Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, sich stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

Vera beginnt nach dem Studium ihre Arbeit in ihrer eigenen Praxis. Sie freut sich. Endlich. Veras Anfang als Hausärztin in einem Dorf in der Provinz ist mehr als ein Anfang. Es ist die Erfüllung eines Traums, der Start in ein Leben, auf das bisher alles hinzielte. Wenn da nur die Realität nicht wäre. „Kaltfront“ legt sich wie eine klamme Decke über mich. Ein literarischer Leckerbissen, an dem man kauen muss.

Als Vera zum ersten Mal in den Räumen ihrer zukünftigen Praxis die Tür hinter sich schliesst, legt sie sich irgendwann auf den Boden der noch leeren Räume. Sie liegt auf dem Rücken und ist angekommen. Hier wird beginnen, was sich aus ihrem Sein kristallisierte. Hier will sie tun, wonach ihr schon so lange dürstet. Hier will sie ihre Aufgabe als Hausärztin zu ihrem Leben machen. Ein Beginn voller Enthusiasmus, ein Beginn, der sie entlöhnen soll für all das, was sie in der Vergangenheit auf sich genommen hatte.

Es dauert auch nicht lange, bis sich ihr Kalender mit Terminen füllt. Am meisten freut sie sich auf die Fahrten ins Land, wenn sie nach den Terminen in der Praxis mit Auto und Koffer Hausbesuche macht, weil sie spürt, mit wie viel Dankbarkeit und Herzlichkeit sie empfangen wird. Bei diesen Fahrten setzt sie sich zwischendurch auf einen Stein oder eine Bank, ergibt sich dem Moment, schreibt in ihr Tagebuch, um sich danach bis in späte Abendstunden weiter jenen Menschen zu widmen, die sie ganz brauchen, so wie sie es auch selbst gerne hätte, wäre sie an ihrer Stelle. 

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese, 2024, 100 Seiten, CHF ca. 24.00, ISBN 978-3-906907-99-4

Bist du glücklich?, fragt sie Luca, ihr Freund, der zwischendurch immer wieder für ein paar Tage zu ihr fährt. Luca ist Grafiker in der Stadt, lebt in einer virtuellen Welt, in einer ganz anderen als Vera. Vera stellt sich diese Frage nicht, denn sie fühlt sich einfach dort, wo sie glaubt hinzugehören. Sie misst das Glück an den Gesichtern ihrer Patienten. Selbst in jenen Tagen, wo im Wartzimmer das Getuschel beginnt. Als man in den Medien liest und hört, dass in der Ferne ein Virus zu wüten beginnt. Als man ihr Fragen stellt, ob das Virus auch bis nach Wolfach kommen werde.

Vera lässt sich nicht abschrecken, besucht weiterhin ihre Patienten im Spital, im Pflegeheim und in den Häusern weitherum. Und als sie sich von einem ehemaligen Studienkollegen als Helferin bei Impfkampagnen anheuern lässt, ist es nicht nur Luca, ihr Freund, der ihr Leichtsinn vorwirft. Als sich das Virus wie ein Heuschreckenschwarm über das Land legt und sie zusehen muss, wie Leben dahingerafft wird, das Leben jener Patienten, die ihr ans Herz wuchsen, sind jene, die mit Transparenten und Hassparolen vor dem Spitaleingang stehen, ihrem Zorn gegen die Medizin und den Staat Luft machen, mehr als nur Stiche in ihr Herz. Boris, ein Arzt im Ruhestand, ein alter Mann, der Vera mehr und mehr zu einem Vertrauten wird, sagt: Du musst nicht nur für die Gesundheit der Patienten, du musst auch gegen die bösen Geister kämpfen, die mit dem Virus gekommen sind. Sie heissen Ungewissheit, Fatalismus und Empörung.

Als der Eingang zu ihrer Praxis verwüstet wird und grosse Steine durch die Fenster geworfen werden, als man sie auf allen möglichen Kanälen anonym zu beschimpfen und diffamieren versucht, wird die Frage Wie weiter? zur Existenzfrage. Aber für Vera gibt es nur den einen Weg; sie will helfen. Sie will alles in ihrer Macht Stehende tun. Sie will weitermachen, womit sie begonnen hat. Auch wenn sich die direkte Konfrontation immer deutlicher abzeichnet.

Als ich ganz zu Beginn der Pandemie auf der Strasse mit einem befreundeten Autor darüber sprach, was da auf uns zurollt und ob das einen Einfluss auf sein Schreiben hätte, meinte dieser: „Worüber soll man den angesichts dessen, was genau jetzt passiert, noch schreiben?“ Coronaromane wollte niemand lesen, denn alles was man las und sah, war eingetaucht in die Ratlosigkeit jener Gegenwart und in den Schrecken der Nachrichten. „Kaltfront“ ist kein Coronaroman. „Kaltfront» erzählt von einer jungen Ärzten, die trotz allen guten Willens zerrieben wird zwischen Angst, Zorn und Hass. Peter Weibel begleitet eine junge Ärztin, deren Kampf zur Lebensaufgabe (Man verstehe dieses Wort zweideutig!) wird. Ein Erzählen gespickt mit Tagebuchaufzeichnungen und den Verlautbarungen von Behörden, die um Erklärungen ringen. Das Protokoll einer Katastrophe, die wie ein unabwendbarer Sturm auf Vera zurollt.

Peter Weibel wertet nicht, urteilt nicht. Aber hinter seinen Schilderungen wabbert die Frage, wie es dazu kommen konnte. Nicht medizinisch, aber menschlich. Er tut das mit dem Wissen eines Arztes und der Empathie eines Freundes, eines Menschenfreundes. Wie kann es sein, dass sich Menschen derart entzweien, so unvereinbar in verschiedenen Welten Leben, dass alles Gemeinsame nichtig wird? Schon angesichts der politischen und gesellschaftlichen Debatten ein wichtiges Buch!

Peter Weibel liest an der Hauslesung vom 26. Oktober 2024 zum ersten Mal vor Publikum aus seinem neuen Buch.

