Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt #SchweizerBuchpreis 23/05

Vielleicht müsste man das Buch mit einem roten Kleber markieren, der vor Risiken und Nebenwirkungen warnt. Abgesehen davon, dass ein solcher Kleber die Verkaufszahlen eines solchen Buches mit Sicherheit positiv beeinflussen würde. Wer mit dem Buch eine Lektüre in die Nacht beginnt, muss riskieren, dass einem das Buch bis in die Träume begleitet.

Wer es am Strand liest, wird nicht sicher sein, ob es die Sonne oder die Lektüre ist, die einem den Kopf verdreht. Wer sich Spannung, eine Story verspricht, wird sich mehr als nur wundern, denn Matthias Zschokke ist wohl gewiefter Geschichtenerzähler, dessen Geschichten sich aber aller Voraussehbarkeit entziehen. Matthias Zschokke nimmt mich mit in seine leicht entrückte Welt, ein in Schieflage geratenes Kleinstuniversum.

Ein Mann in mittleren Alter wird in seinem Büro von der Polizei aufgesucht, die ihm mitteilt, dass sein kleiner Sohn von einem Lastwagen totgefahren wurde. Der Mann verlässt das Büro und torkelt durch die Stadt, torkelt durch sein Leben, das nicht erst mit dem Tod seines Sohnes aus dem Tritt gekommen ist. Peter, den man seit seiner Kindheit Saint-Blaise nennt, ist verheiratet. Aber das Leben mit seiner Frau ist zu einem funktionierenden Nebeneinander geworden. Keiner interessiert sich für das Leben des anderen. Peter fühlt sich in seinem Büro einer Verwaltung zusammen mit seinem Büropartner Prosciutto mehr geborgen, als im Ehebett zusammen mit seiner Frau. 

Eines Tages beauftragt man ihn gegen seinen Willen mit der Organisation kleinerer Feierlichkeiten zu einem Jubiläum mit einer französischen Partnerstadt. Auf dem Weg zurück nach Berlin, mit dem Zug nach Basel, wo er ins Flugzeug wechseln soll, vertraut ihm eine Fremde ihren kleinen Sohn an, wohl gerade so alt wie sein tödlich verunfallter Sohn, mit der Bitte diesen nach Basel zu seinem Onkel zu begleiten. Ein kleiner Junge mit oranger Schwimmweste und bleischwerem Skisack. Überrumpelt nimmt sich der Mann dem Jungen an, obwohl der die nervöse Mutter warnt, er habe keine Lust, den Jungen zu unterhalten. Sie unterhalten sich dann aber doch, stockend, wirr, als würde der graue Peter mit letzter Kraft der sein wollen, der er in seiner Familie als Vater nie war; ein Verbündeter, ein Freund, ein Gefährte.

Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt, 2023, 176 Seiten, CHF28.00, ISBN 978-3-85869-977-0

Irgendwann erzählt ihm der Junge von einer Tante Anne in Mulhouse, was den Mann veranlasst, dort eine Pause einzulegen und der Tante einen Besuch abzustatten. Sie deponieren das schwere Gepäck des Jungen in einem Kiosk, trinken heisse Schokolade in einem Café und sind, weil die eisernen Jalousien des Kiosk ganz überraschend geschlossen sind, gezwungen, in Mulhouse ein Hotel zu suchen. Was sich in dem Zimmer zwischen dem Mann und dem Jungen abspielt, ist eine Mischung aus verschrobenen Kindereien und unverständlichen Verrücktheiten. So wie sich Mattias Zschokke mit keinem seiner Bücher um Konventionen schert, so sehr weigert sich der Protagonist, „gesunden Menschenverstand“ walten zu lassen. Nichts an Zschokkes Roman folgt allgemeingültiger Logik. Zschokke, den man auf Fotos mit Nadelstreifenanzug und Taschenuhr fotografiert sieht, der wie sein Protagonist wohl nie ein Smartphone mit sich herumtragen würde und an der Rezeption jenes Hotels die Rezeptionistin fragen muss, ob er kurz seine Frau verständigen könne, es werde etwas später, ist nicht an der Art des Geschichtenerzählens interessiert, die sich mir als Leser anbiedert. Zschokke erzählt seine Bilder, seine Kleinstgeschichten, leicht verrückt, aber dafür gemalt, als wären sie kubistisch erzählt.

Es braucht mehr als die Suche nach Unterhaltung, will man den Büchern Matthias Zschokkes gerecht werden. „Der graue Peter“ entzieht sich aller Strömungen, aller Vorsicht. Die Lektüre seines Romans wird zu einer Achterbahnfahrt im Nebel. Zschokkes Literatur ist ein Monolith in der immer seichter werdenden Masse.

Interview

Ihr Buch ist ein besonderes Buch, so wie alle Ihre Bücher besondere sind. Zum einen scheinen sie nicht in die aktuellen Themen zu passen, entziehen sich all den Strömungen, denen sich viele Bücher anbiedern. Ihr Schreiben ist solitär, einzigartig. Zum andern sind die Handlungen Ihrer Bücher so gar nicht voraussehbar, bewegen sich weit weg von Klischees. Das muss man als Lesende aushalten können. Erstaunlicherweise akzeptiert man das in der Musik, der Malerei oder Bildhauerei. Man muss nicht verstehen. Und ausgerechnet in der Literatur soll alles erklärbar, logisch, rational, durchsichtig sein. Das verstehe ich nicht. Aber vielleicht hat das damit zu tun, dass der gegenwärtige Mensch das Nicht- und Unerklärbare gar nicht mehr aushält. Die Medien sind voll von Erklärern. Und die meisten widern mich an.

