Urs Faes erzählt in „Sommerschatten“ von einem Paar, einer Liebe. Durch einen Unfall sieht er nicht nur das bedroht, was zwischen ihnen war, auch sein Selbstverständnis, das er mit einem Mal kippen sieht. „Sommerschatten“ ist mit derart viel Wärme erzählt, das mich die Sprache umarmt!
Der Erzähler hat sich eine Auszeit in einem kleinen Rebhäuschen im Schwarzwald genommen. Auf dem Weg mit dem Auto dorthin erreicht ihn ein Anruf, Ina, seine Liebe, sei beim Freitauchen lebensbedrohlich verunfallt, sie werde ins künstliche Koma versetzt und niemand könne voraussagen, wie sich der Zustand der Patientin entwickeln werde. Er fährt in die Klinik, darf Ina aber nicht besuchen, muss sich gedulden, weil sie Ruhe brauche. Mit einem Mal ist alles anders. Ausgerechnet sie, die die Aktive, die Fordernde, die Bewegte, die Unruhige in ihrer Liebe war, ausgerechnet sie liegt intubiert auf dem Rücken zur inneren und äusseren Bewegungslosigkeit verdammt. Ausgerechnet zwischen ihnen, denen Sprache, Sätze oder nur ein einzelnes Wort viel mehr waren als blosser Austausch, ist mit einem Mal die gläserne Glocke des Schweigens überstülpt.
„Sommerschatten“ ist der Roman einer Findung, einer Zurechtfindung, einer Sprachfindung für ein Paar, dem man die Stimme genommen hat, beide auf ihre Art zu verstummen drohen, sie durch den Unfall, das künstliche Koma, er durch die Angst, dass es nie mehr so werden würde, wie es einmal war. Und er, weil er sein Gegenüber verliert, ihre Nähe, ihren Blick, die Berührungen, das, was durch ihr Cellospiel, ihr Tanzen, ihren Bewegungsdrang, ihre Freude, ihre Liebe mehr und mehr den Mittelpunkt seines Lebens ausmachte, eines Lebens, das niemals das geworden wäre, hätte er sie damals nicht kennengelernt.
Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43224-2
Freitauchen oder Apnoetauchen. Ina liebt den Sport. Diesen ganz stillen Weg in die Tiefe oder in die Distanz, in die zeitliche Distanz, dorthin, wo die Zeit aufhört, über die Grenzen des Schmerzes hinaus. Ina ging es nicht bloss um Rekorde, um ein Limit. Ina liebte dieses ganz eigene Eintauchen in ihr Leben, die Stille, das Ausloten, diesen Schmerz, der auf der anderen Seite der Grenze zu Euphorie, zu einem Rausch wird. Sie wusste um das Risiko. Aber sie brauchte diese Portion Risiko, um sich ihrer Lebensfreude zu versichern, um das Auftauchen zu einem Akt des Erwachens zu machen, einem Erwachen drohender Routine.
Bis zu diesem einen Tag, als man sie aus dem Wasser holte, als die Rettung gerufen werden musste, als jene letzte Grenze für einen Moment zu lange überschritten wurde und es drohte, kein Auftauchen mehr zu geben. Bis Ina aus dem Leben gerissen wurde und sich der Erzähler mit dem grossen Schweigen konfrontiert.
„Sommerschatten“ ist mehr als eine Geschichte. Wäre es Urs Faes um die „gute Geschichte“ gegangen, hätte man der Story mit Leichtigkeit mehr Pepp beifügen können. Aber Urs Faes geht es, wenn überhaupt um Dramatik, dann um die innere. Urs Faes schreibt ganz nah am Seelenzustand des Erzählers. Und doch weder in einer Nabelschau noch in einem lyrischen Erguss an Seelenbefindlichkeiten. Obwohl der Roman eine stark lyrische Komponente hat, ist es der sprachliche Pinselstrich des Autors, der mich bei der Lektüre berauscht und beeindrukt. Seine ganz eigene Kunst des sprachlichen Freitauchens, manchmal bis an die Schmerzgrenze, wenn Urs Faes formuliert, als gäbe es nur seine Sprache, wenn Klang und Rhythmus das Erzählen bestimmen. In einem Interview erzählt Urs Faes, dass er mehr als ein Dutzend Mal seinen Roman überschreibt, als würde er immer und immer wieder seinen Melodien zuhören, bis jeder Ton sitzt, jeder Rhythmus stimmt. In „Sommerschatten“ malt der Autor, spielt ein ganzes Orchester. Wer sich auf seine Sprache einlässt, wird reich beschenkt. „Sommerschatten“ macht glücklich, legt sich wie eine warme Decke um meine Schultern, ist genau das, was es in einer Zeit braucht, in der uns die Superreichen erklären, dass die Welt mit Empathie nicht zu retten sei.
Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.
Ein kleiner, verschlammter Lieferwagen wird aus dem Wasser gezogen. Das Auto, mit dem der Vater zuletzt gefahren war. Das Auto am Tor zu seinem Verschwinden. Romain Buffat erzählt eine Reise in ein unbekanntes Land, in jenes eines verschwundenen Lebens. Kunstvoll und poetisch.
Mehr als zehn Jahre hat es gedauert, bis sich Jérôme aufmacht, seine Koordinaten zu ordnen, Versöhnung mit einem Vater zu suchen, der sich aus dem Staub machte, als er zu jung war, um es einfach hinzunehmen. Jérôme macht sich in einer wochenlangen Reise quer durch die Staaten auf die Suche nach einem Sound, einem Lebensgefühl, dem Lebensgefühl seines verschwundenen Vaters, der ein Leben lang einen Traum mit sich herumtrug. Jérôme fährt kleine mit der Bahn von Chicago nach San Francisco mit der Absicht unterwegs in Denver ein Konzert von Bruce Springsteen zu besuchen. Nicht weil es seine Musik wäre, aber jene mit der das Leben seines Vaters durchsetzt war.
Als sie noch eine Familie waren, Vater, Mutter, seine Schwester, gab es kleine Reisen, Ausflüge im klapprigen Auto seines Vaters. Autofahrten mit dem Sound von Bruce Springsteen, einem Lebensgefühl, dass der Vater aus seiner eigenen Jugend wie eine geschlossene Kapsel mit sich herumtrug, einen Einschluss, der in der Bedrohlichkeit seiner Gegenwart zu einem gleichsam Dauerschmerz und Dauertrost war.
Jérômes Vater war Drucker, lebte während Jahren mit der Angst, in Zeiten grosser Veränderungen im Druckereiwesen seine Arbeit zu verlieren. Ein Alp, der sich wie ein lang wirkendes Gift auf Ehe und Familie auswirkte, den Vater nicht nur seinem Sohn entfremdete, auch die Ehe zwischen den Eltern zersetzte. Erst schien sein Vater zu einem Monster zu werden, später wurde er zu einem im stiller werdenden Fremdkörper, bis zu seinem inszenierten Verschwinden.
Jede Reise hat einen Kern, den man sucht und unablässig umkreist. Hat man ihn dann gefunden, wird alles völlig offen und nicht voraussehbar.
Romain Buffat «Grande-Fin», Die Brotsuppe, 2025, aus dem Französischen von Yves Raeber, 204 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-03867-102-2
Jérôme weiss, dass er sich nur von diesem Alp befreien kann, wenn er sich seinem Vater gegenüberstellt. Nicht unbedingt physisch, aber in seine Erinnerungen, seinem Denken. Jérôme rollt mit dem Zug durch jenes Land, dass für seinen Vater Sehnsuchtsort, Traumland war. Ein Lebensgefühl, das so gar nichts zu tun hatte mit der Enge seines eingepferchten Daseines eines bedrohten Ernährers. Ein Leben, in dem die Musik von Bruce Springsteen alles repräsentierte, was das Leben zwischen Druckerei und Familie zerquetschte. Aus dem es keinen Ausweg zu geben schien, erst recht nicht nach der Kündigung und drohender Arbeitslosigkeit.
Im Handschuhfach im Auto seines Vaters lag damals eine Musikkassette mit Springsteens Album „Nebraska“. Eine Aufnahme, die Jérôme später digitalisierte, mit dem Rauschen der Vergangenheit. Er nimmt sie mit auf seine Reise, eine Musik, die er immer und immer wieder hört, als spüre er darin den verlorenen Atem seines Vaters. Er ist nicht die Hoffnung, ihm irgendwann über den Weg zu laufen, ihn zu finden. Aber Jérôme schreibt, um jene Ordnung zu gewinnen, die man ihm schon als Kind nie schenken konnte. So weit weg er sich von seinem Dorf Grande-Fin entfernt, je näher kommt er seinem eignen Kern. Der Versuch einer Versöhnung mit einem Vater, der sich schon lange vor seinem Verschwinden von seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern entfernt hatte. Eine Versöhnung, die erst möglich wird, wenn man sich mit sich selbst versöhnt hat.
Interview
Vaterbücher gibt es zuhauf. Es ist, als müsse sich jede Generation immer und immer wieder mit jenen Männern auseinandersetzen, von denen man ins Leben „gestossen“ wurde. Erfrischend wird eine literarische Auseinandersetzung dann, wenn sie sich möglichst weit von allen Klischees entfernt. Erstaunlicherweise ist Ihr Buch auch eine Liebeserklärung, die Hinwendung des Erzählers an seinen Vater, mit dem er auch hätte abrechnen können. Zeichnete sich diese „Schreibrichtung“ schon von Beginn weg ab?
Ich war mir der Klischees bewusst, die Väterbücher enthalten, und das ist ein Topos, den ich bereits in Schumacher angesprochen habe. Jedes Mal versuche ich, Erzählweisen zu finden, um die Klischees zu umgehen. In Grande-Fin entschärfe ich die Erwartungen der Leserinnen und Leser schon auf den ersten Seiten, indem ich zeige, dass die Suche nach dem Vater nicht so sehr im Zentrum des Textes stehen wird. Von da an lautet die Frage nicht mehr so sehr: Wird Jérôme seinen Vater finden, sondern: Was sieht Jérôme, woran erinnert er sich, wie kommen diese Erinnerungen an die Oberfläche?