Peter Weibel (1947) schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Peter Weibel im Gespräch mit Gallus Frei

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Hauslesung in Amriswil mit Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

am 26. Oktober, 18 Uhr, an der Maihaldenstrasse 11 in Amriswil

wegen beschränktem Platz unbedingte Anmeldung bis 20. Oktober unter: info[at]literaturblatt.ch oder 076 448 36 69 (Nur noch ganz wenige Plätze!)

Eintritt, inklusive Konsumation CHF 30

Voller Idealismus nimmt Vera, eine junge Ärztin, ihre Tätigkeit in einer Landpraxis auf. Überzeugt, dass sie hier ihren Bestimmungsort gefunden hat, begreift sie ihren Beruf als Mission. Schon im zweiten Praxisjahr taucht ein unbekanntes Virus auf, das Verunsicherung, Krankheit und Tod mit sich bringt. Tag und Nacht ist Vera im Einsatz und unwillkürlich zieht sie Parallelen zu den Geschehnissen in Albert Camus Roman Die Pest. Sie wird, nach anfänglicher Verstörung, zur obsessiven Kämpferin für die Rettung von Menschen, gegen den Zerfall der Solidarität, für die richtigen Antworten in einer Zeit, wo es nur offene Fragen gibt. Die Angriffe auf ihre Person machen sie einsam. Und radikal, obwohl sie das nie gewollt hat – nur noch richtig oder falsch gibt es für sie, das gilt auch für ihre Gegner. Zerbricht sie an sich selbst oder an der Wucht der Feindschaft?

Basierend auf einer wahren Begebenheit zeigt Peter Weibel präzise und einfühlsam die Zerrissenheit der Ärztin in der Krisensituation und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die es verlernt hat, Ungewissheiten auszuhalten, und die durch Verunsicherung und kollektive Bedrohung auseinanderzubrechen droht.

Peter Weibel schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flüge»l (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Being Human. Writers against Hate – Lesen gegen Antisemitismus und die Bedrohung einer offenen, toleranten und demokratischen Gesellschaft.

Monica Cantieni, Ruth Loosli, Ilma Rakusa, Usama Al Shahmani und Ralph Tharayil: Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller lesen im Literaturhaus St. Gallen gegen Antisemitismus und die Bedrohung einer offenen, toleranten und demokratischen Gesellschaft.

Die Welt hat sich verändert – nicht erst seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres. Gewaltverherrlichung, Hassparolen, Gleichgültigkeit oder Relativierung von Massakern, der Missbrauch von Menschen als Schutzschildern oder als Mittel zur Spaltung der Bevölkerung – diese Entwicklungen sind äusserst beunruhigend. Empathie, Rücksicht und Respekt gegenüber anderen Menschen und Lebenswelten sind schwindende Werte.

Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller reagieren und wenden sich gegen Antisemitismus und die Bedrohung einer offenen, toleranten und demokratischen Gesellschaft: mit differenzierter literarischer Sprache, Geschichten, narrativer Reflexion, mit Texten, die sich der Menschlichkeit in all ihren Facetten widmen.

Es lesen:

Monica Cantieni, geb. 1965, Schriftstellerin und Mitinitiantin von Writers against Hate. Ihr Roman «Grünschnabel» (Schöffling & Co, 2011) war für den Schweizer Buchpreis nominiert und in sechs Sprachen übersetzt.

Ruth Loosli, geb. 1959, lebt und arbeitet in Winterthur. Sie hat mehrere Bücher (Lyrik, Prosa) veröffentlicht sowie in Anthologien und Literaturzeitschriften publiziert, zuletzt «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» (Caracol Verlag, 2023).

Ilma Rakusa, geb. 1946, lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Kritikerin in Zürich. Für ihr umfangreiches literarisches Werk, das Gedichte, Erzählungen, Essays und das Erinnerungsbuch «Mehr Meer» (Literaturverlag Droschl, 2009) umfasst, erhielt sie zahlreiche Preise.

Usama Al Shahmani, geb. 1971 in Bagdad, hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Der Autor von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» (Limmat Verlag, 2018) übersetzt auch ins Arabische und ist seit 2021 Literaturkritiker beim SRF-«Literaturclub». 

Ralph Tharayil, geb. 1986 als Sohn indischer Migranten in der Schweiz, arbeitet spartenübergreifend mit und zwischen Literatur, Audio und Theater. Zuletzt erschienen: «Nimm die Alpen weg» (edition Azur, Dresden, 2023).

So. 6.10.2024 — 18 bis 20 Uhr — Raum für Literatur, Hauptpost, Eingang St. Leonhard-Strasse 40, 3. Etage / Fr. 10.- / Kultur-Legi Fr. 5.- / Mitglieder A*dS gratis, Geflüchtete gratis

TICKETS an der Abendkasse (Anmeldung über literaturhaus@wyborada.ch hilfreich, aber nicht zwingend)

Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

Illustrationen © leale.ch

Den Lauten lauschen – ein neues, internationales Poesie-Festival im Dreiländereck vom 27. – 29. September

„Was kann und was darf Kunst vor dem Hintergrund von Krieg und Terror? In Zeiten, wo links wie rechts die Fahnen Schwarz und Weiß gehisst werden und die Freiheit der Kunst auf die Parolen der Politik zurechtgestutzt wird, sollte man sich vielleicht an den radikalen Experimenten orientieren, mit denen die Dadaisten und Surrealisten vor hundert Jahren auf die Schlächtereien des Ersten Weltkriegs antworteten“

Das schreibt der renommierte Literaturkritiker Stefan Zweifel in einem aktuellen NZZ-Feuilleton- Essay. Zweifel hat die Moderation des Festivals übernommen, auch weil ihm die Konzeption gefiel, die die beiden Ideengeber und Initiatoren Luke Wilkins, ein in Basel ansässiger Schriftsteller und der Freiburger Lautpoet Alexander Grimm, entwickelt haben.