Sie sind lustig! Für mein Empfinden plansche ich permanent mitten drin. Vielleicht schwimme ich gegen die Themen an oder quer zu den Strömungen, aber ich fühle mich jederzeit bis in die letzte Pore getränkt von ihnen. 
Zum Beispiel erwähne ich auf einer der ersten Seiten in zwei Nebensätzen, Peter habe als Kind fürs Leben gern auf Baustellen gespielt. Das schönste sei für ihn gewesen, von Lastwagenfahrern hochgehoben, auf den Beifahrersitz gesetzt und mitgenommen zu werden, wenn frischer Teer oder Zement geholt werden musste. Der in der Gegenwart verpeilte Leser vermutet darin reflexartig einen Hinweis auf Missbrauch. Der LKW-Fahrer gehört seiner Meinung nach angezeigt, dem Kind wird drastisch auseinandergesetzt, was alles hätte passieren können. Es zieht sich verängstigt in sein Zimmer zurück, setzt sich vor seinen Computer und spielt mit Kopfhörern über den Ohren Onlinegames – das ist mir alles selbstverständlich bewusst, und während ich das sage, fällt mir siedendheiss ein, dass das vielleicht inzwischen Kopfhörerinnen heissen muss. So bestimmt die Gegenwart permanent mein Denken und beeinflusst das, was ich aufschreibe, bis ins letzte Komma.
Oder das Beispiel, das Sie erwähnen: Im ersten Satz erfährt Peter, dass sein Kind überfahren worden ist. Jede Woche mindestens einmal wird in Deutschland am Fernsehen ein Krimi gezeigt. Da wird innerhalb der ersten Minute mindestens eine Leiche präsentiert – das ist die Vorgabe der Redaktionen –, von der aus sich dann der Fall entwickelt. Jahrelang sah man abends also eine Haustür, an der zwei Polizisten klingelten. Die Tür wurde von einer Frau oder einem Mann geöffnet. Ihr oder ihm wurde mitgeteilt, dass der Partner oder das Kind oder die Mutter oder sonst jemand Vertrautes überfahren oder erstochen oder ertränkt worden sei. Daraufhin bemühte sich der Mann oder die Frau, sich auf besonders expressive Weise erschüttert zu zeigen. Diese Art von Erschütterung wurde früher an den Schauspielschulen „ein Ausbruch“ genannt. Bei Aufnahmeprüfungen musste man „einen Ausbruch“ improvisieren: „Stellen Sie sich vor, Ihre Geliebte wurde eben vor Ihren Augen erstochen. Los!“
Ich meine, mein Protagonist reagiere so nah an sich wie nur möglich. Er bemüht sich, von seinen Empfindungen nur die zuzulassen, die er beim besten Willen nicht verstecken kann. Weil wir Normalsterblichen schliesslich nicht ans grosse Drama gewöhnt sind. Wir haben gelernt, so was tut man nicht; man beherrscht sich.
Das erkläre ich selbstverständlich nicht im Buch, denn das weiss der Held ja nicht von sich. Er hat es in seinen Genen.

Peter erträgt Mitmenschen nur schwer.  Seine Frau ist die einzige, die er neben sich erträgt.  Selbst seine Eltern waren dem „grauen Peter“ fremd geblieben. Sie leben seit Jahrzehnten in Berlin. Muss es eine grosse Stadt sein, um darin verschwinden zu können? Um sich vor den Menschen zu schützen?

Ich kenne nur wenige, die die Frage vorbehaltlos bejahen würden. Es ist kaum ein Zufall, dass sich immer mehr von uns in den virtuellen Raum zurückziehen. Menschen reagieren unberechenbar. Das ist auf die Dauer ermüdend. Im Internet wird man nicht dauernd unterbrochen. Das ist leichter auszuhalten. Berlin ist besonders gut geeignet dafür, niemandem zu begegnen, da haben Sie recht. Die Distanzen sind hier gross. Wenn ich jemanden treffen möchte, den ich kenne, muss ich lange Wege auf mich nehmen und viel Zeit investieren. Selbst auf der Strasse sind die Distanzen zueinander sehr viel grösser als gewöhnlich. Wenn man jemandem begegnet, muss keiner ausweichen. Man geht mit zwei Metern Abstand aneinander vorbei. Das ist angenehm. Ein wenig traurig vielleicht, aber angenehm.

Zéphyr, der Junge, der von seiner verzweifelten Mutter im Zug in die Obhut von Peter gerät, trägt eine orange Schwimmweste und schleppt einen bleischweren Skisack mit sich herum. Ist Zéphyr Peters Spiegelbild?

Die Schwimmweste wie auch das Gewicht des Skisacks sind beide erklärt. Die Mutter des Jungen hat in den Medien von einem Fluss gelesen, der über die Ufer trat, und möchte ihr Kind vor dem Ertrinken schützen. Und sie las von Winterorkanen in den Alpen und bittet den Jungen, Bleigewichte in die Taschen zu stecken, bevor er auf die Piste geht. Ob diese beiden Informationen zusätzlich symbolische Bedeutung haben, weiss ich nicht. Ich meine, auch das ist die Gegenwart, die mitschreibt: Ich empfinde eine permanente Überfürsorge, eine Begluckung, die mir zunehmend die Luft abklemmt.

Auf aktuellen Fotos sieht man Sie mit dunklem Nadelstreifenanzug und Uhrenkette. Nicht nur ihres Aussehen wegen, denke ich oft an Robert Walser. Auch er war ein Unikat, ein Monolith. Ihre Romane scheren sich nicht um Stringenz, Plott und Spannung. Es ist das Bild des Ganzen, der Pinselstrich. Es ist die Sprache. Es sind die Fragen, die ich mir während des Lesens stelle, Fragen, die sich manchmal weit weg vom Geschehen in ihrem Roman aufzwängen. Wieviel Walserisches steckt in Ihnen?

Der Anzug hat eine Geschichte. Die ist zu lang zum Erzählen. Ich habe ihn geschenkt bekommen. Und fand, je öfter ich ihn trug, desto mehr, ein dreiteiliger Anzug sei ein perfektes Kleidungsstück, durch Jahrhunderte verfeinert, durchdacht. Mit den richtigen Taschen an den richtigen Stellen, mit der Möglichkeit, ein Teil davon auszuziehen, wenn’s zu warm wird, und umgekehrt. Ich muss fast nichts mehr einpacken, wenn ich zwei, drei Tage irgendwo hinfahre. Alles hat Platz in ihm. Es ist eine ideale Berufskleidung (fotografiert werden gehört zur Arbeit; privat mag ich mich nicht fotografieren lassen). Wenn man heimkommt, kann man ihn ausziehen und an die frische Luft hängen. Nach zwei Tagen ist er wieder wie neu. Ein grossartiges Kostüm. Privat ziehe ich ihn selten an. Da brauche ich nicht so viele Taschen.

Zur Taschenuhr: Von Armbanduhren habe ich am Handgelenk in meiner Jugend einen Ausschlag bekommen. Und ich schlug oft mit ihnen an Gegenstände und fühlte mich eingeschränkt in der Bewegung. Darum habe ich früh angefangen, Taschenuhren zu tragen. Und ich mag das Aufziehen.
Zu Robert Walser: Jeder von uns ist ein Unikat. Die meisten schleifen an sich herum, um weniger anzuecken und leichter durchs Leben zu kommen. Walser war darin wohl besonders unbegabt und musste es aushalten, ein Monolith zu sein. Ich hoffe, es steckt nicht allzu viel von ihm in mir drin. Es war bestimmt anstrengend, er zu sein.