Ich bin Vater. Einer meiner Söhne wurde vor wenigen Tagen zum ersten Mal Vater. Ich weiss sehr gut, wie gross die Ideale sind und wie umfassend die Angriffsfläche, um tausendfach das Falsche zu tun. Der Vater ihres Protagonisten war beim Start in seine Familie ganz sicher voller Ideale, davon überzeugt, als Vater nicht nur zu bestehen. Trotzdem liess er aus lauter Verzweiflung seine Familie, seine noch jungen Kinder im Stich, bestimmt im Wissen darum, dass er sein altes Leben nicht so einfach würde abstreifen können. Können sich Wunden tatsächlich schliessen?
Ich weiß nicht, ob Wunden heilen können, und ich glaube, dass Jérôme diese Reise nicht so sehr unternimmt, um Wunden zu heilen, sondern um zu versuchen zu verstehen, zu versuchen zu sehen, was sein Vater zum Zeitpunkt seines Verschwindens gesehen haben könnte. Er unternimmt eine Reise, in die Vereinigten Staaten, aber auch eine Reise in dem Sinne, dass er sich auf den letzten Seiten buchstäblich an die Stelle seines Vaters setzt. Es ist eher eine Reise des Verstehens als der Heilung. Mehr als die Frage der Heilung hat mich vielleicht die Frage nach einer Art Wiedersehen interessiert. Es ist kein Wiedersehen im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Überlagerung von Erfahrungen und Sichtweisen: Jérôme hat gesehen, was sein Vater gesehen hat, er hat gehört, was sein Vater gehört hat. In der letzten Szene fand ich es interessant, dass sich Jérômes Gesten (zumindest imaginär) mit denen seines Vaters verbinden. Es ist mir egal, ob Jérôme seinem Vater etwas vorwirft (das müssen die Leser*innen interpretieren), mich interessiert, dass Jérôme sich irgendwann so sehr mit seinem Vater identifiziert, dass er vielleicht die Gründe verstehen kann, die seinen Vater dazu gebracht haben, alles aufzugeben – die Fiktion ist zu solchen Schwindel erregenden Höhen fähig.
Musik repräsentiert ein Lebensgefühl. Wenn ich höre, was ich in meiner Jugend hörte, kann ich mich zurückversetzen. Jérôme hört auf seiner vierwöchigen Reise durch die Staaten immer wieder die Musik seines Vaters, Bruce Springsteen. Wahrscheinlich hörten sie auch Bruce Springsteen während des Schreibens. Wenn ja, wäre das Buch ohne ein anderes geworden? Ich kenne AutorInnen, die jede Firm der sinnlichen Beeinflussung vermeiden.
Beim Schreiben dieses Romans habe ich viel Nebraska, Tunnel of Love, Darkness on the Edge of Town und The Ghost of Tom Joad von Bruce Springsteen gehört (und immer wieder gelesen), den ich übrigens seit 2010 fast obsessiv höre, wie jemand, der Harry Potter oder Faulkner immer wieder liest oder Twin Peaks immer wieder schaut und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Ich hierarchisiere meine Einflüsse nicht, Springsteen ist für meine Arbeit genauso wichtig wie Annie Ernaux oder Claude Simon.
Die Springsteen-Songs, ihre Atmosphäre, die Geschichten, die sie erzählen, die Figur Springsteen als Sänger der Arbeiterklasse (aus der Jerômes Familie stammt) prägen den Text völlig. Aber damit Springsteen seinen Platz im Text hat, muss die Musik homodiegetisch sein, das heißt, sie muss Teil des fiktionalen Universums sein und nicht nur Hintergrundmusik für den Autor und die Leser*innen, die Musik muss ein materielles Element im Leben der Figuren sein – ich habe kein Interesse an den Playlists, die manche Autor*innen zu Beginn ihres Werks liefern, um uns zu sagen, in welcher Stimmung sie schreiben, das finde ich uninteressant, das ist, als würde man den Inhalt seines Frühstücks verraten. Für mich muss die Musik in den Text einfließen, wie im Kino, ich höre gerne, was die Figuren hören – Geigen, die uns sagen, wann wir traurig oder erleichtert sein sollen, mag ich weniger.
In Grande-Fin sind einige Szenen wie Neufassungen bestimmter Songs oder Springsteen-Lyrics, es gibt eine Reihe von Anspielungen. Zum Beispiel ist die fast existenzielle Scham, die Jérômes Vater empfindet, als er seine Familie in einem alten, kaputten Auto transportiert, eine Neuinterpretation des Songs Used Cars. Und die Szene, in der Jérômes Vater nachts in seiner Küche Angst hat, weil er gerade seinen Job verloren hat, findet sich in Springsteens Diskographie.
Ihr Roman ist ein Vaterbuch, ein Familienroman, ein Eheroman, ein Railtripp, eine Liebesgeschichte. Sie waren selbst lange unterwegs, wie Jérôme quer durch Amerika. Für Jérômes Vater war es ein Sehnsuchtsort. Für Sie auch? Ein Leben in den unvereinigten Staaten zwischen „Trumpisten“ und allen anderen?
Ich glaube nicht, dass für mich Amerika ein Sehnsuchtort ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dort lange überleben könnte. Aber dieses Land berührt mich, weil es uns alle in gewisser Weise berührt – man muss sich nur unsere Fassungslosigkeit ansehen, die wir bei jeder Ankündigung von Trump seit seiner Amtseinführung empfinden. Es dauerte nicht länger als einen Monat, bis sich Mitglieder der SVP Trump und seinem Wunsch, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, anschlossen. Als Schweizer wachen wir jeden Morgen auf und schauen nach Westen, ob wir nun fasziniert, verängstigt, desillusioniert oder wütend sind, das ist eine Tatsache. Wir warten immer auf die Reaktion der Amerikaner, weil wir Westler sind, und wir lieben ein bisschen wie die Amerikaner. Wir sind ein sehr liberales Land, unsere Lebensweise ist ökologisch nicht tragbar und wir hängen fast religiös am Privateigentum.
Amerika ist in meinem Roman sehr praktisch: Durch den Rückgriff auf den Vergrößerungsspiegel Amerika wird deutlicher, was Jérôme Vater aushält: den Rhythmus und die Erschöpfung bei der Arbeit, ein Produktionssystem, das Leben zerstört.
Meine literarische Arbeit seit Schumacher ist ein Versuch, eine ganze Reihe von Referenzen (Literatur, Kino, Musik) zu dekonstruieren. Nicht, dass ich alles loswerden möchte, was ich gelesen, gesehen und gehört habe, das amerikanisch war, aber ich dekonstruiere, um die Materie dessen zu beobachten, was einen Grossteil meiner Vorstellungen ausmacht.
Sie lehren am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Wie gross bei vielen die Bereitschaft ist, unsäglich viel Zeit und Energie für ihren Traum eines SchriftstellerInnenlebens zu investieren, weiss ich aus vielen Begegnungen. Auch von der Hoffnung, dereinst mit dem Schreiben den Lebensunterhalt bestreiten zu können, schwindelt mir. Dass Sie mit Ihrem ersten Roman bereits einen Preis zugesprochen bekamen und nun mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet werden, ist aussergewöhnlich. Meine etwas freche Frage: was machen Sie besser?
Es interessiert mich nicht so sehr, ob ich es besser mache als andere, und ich möchte diese Frage nicht in Form eines Wettbewerbs stellen. Abgesehen von einigen Freunden weiß ich nicht wirklich, wie andere arbeiten. Aber ich spreche gerne darüber, wie ich arbeite: Ich arbeite viel, und mit Arbeiten meine ich Lesen und Schreiben, und wenn ich andere Autor*innen lese, bin ich bereits in einer Art des Schreibens.
Wenn ich schreibe, bin ich sehr anspruchsvoll und misstrauisch gegenüber meinen Texten. Ein erster Entwurf stellt mich nie zufrieden, und wenn ich mit einem ersten Entwurf zufrieden bin, ist das immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, dass ich mich einer Form von Bequemlichkeit und Faulheit hingegeben habe.
Jeden Tag, wenn ich mit dem Schreiben beginne, nehme ich die Absätze, die ich am Vortag geschrieben habe, und schreibe sie um, korrigiere und passe sie an. So beginnt jeder Tag mit Korrekturlesen und Umschreiben, es ist für mich fast unmöglich, den Tag mit einem neuen Absatz zu beginnen. Irgendwann schreibe ich dann einen neuen Absatz, ohne mir des Übergangs vom Umschreiben zum Schreiben von etwas Neuem wirklich bewusst zu sein, das Neue ist immer mit dem Umschreiben verbunden. Ich kann nicht bei Null anfangen. Außerdem schreibe ich mit Landkarten vor Augen, mit Fotos, Filmszenen, Gegenständen, begleitet von Büchern, die mir wichtig sind.
Die Tatsache, dass Schreiben für mich fast immer Neu- und Umarbeiten bedeutet, führt dazu, dass meine Texte, wenn ich sie einem Verleger gebe, unzählige Male überarbeitet wurden, bis die erste Version nicht mehr zu hören ist. Für mich ist es immer eine fünfte oder sechste Version.
Romain Buffat, 1989 in Yverdon-les-Bains geboren, lebt in Lausanne. Er gehört zum »collectif d’auteur·e·s Hétérotrophes«. Sein erster Roman «Schumacher» wurde im französischen Original 2018 mit dem Prix littéraire chênois und 2019 mit dem Terra Nova Preis der schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Romain Buffet gewinnt den Schweizer Literaturpreis 2025 für «Grande-Fin». Aus der Jurybegründung: In einer feinen, rhythmischen Sprache schlängelt sich der Roman durch die Zeiten und die Landschaften und zeichnet dabei das Porträt einer Arbeiterfamilie. Jérômes Reise ermöglicht Erinnerungsarbeit, aber vor allem auch einen Neuanfang für die Protagonistinnen und Protagonisten. Ein feinfühliger Railtrip, der die Leserinnen und Leser mitzunehmen weiss.
Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für den verlag die brotsuppe hat er «Ruhe sanft» von Thomas Sandoz, «Allegra» von Philippe Rahmy sowie «Ohne Komma» von Myriam Wahli vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» (Béton Armé) von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.
„Die Zeit heilt Wunden“, sagt man und versucht zu trösten, sehr oft sich selbst. Aber gibt es Heilung, oder ist das, was wir unter Heilung verstehen, das Akzeptieren einer Verwundung, eine bleibende Narbe, die einem immer wieder einmal in Erinnerung ruft, was da einmal geschah. Du bist Arzt und weisst viel besser als ich, was Verletzungen mit uns machen. Dass sich solche Wunden, solche Verletzungen, die sich vielleicht nur oberflächlich schliessen, Jahrzehnte später wieder aufbrechen können, manchmal gar über Generationen.
Die Erzählerin, Vigdis Hjorth lässt in ihren Romanen keinen Zweifel darüber, ob es nicht doch Fiktion sein könnte, zieht sich in eine einsame Hütte in Nordamerika zurück und muss feststellen, dass ausgerechnet in dieser selbst gewählten Einsamkeit, die ihr doch eigentlich Erholung schenken sollte, etwas aufbricht, was Jahrzehnte in der Seele unter Verschluss war. Etwas, was mit Sicherheit in jedes Stück Gegenwart miteinwirkte.
Was damals geschah, als sie sechzehn war und an einem Tag im November jenen Tiefpunkt erreichte, der die Beziehung zu ihren Eltern unwiderruflich zu einem Alp machte, musste in diesem Buch niedergeschrieben werden. Ein junges Mädchen spürt, dass es an einem Wendepunkt in ihrem Leben ist. Dort, wo das Eine, Entscheidende endlich geschehen und aus ihr eine Erwachsene, eine Eingeweihte machen soll. Sie spürt es, weil es in der Schule, überall dort, wo sie mit Gleichaltrigen zusammentrifft, wie das Tor zu einer anderen Welt über allem schimmert, eine Art Sternentor. Etwas, das aus ihr etwas Ganzes macht, das ihr zeigt, wie sich wirkliches Leben anfühlen soll.
Aber ihr Elternhaus, allen voran ihre Mutter, begegnet diesem Drängen, dieser Sehnsucht, dieser ganz natürlichen Regung mit maximaler Angst, mit Misstrauen, mit der Furcht, dass das, was da geschehen könnte, auf sie und ihre Familie einbrechen könnte. Eine Mutter, die wie ein Geier über das Leben ihrer Tochter wacht, die in jeder Regung den Untergang, das Verkommene, das Unwiederbringliche sieht. Zwischen Mutter und Tochter reisst ein unüberwindbarer Graben auf, ein Graben aus Lügen, Verdächtigungen und Angst.
Vigdis Hjorth «Wiederholung», S. Fischer, 2025, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, 160 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-10-397690-8
Dabei hat die junge Frau doch nur den einen Wunsch; jenes Geheimnis zu lüften, das in ihrer Welt, unter ihren Freundinnen, dann, wenn sie sich mit den Jungs aus dem Ort in irgend einer Wohnung treffen, Musik hören, tanzen, Bier trinken, rauchen und knutschen als wilder Drang ankündigt. Dieser eine Moment, wenn sie der eine Junge, der schon etwas älter als sie ist, an der Hand nimmt, in ein Zimmer im Obergeschoss führt und tut, wovon sie weiss, dass es der grosse Anfang sein muss, das, wofür sie in ihrem Tagebuch den einen freien Platz reserviert hat.
Verletzungen geschehen unweigerlich, auch in Familien, in der Erziehung. Etwas vom schlimmsten an solchen Verletzungen, ist das Schweigen darüber, das Zudecken, das So-tun-als-ob, die Unfähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen. Vigdis Hjorth Roman ist keine leicht verdauliche Kost, obwohl sich das Buch scheinbar leicht lesen lässt. Das liegt an der Sprache der Autorin, dem Umstand, dass da eine Frau aus jahrzehntelanger Distanz erzählt und zu ordnen versucht. Denn was damals geschah, hat ihr offenbart, was Sprache auszulösen vermag.
Ich begegnete der Autorin bei einem Literaturfestival in Österreich, lernte sie erst im Vorfeld dieses Festivals als Autorin kennen. Eine überaus streitbare Autorin, die mit ihren Romanen in Norwegen grosse Wellen warf, nicht zuletzt darum, weil sie ihre Familie zu ihrer Bühne machte.
Wie ist es Dir bei der Lektüre ergangen?
Liebgruss Gallus
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Lieber Gallus
Dieses Buch, der Tipp von dir ist ein literarisches Meisterstück, existentiell, beklemmend und tiefbohrend. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die durch ein unausgesprochenes Geheimnis ihrer Familie gezwungen wird, alles allein schweigend zu tragen. Es geht um die Macht des Erinnerns und die Suche nach Wahrheit, darum, was Angst- und Schuldgefühle bewirken, wenn eine Aussprache nicht möglich ist.
Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück, es sucht dich heim, so wahrhaftig, dass du das Gefühl hast, es noch einmal zu durchleben. Wiederholung ist der Ernst des Lebens.
Der sechzehnjährigen Frau gelingt es nur durch Alkohol, der ängstlichen Kontrolle ihrer Mutter kurz zu entkommen. Diese steht am Fenster, wenn sie heimkommt, sie will genau wissen, mit wem sie sich getroffen hat, ob geraucht oder Alkohol getrunken wurde. Dies übt so viel Druck aus, dass die Protagonistin zur «Bombe» wird, die genau das sucht, was die Eltern verhindern wollen. Eine Aussprache wird durch Angst- und Schuldgefühle verunmöglicht. Die Tochter kann ihr Tagebuch, das die Mutter eines Tages liest, nicht besprechen, beiderseits wird schweigend in Vermutungen gelebt, Hass entsteht. «Es ist nicht leicht, Mensch zu sein», wie der Vater geheimnisvoll ausspricht, nachdem er sich erstmals betrunken hat. Die Eltern haben ihrerseits eine Schuld, die nicht genau ausgesprochen wird, Missbrauch?
Deshalb kam ich nicht auf die Idee, weder damals noch in den Jahren danach, Mutter Vorwürfe zu machen, weil sie mein Tagebuch gelesen hatte. Denn darum ging es nicht, nicht das war das Verbrechen, das Verbrechen war ein anderes, eines, mit dem keine von uns in Berührung kommen durfte, und ich war schon im Voraus schuldig. Ich verspürte starke Schuld.
Es gelingt Viridis Hjorth einzigartig, menschliches Verhalten atmosphärisch dicht und leidenschaftlich in Sprache umzusetzen. Spannend und tief berührend! Existentiell!
Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser.
Herzlich Bär
Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, ist eine der meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie ist vielfache Bestsellerautorin, wurde für ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den National Book Award sowie den International Booker Prize nominiert. 2023 erschien «Die Wahrheiten meiner Mutter», im Frühjahr 2024 der Roman «Ein falsches Wort». Nach Stationen in Kopenhagen, Bergen, in der Schweiz und in Frankreich lebt Vigdis Hjorth heute in Oslo.
Gabriele Haefs, geboren 1953, studierte Sprachwissenschaft in Bonn und Hamburg. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt.
Man kennt sie, jene, die in verlassene Häuser steigen, mit Taschenlampe und Rucksack, Fotos von Lost Places machen, Spuren suchen nach verlorenem, vergessenem Leben. In einem kleinen Haus, kurz vor der Räumung, treffen zwei junge Menschen aufeinander, Letta, die ungefragt eingestiegen ist und Paul, der im Haus seiner Grossmutter Ordnung machen will.
Wer ein Leben lang ein Haus bewohnt, hinterlässt einen kleinen Kosmos voller Spuren, Signale, Markierungen, dinggewordener Erinnerungen. Ich erinnere mich gut an die Besichtigung jenes Hauses, in dem wir zehn gute Jahre mit unserer Familie verbringen konnten. Die Frau, die mit ihrem Hund Jahrzehnte in dem Haus wohnte, am Schluss nur noch im Untergeschoss, musste wegen eines Unfalls ins Pflegeheim. Als man uns das Haus zeigte, sah man auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer noch einen Notizzettel und in der Küche auf der Anrichte eine Schale mit Früchten.
Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5182-1
Lore führte vor ihrem Tod ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Nicht einmal ihre nächsten Nachbarn wussten etwas von der stillen Frau. Agnes Siegenthaler verrät nur Verschlüsseltes aus dem Leben der stillen Frau. Das wird auch sichtbar im Aufbau des eigenwilligen Romans. Wenn Agnes Siegenthaler von Lore erzählt, dann sprechen die Dinge im Haus von der Frau und den Menschen, die mit Lore Zeit in diesem Haus teilten. Textpassagen, die sich eindeutig vom Erzählstrang nach ihrem Tod absetzen, lyrische Prosa, gesetzt wie Gedichte. Für mich als Leser sind es Atempausen, Einladungen, meinen Lesefluss zu verlangsamen, dem Text Zeit zu lassen, auf die Stimmen der Dinge einzugehen, auf das Hasenauge, die Porzellanfigur, den Hygrometer, die Kaffeetasse, den Elefanten aus Glas. Agnes Siegenthaler gibt den stumm gewordenen Dingen in Lores Haus ihre Stimme zurück, den eingelagerten Erinnerungen, die sich sonst spurlos verflüchtigen. Jeder, der schon einmal die Pflicht hatte, ein Haus Räumen zu müssen, weiss, wie wertlos mit einem Mal Dinge geworden sind, die in einem anderen Leben unentbehrlichen Wert besassen.