Als Herzstück des Konzepts könnte das Motto gelten, das der jüdische Philologe Victor Klemperer seinem Buch LTI, einer Analyse der Sprache des Dritten Reichs, voranstellte: Sprache ist mehr als Blut. Kommen die Widerstandskräfte einer Gesellschaft und auch die Möglichkeiten von kultureller und gesellschaftlicher Metamorphose nicht zu einem guten Teil aus der Sprache, der Literatur und der Dichtung? Könnte man also sagen, dass die Zukunft in der Sprache geboren wird? Die Dadaisten jedenfalls haben vorbildhaft vorgemacht, wie aus dem Klang der Sprache und aus der Sprengung des normativen Sinns der Sprache eine Kunstform entwickelt werden kann, von der aus die Gesellschaft neue Impulse bekommt.

Darauf möchte sich das Festival besinnen, indem es die Lautpoesie feiert und sie auf ihre revolutionären bzw. friedenserhaltenden Impulse hin befragt. Was im öffentlichen Diskurs zu den Eskalationsspiralen unserer Gegenwart viel zu wenig bedacht wird, jedoch zu den wichtigsten Prämissen der deutschen, vielleicht auch europäischen Nachkriegsliteratur zählt: Es ist letztlich die Sprache, in der ein Krieg und kriegerisches Denken entsteht, überwintert, aber in der beides auch befriedet und in der Reflexion – über dichterische Prozesse, die der durch die Gewalt entstehenden Sprachlosigkeit literarische Methoden entgegensetzen – in ästhetische Energie aufgelöst werden kann.

Die Laupoesie, die sich weniger der sprachlichen Semantik als dem Klang, der Musikalität der Worte und Laute und der Lust an ihrer Sinnfreiheit widmet und dabei die Wahrnehmung öffnet für die Absurdität der Welt, bietet einen großen Reichtum solcher literarischen Methoden. Dabei sind etwa so wunderbar anregende und das Zwerchfell kitzelnde Poeme wie Kurt Schwitters Ursonate entstanden, die vom Freiburger Schauspieler Heinzl Spagl auf dem Festival aufgeführt wird. Spagl wird dabei unter Beweis stellen, dass das kunstvolle Stammeln und Grausen von Schwitters, angesichts seiner Erfahrung von kriegerischer Gewalt, auch heute noch kathartische Wirkungen im Publikum auszulösen vermag.

Die Gleichzeitigkeit von Schwerem und Leichtem, von verzweifelter Ratlosigkeit und schwarzem Humor ist das Verwandtschaftsmerkmal der Auftritte vieler Lautpoet*innen. So möchte das Festival Erlebnisse mit Sprache ermöglichen, in denen das Rabenschwarze mit dem Spontanen, dem Gutgelaunten und Zukunftsoffenen ineins fällt. Zugleich erforscht das international ausgerichtete Festival auch, wie sich Lautpoet*innen, die mit dialektalem Material arbeiten, zueinander verhalten: Was gibt es für klangliche Schnittmengen zwischen französischer, elsässischer, schweizerischer und deutscher Lautpoesie? Gerade auch das Dialektale, Muttersprachliche bietet einen unerschöpflichen Reichtum an Klangfarben, der auf dem Festival in all seinen Nuancen ausgelotet werden soll.

Das Festival ist Teil des von der Baden-Württemberg Stiftung lancierten Literatursommers 2024 und wird mit einem opulenten und prominent besetzten Programm vom 27. – 29. September im Literaturhaus Freiburg, im Schopf2 (den Kulturhallen der Kreativpioniere Freiburg e.V.) und vom Literaturhaus Basel (in einer Location auf dem Jazzcampus) aus der Taufe gehoben. Indem es sowohl in Freiburg als auch in Basel über die Bühne geht und bedeutende schweizerische, deutsche und französisch-sprachige Dichterinnen eingeladen hat, möchte es eine neue literarische Öffentlichkeit im Dreiländereck schaffen. Auch hierfür ist die Lautpoesie prädestiniert, da sie sich leicht über Sprachbarrieren hinwegsetzen oder einfach eine neue gemeinsame Sprache erfinden kann.

Violaine Lochu – Foto © Valérie Sonnier

Bereits im Vorfeld haben die Festival-Macher viel Zuspruch bekommen und konnten neben aufsteigenden Lautpoesie-Sternen wie Dagmara Kraus oder Violaine Lochu auch Koryphäen wie Urs Allemann, Michael Lentz oder Christian Uetz gewinnen. Ein weiteres Highlight werden die Auftritte zweier Elefantengedächtnisse der europäischen Gewaltgeschichte Alexander Kluge und Klaus Theweleit sein. Theweleit wird aus seinem aktuellen Buch a-e-i-o-u lesen und das Publikum auf eine rasante Reise zu den kriegerischen Ursprüngen des Vokalalphabets im homerischen Mittelmeerraum mitnehmen und Alexander Kluge hat exklusiv für das Festival dadaistische Kurzfilme produziert, wozu er mit Stefan Zweifel ein Werkgespräch führen wird.

Für Abwechslung im Programm sorgen Konzerte mit Musiker*innen, die ästhetische Verfahren anwenden, die mit der Lautpoesie verwandt sind, wie etwa das Ernst- Eggimann-Konzert des Oberton-Chors Partial. Das vollständige Programm findet sich hier.

Hiroko Oyamada «Das Loch», Rowohlt – Sprachsalz Kufstein

Die japanische Schriftstellerin Hiroko Oyamada, deren zweiter Roman „Das Loch“ in Japan schon 2014 erschien, ist eine Spezialistin der Zwischenwelten, eingetaucht in Fantastisches und Traumhaftes. So realistisch der Roman „Das Loch“, die Geschichte einer jungen Frau, die in der Langeweile ertrinkt, beginnt, so bizarr und unerklärlich werden die Ereignisse.