Ihre ersten Romane erschienen bei List und Luchterhand, grossen Verlagen, später bei Ammann, dem damals renommiertesten Verlag in der Schweiz. Als Amman von der Bildfläche verschwand, war es Wallstein. Nun Rotpunkt. War Wallstein Ihr Buch zu heftig, zu risikoreich?

Keine Ahnung. In Deutschland ist die Stimmung zurzeit extrem angespannt. Jedermann und jedefrau reagiert auf alles überempfindlich. Man ist panisch darum bemüht, sich nach den Vorgaben des Justemilieu auszudrücken und bloss nicht aus Versehen zu sagen, heute sei ein besonders kalter Tag (wegen der Klimaerwärmung gibt es nur besonders warme Tage) oder die Nato habe … oder Corona …
Mag sein, es ist eine Gratwanderung, was ich im Buch mache. Da Deutschland nicht viele hohe Berge mit Grat hat, scheut man hier vielleicht mehr zurück vor solchen Wanderungen als in der Schweiz?

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn». Aktuell läuft Matthias Zschokkes neustes Werk als Filmemacher; Z-S-C-H-O-K-K-E

Illustrationen © leafrei.ch

Schweizer Buchpreis 2023: Die 5 sind da! #SchweizerBuchpreis 23/02

Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.

Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.

Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln.
Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!

 

«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller
Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard
Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.

Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.

«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will.
Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm.
Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. 

«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz
Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive.
Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun?
«Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin. 

«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke
Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde.
Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».

19. November 11 Uhr: Preisverleihung Schweizer Buchpreis 2023
Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Zur feierlichen Preisverleihung 2023 im Foyer des Theater Basel sind Sie herzlich eingeladen. Der Eintritt ist gratis, Tickets können Sie ab Mitte Oktober über die Webseite des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel beziehen.

Illustrationen © leale.ch

Gianna Molinari «Hinter der Hecke die Welt», Aufbau

Gianna Molinaris Romane sind Sondierungen in die Tiefe. Wie in ihrem Debüterfolg „Hier ist noch alles möglich“ wählt die Autorin nicht nur ganz spezielle Erzählorte, sondern setzt ihr Erzählen in eine Horizontale, weg vom gewohnten Blick in eine vertikale Weite. Gianna Molinaris Erzählen entzieht sich gängiger Erzählstrukturen und macht ihre Romane zu funkelnden Diamanten.

Dora, eine Meeresforscherin in der Arktis, sieht in den Veränderungen am Pol, seien es die klimatischen oder die durch diese hervorgerufenen wirtschaftlichen, eine sich verändernde Landschaft. Nichts am ewigen Eis ist mehr ewig. Alles wird endlich und durch diese Endlichkeit grossen Umwälzungen unterworfen. Die Eiskappen schmelzen. Was mit den menschlichen Eingriffen schon vor mehr als hundert Jahren seinen Anfang nahm, wird durch die Auswirkungen menschlichen Tuns und Unterlassens so sehr beschleunigt, dass nicht absehbar ist, was in den kommenden Jahrzehnten auf das Leben auf diesem Planeten zukommen wird. Dora sammelt als Wissenschaftlerin Sedimentproben vom arktischen Meeresboden, kartographiert und untersucht das, was noch ist und sich in Zukunft rasant verändern wird.

Dora hat Pina, ihre Tochter, im Dorf zurückgelassen, genauso wie Karsten ihren Mann, der einst wegen ihr in das kleine Dorf gezogen war. Zusammen mit der gleichaltrigen Lobo sind Pina und sie die einzigen Kinder, die im Dorf geblieben sind. Einem Dorf, das zu verschwinden droht. Einem Dorf, das in seinem Verschwinden vom Wuchern einer Hecke gleich neben dem Dorf begleitet wird. Einer Hecke, vor der man sich gleichermassen fürchtet wie Hoffnungen setzt. Solange sie wächst, bleibt die Hoffnung auf Veränderung. Dass das Verschwinden aufgehalten wird, dass mit den Veränderungen der Tourismus wirkt, Wachstum auch ins Dorf zurückkehrt – und vor allem, dass die beiden Mädchen wieder wachsen, denn trotz aller Anstrengungen bleibt das Wachstum der beiden aus, bleibt ihre Körpergrösse die immer gleiche.

„Das Eis ist ein Gedächtnis kurz vor dem Vergessen.“

Gianna Molinari «Hinter den Hecken die Welt», Aufbau, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-351-04173-1

Das ganze Dorf wappnet sich gegen das Verschwinden. Genauso wie man die seltsame Hecke beobachtet, nicht weiss, ob sie Bedrohung oder Kapital sein kann. So wie in der Arktis wird unterucht und gemessen, festgehalten und prognostiziert. „Hinter der Hecke die Welt“, weil jedes Ende ein Anfang ist, weil die Spezies Mensch nicht verstehen kann, dass alles im Wandel ist, höchstens der Wandel ewig. Obwohl der Mensch alles auf diesem Planeten mit seinen langen Fingern für sich einnimmt, behandelt man den Organismus Erde wie eine immer gleiche blaue Kugel, obwohl es der Mensch ist, der die Veränderungen potenziert, das gleichförmige Wachsen und Verschwinden zu einem katastrophalen Prozess beschleunigt.

Gianna Molinaris Roman erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist sie nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei mir als Leser. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt.

Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Und ganz nebenbei erfahre ich als Leser Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Wussten Sie, dass das Arktische Eichhörnchen seinen Organismus einfrieren kann? Kennen sie den Riesenalk oder den Grönlandhai, der 500 Jahre alt werden kann? „Hinter der Hecke die Welt“ – tatsächlich!