Paul ist Lores Enkel. Als er das Haus seiner Grossmutter aufschliesst, merkt er, dass Spuren zu finden sind, die nicht von seiner Groossmutter stammen. Und irgendwann findet er im grossen Bett der Grossmutter eine junge Frau liegen, jemanden, den er nicht kennt, von dem er aber spürt, das keine schlechten Absichten der Grund dafür sind, dass sich jemand unerlaubt Zutritt in das Haus seiner Grossmutter verschaffte. Letta wacht auf. Vielleicht wacht sie aber nicht nur aus dem Schlaf auf, sondern auch aus deinem Rauschzustand, der sich jedes Mal einstellt, wenn Letta in ein nicht mehr bewohntes Haus einsteigt.
Letta ist keine Einbrecherin. Sie ist nicht an dem interessiert, was Einbrecher interessieren würden. Sie hat sich in ihrer Passion ein eigentliches Protokoll zurechtgelegt, das sie genau befolgt. Sie sucht nach einem Andenken. Aber nach einem Andencken, das nicht sie aussucht, sondern von dem sie ausgesucht wird. Ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand und den eingestickten Worten „Mensch nütze den Tag, denn er ist kurz“, eine zerkratzte Schallplatte von Miles Davis, ein einzelner Kinderschuh mit vergilbten Maikäfern als Muster. Letta sucht nach dem Andenken in diesem Haus, sucht viel länger als erwartet, erst recht mit Verzögerung, weil da dieser Mann auftaucht und erklärt, er wäre der Enkel. Letta und Paul sind Suchende; Letta nach dem Andenken, Paul mit der Aufgabe, die Asche an Lores liebstem Ort zu verstreuen.
Das verlassene Haus kurz vor seiner Räumung wird zum Schauplatz vieler Begegnungen. Vordergründig zwischen Letta und Paul, unterschwellig zwischen Lore über all die Dinge mit den Menschen, die einst in diesem Haus ein Stück ihres Lebens verbrachten, mit Lore Leben teilten.
„So nah, so hell“ ist ein zartes Debüt von grosser poetischer Kraft. Ein Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient, geschrieben von einer Autorin, die mit diesem Roman einen vielversprechenden Weg begonnen hat. Wir werden noch mehr lesen!
Interview:
Ich las Dein Debüt mit grossem Interesse, mit ungetrübter Freude. Nur schon, weil Du eine mutige Form gewählt hast, Lyrisches mit Prosa mischst, deinem Erzählen ganz verschiedene Stimmen und Tonlagen gibst.War von Beginn weg klar, dass Du mehr als nur eine Art des Erzählens für Dein Debüt wähltest? Wieviel Mut brauchte es?
Die unterschiedlichen literarischen Formen sind zusammen mit den verschiedenen Erzählperspektiven entstanden. Es war klar für mich, dass diese nicht einfach in derselben Weise erzählen können. So haben die Gegenstände eine Art Chorfunktion für mich, wie sie gemeinsam und doch sehr individuell von etwas erzählen, was direkt nicht mehr erfahrbar wäre. Ihre Sprache gleicht der verknappten Form von Lyrics in Liedern und hat auch etwas Künstliches. Die Felsteile ihrerseits erlauben es sich, über Jahrtausende auszuholen und doch kurze Momente hervorzuheben. Wenn über Letta oder Paul erzählt wird, sind wir relativ nah an ihnen dran und folgen ihren Bewegungen und Gedanken. Es ist eine alltäglichere und menschlichere Sprache. Es hat nicht unbedingt Mut gebraucht, den Text auf diese Weise zu schreiben, es war vielmehr schön und hat Spass gemacht, zu entdecken, wie es gelingt, eine Geschichte aus unterstimmlichen literarischen Formen heraus zu erzählen. Danach waren es eher Ausdauer und Standhaftigkeit, die nötig waren, um die unterschiedlichen Formen und Perspektiven, zu verteidigen, nicht davon abzukommen und einen Verlag zu finden, der bereit war, dieses Textgewebe herauszubringen.
In alten Kurzbiographien über Dich heisst es „Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche.“ Mit diesen beiden Sätzen könnte man auch Letta, die Protagonistin in deinem Roman beschreiben. Keine alltägliche Leidenschaft. Irgendwie doch knapp an den Rändern zur Illegalität. Auch ein Outing?
Ich glaube, ich habe in dieser Kurzbiografie eine Methode offengelegt, die ich brauchte, um ins Schreiben zu kommen. Für diesen Text bin ich von konkreten Orten ausgegangen, die dann im Laufe des Erzählens zu fiktionalen Orten wurden. In dieser Kurzbiografie übertreibe ich ein wenig. Tatsächlich war ich in nicht mehr als einem verlassenen Haus unterwegs und das im Rahmen der Legalität. Aber zugegeben, das klingt auch etwas nach Letta. Möglicherweise ist aus dieser Methode ihre Figur entstanden. Sie ist da aber deutlich abenteuerlicher und eigenwilliger unterwegs, als ich es war.
Ich musste in meinem Leben schon mehrfach helfen, eine Wohnung oder ein Haus zu räumen. Ein ganz eigenes, spezielles Erlebnis. Da wandert in eine Entsorgungsmulde, was zuvor ein Leben lang wie ein Schatz gehütet wurde. Man nimmt Dinge in die Hand, die ihren Wert mit einem Mal verloren, ihre Geschichte eingebüsst haben. Letta sucht nach einem Andenken, einem kleinen Denkmal, das auch im Unscheinbaren steckt. Ist Letta eine Anwältin jener, die ins Vergessen zu rutschen drohen?
Was du in der Frage beschreibst, war auf eine gewisse Weise eine Erzählabsicht von mir: über ein Leben zu schreiben, das scheinbar ungesehen vergangen ist und darüber, wie die Dinge, die für diese Person Schätze waren, mit ihrem Tod zu Müll werden. In dem Roman übernehmen diese Anwaltschaft gegen das Vergessen aber eher die Stimmen der verschiedenen Gegenstände. Durch sie wird nochmals ein Licht auf ein zurückgezogenes Leben geworfen, welches sich zunehmend ohne menschliche Beziehungen abspielte. Ich glaube, Letta verfolgt da egoistischere Motive, sie sucht nach Dingen, die eigentlich mit ihr zu tun haben, sie sucht sich eine Art selbst gewählte Hinterlassenschaft zusammen. Es sind eher die Umstände, die sie dazu bringen, näher an Lore heranzugehen, über sie nachzudenken.
Paul ist mit der Urne seiner Grossmutter in diesem Haus. Er nimmt zum einen Abschied von seiner Grossmutter, zum andern ist er da mit der Aufforderung seiner Grossmutter, ihre Asche an ihren Lieblingsort zu bringen. Paul muss im Haus mit seiner Grossmutter Zwiesprache halten, um herausfinden, wo dieser „Lieblingsort“ sein könnte. Dein Roman ist neben diesem Kammerspiel zwischen Letta, Paul und Lore auch ein Buch über den Abschied. Wie wichtig ist dir dieses Thema?
Hier geht es um den Abschied von einem Menschen, der zurückgezogen lebte und eigentlich von den Menschen, die dableiben auch nicht vermisst wird. Solche Geschichten gibt es ja sehr viele. Und Paul nimmt sicherlich Abschied von Lore, aber auch von einem Teil seiner selbst. Vielleicht geht es um diesen selbstbezogenen Anteil von Abschied. Aber auch andere Lesarten sind möglich, zum Beispiel Abschied zu nehmen, von einem Leben, welches man vielleicht gerne geführt hätte, Abschied nehmen von Bildern, die wir uns von Menschen machen.
Bist Du ein Mensch, der Dinge sammelt? Wie sehen Deine Regale aus? Ist Schreiben eine Form des Festhaltens, den Dingen ihre Stimme zu geben?
Ich glaube nicht, dass ich den Dingen eine Stimme geben wollte, ich wollte eine Form finden, in der ich Lores Geschichte erzählen kann. Es ging um ein Erschrecken darüber, dass ein Menschenleben vergeht und die materiellen Dinge einfach weiterbestehen, dableiben, und würden sie nicht entsorgt, könnten sie unerträglich lange da sein. Es ging um die Imagination darüber, was in diesen Räumen passiert sein könnte; und gesehen haben es halt bloss die künstlichen Augen dieser Gegenstände. Daher benutze ich die Dinge eher, als dass ich ihnen eine Stimme gebe. Um mit ihrer Hilfe die Geschichte von Lore zu erzählen.
Selbst bin ich keine grosse Sammlerin, so ganz traue ich den Dingen wohl nicht über den Weg.
Agnes Siegenthaler, geboren 1988 in Bern, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und davor Soziale Arbeit studiert. Sie schreibt Prosa und Lyrik und arbeitet aktuell an ihrem zweiten Roman. Neben dem Schreiben ist sie als Soziokulturelle Animatorin in einer interkulturellen Bibliothek tätig. Aufgewachsen im Emmental, lebt und arbeitet die Autorin rund um die Städte Bern und Fribourg. «So nah, so hell» ist Agnes Siegenthalers Debüt.
Es gibt sie nicht nur in den grossen staatlichen Fernsehgiganten, sondern auch in den «kleinen», die ganz und gar von der Leidenschaft einer eingeschworenen Betreiberschaft getragen werden. «Die Literaturrunde», von Jeanette Bergner mit Kompetenz und Begeisterung moderiert, ist über die letzten Jahre zu einem fixen Sendebestandteil des Privatsenders Tele D geworden. Erstaunlich genug, wo doch in Deutschland vergleichbare Formate «aus Spargründen» abgesetzt werden.
letzte Absprachen zwischen Gallus Frei, Literaturvermittler und Co-Leiter des Wortlaut Literaturfestivals, Jeanette Bergner, Moderatorin und Ariane Novel, Lektorin, Ghostwriterin und Co-Leiterin des Wortlaut Literaturfestivals St. Gallen
«Umlaufbahnen» von Samantha Harvey: Was die Schriftstellerin literarisch schafft, ohne einen einzigen Besuch in einer solchen Kapsel abgestattet zu haben, mit blosser Imagination und sogfältiger Recherche ist ausserordentlich. Was sie daraus macht ebenso. Jene Erfurcht, die Weltraumfahrende immer wieder beim Anblick unserer Erde erfasst, springt über. Was Samantha Harvey erzählt, hat durchaus eine mahnende Komponente, obwohl Samantha Harvey nicht moralisiert. Aber was wohl das Verblüffendste an diesem Roman ist, dass ich als Leser ihre Freude an der Sprache spüre, ihre verschriftlichte Leidenschaft, die sie so beschreibt. «Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen. Es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet.»