Asa ist noch nicht lange verheiratet und zieht mit ihrem Mann, der innerhalb seiner Firma versetzt wurde, von der Stadt aufs Land. Es ist ihr ganz recht, dass sie ihre Arbeit kündigen kann, zum einen, weil sie die Arbeit wohl müde machte aber nie erfüllte, zum andern, weil ihre Schwiegereltern ihnen das Haus neben dem ihrigen mietfrei überlassen und mit einem Mal der ganze Stress des Alltag von ihr abfällt. Ein Neubeginn, auch für die noch junge Ehe. Aber weil ihr Mann mit dem Auto zur Arbeit pendelt und es auf dem Land auf die Schnelle keinen neuen Job zu finden gibt, beginnt sich Asa mehr und mehr treiben zu lassen. Ihr Mann, der am Morgen früh das Haus verlässt und erst spät abends nach Hause kommt und dann sein Handy kaum aus der Hand legt, spürt die Einsamkeit seiner Frau nicht. Und die Schwiegereltern im Haus daneben sind so sehr in ihren Alltag eingebunden, sind beide kaum zuhause und die Schwiegermutter, wenn doch, mit guten Ratschlägen und altklugen Kommentaren. Auch der seltsame Grossvater ihres Mannes, der mit seinem Grinsen bloss seine Zähne zeigt und zu jeder Tages- und Nachtzeit den Garten giesst, auch wenn es regnet, wird ihr kein Gegenüber.

Hiroko Oyamada «Das Loch», Rowohlt, aus dem Japanischen von Nora Bierich, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-498-00486-6

Es ist heiss, heisser als in den Sommern zuvor. Nach dem bisschen Haushalt macht Asa Spaziergänge ums Haus, an den wenigen Häusern vorbei bis zum Fluss. Die einzigen, die sich ihr zuzuwenden scheinen, sind die Zikaden. Bis sie im Gebüsch ein schwarzes Tier zu sehen glaubt, ein Tier, weder Hund noch Wolf. Asa folgt dem Rascheln im Gebüsch und stürzt dabei in ein Loch, brusttief gefangen, bis sie eine Nachbarin, die sie bis jetzt nicht kennenlernte, aus der misslichen Lage befreit. Aber warum ein Loch? Warum hatte sie das Gefühl, auf etwas Weichem zu stehen? Fortan scheint nichts mehr so zu sein, wie es im Einerlei der heissen Sommertage war.

Asa lernt hinter ihrem Haus und dem Haus ihrer Schwiegereltern einen noch jungen Mann kennen. Er behauptet, der Bruder ihres Mannes zu sein, obwohl Asa bisher der Überzeugung war, ihr Mann sei Einzelkind. Es war nie die Rede von einem Bruder. Er wohne in dem kleinen Schuppen im Garten, habe sich schon lange von der Welt zurückgezogen und selbst mit seinen Eltern schon lange keinen Kontakte mehr. Ein Hikikimori. Er stellt Fragen, die sie sich nicht einmal selbst gestellt hätte. Und warum weiss sie von diesem Bruder nichts? Warum ein solches Geheimnis? Asa rutscht immer tiefer in die Gegenwart unwirklich scheinender Personen. Eine Nachbarin schenkt ihr seltsame Früchte und auf einem Spaziergang zum Fluss, bei dem sie wieder von diesem seltsam unsichtbaren, schwarzen Tier begleitet wird, trifft sie werneut auf ihren Schwager und eine ganze Meute Kinder, die sich ins Wasser werfen, herumtoben und sich um den Schwager scharen.

Asa traut sich nicht, ihren Mann darauf anzusprechen, schon gar nicht ihre Schwiegereltern. Und als der seltsame Grossvater nach einem Spaziergang viel zu weit weg von seinem Haus an einer Lungenentzündung stirb und man sich im Haus der Schwiegereltern vom Toten verabschiedet, verliert sich Asa mehr und mehr in einer Welt zwischen Sein und Schein.

Hiroko Oyamada erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in den Traditionen und Konventionen ihrer Heimat gefangen ist. Asa fällt in ein Loch. Und Hiroko Oyamada macht dieses Loch zu einem traumhaften Tripp in ein seltsames Zwischenreich. Asa, die in sich und der Situation gefesslt ist, fällt durch eine Art schwarzes Loch in eine andere Welt, die sich immer und immer wieder als Traumwelt entpuppt. Asa lässt sich treiben, weil es die einzige Möglichkeit ist, dem Zustand der Lethargie und Langeweile zu entfliehen.

„Das Loch“ ist ein vielfach seltsamer Roman. Ein Roman, der mich schwindlig und in meinem Zwang nach Ordnung ratlos macht. Ein seltsames Abenteuer in flirrender Hitze.

Hiroko Oyamada, 1983 in Hiroshima, Japan, geboren, studierte Japanische Sprache und Literatur. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in wechselnden Jobs, u. a. als Aushilfskraft bei einem Autohersteller. Diese Erfahrung diente ihr als Inspiration für ihren Debütoman «Kōjō» (2013; deutsch: «Die Fabrik»), der mit dem Shinchō Prize for New Writers und dem Oda Sakunosuke Prize ausgezeichnet wurde. Für ihren zweiten Roman «Ana» (2013; deutsch: «Das Loch») erhielt sie den Akutagawa-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Japans. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt, u.a. ins Englische. Hiroko Oyamada lebt mit ihrer Familie in Hiroshima.

Nora Bierich, geboren 1958, hat Philosophie und Japanologie in Berlin und Tokio studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Werke von Ōe Kenzaburō und Mishima Yukio. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.

Beitragsbild © Shinchosha

J. M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer – Sprachsalz Kufstein

Ein alt gewordener Maestro, dessen Chopin-Interpretationen den Pianisten berühmt machten, wird nach Barcelona an ein Konzert eingeladen. Zwischen Beatriz in den Mitvierzigern, Mitorganisatorin und Ehefrau eines Bankiers, und ihm entfacht eine Beziehung aus gnädiger Zuwendung und leidenschaftlicher Liebe. Der Nobelpreisträger überrascht mit einer «Künstlernovelle», die zwischen Befremden und Faszination pendelt.