Interview

Ich las Dein Buch sehr gerne, auch wenn Du es mir nicht ganz leicht gemacht hast. Aber wahrscheinlich wolltest Du das auch gar nicht. Weil Du mich mit Deiner Schreibe zur Langsamkeit zwingst, einem Lesetempo, dass sonst nicht meinen Gewohnheiten entspricht. Ich wollte verstehen, witterte wahrscheinlich den einen oder anderen doppelten Boden, wo Du eigentlich nur fabulieren, abdriften, eintauchen wolltest. 
Man kann Deinen Roman mit vielen Brillen lesen: eine Mutter weg von ihrer Familie, eine Forschende, die das Eis mit ihren Fragen löchert, ein Dorf, dass sich gegen das Verschwinden stemmt, ein Dorf zwischen Angst und Expansionsfantasien, zwei Kinder, die nicht mehr wachsen … und eben diese geheimnisvolle Hecke. War ein Plan da?
Es ist während dem Schreibprozess immer wieder ein Plan da. Das Ärgerliche aber vielleicht auch das Schöne und Wichtige an diesen Plänen ist, dass ich sie auch immer wieder verwerfen muss. Vor allem, weil ich jeweils merke, dass ich nicht so schreibe, nicht nach Plan, dass das schlicht nicht ergiebig ist, dass ich mir den Stoff, die Motive, die Figuren, die Geschichten erschreibe, also nur im Schreiben Stück für Stück dem näher komme, was dann zum fertigen Text wird. Und ja, da stimme ich Dir zu und das freut mich auch sehr, deine Aufzählung von dem, was Du alles im Text liest, diese Vielbrilligkeit, im besten Sinne die Offenheit des Textes, die habe ich gesucht, damit die Leser*innen ihre eigenen Wege durch das Buch gehen können. Das zumindest erhoffe ich mir.

Die Hecke wächst, das Dorf stagniert. Die Hecke als Labyrinth, das Dorf als Ort, in dem man mit aller Energie an Wachstum glaubt. Vielleicht lese ich in der Hecke auch meinen eigenen Wunsch, die Natur möge sich zurücknehmen, was man ihr entrissen hat. Aber wahrscheinlich ist es genau das, was mich an Deinem Roman fasziniert; die Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten. Ist Dein Roman auch ein Statement in erzähltechnischer Hinsicht? Gegen die Banalität?
Es ist, denke ich, nicht ein Anschreiben gegen die Banalität. Das Schreiben ist für mich vielmehr eine Möglichkeit oder der Versuch, die Welt, der ich als Schreibende begegne und mit der ich mich auseinandersetzen möchte, zu fassen und sie dabei nicht zu vereinfachen, sondern ihr Raum zu geben. Und ganz so trennbar oder gegensätzlich ist es ja nicht, die Welt ist ja banal und unfassbar komplex zugleich.

© Gianna Molinari

Ich lese viel und wundere mich, dass der Aufbau Verlag, den ich nicht wirklich zu den experimentierfreudigen zähle, auch Deinen Zweitling druckte. Erstaunlich oder doch nicht? War die Unterstützung im Verlag einhellig?
Das würde mich natürlich jetzt auch interessieren, was der Aufbau Verlag zu Deiner Sichtweise auf ihr Programm antworten würde. Aber nein, ich bin nicht Deiner Meinung, der Aufbau Verlag hat zum Beispiel mit Blumenbar ganz klar auch eine experimentierfreudige Seite und aus meiner Wahrnehmung war die Unterstützung für meinen Roman einhellig und gross und die Zusammenarbeit im Lektorat und mit allen Verlagsmitarbeitenden finde ich grossartig. 

Bei der Bildenden Kunst hält man das Nichtverstehenmüssen aus. Auch bei der Musik. Ausgerechnet bei erzählender Literatur aber ganz offensichtlich nicht, zumindest jene, die das Buch zur blossen Unterhaltung „brauchen“. Lässt das nicht manchmal zweifeln?
Das Nichtverstehenmüssen hängt für mich auch mit dem Nichterklärenmüssen zusammen. Ich möchte nicht erklären, ich möchte die Dinge lange und gut betrachten und dann beschreiben. Ich möchte den Dingen nachgehen und ihnen so vielleicht auch nahekommen, so nahe, dass ich und im besten Fall auch Leser*innen des Textes, diese anders betrachten können, etwas Neues entdecken. Aber ja, der Text arbeitet mit Leerstellen und lässt vieles offen. Dass nicht alle Leser*innen solche Leerstellen mögen, ist absolut okay. Ich freue mich aber sehr über diejenigen, die sich auf ein Nichtverstehenmüssen einlassen.

Auch in diesem Buch finden sich wieder Illustrationen. Auch wenn diese nicht im eigentlichen Sinn illustrieren. Auch Fotos sind abgedruckt, Recherchefotos. Welche Rolle spielen das Zeichnen und Fotografieren in Deinem Sehen und Suchen?
Innerhalb des Romans gehören die Bilder zu Doras Erzählteil, sie sind gewissermassen Logbucheinträge von ihr. Die Bilder sind eine Möglichkeit, die Dinge nochmals anders zu erzählen, von einer anderen Seite zu betrachten. Der Wechsel des Mediums ist für mich im Schreibprozess auch immer ein sehr wichtiges Werkzeug, um meinen eigenen Blick zu schärfen.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Für einen Auszug aus ihrem ersten Roman erhielt sie den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017. Ihr Debütroman »Hier ist noch alles möglich« war ein grosser Erfolg, wurde für das Theater adaptiert, erhielt den Robert-Walser- und den Clemens-Brentano-Preis und war für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Christoph Oeschger

Monika Helfer «Die Jungfrau», Hanser

Monika Helfer liest
in der Bodan Buchhandlung Kreuzlingen.

Freundschaften kommen und gehen. Aber die eine oder andere bleibt, manchmal ein ganzes Leben, wenn auch mit Pausen, jahrzehntelangen Pausen. Monika ist Schriftstellerin geworden, erfolgreich, verheiratet mit Michael, Mutter von vier Kindern. Gloria ist wie sie alt geworden. Und eines Tages schreibt eine Nichte Glorias einen Brief und bittet Monika „noch einmal mit ihr in Verbindung zu treten, bevor sie sterbe.“

Sie hatten sich schon als Kinder in der Schule gefunden. Gloria war für die schüchterne Monika ein Leuchtfeuer, eine „die meine Einbildungskraft entzündete“. Während Monika aus einfachen Verhältnissen kommt, wächst Gloria in einem grossen Haus allein mit ihrer Mutter auf. Einer Mutter, die nicht zu arbeiten braucht, in einem Haus, in dem die beiden Bewohnerinnen nur drei Zimmer bewohnen, in einem Garten, der verwildert und wie alles an Haus und Bewohnerinnen in Geheimnissen getaucht ist.