Wild nach einem wilden Traum von Julia Schoch: Ihre Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesem Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken.»
«Zwei Leben» von Ewald Arnez: Was den Reiz des Buches ausmacht, ist seine Sinnlichkeit. Ewald Arenz beschreibt derart leidenschaftlich und innig, dass ich als Leser die Landschaft riechen kann. Aber auch die Sinnlichkeit in den Gefühlen des Personals, in diesen zwei Leben dieser beiden so unterschiedlichen Frauen; Roberta und Gertrud. Oder im klaffenden Gegensatz zwischen den Auswirkungen der 68er und einer bäuerlichen Tradition, die erst auf Änderungen aufsteigt, wenn es nicht zu vermeiden ist. Ewald Arenz weiss genau, wovon er schreibt. Er schöpft aus der Atmosphäre seiner eigenen Herkunft – und tut dies mit Wonne.
Klicken Sie auf das untenstehende Bild, dann können Sie in «Die Literaturrunde» hineinschauen:
Wir alle schlagen uns herum mit Schreckensbildern, Katastrophenszenarien oder Zukunftsängsten. Übernimmt am Ende nicht ohnehin die Künstliche Intelligenz die Weltherrschaft? Es ist schwierig, in diesen Zeiten zu hoffen, wenn wir um unsere Demokratie und unsere Erde bangen müssen. Aber es soll nicht düster bleiben, im Gegenteil: Wir sind davon überzeugt, dass es sich lohnt zu «hoffen», auch wenn derzeit viele von uns «bangen». Und wo, wenn nicht in der Literatur, können wir diese Hoffnung finden?
Mit viel Freude laden wir Autor*innen nach St.Gallen ein, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Hoffen und Bangen auseinandersetzen. Wie gelingt es uns, als Gesellschaft wieder zusammenzurücken? Nur über gutes Streiten, davon ist die Philosophin Svenja Flasspöhler überzeugt. Gemeinsam mit Barbara Bleisch und der Band Hekto Super eröffnet sie das Wortlaut 2025. Neben wunderbaren Autor*innen, die am Samstag und Sonntag aus ihren Büchern lesen, setzen wir den Schwerpunkt genau darauf: auf Gespräche und den Austausch.
Peter Stamm bekommt von uns die Carte blanche. Er entschied sich für die Schriftstellerin Judith Hermann. Ein spannendes Gespräch ist garantiert! Verleger*innen diskutieren über die Zukunft des Buches. Zwei Autorinnen aus zwei Generationen geben im Rahmen eines Werkstattgesprächs Einblicke in ihr Schaffen. Eine UniSeminargruppe und eine Gymnasialklasse bestreiten jeweils eine Veranstaltung mit Autor*innen, die sie selber eingeladen haben.
Mit Buslesungen und einem literarischen Stadtspaziergang wollen wir Ihnen eine Reise ermöglichen, die ausnahmsweise nicht nur im Geiste stattfindet.
Gemeinsam werden wir an diesem Wochenende gute Gründe fin den, warum es trotz allem Anlass zur Hoffnung gibt. Wortlaut ist zurück. Wir freuen uns auf Sie, liebes Publikum!
Bestellen Sie das Programmheft oder informieren Sie sich auf wortlaut.ch!
Die 70er irgendwo im fränkischen Süddeutschland. Roberta kehrt nach einer ernüchternden Lehre in der Stadt zurück in ihr Heimatdorf. Obwohl da einmal der Plan war, in die Welt hinauszuziehen, als Modistin ihr Glück zu finden, arbeitet sie wieder auf dem Hof ihrer Eltern und nimmt einen Faden auf, den sie nie ganz losliess.
Ewald Arenz ist ein Phänomen. Obwohl er seit fast vierzig Jahren als Schriftsteller veröffentlicht, wurde er erst mit „Alte Sorten“, seinem ersten Roman bei Dumont, einem breiten Publikum zum Fixstern. Dabei trugen bis zum Verlagswechsel schon mehr als ein Dutzend Titel seinen Namen, änderte sich eigentlich bloss der Verlag. Ewald Arenz blieb seiner Herkunftsgegend treu, dem Leben auf dem Land, einer Welt zwischen Idylle und harter Realität. Schon sein Bestseller „Alte Sorten“ ist ein Roman darüber, wie sehr uns Leben weggenommen wird und wie schwer es ist, zurückzufinden, wie sehr sich Tradition und Aufbruch reiben.
In „Zwei Leben“ versucht Roberta einen Neustart auf dem Hof ihrer Eltern. Roberta ist das einzige Kind. Sie weiss um die Verpflichtung, die unausgesprochen auf ihren Schultern liegt, erst recht jetzt, wo der eine Versuch des Ausbrechens gescheitert ist. Man macht zuhause kein grosses Aufhebens über ihre Rückkehr. Sie ist wieder da und packt an. Roberta spürt, dass der Traum, ihr ganz eigenes Leben zu finden, nicht ausgeträumt ist, dereinst selbst zu schneidern, Kleider zu entwerfen, dort zu wirken, wo Kleidung nicht bloss Mittel zum Zweck ist. Über die gebändigte Sehnsucht hilft ihr Wilhelm, mit dem sie schon eine Kindheit lang Freundschaft verbindet. Wilhelm, der Sohn des Pfarrers. Aber weil sie weiss, dass Wilhelm bald wegziehen wird, um in der fernen Stadt zu studieren, wehrt sie sich gegen ein Gefühl im Bauch, das mehr und mehr zum Elexier wird.
Ewald Arenz «Zwei Leben», Dumont, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8321-8205-2
Die Pfarrersleute sind unmittelbare Nachbarn. Man kennt sich, obwohl kein Zaun, sondern eine Mauer das Pfarrhaus umgibt, obwohl die Mutter Wilhelms einst in fernen Hamburg aufwuchs und jeder im Dorf spürt, dass die Frau, die immer die Frau Pfarrer ist, von der man nicht einmal den Vornamen kennt, nie eine Hiesige werden wird. Das spürt auch Heinrich, ihr Mann, dem der Kampf gegen das Schweigen und der latente Trotz im Dorf längst zur Lebensaufgabe geworden ist. Getrud, die Frau Pfarrer, will weg, auch wenn ausser ihrem Bruder, der in der Ferne als Wissenschaftler Erfolge feiert, niemand etwas von ihrem tiefsitzenden Schmerz erfährt. Selbst Heinrich, ihr Mann, der das Unglück seiner Frau spürt, sitzt den Schmerz aus.
Zwischen Roberta und Wilhelm entwickelt sich eine vorsichtige Liebe. Roberta weiss, dass sie ihr Herz nicht an einen zukünftigen Studenten verlieren sollte und Wilhelm drängt nicht. Robertas Eltern blenden die Bedürnisse ihrer Tochter aus und Wilhelms Eltern sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ausser Robertas Grossvater niemand merkt, was sich zwischen den beiden anbahnt. In ihrer Not erbittet Wilhelms Mutter ihren Gatten um eine Auszeit, als Begleitung einer Vortragsreise ihres Bruders. Eine Reise, die in den letzten Tagen eine ganz unerwartete Wendung bekommt und das Leben Wilhelms Mutter arg ins Wanken bringt. Aber auch im Dorf überstürzen sich die Ereignisse. Der Tod zieht wie eine schwarze Wolke über das Dorf.
Mag sein, dass die Geschichte selbst in Sachen Melodramatik etwas dick aufträgt, dass auch etwas weniger Schmerz gezeigt hätte, dass sich unter kleinen Schritten grosse Kluften aufreissen können. Was den Reiz des Buches ausmacht, ist seine Sinnlichkeit. Ewald Arenz beschreibt derart leidenschaftlich und innig, dass ich als Leser die Landschaft riechen kann. Aber auch die Sinnlichkeit in den Gefühlen des Personals, in diesen zwei Leben dieser beiden so unterschiedlichen Frauen; Roberta und Gertrud. Oder im klaffenden Gegensatz zwischen den Auswirkungen der 68er und einer bäuerlichen Tradition, die erst auf Änderungen aufsteigt, wenn es nicht zu vermeiden ist. Ewald Arenz weiss genau, wovon er schreibt. Er schöpft aus der Atmosphäre seiner eigenen Herkunft – und tut dies mit Wonne.
Die Fans werden den neuen Arenz lieben!
Ewald Arenz wurde 1965 in Nürnberg geboren und studierte nach einigen Semestern Rechtswissenschaft englische und amerikanische Literatur sowie Geschichte. Er ist einer der produktivsten und erfolgreichsten Schriftsteller Deutschlands, dessen Gesamtauflage bei über einer Million verkaufter Bücher liegt. „Alte Sorten“, „Der große Sommer“ und „Die Liebe an miesen Tagen“ waren mehrfach Jahresbestseller auf der SPIEGEL Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Arenz ist mit vielen Kulturpreisen ausgezeichnet worden.
Manchmal gibt es das eine nicht ohne das andere, selbst in der Liebe. In „Der blinde König und sein Narr“ verliebt sich der Erzähler, ein Schriftsteller, in eine Antiquarin. Beide lieben die Sprache, Bücher. Wenn Mara nur diesen Papagei nicht hätte, ein Tier, das sich mehr und mehr nicht nur zwischen die beiden stellt, sondern dem Schriftsteller all die lieben Gewohnheiten nimmt.