Der Pole hätte einen Namen. Witold Walczykiewicz. Aber weil ihn niemand in dem gediegenen Kreis, in der Sala Mompou in Barcelona aussprechen kann, nennen ihn alle nur den Polen. Witold Walczykiewicz ist Pianist, eingeladen nach Barcelona, um ein Konzert zu geben, einer der bekanntesten Chopininterpreten, auch wenn er mit seinen 70 Jahren seinen Zenit wahrscheinlich schon überschritten hat. Man beauftragt die Mitorganisatorin Beatriz, sich dem Pianisten anzunehmen, mit ihm nach dem Konzert den Abend mit einem Essen zu beschliessen. Beatriz ist sich nicht sicher, was sie von dem Auftrag halten soll, erst recht nicht, weil sich schon vom ersten Moment an, selbst während des Konzerts, ein seltsames Gefühl der Distanziertheit dem um eine Generation älteren Künstler einschleicht.

Der Pole erweist sich als galant, wenn auch etwas hölzern, was auch daran liegt, dass er die einzig gemeinsame Sprache, das Englische, bei weitem nicht so gut beherrscht wie Beatriz. Beatriz spürt, dass ihr Gegenüber weit mehr in dem Zusammentreffen sieht als sie selbst. Aber man verabschiedet sich höflich. Wenig später treffen immer wieder Nachrichten ein. Nach etlichen sprachlichen Umgarnungen, auf die Beatriz meist nicht einmal antwortet, schreibt Witbold: Sie beschützen mich. Ich spüre Frieden in mir. Ich sage zu mir, ich muss sie finden, sie ist mein Schicksal. Eine Nachricht, die sie gleichermassen verunsichert wie schmeichelt und betört. Sätze, die in ihrer erkalteten Ehe Lichtjahre entfernt liegen, die mehr Resonanz finden, als ihr lieb ist, versucht sie doch mit allen Mitteln, Witolds Begehren kleinzureden.

J.M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, 2023, 144 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397501-7

Aber als Witold sie einlädt, sie nach Brasilien mit auf seine Konzerttour zu begleiten und ihr Mann, nachdem sie diesem vom Ansinnen des Pianisten erzählt, dem nur wenig Beachtung zu schenken scheint, bricht sie vorerst den Kontakt ab, bis sie den Künstler dann doch in die Finca ihres Mannes auf Mallorca einlädt, auf neutrales Terrain, in ein Anwesen mit einem Nebengebäude, in das sie den Gast einquartiert. Das seltsame Gefühl der Verunsicherung, des Misstrauens dem um mehr als 20 Jahre älteren Besuch bleibt, auch wenn dieser zurückhaltend bleibt. Aber an einem der Abende, sie essen gemeinsam in der Finca, sagt Beatriz: Ich werde die Hintertür nicht abschliessen. Wenn du dich einsam fühlst in der Nacht und einen Besuch machen willst, bitte. Es werden vier Nächte, die sie gemeinsam verbringen. Nächte in bedeckter Leidenschaft. Nächte, die für Witold alles bedeuten und für Beatriz nur Gabe sind. Beatriz macht nach der letzten Nacht Schluss, kühl und unmissverständlich. Witold reist ab und die beiden sehen sich nie wieder. Es treffen zwar noch immer Nachrichten ein, die Beatriz aber meistens nicht einmal liest.

Jahre später erreicht sie die Nachricht, Witold Walczykiewicz sei nach langer Krankheit in Polen, in seiner Heimatstadt Warschau gestorben. Telefonisch erfährt sie von dessen Tochter, dass in der Wohnung ein Karton auf sie warte, eine Hinterlassenschaft. Und weil sich die Überführung dieses Kartons komplizierter erweist als angenommen, reist Beatriz nach Polen, lässt sich die Wohnungstür öffnen und findet einen Karton mit einem Manuskript. Fast hundert Gedichte und Begleittext. Beatriz verbringt eine Nacht in der kalten, überraschend einfach eingerichteten Wohnung des Verstorbenen und beschliesst die Gedichte übersetzen zu lassen. Liebesgedichte an sie, leidenschaftliche Anbetungen an eine Liebe, die so nicht sein konnte. 

Beatriz fühlt sich vom Umstand, dass da ein Mann war, der seine letzte Lebenszeit an den Tasten einer Schreibmaschine verbrachte und stets sie vor Augen hatte, mit eigenartigem Befremden und einem Glück, das sie verunsichert. Als Witold lebte, erbarmte sie sich seiner, gab ihm, was er begehrte, auch seinen Tod scheint das Schicksal Beatriz viel tiefer zu bewegen, bis hin zu einem seltsamen Gefühl des Glücks.

„Der Pole“ ist ein seltsames, überraschendes Buch, vor allem dann, wenn man schon mehr von J.M. Coetzee gelesen hat. Aufgegliedert in kurze, durchnummerierte Texte, bleibt was geschieht in einem eigenartig kühlen Licht. „Der Pole“ ist keine Liebesgeschichte, weil sie aus der Sicht der Katalanin geschrieben ist und einem der alte Mann während des Lesens eigentlich bloss Leid tut. Beatriz mag seine Chopininterpretationen nicht, sie mag sein Auftreten nicht, seinen alten Körper, nicht einmal seine Gedichte, seinen ganz persönlichen, leidenschaftlichen Nachlass. Und trotzdem gab sie ihm Anlass genug zu glauben, sie wäre der angestrebte „Frieden“ in seinem Leben. Man mag Beatriz nicht während des Lesens, man versteht sie nicht einmal, so wenig wie sie sich selbst.

„Der Pole“ ist ein kurzer, konzentrierter, äusserst raffiniert komponierter Roman, der mich mit einer guten Portion Ratlosigkeit zurücklässt, die den Roman nachhaltig macht.

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren wurde und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für «Leben und Zeit des Michael K.» und 1999 für «Schande». 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, ausserdem hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.

Beitragsbild © Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

Douglas Stuart „Young Mungo“, Hanser Berlin – Sprachsalz Kufstein

Der heilige Mungo ist Schutzpatron einer Kathedrale in der schottischen Stadt Glasgow. Aber die Heiligen scheinen Glasgow vergessen zu haben. Im zweiten Roman des in Glasgow aufgewachsenen Autors Douglas Stuart stemmt sich der nicht einmal 16jährige Mungo gegen grassierende Gewalt, toxische Männlichkeit und selbstzerstörerische Ausweglosigkeit.

