater, der sich das Glück mit einer neuen Familie sucht, den Grossvater, der im Exil stirbt und die Schwester. Verluste, die das Leben der Erzählerin prägen und doch nicht zerreiben. In ihrem Roman spürt man den Schmerz, aber ebenso die Kraft, die daraus entsteht. Obwohl sich alles um diese Verluste dreht und andere daran zerbrechen würden, bewahrt sich die Erzählerin jenen Mut, den es braucht, um nicht zu zerbrechen. Wie gelang es Ihnen, diesen Ton zu finden? Ist er Ihnen gegeben oder war es ein Prozess des Findens?
Eine glaubhafte Stimme für diesen Roman zu finden, war entscheidend. Schreibt man aus der Perspektive einer Jugendlichen, wirkt das Geschriebene schnell aufgesetzt, schlimmstenfalls anmassend. Da kommt man um das Suchen und Finden nicht herum. Als die richtige Tonalität jedoch gefunden war, ging mir der «Sound» des Buches nicht mehr aus dem Kopf und das Schreiben leicht von der Hand. 

Neben der Suche nach der eigenen Identität ist Ihr Roman auch ein Spiegel dessen, was in den 80ern in der Schweiz geschah; Jugendunruhen, Spiessbürgertum, Drogenszene Zürich, Einbürgerung… Und trotzdem spiegelt sich das sozialpolitische Geschehen ganz in den Protagonisten. Es schwingt unterschwellig derart viel mit, dass ich als Leser manchmal das Gefühl hatte, mehrere Bücher miteinander zu lesen. Leser*innen in meinem und Ihrem Alter fühlen sich gespiegelt, erinnert – und junge Leser*innen wundern sich über die Abgründe hinter den Fassaden. War das Absicht?
Absicht würde ich es nicht nennen. Als Autorin möchte ich möglichst viele Menschen erreichen und dafür treffe ich gewisse Entscheide. «Zu wenig vom Guten» ist im Grunde eine ziemlich traurige Geschichte, die ich mit einer grossen Leichtigkeit erzählen wollte. Aber einen solchen Entscheid trifft man instinktiv und nicht absichtlich. Ein tieftrauriges Buch hätte mich wohl selbst beelendet. Dass das Buch auch generationenübergreifend zu funktionieren scheint, freut mich besonders.

Sie beschreiben einen Kosmos, jenen der Familie. Einen ganz eigenen Kosmos, weil die Familie, aus Ungarn stammend, alles tut, um der „Schweiz“ zu genügen. Eine aus dem Ausland stammende Familie, die alles, aber wirklich alles tut, um sich zu integrieren. Das Idealbild gewisser Kreise auch heute. Integration bis zur Selbstverleugnung. Ein Prozess, der aber auch im Leben eines jungen Menschen passiert, dann, wenn man während der Pubertät unbedingt zu eine Piergruppe „dazugehören“ will, wenn man ein Teil von etwas Grösseren sein will. Ein Prozess, der die beiden Schwestern spaltet. Die Erzählerin will sie retten, scheitert aber. Ihre Schilderungen scheinen keine Innenansichten, sondern Aussenansichten zu sein, versöhnt distanziert. Viele Bücher, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen, triefen vor Selbstergriffenheit. Liegt das an Ihrer „Reife“?
Um diese Geschichte zu erzählen, musste ich so alt werden, wie ich heute bin. Ich nehme vieles entspannter, fühle mich freier in meinem Denken aber auch sonst. Für distanziert halte ich die Erzählerin nicht. Aber sie weiss sich zu schützen und hält es für gut, dass alle irgendwann vergessen werden «dürfen». Eine Ansicht, die ich mit ihr teile.