Jürg Beeler ist kein Plotschreiber. Seine Geschichten sind die Träger seiner Sprache. Seine Sprache ist sein Instrument. Welches Stück er spielt, ist sekundär. Wichtig ist, dass er spielt, dass ich Gelegenheit habe, seiner Sprachmusik zuzuhören. Es ist der Klang, die Melodie, es sind die leisen Töne, das Dazwischen, das mich an Jürg Beelers Schreiben fasziniert. Da sind die Störungen eines krächzenden Papageien sinnbildlich, eigentlich kaum zu übertreffen. Vor allem dann, wenn es der blinde König (Maras Papagei ist auf einem Auge blind und auch das andere trübt mehr und mehr ein.) schafft, seinen Narr zu seinem getreuen Untergebenen macht, wenn aus der unliebsamen Begleiterscheinung über die Zeit eine manchmal fast grotesk erscheinende Zweisamkeit wird, auf die der König nicht verzichten kann und sein Narr nicht verzichten darf.
Der Erzähler lebt als Schriftsteller schon einige Jahre im Norden Deutschlands, blieb wegen einer Frau hängen. Weil der Süden, das Meer, die lauen Winde, die mediterane Landschaft aber Sehnsuchtsort geblieben sind, setzt der Erzähler alles daran, seinen damals verlassenen Schreibort wieder zurückzugewinnen. Er kauft sich aus der Ferne ein Haus, an dem Ort, wo er die Stille wiederfindet, die Cafés, Bistros und Bars, die ihm zu Schreib- und Lebensorten wurden, weg aus der feuchten Kühle des Nordens.
Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann, 2024, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-03820-142-
Ausgerechnet in dieser Zeit des Aufbruchs, der Neuorientierung, verliebt sich der Erzähler in Mara, die in der Stadt ein Autiquariat führt. Und weil sie mit dem Gedanken spielt, ihr Antiquariat an einen Nachfolger, der bereits feststeht, weiterzugeben, ist der Gedanke, mit ihrem Liebsten in den Süden zu ziehen, ein durchaus reizvoller. Wenn da nur Friedolin nicht wäre. Ein gefiederter Schreihals, ein Krachmacher, ein Senegalpapagei, ein Tier, das an ihr hängengeblieben war und sich längst zum fixen Familienmitglied gemacht hatte. Friedolin mit ie strahlt so gar keinen Frieden aus. Da ist ein Tier, das durch sein besitzergreifendes Gehabe sehr schnell klar macht, dass mit keinerlei Entscheidungen an ihm vorbeigegangen werden kann. Friedolin schafft es mit Leichtigkeit, den Erzähler in seine Absichten einzubinden. Erst recht, als Mara ihn bittet, in der Zeit der Geschäftsübergabe für Fiedolin da zu sein. Noch viel mehr als Maras Nachfolger gesundheitliche Probleme bekommt und Maras Absenzen in der sich langsam auflösenden Wohnung immer länger werden.
Zwischen dem Tier und dem Erzähler entwickelt sich eine Schicksalsgemeinschaft, ein Machtkampf, der bis zum Überlebenskampf wird. An Schreiben ist nicht mehr zu denken. Im Gegenteil. Der Erzähler wird mehr und mehr zum Narr des blinden Königs und als man sich mit dem Auto zu zweit unterwegs in den Süden macht, weil der Erzähler glaubt, seine Anwesenheit dort sei unbedingt erforderlich, wird aus dem ungleichen Miteinander in der Stadt ein wilder Roadtripp in den Süden. Was würden Sie sagen, wenn sie an einer Rezeption eines Hotels einem Mann mit einem Papagei auf der Schulter begegnen würden, einem sonst stillen Mann, dessen Vogel am Ohr seines „Herrchens“ knabbert und seinen Unwillen über dessen Entscheidungen mit lautem Krächzen quittiert.
So poetisch die Formulierungen, wenn es um das Daseins eines Schriftstellers geht, um die Ergebenheit in ein überstülptes Schicksal, in die Liebe zur Sprache, ebenso wie zur Stille, so witzig und grotesk sind die Szenerien mit dem Vogel. Es gab schon lange kein Lesevergnügen mehr, dass mir ein so nachhaltiges Lächeln schenkte, wie dieses Buch. „Der blinde König und sein Narr“ ist köstlich.
Und ganz nebenbei ist dieses Buch ein rührendes Porträt einer aussterbenden Gattung Mensch. Jürg Beelers Roman ist durchaus metaphorisch zu verstehen, wenn man die Präsenz der Gegenwart als aufsässiges Kreischen, besitzergreifendes Gehabe versteht.
Interview
Sie erzählen das Buch so, dass die Frage nach Fiktion schnell beantwortet werden kann, auch wenn man dieses Zugeständnis durchaus literarisch verstehen kann. Wie leben in einer Zeit, in der man der Fiktion nicht mehr zu trauen scheint, dabei ist Literatur doch die einzige Möglichkeit, stilvoll zu lügen. Aber im Zeitalter alternativer Fakten und Fakenews ist das Bedürfnis nach möglichst realem Erzählen gross, ob das nun autobiographisch oder autofiktional heisst. Mich ärgert diese Entwicklung. Nicht einmal die Bibel kann wörtlich genommen werden, auch wenn es welche gibt, die das versuchen. Darf Literatur, Kunst nicht viel, viel mehr, als bloss abzubilden?
Wer ist der König, wer der Narr? Der Ich-Erzähler oder der Autor? Eine schwierige Frage. Man setzt sich ein Krönchen auf, und bleibt doch ein Narr. Nun bin ich schon so alt geworden, und immer noch ist es mir nicht gelungen, mein durchsichtiges Krönchen abzulegen, das zum Glück niemandem auffällt.
Was ist fiktiv, was nicht? Das bleibt das Geheimnis des Autors. In diesem Sinne ist „Der blinde König und sein Narr“ ein zugleich offenes und verschlossenes Buch. Dichtung und Wahrheit zugleich, denn die eine ist nicht ohne die andere zu haben.
Natürlich verstehe ich mich mit meinem Ich-Erzähler gut. Aber da verstand ich mich auch mit den Protagonisten meiner früheren Romane. Trotzdem steht unzweifelhaft fest: hätte nicht auch ich mich mit einem Papagei angefreundet, wäre ich mit diesem Erzähler nicht so gnädig verfahren. Trotzdem ärgert er mich immer wieder, und ich erhebe Einspruch und sage ihm, nun, übertreib mal nicht. Natürlich hörte er nicht auf mich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über ihn herziehe. Zum Glück führt er ein eigenständiges, anderes Leben als ich, das mildert mein Urteil ein wenig.
Der Erzähler ist wegen einer Beziehung im Norden Deutschlands, weit weg von den Orten, an denen er weiss, dass sie ihm beim Schreiben helfen, weit weg vom Süden. Es kommt zur Trennung, weil jene Frau ihn einen Schriftsteller schimpft, der nichts für seine Karriere tut, der noch von Hand schreibt, keine Homepage bewirtschaftet, ohne Facebook oder Twitter. Mir sind solche Menschen höchst sympathisch. Und ich weiss von vielen jungen Menschen, die sich gerne aus den Schlingen der Neuzeit befreien würden. Schwierig bloss, dass sich der Kultur- und Literaturbetrieb ganz stark diesem Intrumentarium bedient, der einsame, stille Schiftsteller ein auslaufendes Modell zu sein scheint. Gibt es eine Angst vor dem Verschwinden?
Das ist eine weitläufige Frage. Was heißt verschwinden? Man kann aus den Medien verschwinden oder in die Medien verschwinden, in beiden Fällen ist man auf unterschiedliche Weise nicht mehr existent. Wir leben in beiden, im privaten wie im öffentlichen Raum. Ist aber das Spiel entschieden, ist die Öffentlichkeit der Sieger, wie das heute der Fall zu sein scheint, so nehmen die Ängste naturgemäß zu: Die Angst, sich selbst zu verlieren, und gleichzeitig die Angst, im öffentlichen Raum niemand mehr zu sein. Das führt, wie der Literaturbetrieb lehrt, zu einer eigentümlichen, mich immer wieder erheiternden Hektik: Jeder versucht sich panisch der eigenen Präsenz im medialen, virtuellen Raum zu versichern. In solchen Zeiten hat es die Literatur schwer, denn die Revolte (oder die existentielle Selbstversicherung) kommt nicht aus dem öffentlichen Raum, sondern aus dem privaten. Und dieser private Raum ist nicht medial verhandelbar. Für eine jüngere Generation ist das nicht einfach. Der öffentliche Raum bietet ihr immer weniger Möglichkeiten der existentiellen Selbstversicherung. Das stimmt mich traurig.
Die Liebe des Schriftstellers heisst Mara. Sie ist Antiquarin. Auch eine aussterbende Gattung Mensch. Auch Mara kannte die Stille. Die Stille der Bücherschluchten, die Stille der erzählenden Canyons. Still schon. Aber hinter all den Buchrücken rumort es ganz ordentlich. Alle, die lesen, befreien die aufgestauten Geschichten, Stimmen aus dem Papier. Bei mir zuhause ummanteln mich auch Bücher. Sie umarmen mich, betten mich und schützen mich vor der Oberflächlichkeit der Welt. Ob Jürg Beeler oder der Erzähler in ihrem Buch. Er sucht die Stille. Ist Schreiben die Spur durch diese Stille?
Schreiben kann die Spur durch diese Stille sein. Das hängt davon ab, was man unter Stille versteht. Stille ist kein akustisches Phänomen, nicht die Abwesenheit von Lärm. Darin bin ich mit dem Protagonisten einig. Sie ist auch kein Rückzug aus dem Leben. Mein Protagonist stellt fest, dass Stille in jedem Land anders wahrgenommen wird, so wie der Umgang mit der Zeit in verschiedenen Kulturen ein anderer ist. Er sucht, was ihm oft fehlt: die Stille. In diesem Sinne versetzt sie ihn immer wieder in Unruhe.