In den 1970er und 1980er Jahren wurden in der Arbeiterstadt Glasgow eine ganze Reihe Minen und Fabriken geschlossen. Eine ganze Stadt rutschte in Massenarbeitslosigkeit. Noch heute gilt Glasgow als eine jener Städte mit massiver Jugendkriminalität und überdurchschnittlich hohem Drogenkonsum. In Douglas Stuarts preisgekrönten Debüt „Shuggie Bain“ war dieses düstere Szenario schon einmal Kulisse für einen Roman, der zwischen Zartheit und Brutalität hin- und herpendelte.

Mungos Mutter ertrinkt in ihrer Alkoholsucht und schnappt nach den Resten eines Lebenstraums. Nichts ist geblieben nach einer frühen Ehe, drei Kindern, dem Tod des Mannes, bevor Mungo, der Jüngste, zur Welt gekommen war und der Aussichtslosigkeit, der Familie den erhofften Halt geben zu können. Hamish, der älteste, gibt den Ton in seiner Gang ein, vertickt Drogen und lechzt dauernd nach der nächsten Konfrontation mit den verfeindeten Gangs, den Katholiken, wilden Gewaltorgien, bei denen keine Regeln gelten und man bis zum Äussersten geht. Mungos Schwester Jodie versucht ihrem jüngeren Bruder das zu geben, was die meist abwesende Mutter längst vergessen hat, ein Nest, ein bisschen Wärme, in all der Grobheit etwas Zärtlichleit. Die Mutter nicht da und wenn doch im Suff, der Bruder in Sorge, dass aus Mungo kein richtiger Mann werden würde, denn alle um Mungo herum spüren, sehen und wissen, dass der grosse Junge mit dem tiefen Blick und den schmalen Händen anders ist als die meisten anderen.

Douglas Stuart «Young Mungo», Hanser Berlin, 2023, übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 416 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27582-9

Mungo lernt James kennen, einen Jungen aus der Nachbarschaft, Halbwaise wie er. Aber James ist Katholik, kaum ein Steinwurf von ihm weg und doch in einer anderen Welt. James eigentliches Zuhause ist ein Taubenschlag auf dem Dach seines Hauses, den er einst, nach dem Tod seiner Mutter, zusammen mit seinem Vater gebaut hatte. Zwischen Mungo und James wächst eine Schicksalsgemeinschaft. Zum einen, weil sie beide hoffen, dereinst diesen Ort verlassen zu können. Zum andern, weil sie spüren, dass zwischen ihnen etwas zu wachsen beginnt, eine Liebe, ein Begehren, dass dort nicht sein kann und darf.

Mungo hat in seiner Welt keinen Platz. Auf einem Ausflug, zu dem man ihn mehr zwingt als drängt, zusammen mit zwei zwielichtigen Gestalten, wird Mungo nicht bloss aufs Übelste missbraucht und in eine ausweglose Rolle gezwängt, sondern in Situationen manövriert, die ihn zu dem zwingen, was ihm eigentlich widerstrebt, woraus er sich halten will, nicht zuletzt darum, weil ihm sein Freund James unmissverständlich zu spüren gibt, dass es eine gemeinsame Zukunft nur dann gibt, wenn er aus dem scheinbar Vorgegebenen, Unausweichlichen aussteigt.

Am Schluss des Romans kehrt Mungo abgekämpft, blutverschmiert und verwundet in seine Strasse zurück in ein Leben ohne Hoffnung und Perspektive. „Young Mungo“ liest sich nicht leicht. Eine beinah dystopische Welt, die aber in den 80ern spielt, in einer Stadt, die den Menschen die Zukunft genommen hat, in einer Gesellschaft aus Gewalt und verbaler Gewalt, einer Welt, in der es keine Entscheidungen mehr gibt nur den von den Zwängen des Überlebens vorgezeichneten Pfad. Der Roman lebt von Gegensätzen, dort die Momente des Friedens zwischen Mungo und seiner Schwester Jodie oder die Zartheit in den zaghaften Zärtlichkeiten zwischen Mungo und seinem neuen Freund James. Dort die Entgleisungen der Mutter, die Gewalt in verkommenen Mietskasernen, die Schlachtzüge der verfeindeten Gangs, die Vorstellungen dessen, was Männer und Frauen sein müssen.

Was an Liebe und Zärtlichkeit in einem stinkenden Meer aus roher Gewalt und tiefem Hass schwimmt, reicht nicht aus, um sich zu befreien. „Young Mungo“ ist von shakespearescher Kraft und apokalyptischer Intensität.

Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitete. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, der in 40 Ländern erschien und zum Weltbestseller wurde, erhielt er den Booker Preis 2020. «Young Mungo» (2023) ist sein zweiter Roman.

Sophie Zeitz, 1972 geboren, lebt in Berlin. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Henry David Thoreau, Joseph Conrad, John Green und Marina Lewycka und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden.

Beitragsbild © Clive Smith

Alain Claude Sulzer «Fast wie ein Bruder», Galiani

„Fast wie ein Bruder“, der neue Roman von Alain Claude Sulzer, ist nicht nur ein Buch über Freundschaft und die Scham einer Schuld. Dieser Roman wirbelt auf, was die Gesellschaft seit Jahrzehnten zu verbergen versucht: Die Angst der Heimsuchung. Die Angst, dass uns dereinst etwas offenbart, die Augen dort verschlossen zu haben, wo man hätte hinschauen und etwas tun sollen.