Eine Familie mit Grossvater. Ich mag diesen Grossvater sehr, zumal ich selber Grossvater bin. Aber im Gegensatz zu mir, ist der Grossvater in Ihrem Roman einer aus der immer seltener werdenden Sorte „Grossfamiliengrossvater“, obwohl die Familie selbst, trotz falscher Onkel und Tanten, klein ist. Man lebt eng zusammen, hat eine fixe Rolle, ist Teil des Lebens, nimmt gegenseitig Einfluss. Dieser Grossvater nimmt auch kein Blatt vor den Mund, etwas, was ich mir nicht leisten kann. Etwas, das nur funktioniert, wenn man Teil eines Zusammenlebens ist. Trotzdem zerfällt diese Familie. Ist dieser Roman auch ein Stück „Sehnsuchtsbewältigung“?
Ich mag den Grossvater selbst gut leiden, kenne ihn jedoch kaum. Aus Neugier wollte ich ihn mit besonderer Sorgfalt zeichnen. Der Roman soll keine Sehnsüchte bewältigen, aber es stimmt schon: Familien müssten immer gross und bunt und laut sein! Dass die einzelnen Familienmitglieder dieselbe Herkunft haben, ist dazu nicht nötig. Aber wenn da ein toller Grossvater wäre, der sich engagiert, dann wäre er ein Gewinn für die Familie und jedes Enkelkinds.

Schwestern. Jede mit ihrer Rolle. Jede im festsitzenden Glauben, diese Rolle spielen zu müssen. Für beide gibt es keinen Ausweg. Die eine verschreibt sich der Rebellion, die andere der Anpassung. Ein Motiv, das bis in die Märchenwelt greift. Ist das Schreiben ein Versuch, der eigenen Rolle zu entfliehen?
Nein, das glaube ich nicht. Ich unternehme als Autorin keine Fluchtversuche, vielmehr wende ich mich den Dingen hin, bin eine aufmerksame Beobachterin für alles, was um mich herum geschah und noch geschieht. Auch das ist meiner Neugier geschuldet. Ich halte fast alles für interessant.

Katinka Ruffieux wurde 1968 in der Schweiz geboren und wuchs in einer ungarischen Familie auf. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Zürich. 2019 gewann sie mit ihrer Kurzgeschichte »Streuner« den Wettbewerb des Literaturhauses Zürich. Es folgten das Wanderbuch »Auf den Spuren der Literatur« und das SRF-Hörspiel »Kalter Kaffee«. 2023 war sie Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens am Literaturhaus München, wo sie an ihrem Romandebüt »Zu wenig vom Guten« arbeitete.

Katinka Ruffiex liest und diskutiert im Rahmen von «Die Nacht der Debüts» in Frauenfeld in Theaterwerkstatt Gleis 5 am 26. September

Beitragsbild © privat

mit Evelina Jecker Lambreva und «Mein Name ist Marcello», Braumüller

Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.

Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4

Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.

Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.

Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

(bis ca. 21 Uhr), Eintritt inkl. Konsumation 35 CHF, zwingend Anmeldungen bis 10. August unter info@literaturblatt.ch oder 076 448 36 69 (Platzzahl beschränkt!)

Interview

„In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil?
Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens?
Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.

Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva

In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft?
Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.

Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee?
Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.

Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva

In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft?
Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)

Beitragsbild © Alexander Jecker

Waseem Hussain & Sascha Reichstein «Habitus», editionR

Ein ganz spezieller Auftritt zweier Künstler*innen, die mit ihrer Kunst nicht nur innere Bilder erzeugen und Fragen stellen wollen. Zusammen mit der Künsterin Sascha Reichstein schuf Waseem Hussain ein überaus sinnliches Buch über innere und äussere Landschaften, über die Frage, was den Menschen ausmacht, wie weit Abbild und Tatsächliches übereinstimmen. „Habitus“ ist viel mehr als ein Buch.