Die Spur, die der Erzähler durch die Zeit gelegt hat, ist seine eigene und die durch Jahrhunderte. Sie ist zugleich persönlich und unpersönlich. Auf seinem Weg scheint er etwas gefunden zu haben, das ihm Gelassenheit gibt. Dieses Phänomen versucht er immer wieder in Worte zu fassen. Ich glaube, dass „Der blinde König und sein Narr“ ein gelasseneres Buch ist als seine Vorgänger, dass der Ich-Erzähler den Autor in gewisser Weise angesteckt hat.
Eine Stille, die sich ausgerechnet in Cafés, Bistros oder Bars findet. Im gleichförmigen Teppich aus Stimmen und Geräuschen. Ein Teppich, der im Süden anders sein muss als im Norden. Warum?
Es ist weniger der Geräuschteppich, der den Norden vom Süden unterscheidet. Deutschland kennt die Tradition des Bistros und Cafés nicht. Es imitiert sie aus Modegründen, doch das Imitat ist immer etwas anderes als das Original. Dort, wo ich lebe, in Südfrankreich, in einer der ärmsten Gegenden des Landes, ist das Bistro oder das Café immer noch Treffpunkt für alle Generationen. Im Café oder Bistro sitzt die Oma mit der Enkelin, der Geschäftsmann, der Rentner und der Schüler. In Bremen oder Berlin war ich in einem Lokal oft nur von Rentnern umgeben oder von einer mehr oder weniger homogenen Altersklasse, die einer bestimmten Szene angehörte. In Berlin, viel schlimmer, gab es noch die Schriftstellercafés. Man ist gut sortiert in Deutschland.
Es ist nicht der Geräuschteppich, der eine Bar, ein Bistro oder Café im Süden zu einem anderen Ort macht, sondern die andere Lebensweise. Wenn ich nun von mir rede, von mir als Schriftsteller, nicht vom Protagonisten meines Romans: Nicht von Anfang an waren Cafés meine Schreiborte. Ich bewohnte als Student und auch später nie ruhige Zimmer. Also flüchtete ich ins Café, um arbeiten zu können. Ich gewöhnte mich daran, und diese Gewohnheit ist mir geblieben. Alle meine bisherigen Versuche, dies wieder zu ändern, scheiterten bisher.
Nicht immer ist der Geräuschteppich in einem Café angenehm oder dem Schreiben zuträglich. Doch das Café kann ich wechseln, meine Wohnung nicht. Diese Möglichkeit schafft eine ganz andere Leichtigkeit. Geräusche lullen ein, lenken ab, erlauben eine „gleichschwebende Aufmerksamkeit“. Man ist konzentriert und doch nicht, man läßt sich ablenken, und plötzlich schreibt sich der Text wie von selbst weiter. Menschen im Café sind meist friedlich, ich bin also an meinem kleinen Tisch von friedlichen Zeitgenossen umgeben. Ich sitze vor meinem kleinen Kaffee und denke, diese armen Teufel, die jetzt eingekerkert in ihrer Schreibstube sitzen, auf den Bildschirm starren und am nächsten Satz ihres Romans herumlaborieren.
Der Papgei, der sich ziemlich entschlossen und deftig ins Leben des Erzählers einmischt, heisst Friedolin. Mit ie! „Der Friedensreiche“. Ein ziemlicher Gegensatz zu seiner Lebensweise, seinen Geräuschen, seiner Aufsässigkeit. Und trotzdem wird aus dem genervten Erzähler ein Kämpfer und Streiter, ein Tierfreund. Müsste ich es mit meiner Hundephobie ähnlich angehen?
Die Literatur kennt keine Ratschläge, die findet man in den Buchhandlungen unter „Lebenshilfe“. Dort findet man alles, was im Leben nicht hilft.
Ihr Roman ist auch ein Roman über Ihr Schreiben. Eine Vergewisserung. Ein Sehnsuchtsroman?
Sehnsucht wonach? Nach einer Welt, wie sie war? Diese Art der Sehnsucht scheint mir ein Phänomen des Alterns zu sein. Es ist nicht mehr meine Generation, die das Sagen hat. Plötzlich entdeckt man, dass man alleine ist, immer alleine war. Schwierig, sehr schwierig, wenn einem das erst in vorgerücktem Alter aufgeht.
Meist halten wir die Welt für schlecht, weil sie sich beim Älterwerden immer mehr von uns entfernt. Wir wollen die Welt so alt, wie wir selber sind, wir nehmen in unserer Umgebung meist nur uns selber wahr, aber selten die andern. Der Welt ein faltiges Gesicht zu wünschen, nur weil man selber runzelig geworden ist, gehört zu einer verbreiteten Verhaltensweise, deren Egozentrik merkwürdigerweise kaum je auffällt.
Sehnsucht hat viele Farben. Sie ist und war auf jeden Fall eine literarische Triebkraft für viele Autoren. Augustinus und Rousseau, Stendhal, Baudelaire, Flaubert oder Joseph Roth kannten sie, auch Tolstoj und Turgenjew, ebenso viele japanische Autoren wie Tanizaki, Kawabata oder Soseki. Die Sehnsucht nach dem entschwundenen Paradies, von dem sie nur zu gut wußten, dass es auch eine Hölle war, schärfte ihren Blick für die Gegenwart und schürte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Die Welt des Handels und der Werbung ist eine Welt ohne Zukunft und Vergangenheit, eine Welt purer Gegenwart, sie produziert täglich das immer Neue und Aktuelle. Ihre Sprache ist identisch mit dem Produkt, das sie verkauft. In dieser Dialektik ist das Aktuelle und Neue immer schon der Schrott von morgen. Es ist die Dialektik der virtuellen und medialen Welten, in denen wir uns immer mehr einrichten. Sie kennt keine Scham und keine Sehnsucht.
Auch die Literatur und ihr Betrieb wird nicht davon verschont. Das weiß mein Protagonist natürlich. Nicht ohne Grund schreibt er noch von Hand, verzichtet auf Homepage und Handy, nicht ohne Grund ist er Nomade und schreibt in Cafés, Bistros oder Bars. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich kenne das Glück und den Rausch dieser Freiheit.
Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Reisejournalist, Magaziner, bei verschiedenen Institutionen, u.a. Aids-Hilfe-Schweiz. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, u.a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis 2003 für «Die Liebe, sagte Stradivari». Bei Dörlemann erschienen Zuvor erschien 2022 «Die Zartheit der Stühle«.
30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.
Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters.
«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni
Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1
Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.
«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain
Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.
«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder
Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.
Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.
Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)
«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder
Diogenes sass in seinem Fass, bei Italo Calvino der Baron auf einem Baum. Bei Tine Melzer bleibt ein Mann in seinem Badezimmer, verlässt es nicht mehr, zieht sich zurück, kapselt sich ab und fröhnt dem süssen Nichtstun, auch wenn sich zusehends Bitternis einmischt. Nach ihrem furiosen Debüt „Alpha Bravo Charlie“ wagt Tine Melzer mit „Do Re Mi Fa So“ ein fast barockes Sprachabenteuer.
Tine Melzer ist nicht einfach Autorin. Sie schreibt nicht einfach Geschichten, will nicht bloss unterhalten. Tine Melzer ist Künstlerin. Die Sprache selbst muss Kunstwerk sein. Die Geschichte ist das Konstrukt, das das Kunstwerk trägt. Aber selbst das Konstrukt, die Partitur dieses Kunstwerks, der Plan, ist Wagnis, Experiment, vielleicht eine Spur Provokation, aber ganz gewiss die Aufforderung, mir selbst den Spiegel vorzuhalten.
„In jeder Rekapitulation steckt eine Kapitulation.“
Sebastian Saum ist erfolgreicher Sänger, ein gefragter Bariton. Er wohnt schon seit Jahren in Symbiose zusammen mit seinem Freund Franz Gold in einem grossen Haus, Franz unten, er oben. Auf der Klingel am Eingang steht Gold Saum. Das Haus ist geerbt. Sebastians Leben läuft in festen, geordneten Bahnen. Er hält sich die Welt auf Distanz.
Eines Morgens, nach einem Bad, beschliesst er, nicht mehr aus der Wanne aufzustehen, liegenzubleiben, zumindest das Bad mit Toilette und Fenster nicht mehr zu verlassen. Eine Laune. Vielleicht der Entschluss, seinem Leben im Stillstand eine neue Richtung zu geben; minimales Risiko mit maximalem Erfolg. Franz hilft ihm dabei, liefert an Decken, Kissen und Fellen, was er braucht, um sich in der Wanne niederzulassen, trägt ihm auf einem Serviertablett Essen und Getränke in die kleine Kammer und nimmt fürs erste hin, was nichts anderes als eine Marotte, eine Verstimmung, vielleicht ein Mini-Burnout sein kann.
„Fanz ist in perfektem Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.“
Sebastian bleibt nackt. Er gedenkt nicht mehr, sich zu kleiden, zu verkleiden, auch wenn ihm und seinem Freund die Garderobe bisher sehr viel bedeutete, vielleicht gar etwas davon ausmachte, was er als Künstler zu repräsentieren hatte. Zwar liegt da ein Laptop und ein Telefon, aber Sebastian hängt fast immer seinen Gedanken nach. Gedanken, die sich erstaunlich wenig um sich selbst drehen, viel mehr das Nachdenken darüber sind, was sein Leben bisher ausmachte.
Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jung und Jung, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-99027-406-4
Das Badezimmer wird zur Inszenierung. Zu einem Protest seinem eigenen Dasein gegenüber. Auch wenn er sich immer mal wieder um seinen Freund sorgt, ob er auch weiterhin auf die Hilfe seines Mitbewohners zählen kann. Wir, die wir Leben und Existenz mit aller Selbstverständlichkeit stets mit Leistung, Fleiss und Erfolg koppeln, werden Zeuge eines Selbstexperiments, einer stillen Demonstration, einer Inszenierung, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge wendet, wenn auch nicht gegen aussen. Sebastian denkt nach, macht Listen, über die Kleider in seinen Schränken, über die Tode jener Menschen, die in den letzten Jahren starben, über die schlechte Angewohnheit des Pfeifens, über all die Lieder in seinem Kopf, über Redundanz, über all die Menschen, Freundinnen und Freunde, die er aus den Augen verloren hat. Seltsame Listen, die das Aussen nach innen holen.