Er liest in der Zeitung von einer Ausstellung in einer Berliner Galerie, von den Bildern eines unbekannten Künstlers. Und weil er eine der abgebildeten Skizzen in jener Zeitung als jene seines schon lange verstorbenen Freundes Frank erkennt und alle abgebildeten Gemälde mit der Initiale F signiert sind, weil die Bilder die unverwechselbare Sprache seines alten Freundes sprechen, reist er nach Berlin und besucht jene Galerie. Dort sieht er sich selbst, sieht in sein junges Gesicht, die Nacktheit seines Körpers und die unmissverständlich aufgeladene Gestik eines Alleine-Gelassenen. Eigentlich müssten sämtliche Bilder verschwunden sein, denn sein Freund, der zu Lebzeiten fast nichts verkaufen konnte und in der Masse all der unbekannten Talente versank, orderte seinen Nachlass kurz vor seinem Tod zu ihm von New York nach Frankreich, wo er die Bilder ungesehen und verpackt im Schuppen neben seinem Wohnhaus einlagerte mit der jahrelang verschobenen Absicht, sich irgendwann den Bildern, der Hinterlassenschaft seines Freundes anzunehmen. Bis die Bilder aus seinem Schuppen verschwanden. Bis das lautlose Verschwinden aller Bilder alte Wunden aufriss, eine schlummernde Schuld, ein schlechtes Gewissen, die Scham über das mehrfache Sterben seines Freundes. Bis ein Artikel voller Begeisterung und Verwunderung auf einen bisher unbekannten Künstler aufmerksam macht, einen grossen Unbekannten, ein Genie.

Alain Claude Sulzer «Fast wie ein Bruder», Galiani, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-86971-294-9

Frank und er wuchsen wie Brüder im Ruhrgebiet der Siebzigerjahre auf, Wohnung an Wohnung. Nicht nur sie waren befreundet, auch ihre Eltern. Ein Leben ganz nah, Tür an Tür. Eine Art paradiesischer Urzustand, aus dem sie der fast gleichzeitige Tod ihrer Mütter vertrieb. Beide Frauen raffte Krebs aus den Leben und hinterliess alleinerziehende Väter, die sich nicht mehr zurechtfanden. Die Leben der beiden Familien trennten sich. Aus dem Gleichschritt wurden zufällige Treffen und als Frank mit seinem unauslöschlichen Wunsch und Drang, dereinst ein grosser Künstler zu werden, nach New York zog, verloren sich die beiden Leben, dünnte aus, was einmal unzertrennlich schien.

Erst als Frank sich Anfang der Neunzigerjahre aus einem Schöneberger Krankenhaus meldet und verrät, dass er unheilbar krank auf das Erscheinen seines ehemaligen Freundes wartet, bricht auf, was über Jahre schlummerte. Frank hat zu einer Zeit Aids, als es noch kaum Medikamente gab und die Diagnose einem Todesurteil gleichkam. Als man an Aids Erkrankten den Körperkontakt verweigerte, nicht einmal mehr die Hand geben wollte. Als man von Seuche sprach und nicht einmal hinter vorgehaltener Hand von der gerechten Strafe Gottes sprach, angesichts der vielen Opfer unter den Schwulen.
Er reist nach New York und sie treffen sich ein letztes Mal, weil jene Freundschaft, aus der sie wuchsen, die sie als Kinder wie Brüder verband, etwas blieb, was trotz der so gegensätzlichen Biographien stets geblieben war, wenn auch begraben, verdrängt, fast vergessen.

Plötzlich sind die Bilder wieder da. Die Bilder eines Mannes, der einst wie sein Spiegelbild war, der sich ganz in seine Leidenschaften stürzte, sei es seine Malerei, sein Leben selbst, in seiner Kompromisslosigkeit. Auch die Bilder jenes einen Moments, der nicht nur die beiden Freunde auseinandertrieb, sondern die beiden Familien, eine Freundschaft, die für eine Ewigkeit hätte reichen sollen. Als Frank aus seinem Leben verschwand, man ihn gebrandmarkt hatte, für immer aus dem Paradies vertrieben.

„Fast wie ein Bruder“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Wie sehr sich unterscheiden kann, was wir als real empfinden. Darüber, dass wir unter dem Zwang stehen, uns ein Bild von allem zu machen, ob als Künstlerin oder Künstler, ob als irgendwer. Wir sehen und interpretieren, senden Signale. „Fast wie ein Bruder“ ist ein Erklärungsversuch, warum man die Dinge nicht zu lesen verstand.

Und Alain Claude Sulzer erzählt mit der Stilsicherheit eines Meisters! Ein ungemein starkes Buch!

Interview

Zwei Freunde, die in ihrer Kindheit wie Brüder aufwachsen, durch einen Donnerschlag voneinander getrennt werden und sich doch nie ganz verlieren. Vielleicht bewegt dein Roman auch deswegen, weil wir diese Geschichte alle selber kennen; Freundschaften, die einst elementar waren, die unzertrennlich schienen, sich in den Wirbeln der Zeit verlieren und einen Zustand der immerwährenden Scham hinterlassen. So wie ich selbst einst einen Mann im Bus traf, den ich als Freund aus Kindertagen erkannte, aufgeschwemmt und laut mit sich selbst redend. Ich sprach ihn nicht an, aus Feigheit und der Furcht vor Konsequenzen. Wie ungern beschäftigen wir uns mit der Feigheit!
Ist die Frage nicht eher: Wie ungern beschäftigen wir uns mit dem, was vergangen ist, mit dem, was mal einen Wert darstellte, der heute einfach verloren ist. Von Feigheit würde ich nicht unbedingt sprechen, wenn man sich voneinander entfernt hat. Kinder- und Jugendfreundschaften halten selten, wir haben ja manchmal genug an unseren eigenen Familien zu nagen, das ist für viele Vergangenheit genug. Da stellt sich eher die Frage, wie feige man ist, sich ihr zu stellen. Oder wie «zurückhaltend» oder meinetwegen «ängstlich» man ist, es zu tun. Uns trennen oft Welten von «damals». Sie hinter sich gelassen zu haben, ist nicht feige, sondern doch eher befreiend.