Monika Helfer «Die Jungfrau», Hanser, 2023, 152 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-27789-2

Zwischen den beiden Mädchen wächst eine Freundschaft, pendelnd von maximaler Nähe bis Distanz. Gloria ist für Monika nicht nur in Kindertagen schwer einzuschätzen. Ob als Kind oder Frau; Gloria lebt im Gegensatz zu Monika in einer Welt, die sich ständig den Realitäten zu entziehen versucht. Gloria, die permanent die Gravitation aushebeln will, der mit ihrem Aussehen und ihrer Ausstrahlung alles zu Füssen liegen scheint. Sie will Schauspielerin werden und schafft es auch tatsächlich, die Aufnahmeprüfung am Max Reinhardt Seminar in Wien zu bestehen. Noch mehr. Einer der Professoren ist derart von Gloria fasziniert, dass dieser ihr eine Wohnung einrichtet und Gloria ist dreist genug, eine Einladung ins Haus, an den Familientisch des Professors anzunehmen. Aber Gloria bricht ab, so wie sie vieles abbricht. Sie kehrt zurück ins grosse Haus ihrer Mutter und bleibt. Bis sie sich im Alter gar nicht mehr so sehr von der gescheiterten Figur ihrer Mutter unterscheidet.

So wie das Leben der erzählenden Monika in geordneten Bahnen seinen Lauf nimmt, so sehr fehlt dem Leben ihrer Freundin Gloria eine Spur. Gloria, eigentlich ein ganzes Leben für den grossen Auf- und Ausbruch bereit, ist schon mit ihrer Herkunft in dauerndem Hadern, denn wer ihr Vater ist, bleibt ein langes Geheimnis, bis Gloria, schon im reifen Alter, ihre Freundin bittet, ihrem Vater gemeinsam mit ihr einen Besuch im Pflegeheim abzustatten. Aber dort trifft sie einen dementen Mann, einen Schatten einer Existenz, der dann aber doch, nachdem die beiden für ihn ein Heinolied singen mit Daumen und Zeigerfinger ein Zeichen gibt, als wolle er die beiden Frauen abschiessen. Nicht der erste Versuch von Gloria, Monika zu ihrer Verbündeten zu machen. Eine Verbündete gegen ihren Schmerz, der wie eine Glocke über Glorias Leben steht, eine Glocke, die Gloria nie werden liess, was sie hätte werden wollen; eine Mutter, eine Geliebte, eine Ehefrau, eine Erfolgreiche, eine Souveräne.

Der Roman „Die Jungfrau“ überrascht nach der Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ gleich vielfach. Monika Helfer spielt mit ihrer Erzählperspektive, erzählt von sich in der dritten Person, vom Ehemann Michael (Köhlmeier), der ihr Erzählen, ihr Schreiben begleitet, von Dialogen zwischen den beiden Schreibenden, Dialogen, die viel Intimes offenbaren. Sie erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die zwei Leben verbindet, deren Umlaufbahnen sich immer wieder kreuzen, deren Zentrifugalkräfte aber auch zu maximaler Distanz führen. Ein Buch über Lügen und Geheimnisse, über Träume und bittere Realitäten. „Die Jungfrau“ ist ein junges Buch, alles andere als konventionell erzählt, erfrischend mutig und erstaunlich persönlich!

Monika Helfer liest und diskutiert am 15. September in der Bodan-Buchhandlung Kreuzlingen um 19.30 Uhr. Moderation: Gallus Frei Anmeldung ist erwünscht!

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).

Andreas Neeser «Solangs no goht, chunnts guet», Zytglogge

Andreas Neeser ist vielfältig wie nur wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Ob Lyrik oder Prosa, ob kurz und knapp oder episch, ob in Deutsch oder seinem ganz eigenen Dialekt, ob in Verbindung mit Musik oder für Kinder … Andreas Neeser kann alles – und zwar meisterhaft.

In „Solangs no goht chunts guet“, acht Erzählungen, drei „Stückli“ und einem halben Dutzend  „Trooscht und Pfläschterli“ webt mich der Autor in eine Welt ein, die sich ganz unmittelbar gibt. Klar will der Autor unterhalten. Klar spielt er mit Wörtern, mit Sätzen, die auf ihre ganz eigene Art und Weise in mir nachhallen. Aber Andreas Neeser lädt mich ein, ein Stück mit ihm zu gehen. Sei es zum alten Vater, dem er im Übermut einen Elektroroller kauft, ein Schritt, der sich mannigfaltig rächt, zu einem Videocall während der Coronazeit mit den Eltern zuhause, mit Frau und Kind ans Meer, am Steuer eines Lasters durch den Stau… Erzählungen, die sich ganz auftun, getränkt von Ehrlichkeit und dem Bewusstsein, dass die Souveränität im Leben meist nur punktuell funktioniert. Ein Erzählton nie von oben herab oder distanziert. Da erzählt einer, als ob man nach langem Schweigen Rücken an Rücken irgendwo sitzt und genau spürt, dass es nicht darum geht, mit Klugheiten bestechen zu wollen. Manchmal ist in den Erzählungen auch eine ordentliche Portion Wut spürbar. Wut über die Kleinlichkeit, die Dummheit des Menschen. Eine Wut, die nachvollziehbar ist. 

Andreas Neeser «Solangs no goht chunnts guet», Zytglogge, 2023, mit Bildern und Collagen von Marianne Büttiker, 104 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-7296-5130-2

Erfischend dann, wenn der Witz durchbricht. Wenn in all der Not, in der sich die Personen in Neesers Erzählungen winden, der Schalk meinen Lesefluss ins Holpern bringt. Ein Humor, der sich nicht am Slapstick der Figuren labt, sondern an der Selbsterkenntnis des Autors. Die Erzählungen verpacken nicht den Humor. Humor blitzt auf, wie Einschliessungen, die sich mit der Lektüre in mein Bewusstsein ergiessen. Erfrischend, nie wohlweisslich!

Den einen oder die andere schreckt Mundartliteratur ab. Das kann ich nachvollziehen. Sperren sich doch die einen oder andern Dialekte nicht nur unseren Lesegewohnheiten, sondern auch unseren Sehgewohnheiten, wenn sich Wortbild und Inhalt jeder Zuordnung sperren. Andreas Neesers neuer Mundart-Erzählband lässt solche Argumentationen nicht mehr gelten. Jede einzelne Erzählung ist mit einem QR-Code versehen – und flugs liest mir der Autor selbst die Erzählung vor, ob im Zug, auf dem Sofa, dem Hometrainer oder beim Zahnarzt. Aber warum das Buch kaufen, wenn ich mir die Erzählungen vorlesen lassen kann. Weil das Lesen und Hören gleichzeitig einen ganz speziellen Genuss ausmacht. Es ist, als würde man die Texte doppelt gleichzeitig geniessen. Sie breiten sich aus, der Genuss scheint intravenös zu funktionieren, bewusstseinserweiternd.