Da haben sich zwei etwas ganz Besonderes vorgenommen. Kaum etwas an diesem Buch entspricht der Norm. Schon in seiner äusseren Erscheinung, seiner Grösse, seinem reduzierten Einband und der Tatsache, dass man die Namen der beiden Künster*innen nur auf dem Buchrücken lesen kann – das Resultat einer ausserordentlichen Zusammenarbeit. Schweres Papier, Fadenheftung, mehrheitlich doppelseitige Fotografien in bestechender Qualität, überaus sorgfältig gesetzt, in schönster Schrift, wie geschaffen, um offen auf einem Tisch oder Stehpult liegenzubleiben, als Einladung, seine Wirkung als Gesamtkunstwerk zu entfalten, als ginge es nicht nur in der Geschichte, in den Fotografien, im Zusammenspiel zwischen Bild und Text um den „Habitus“, ein Erscheinungsbild, sondern auch um das Erscheinungsbild des Buches, des Gesamtkunstwerks an sich.

Ein Buch als Statement! Hier manifestiert sich Wort und Bild in einem Buch als Monument, kompromislos, gradlinig und in Vollendung präsentiert. Fotografien und Text verschrenken sich ineinander, spielen miteinander, reiben und ergänzen, ohne jemals erklären zu wollen. Das „Habitus“ weder als Roman noch als Erzählung betitelt ist, verweist auf die Einzigartigkeit dieses Kunstwerks. „Habitus“ ist weder erläuterter Bildband noch illustrierte Erzählung. „Habitus“ ist in seinem Habitus alles, ein Kunstwerk, das sich mehrfach spiegelt. 

Waseem Hussain & Sascha Reichstein «Habitus», editionR, 2025, mit einem Essay von Silvia Henke, 144 Seiten, davon ca. 90 Seiten Farbabbildungen, CHF ca. 47.00, ISBN: 978-3-9526200-0-7

Damit sich mutige Leser*innen aber doch nicht ganz und gar alleine mit Interpretation, Spekulation und sich aufdrängenden Fragen auseinandersetzen müssen, ist dem Buch ein Essay der Kulturwissenschaftlerin Silvia Henke mit dem Titel „Phantasmen und Herkunft“ beigefügt, in dem die Publizistin versucht, Text und Bild in Zusammenhang zu bringen, mögliche Schlüssel zu Bild und Text offerierend, nicht weil Text und Bild das brauchen würden, sondern weil hinter Bild und Text auch die Entstehung dieses Buches Schlüsse und Schlüssel liefert.

Und weil ich den Autor seit vielen Jahren kenne und mir viel daran liegt, dass diesem speziellen Buch auch eine spezielle Buchbesprechung folgt, stelle ich einige Fragen ganz direkt an den Autor Waseem Hussain.

Wer eine Geschichte über Herkunft schreibt, letztlich beschäftigt sich ein Grossteil der erzählenden Literatur mit Fragen der Herkunft, könnte ja einfach eine Geschichte erzählen und ein Buch daraus machen. Ganz offensichtlich war die Intention zu „Habitus“ aber eine andere. Wann und wie wurde dir klar, aus Text und Bild ein Buch werden zu lassen, das fast alle Massstäbe sprengt?

Als ich die Manuskriptblätter nebeneinander auf dem Tisch liegen sah, hatte ich einen Januar des Schreibens im Delirium hinter mir. Ich mochte den Abschluss nicht wahrhaben und zog ruhelos durch die Winterkälte. Eines Tages kehrte ich zurück mit diesem grossen Traum: mein Text Seite an Seite mit Kunst, das Buch erstklassig gestaltet und hochwertig hergestellt. Ich wusste, dass seine Verwirklichung es ermöglichen würde, über ein Trauma zu sprechen, das viele Menschen kennen.

Das Trauma, nicht als der wahrgenommen zu werden, der man ist, der man glaubt zu sein, falsch verstanden zu werden. Den Schlüssel seiner Herkunft, seiner Heimat, seiner Familie nie zu finden, dieses zerstörerische Gefühl, ausgeschlossen zu bleiben. Sascha Reichsteins Fotografien sind Nahaufnahmen kristalliner Oberflächen, ihre graphische Arbeiten, die sich manchmal mit den Fotografien überschneiden, Annäherungen, Interpretationen dieser Oberflächen. Khemjis Reise ins Land seiner Herkunft, deine Erzählung ist ebenso Annäherung und die Konfrontation mit Interpretation. Oberflächlich eine Traumreise, die zusammen mit den Bildern zu einer Mehrfachspiegelung wird. Warum sind Fragen nach Herkunft, Heimat, Zugehörigkeit so wichtig?