Frank erkennt bei einem Ausstellungsbesuch, dass die Malerei seine Stimme sein muss. Von dem Moment ist klar, er muss Maler werden. Alles, fast alles in seinem Leben, richtet sich danach aus. Erst sein Zeichnen, später sein Malen, seine Kunst, seine Form des Ausdrucks wird zur Manie. Ein Drang, bei dem das New York der Achtzigerjahre der einzig mögliche Ort des Gedeihens sein kann. Du beschreibst sehr eindrücklich, wie nah einem diese Manie an den Abgrund führen kann, ein Abgrund, dem du als Schriftsteller bestimmt immer wieder begegnest. Wie schafft man es, sich nicht zu verlieren?
Ich frage mich eher, wie man es schafft, sich als Autor zu verlieren und trotzdem arbeiten zu können. Wenn ich regelmässig am Abgrund gestanden hätte, gäbe es mich als Autor wohl längst nicht mehr. Ich lebe wie wohl die meisten anderen Autoren auch, ein eher «durchschnittliches» Leben, in dem die Arbeit zwar vielleicht der wichtigste Aspekt ist, aber keiner, der mich verschlingt. Das ist mir ohnehin eine zu romantische Vorstellung des Künstlers. Natürlich gab und gibt es, insbesondere bei den Bildenden Künstlern, immer wieder welche, die von ihren Manien fortgerissen wurden, aber zu ihnen zähle ich mich sicher nicht. Ich nehme mir – wenn ich denn danach suchen müsste – eher ein Beispiel an Nabokov, dessen grösster Wunsch es stets gewesen war, in vornehmen Hotels zu wohnen, um dort über Menschen zu schreiben, die – getrieben ihren fixen Ideen – von billigem Motel zu Motel hinterherhechelten. 

Frank malt, der Erzähler in deinen Roman macht Filme. Du schreibst, du schreibst auch immer wieder über Musiker. Ob Maler, Schriftsteller, Dichter oder Musiker – sie alle erzeugen Bilder, Bilder, die keine Wahrheiten abbilden wollen. Und trotzdem wird die Kunst immer und immer wieder am Grad ihres realen Spiegelbilds gemessen. Ein ewiger Kampf. Und gerade der Film wirbt dann auch noch gerne mit dem Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“. Höhlen diese permanenten Erklärungsversuche, das Erschaffene am Realen messen zu müssen, nicht irgendwann aus?
Nicht, wenn sie für den Autor gar nicht entscheidend sind. Auch er erzeugt Wahrheiten, egal worauf sie basieren; seine Fantasie und deren Produkte sind ja genauso real wie das Kind, das über die Strasse geht und von einem Auto überfahren wird. Jetzt genau wird es in der Fantasie des Lesers überfahren, also real. Dieser Satz ist also wahr, solange ihn jemand liest, zumindest kurzfristig. Es ist völlig egal, ob sein Inhalt auf einer wahren Begebenheit beruht oder nicht, ob der Erzähler uns eine Lüge auftischt oder nicht. Das Kind wird überfahren, weil es nicht aufpasst. Gerade noch einmal – diesmal mit einem erklärenden Nebensatz. Es ist am Leser zu entscheiden, für wie wahr er diese Geschichte hält, und am Autor liegt es, sie glaubhaft erscheinen zu lassen. Die Frage nach der «wahren Begebenheit» oder dem Faktencheck ist also nicht die Frage, die die Literatur sich stellen muss. 

Frank schafft es nie, sich als Maler einen Namen zu machen. Das Meer all jener, die es in der Welt der Kunst trotz Leidenschaft und Akribie nie zu lebensnotwendiger Aufmerksamkeit schaffen, ist riesig. Posthum scheinen es seine Bilder für einen kurzen Moment zu schaffen, um dann wie in einem Traum wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Eine Form der natürlichen Verschwendung?
Würde Frank nicht früh sterben, hätte er sich vermutlich den Namen gemacht, den er verdiente. Seine Geschichte als Maler ist eine Geschichte reduzierter Möglichkeiten. Er hat zu wenig Zeit, und die Zeit, in der er lebt, ist wohl auch nicht die Zeit, in der es jene Menschen gibt, die er auf sich aufmerksam machen kann. Natürlich Verschwendung? Vielleicht.

Franks Bilder sind laut. Sie schreien. Sie provozieren. Dass Provokation ein Teil der Kunst ist, scheinen die wenigsten zu verstehen. Lieber wäre vielen Kunst bloss als nette Verzierung, hübscher Schmuck. Was war das Urmotiv, als Du Dich ans Schreiben dieses Romans machtest, steckt doch in deinem Roman ganz offensichtlich auch Provokation?
Ich sehe die Provokation nicht, lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Das Urmotiv ist wohl die Geschichte meines Vaters, der während seines Lebens immer wieder Phasen hatte, in denen er malte – und keineswegs als Dilettant. Er malte, hat aber nie ausgestellt. Seine Bilder existierten also nicht und hatten keinen Marktwert. Nach seinem Tod haben wir Brüder einen letzten Effort unternommen und einen jungen Galeristen gefunden, der für diese Bilder regelrecht entbrannte und eine Ausstellung organisierte, die sehr erfolgreich war. Plötzlich waren die Bilder, die vorher kaum jemand kannte, da. Sie wurden gesehen, es wurde darüber geschrieben, sie wurden verkauft. Eine späte Genugtuung, ähnlich jener, die Frank in meinem Roman «erfährt», auch er erst nach seinem Tod.

Noch vor wenigen Jahren erklärte man Aids zur Volksseuche. Eine Tatsache, die viel mehr Opfer forderte als die Krankheit selbst. Heute ist Aids aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Es gibt Medikamente. Du beschreibst die ganz persönliche Scham deines Erzählers. Geht es aber nicht viel mehr darum, dass man sich nie mit den tatsächlichen Folgen von Aids auseinandersetzte?
Die Betroffenen setzen sich auf die eine oder andere Weise bis heute damit auseinander. Dass die Nichtbetroffenen das nicht tun, ist nachvollziehbar. Alles in allem hat man die «Seuche», die keine «Volksseuche» war, sondern zunächst vor allem ganz bestimmte Menschen – eigentlich nur Männer – betraf, gut gemeistert. Das lag an besonnenen Politikern – es gab auch andere – und Medizinern, die sich nicht hysterisieren und manipulieren liessen.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Doppelleben«. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.

«Die Jugend ist ein fremdes Land», Rezension

«Unhaltbare Zustände», Rezension

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Beitragsbild © Lucia Hunziker.