Wer beides gleichzeitig geniesst, das Buch und des Autors Stimme (Andreas Neeser ist ein vortrefflicher Vorleser!), dem ist nicht nur Kammerpiel-Kopfkino garantiert, sondern das seltene Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu können.
Auch wenn Andreas Neeser nicht mit der grossen Geste zu überzeugen versucht – dieses Buch ist ein Mundart-Meisterwerk!

Und dann noch das eine: Auch wenn ich ganz und gar kein Freund von Paperback-Ausgaben bin. Umschlag und Erzählungen sind illustiert mit Bildern und Collagen der Basler Künsterin Marianne Büttiker, die auch schon frühere Mundartprosawerke des Autors bebilderte. Wunderbar schlichte Bilder, die in ihrer Offenheit und Verknappung die Texte Andreas Neesers auf ganz spezelle Weise spiegeln. Ein schönes Buch, trotz all dem eingepackten Schmerz!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht. «Nachts wird mir wetter» (2023) Kurzprosa und Lyrik, «Alpefisch» (2020) Mundartroman, «Wie wir gehen» (2020) Roman, «Nüüt und anders Züüg» (2017) Mundartprosa

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Peter Höner «Rocha Monte», Septime

Peter Höner zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Zwanzig Jahre lang bleibt Aurélio Fuertes der Wächter eines verlassenen Hotels. Während dieser Zeit verliert der Mann fast alles, nur seine Prinzipien nicht. Peter Höners Roman ist die faszinierende Geschichte des Verschwindens. Aber auch eine Parabel über den Zustand der Welt.

Leben Sie Prinzipien? Halten sie sich an Dinge, die Sie einstmals versprachen? Wenn es mit Prinzipien und Versprechen so steht wie mit den „ewigen Treueschwüren“, bis dass der Tod sie scheide, dann sind Menschen, die sich bis zur letzten Konsequenz an ihre Prinzipien, ihre Versprechen halten, wohl eher eine Ausnahme. Wer will sich schon festlegen. Mal schauen, ob sich der Wind nicht dreht. Was geschieht mit Menschen, die mit absoluter Konsequenz festhalten, die nichts und niemand erweichen kann? Sind das Helden oder nicht einfach unsäglich sture, unflexible Zeitgenossen? Leben wir doch in einer Welt, die uns an Flexibilität alles abverlangt. Was heute zählt, wichtig ist, unumgänglich, unumstösslich, ist übermorgen vielleicht schon kalter Kaffee.

Peter Höner erzählt in seinem Roman „Rocha Monte“ die Geschichte eines Unerschütterlichen. Aber Peter Höner erzählt auch die Geschichte vom Verschwinden, eines Mannes, der sich zuerst gegen das Verschwinden eines Traumes wehrt, einer Hoffnung, eines Versprechens. Vom Verschwinden der Liebe, Freundschaft. Und am Schluss verschwindet er selbst. Wobei auch die Raupe verschwindet, die Puppe mit einem Mal leer ist und der Schmetterling ausgeflogen.

Aurélio Fuertes ist Haustechniker im Hotel Rocha Monte, dem ersten Haus auf dem Archipel, hoch über dem Meer mit Aussicht auf die Vulkanlandschaft der Insel. Doch schon nach seiner ersten Saison droht dem Hotel das Aus, oder zumindest umwälzende Veränderungen, denn das Hotel wurde an einem Ort gebaut, an dem während 220 Tagen im Jahr der Nebel hängt, auf einer Insel, auf der sonst eigentlich fast jeden Tag während einiger Stunden die Sonne scheint. Während einer „feierlichen“ Übergabe verpflichtet man Aurélio Fuertes bis zur Neueröffnung mit anderm Besitzer mit Unterstützung des Chauffeurs José Dante Barosa auf das Anwesen aufzupassen. Und weil Aurélio glaubt, als Haustechniker in dem Hotel seine Lebensstelle gefunden zu haben, ein sicheres Fundament für seine Frau und seine beiden Kinder, nimmt er den Auftrag an, verspricht, so lange zu bleiben, bis die Tore wieder öffnen, so lange die Haare nicht mehr zu schneiden, bis wieder Leben in die Mauern des Luxushotels einkehrt. Aber aus Monaten werden Jahre, aus Jahren Jahrzehnte. Zu Beginn feiert man ihn noch als standhaften Helden, auch wenn seine Frau Lucia, schwanger mit dem dritten Kind, der Standhaftigkeit ihres Mannes nichts abgewinnen kann.

Peter Höner «Rocha Monte», Septime, 2023, 264 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99120-020-8

Aurélio merkt sehr bald, dass das Hotel nicht nur am falschen Ort, sondern auch mit einem ganzen Arsenal an Fehlplanungen gebaut wurde. Rechnungen wurden nicht bezählt, Gläubiger vertröstet, bis er mit Hilfe der ehemaligen Rezeptionistin Immaculata herausfindet, dass es nur schon wegen der angehäuften Schulden unwahrscheinlich sein wird, dass jemals wieder solvente Gäste die Zimmer beziehen. Aber Aurélio hat ein Versprechen gegeben. Ein Versprechen, den damaligen Betreibern gegenüber, ein Versprechen gegenüber seiner Familie und Verwandtschaft, aber vor allem ein Versprechen sich selbst gegenüber. Aurélio wird zum Wächter eines dahinsiechenden Betonkolosses. Nach und nach wenden sich die Menschen von ihm ab, heissen ihn stur, unnachgiebig, verbohrt. Irgendwann lässt sich gar Lucia von ihm scheiden, verwehrt ihm den Kontakt zu den gemeinsamen Kindern. Schlussendlich verlässt ihn sein Gefährte José mit seiner Frau Pineda. Was ihm bleibt, ist das Haus, seine Pflanzen, die Musik und sein Hund Kuno. 