Ich antworte mit einer Philosophie aus dem Süden Afrikas: Ich bin, weil du bist. Verweigere einem Menschen Herkunft, Heimat oder Zugehörigkeit und er wird sich unvollständig, haltlos, löchrig fühlen. Diese traumatische Erfahrung wird sich in seinem Empfinden, Denken und Handeln widerspiegeln. Die Fragen, nach denen du dich erkundigst, sind also nicht nur politisch oder kulturell. Sie sind existenziell.

Erzählst du ein bisschen von der Zusammenarbeit mit Sascha Reichstein, treffen doch zwei ziemlich verschiedene „Sprachen“ aufeinander, die ganz unterschiedliche Bilder erzeugen. Was stand von Beginn weg fest? Wo lagen die Knackpunkte einer derart aufwändigen Arbeit?

Sascha hat einen aussergewöhnlich genauen Blick für das Einzelne im Ganzen und für dieses im Kleinsten, und sie bezieht das Räumliche und das Akustische immer mit ein. Ich schickte ihr meine Erzählung, wir trafen uns in Zürich. Am Ende eines Abendessens und langen Gesprächs waren wir uns einig, dass wir dieses Buch machen wollten. Gerade weil wir ergänzende Sprache sprechen. Wir waren nie versucht, einander Ratschläge zu geben, Änderungen zu fordern, Erwartungen zu stellen. Es ist dem handwerklichen Geschick von Hanna Williamson-Koller, unserer Buchgestalterin, zu verdanken, dass durch die Verbindung unserer Werke eine neue, eigenständige Spannung entstanden ist und gleichzeitig mein Text und Saschas Bilder ihre eigene Spannung behalten haben.

Stein, Gesteinsschichten, Ablagerungen, kristalline Formationen sind Momentaufnahmen der Erdgeschichte, eingelagerte Zeit, nicht weit weg von dem, was wir an Schichten, Versteinerungen, Ablagerungen mit uns herumtragen. Nicht nur das, was wir selbst erlebten, auch all das, was in unseren genetischen Erinnerungen festgeschrieben ist, über Generationen. Soll man sich lösen wollen, oder ist nicht viel entscheidender das Bewusstsein dessen?

Jeder Versuch, diese Schichtungen abzustreifen, ohne sie sichtbar und fühlbar zu machen, ohne ihnen Ausdruck zu geben, führt dazu, dass sie in unserer Beziehung zu uns selbst und zu unserer Umwelt wirken. Manchmal als Geisterspuk.
 

Waseem Hussain ist Schriftsteller, Essayist und Songwriter. Er wurde 1966 in der pakistanischen Hafenstadt Karachi geboren und wuchs in Kilchberg am Zürichsee auf. In jungen Jahren kuratierte er Kunstausstellungen, organisierte Kulturveranstaltungen und war Mitglied der Independent Regional Experts Group der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Als Journalist berichtete er für die Schweizer Presse aus Südasien und wurde für seine investigativen Recherchen mit dem Prix Mass-Médias der Fondation Christophe Eckenstein ausgezeichnet. Er lebt in der Nähe von Zürich.

Sascha Reichstein ist Künstlerin, Gestalterin und Dozentin. Sie wurde 1971 in Zürich geboren und lebt und arbeitet in Wien. Im Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit stehen die Auseinandersetzung mit kulturellen Verschiebungen sowie das Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung. Reichsteins Werke gehen von regionalen westlichen Kontexten aus, die sich durch Übertragungen, Übersetzungen oder Verflechtungen in den Rest der Welt ausdehnen. Ihre künstlerischen Medien umfassen Fotografie, Video und Installation und werden international in diversen Kontexten und Institutionen gezeigt.

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Beitragsbild © Franziska Willimann