„Perfektionismus ist eine Sache von Leuten, die sich ihrer Sache nicht restlos sicher sind.“
Gleichzeitig nagt der Zweifel, klopft der Wahn. Vor der Tür hört er seinen Freund telefonieren, meist mit seiner Schwester. Irgendwann bekommt Sebstian trotz Protest Besuch von einer Frau, die sich im Bad auf den Klodeckel setzt und verkündet, man müsse mit Hilfe von Chemie ein Lösung finden.
„Do Re Mi Fa So“ ist maximal entfernt von autofiktionalem Schreiben. Dieser Roman ist eine Inszenierung. Ähnlich eines begehbaren Bildes. Ich sehe Sebastian Saum in seiner übergrossen Wanne, inmitten von Kissen und Decken liegen, eine Hand lässig über dem Wannenrand, ein Glas Wein auf dem Toilettendeckel. Die Welt kommt nur durch seinen Kopf in diese kleine Kammer, auch wenn das Fenster das eine oder andere Mal offen ist und Sebastian bei seinen zaghaften Turnübungen den Bauer aus der Nachbarschaft arbeiten sieht. Auch hier maximale Gegensätze.
„Das mit der Nähe ist so eine Sache – wer nicht aufpasst, dem drängt sie sich auf.“
Und dann die Opulenz, die Kraft der Farben. Tine Melzers ganz eigenes Gespür für Textilien, Oberflächen, die Haptik. Das Skurrile dieser Inszenierung. Auch hier die maximale Entfernung von einer Welt, die wuselt und stampft. Die maximale Entfernung von dem, was ich als Leser selbst unter Rückzug und Reflexion verstehen würde. „Do Re Mi Fa So“ ist Kunst. Ein Buch, dass es verdient hätte, auf der Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis zu erscheinen!
Interview (mit Arbeiten der Künstlerin Tine Melzer)
Ich las dein Buch ausgesprochen gerne. Nicht zuletzt, weil es sich gleich vielfach von den meisten anderen Büchern, die sich anbieten, unterscheidet.
Danke!
Sebastian Saum ist ein satter Zeitgenosse. Man muss es sich leisten können, für eine unbestimmte Zeit weich gepolstert in seinem Badezimmer abzutauchen, mit Aussicht auf die Wiesen und Felder jener, die eine derartige Pause wohl gar nie verstehen würden. Dabei trägt wohl fast jede und jeder diesen Wunsch mit sich herum, für einmal einfach alles sein zu lassen, die Welt draussen zu lassen, nur seinen Gedanken nachzuhängen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistung definiert, über Erfolg und Resonanz. Die Kunst genauso. Wie weit ist dein Roman eine Versuchsanordnung? Eine Versuchsanordnung prüft eine Hypothese; in manchem versucht der Roman so etwas. Was wird geprüft? Unser Verantwortungsgefühl, Fragen der Freundschaft und Treue. Mechanismen der Verdrängung und Scham, der Roman ist also auch eine Kritik. Saum ist zwar aus einer Laune in der Wanne gelandet, kommt dann aber nicht mehr so leicht heraus. Er geht von sich selbst aus und landet in einem Karussell der Erinnerungen und Beziehungskonstellationen. Es geht also auch um Entscheidungen und Bedingungen. Er kann es sich leisten, trotzdem läuft er Gefahr, darüber verrückt zu werden, oder depressiv.
Klar, du erzählst eine Geschichte. Sie bleibt seltsam kühl und distanziert. Das Drama, das sich dabei abspielen könnte, ist in den Decken und Kissen in der Badewanne abgefedert. Wer weiss, wäre Sebastian nie mehr aufgestanden. Was wäre geschehen, hätte ihn sein ergebener Freund nicht so fürsorglich unterstützt. Mir scheint, es ging dir gar nicht so sehr um das Drama. War es das Bild, das dich faszinierte, das Gedankenexperiment? Der Typus Mensch, der seine Gedanken in Richtungen schweifen lässt, die überraschend sind? Ging es um die Sprache, die Beschreibungen, die in dem begrenzten Bild des Badezimmers einen ebenso begrenzten Raum benötigen? Sein Freund rettet ihn zunächst durch seine Bewirtung, versucht immer wieder neue Tricks ihn herauszulocken, ist ohnmächtig und gefangen in dieser neuen Abhängigkeit. Schliesslich rettet er ihn mit dem letzten Mittel, ihn (vorübergehend?) zu verlassen. Das ist natürlich ein Spoiler, nicht verraten. Es geht mir um das Drama, das einsetzt, sobald wir uns mit unseren Zweifeln auseinandersetzen und dadurch die Welt schrumpft oder bedrängend wird. Das steht nicht nur einem bestimmten Typus Mensch zu, alle Privilegierten könnten das, um andere Entscheidungen zu treffen. Und um das Drama, verstanden werden zu wollen. Das Badezimmer ist der ideale (Rückzugs-)Ort dieses Kammerspiels, durch seine Kühle und zugleich Intimität ein passender Ort für diese Parabel, diese Übertreibung. Die Nacktheit ist nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinn das, was ihn verletzlich macht.
Dein Roman ist ausgesprochen stofflich, mehrdeutig gemeint, textil, voll von sinnlichen Beschreibungen. Sprache ist auch ein Stoff, mal seidenweich, mal bretthart, aschfahl oder grell bunt. Dein Erzählen lebt von Listen, Aufzählungen, die sich wie Kaskaden lesen. Faszinierend, aber wohl für viele „Unterhaltungsleser*innen“ fremd. Ist dein Schreiben für dich einfach der sprachlicher Ausdruck deiner Kunst, eine Art Malerei mit Sprache? Vergleiche, Listen und Ähnlichkeiten sind gute Methoden, um Bedeutungs-Varianten zu zeigen, Verwandtschaften und Gegensätze. Ich suche Pluralität und Mehrdeutigkeit. Auf meinem beruflichen Hintergrund untersuche ich seit langem in verschiedenen Kontexten die Zusammenhänge zwischen verbaler und nonverbaler Sprache, also Bilder in der Sprache. Weniger die Malerei, als die Auffassung von Sprache als (konkretes) Material hat mich zur Literatur geführt. Dort ist die Schrift das Medium, in jedem Satz wird neu verhandelt, wie wir die Sprache als Gewebe zwischen einander nutzen, verstehen, verschieben können. Die Sprache verbindet und trennt gleichzeitig; wo Saum sie wörtlich nimmt, scheinen Bilder darin auf. Die Sprache enthält unser Weltbild. Also sind es eher mentale Bilder, Aha-Erlebnisse, die ich ‘male’. Und die plötzlich nicht nur die Figur betreffen oder treffen.
Ich bewundere Sebastians Freund Franz, der mit ihm unter dem gleichen Dach wohnt, wie lange er mit stoischer Geduld die Eskapde seines Freundes trägt, wie er ihn mit dem Nötigsten versorgt, ihn kulinarisch verwöhnt, bis ihm dann doch ziemlich deutlich der Kragen platzt: „Ich ziehe dich nur nutzlos herum, wie einen toten Elefanten.“ Doch auch ein Satz, der sehr gut ins Argumentarium kulturkritischer Kreise passen würde! Beide nehmen mehr oder weniger offensichtlich Bezug auf die Rolle der Kunstschaffenden und deren Wert für die ‘Gesellschaft’, die beide alimentiert. Das Essen spielt im Roman eine zentrale Rolle, es verbindet den Menschen mit einem Grundbedürfnis und macht ihn tierähnlich, es ist auch Analogie zur Ermöglichung von Kunst. ‹Aus der Badewanne kann niemand die Welt retten›, ausser es wird darin ordentlich sublimiert, so die Erwartung. Ich schätze Kunst, die aus existentiellen Beweggründen gemacht wird oder unterstützt. Für undogmatische Vielfalt. Und gegen das kollektive Wegschauen. Saum hat also nicht nur Gelegenheit, ’seinen Gedanken nachzuhängen›, sondern gerät an unangenehme Zusammenhänge zwischen sich selbst und der Welt.
Ich liebe dein Buch aus vielerlei Gründen. Nicht zuletzt darum, weil sich in deinem Buch Sätze finden, die ich am liebsten gross an eine Wand schreiben würde. Sätze, die wie Türen wirken, an denen ich kurz verweilen musste, um hineinzusehen oder hineinzugehen. Ist dein Schreiben mehr Lust oder harte Arbeit? Was passiert mit Tine Melzer, wenn sie schreibt? Die grösste Lust ist das Zusammensetzen der Texte zu einem Gesamtbild. Das Buch ist dann eine Komposition, eine Zusammensetzung wie ein Stück, das dem Publikum überlassen wird, und zugemutet. Ich schreibe nicht ‘plotgesteuert’, ich weiss anfangs nicht, wie sich die Figuren oder deren Handlungen entwickeln werden. Ich folge der Sprache und schaue ihr dabei zu, wie sie sich durchsetzt, sich behauptet, manchmal ‘gegen’ eine Idee oder Geschichte. Wenn ich schreibe, umschwirren mich manche Worte wie Fliegen, die ich aufschreiben muss, damit sie mich in Ruhe lassen. Ich vertraue der Sprache, ja, als Stoff, nehme Worte buchstäblich, folge dem Credo Wittgensteins, dass manches sich sagen lässt, anderes zeigen. Das Schreiben sucht die Grenzen der gewohnten Sprache auf, u.a. weil es materialisiert, wovon wir sonst wenig Zeugnis haben oder ablegen. Die harte Arbeit ist es, den Tag zu überstehen und diszipliniert Nischen zu finden, in denen ich schreiben kann.
Tine Melzer, geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.