Zwei Jahrzehnte lang haust der Mann in dem feuchten Betonhaufen, stemmt sich mit all seiner Kraft dem totalen Zerfall des Hauses entgegen, bleibt seinem Versprechen treu. Bis auch Kuno, der Hund, stirbt und Nevio, der Sohn, der heimlich mit ihm Kontakt hielt, von der Insel wegzieht. Bis er mehr und mehr in den Mauern, zwischen den wuchernden Pflanzen entschwindet und eines Tages ganz.

der Autor auf Recherchereise

Es gibt dieses Hotel auf den Azoren, das Hotel Palace. Peter Höners Roman ist gespickt mit Seiten aus den fiktiven Aufzeichnungen von Aurélio Fuertes, Aufzeichnungen, die dem Roman etwas ungeheuer Authentisches geben. Man spürt die Faszination dieses Ortes, die auf den Schriftsteller übergesprungen sein muss. Aber nicht jene des Ortes, sondern jener der Person des Wächters. Zum einen die Faszination einer vielleicht aussterbenden Gattung Mensch, jener, die um jeden Preis den Prizipien treu bleibt. Die Faszination des Eigenbrötlers, denn die Geschichte hat etwas robinsonhaftes. Aurélio lässt sich auf eine verlassene Insel abdrängen. Ein Hund, seine Pflanzen, seine Bücher und die Musik sind seine letzten Begleiter.

Man liest dieses Buch gleichsam fasziniert und atemlos. Peter Höner ergründet kein Geheimnis. Aber er wird zum feinsinnig, stillen Begleiter eines Menschen, der sich nicht abbringen lässt. Die Art seines Erzählens ist gezollter Respekt. „Rocha Monte“ ist ein unaufgeregtes Meisterwerk!

Peter Höner, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller und Schauspieler, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. Nach Schauspielstudium und verschiedenen Enngagements als Theaterautor, Regisseur und Schauspieler und einem vierjährigen Afrikaaufenthalt veröffentlichte Peter Höner Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Seit 2004 wohnhaft auf dem Iselisberg. Auf dem Iselisberg gründete er zusammen mit der Schriftstellerin Michèle Minelli die Schreibwerkstatt Schreibwerk Ost.

«Kenia Leak», Rezension auf literaturblatt.ch

„HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt“, Rezension auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Lyrik und Sound mit Margret Kreidl (Lyrik) und Andrin Uetz (Gitarre) im Literaturhaus Thurgau

am Donnerstag, 31. August 2023 19.30 Uhr

Die österreichische Lyrikerin Margret Kreidl und der Musiker und Sänger Andrin Uetz treffen sich für einen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Am Abend wird dann unter dem Dach des Literaturhauses präsentiert, was aus diesem einen Tag der intensiven gegenseitigen Auseinandersetzung entstanden ist. Eine einmalige Performance – ein künstlerisches Unikat! 

Bei diesem Format treffen sich verschiedene Kunstsparten; Grenzen und starre Muster lösen sich auf, und es kann in einem solchen Experiment Neues, Überraschendes entstehen – für das Publikum genauso wie für die Künstlerinnen und Künstler. Ein Abenteuer! 

Margret Kreidl, Dichterin und Performerin © Sandra Kottonau

Margret Kreidl, geboren 1964 in Salzburg; Studium in Graz; seit 1989 freiberufliche Schriftstellerin (Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Lyrik); seit 1990 Aufführungen im In-und Ausland, zum Beispiel 2016 am Centre Dramatique National de Montpellier. Zahlreiche Hörspiele für den ORF, seit 1995 auch regelmässige Buchpublikationen. Writer in Residence in Deutschland, Serbien und der Schweiz und Gastprofessorin in den USA. Seit 2015 Lehrende für Ästhetik und kreative Schreibwerkstatt an der Musikuniversität Wien. Margret Kreidl lebt in Wien. 

Andrin Uetz ist Musiker, Klanganthropologe, Veranstalter und Journalist. In seiner Dissertation untersuchte er die Soundscapes von Hongkong und entwickelte dabei die Methode der promenadologischen Fieldrecordings. Er interessiert sich insbesondere für Klang und Musik als soziales Phänomen, sowie für ortspezifische Interventionen. 

Die Veranstaltung wird vom Österreichischen Kulturforum in Bern unterstützt.

Sara Wegmann «Sırma» – Sofalesung in Amriswil am Sonntag, den 3. September um 17 Uhr

Sırma wächst in Pakistan auf und erwirbt ihre Sprache vor dem Fernseher. In der Schweiz soll ihre »Sprachstörung« kuriert werden. Doch nach einer Explosion entdeckt Sırma, dass sich die Zeit im Haus ihrer Gasteltern verlangsamt hat. Sırma wandert mit ihrer stummen Freundin Alexandra weiter nach Hongkong, wo diese Mutter und Programmiererin einer staatsgefährdenden App wird und sie selbst Kinderbuchillustratorin.

Sara Wegmanns fulminantes, so magisches wie realistisches Debüt erzählt von der Sprachlosigkeit in der Familie und zwischen den Kulturen. Traumata und Gespenster bestimmen das Denken und Handeln der beschädigten Figuren. Wegmann schreibt eindringlich und formal beglückend über das Unaussprechbare: Familie und Freundschaft in der Diktatur und im Willkürstaat.

»DU WEISST NICHT, WELCHES BUCH DU ALS NÄCHSTES IN DER BADI LESEN WILLST? DANN HÄTTE ICH EINEN VORSCHLAG FÜR DICH: SIRMA VON SARA WEGMANN.«
Ron Orp


»SARA WEGMANN HAT VIEL GEWAGT UND ETWAS NEUES GESCHAFFEN.«
Bieler Tagblatt

Sara Wegmann, geboren 1985, Studium der Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder und des Literarischen Schreibens am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, Promotion in Sozialanthropologie. Sie lebt nach längeren Aufenthalten in Berlin, Istanbul und Kairo heute in Zürich. Der Roman Sırma ist ihr erstes Buch.

«Worte sieben» Zu den Schriftbildern von Ruth Loosli, von Julia Röthinger

«Und doch / müssen wir reden / weil wir Menschen sind», schreibt Ruth Loosli in einem ihrer Gedichte, und macht genau dies in und mit ihrem künstlerischen Werk, das Lyrik und erzählerische Prosa ebenso umfasst wie die stetig anwachsende Zahl an Schriftbildern, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist. Leicht, aber nie leichtsinnig, gehaltvoll, aber nie schwer umkreist Ruth Loosli in ihrer Sprach- und Bildkunst die conditio humana, das menschliche Dasein, das geprägt ist von Freud und Leid, von Liebe und Verlust, von Zweisamkeit, aber auch Einsamkeit, von der Ohnmacht des Einzelnen in einer Welt, in der man Krisen und Kriegen hilflos gegenüber steht. Doch es gibt auch Hoffnung. Knochenarbeit; grün lautet der Titel einer der Zeichnungen Ruth Looslis, auf der der grüne Stängel einer Pflanze zu sehen ist, der aber auch ein Knochen sein könnte. Es ist kein gerader Pflanzenknochen, wenn er auch aufrecht ist: er hat einen Knick, ist gebeugt worden, sei es durch Hagel, sei es durch Unachtsamkeit, dass sich jemand mit groben Schritten durch das Gras bewegt und diese aufblühende Pflanze mit einem schweren Tritt geknickt hat. Und doch steht er da, dieser Pflanzenstängel, unbeirrt. Nicht immer ist das Wachsen ein geradliniges, oft genug nimmt es einen Umweg, oft genug ist es auch schwere Arbeit, wie die schwarzen Punkte andeuten: gleich den Jahresringen eines Baumes markieren sie die Entwicklungsschritte, Momente der Verdichtung, bis schliesslich oben die Blüte wächst, ein filigraner Fächer, ein zartes Gebilde, das aus dieser schweren Knochenarbeit hervorgegangen ist. Die Knochenarbeit kennen wir alle, als das Wachsen der Knochen, aber auch als eine intensive und mühevolle Arbeit. Auch Kunst ist eine Knochenarbeit, etwas das wächst und sich ent-wickelt, das gedeiht und oft genug auch Früchte trägt.

«Poesie ist Zuwendung zu Menschen, Dingen, der Natur. Ruth Loosli macht es in ihren wachen Gedichten vor.» Ilma Rakusa

Ruth Loosli «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe», Caracol, 128 Seiten, CHF ca. 20.00, ISBN 978-3-907296-28-8

1959 in Aarberg im Berner Seeland geboren, lebt und arbeitet Ruth Loosli seit 2002 in Winterthur. Seit mehr als zehn Jahren tritt sie mit ihrem lyrischen und erzählerischen Werk in Erscheinung, nicht zuletzt auch mit ihren Schriftbildern, in denen Ruth Loosli das Wort von seiner Abstraktheit entkleidet und es in seiner Bildhaftigkeit darstellt, wodurch sie dessen verborgenen, nicht immer offensichtlichen, manchmal überraschenden Kern herausschält. Da folgt ein seufzendes oh auf honolulu und setzt sich fort in immer weiteren oh´s, an die sich wieder neue oh´s anschliessen, bis all diese oh´s eine Insel bilden, eine Insel des Seufzers, eine Insel der Sehnsucht, eine Insel, in der das oh auch zum ho wird: zum Anfangslaut Honolulus, als ginge die Insel aus dem gehauchten Laut hervor. Oder wir lesen: frau steht am fenster und sehen das Fenster in der Schraffur der Worte, indem sich fenster an fenster reiht, ein Rechteck bildend, geschwungene Linien, als fingen sie die Reflexion des Fensterglases ein, und als träte aus dieser Reflexion die Frau hervor, im schwungvoll ausgeführten f. Und so siebt Ruth Loosli die Worte, prüft sie, klopft sie ab, niemals eindeutig, immer mehrdeutig. Ihre Schriftbilder zeigen uns den Resonanzraum, der hinter den einzelnen Worten steht.

 

Stets lotet Ruth Loosli dabei in ihrer Arbeit die Dimensionen des menschlichen Daseins aus, sein Auf und Ab. Kummer und Tränen werden vom Fluss des Lebens mitgetragen und reingewaschen, Narben verwachsen und neue Haut legt sich über alte Wunden. Es ist der feine Humor, der Welt und dem Dasein trotz aller Verletzungen heiter und offen zu begegnen, der eine Leichtigkeit über ihre Kunst legt. In ihren Schriftbildern, die Miniaturen gleichen, entfaltet sie eine ganze Welt und eröffnet einen Gedankenkosmos, der für das Suchen und Umkreisen steht, für die Verortung des Ichs in der Welt, und der einlädt zum Miteinander-Reden. Die Kunst von Ruth Loosli nimmt sich der Welt und des Menschen an und bewahrt sich eine ganz eigene Ästhetik, in der sich die Weite im Detail zeigt. Bleibt zu wünschen, dass Ruth Loosli mit ihrer Arbeit noch möglichst viele Menschen berühren und miteinander verbinden kann.

Julia Röthinger

Die Ausstellung ist immer offen, wenn Lesungen laut Programm des Literaturhauses stattfinden. Die Künstlerin freut sich, mit Interessierten ins Gespräch zu kommen und ist zusätzlich anwesend am:
Samstag,  9. September von 16-18 Uhr
Sonntag, 15. Oktober von 16-18 Uhr (Finissage inklusive Kurzlesung, falls erwünscht); Kontakt für Anfragen: ruth.loosli@gmail.com

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Nach weiteren Lyrikveröffentlichungen erschien 2021 ihr erster Roman «Mojas Stimmen». Aktuell ist ihr Gedichtband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit Schriftbildern der Autorin.

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau von September bis Dezember 2023

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau, liebe Literaturinteressierte, liebe Leserinnen und Leser dieser Webseite

Mein letztes Programm für das schmucke Literaturhaus am Seerhein, wo ich während dreieinhalb Jahren das Programm gestalten durfte. Schon jetzt melden sich erste Vorboten der Wehmut, weil sich gewisse Arbeiten bereits nicht mehr wiederholen werden. Intendant dieses Hauses zu sein, bedeutet mir sehr viel. Vor vier Jahren wurde ich telefonisch angefragt und es war, als hätte man mich mit einem übergrossen Geschenk beehrt. Eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste, die mir ganz und gar entsprach; Gastgeber im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

Am Samstag, 2. Dezember, 18.00 Uhr: „Frei(ab)gang“ Gallus Frei-Tomic verabschiedet sich mit Gästen: Alice Grünfelder, Urs Faes und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung werden es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künsterinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Wohnung des Literturhauses, die das Leben in den obersten beiden Stockwerken des Literaturhauses ausmachten, gewesen sein. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. 

Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein.

Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk, fast ausschliesslich bei Suhrkamp erschienen, wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Heute lebt Urs Faes in Zürich. Urs Faes nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.

Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen reichen Apéro. Ein Anmeldung ist unbedingt erwünscht!