Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt

Robert Akeret macht sich auf, auf eine lange Reise. Nicht zur Erholung, nicht einmal auf die Suche nach dem Glück. Robert Akeret will seinem kleinen Leben Bedeutung verschaffen. Er will ein Grundstein der Wissenschaft werden, sein Name ein Denkmal, das bleiben soll.

Robert Akeret bezeichnet sich selbst als Kryptozoologe („Lehre von den versteckten Tieren») und schimpft seine Gegenwart, dass nicht längst an jeder Universität ein Lehrstuhl dieser Wissenschaft vertreten ist. Er hält nichts von der eidgenössischen Bescheidenheit, der Abneigung gegen das Weitschweifende, Weltumspannende. „Ein Leben ohne Zuschauer» sei sinnlos. Er macht sich auf, jenes Lebewesen zu finden, dass das Bindeglied zwischen Mensch und Tier sein soll. Jenes Lebewesen, das man in Vietnam Nguoi Rung nennt, in China Deren, Alma im Altaigebirge, Batutut auf Borneo oder Orang Pendek auf Sumatra.

Insel der unbegründeten Hoffnung

Lukas Maisel siedelt seinen farbigen, üppigen und verspielten Roman in naher Zukunft an, einer Zeit, die aus dem Flughafen und der Stadt Dubai eine heruntergekommene, kaputte Destination macht, ohne zu erzählen, was die Welt derart veränderte. Akeret schliesst sich zusammen mit Blum, einem Studenten der Ethnologie, einem jungen, empfindsamen Mann, der auf dieser Reise, deren Zweck Akeret im Dunkeln lässt, unbekannte Sprachen, Geheimsprachen zu erforschen hofft, wie Akeret eigentlich nur weg will und auf die grosse Offenbarung hofft. Als dritten auf dieser Expedition heuert Akeret Mansur an, einem Mann aus Sulawesi, Angehöriger der Bugs, einem alten Seefahrervolk. Und als letzter noch Jonah, einen stillen Maschinisten, Sohn eines Fischers, geflohen, der mit dem umgebauten Schiff mit dem übergrossen Käfig und seinem tuckernden Motor zurecht kommen soll.

So sehr sich Akeret und Blum auf ihre Aufgabe zu konzentrieren versuchen, so ergeben scheinen Mansur und Jonah, scheinbar zufrieden mit der Aufgabe allein, ohne Zukunft, ohne Perspektiven.

Insel des berauschten Paradiesvogels

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2

Akeret war schon als Kind ein Sonderling, einer, der mit seiner Fragerei den letzten Nerv rauben konnte. Einer der sich mit keiner Antwort abspeisen liess, einer, der sich auch in der Schule nicht abspeisen liess. Sein Lieblingsbuch damals war „Das Buch der geträumten Städte“.
Und als Erwachsener schimpft Akeret sie alle, die Lehnstuhlzoologen, die sich fürchten, ihre schlaffen Körper ins Unbekannte zu stürzen. Ob von Erfolg gekrönt oder nicht, Akeret weiss, sie würden schimpfen, ausrufen, denn er hatte nicht studiert und bekannte sich mit Vehemenz zu einer Wissenschaft, die bei Zoologen nur Kopfschütteln verursacht. Aber er würde es ihnen zeigen. Und wenn der Moment des Triumphs kommt, wird das Wesen Homo Akereti heissen! Akeret und Blum belauern sich, jeder wissend, dass das Unternehmen nie ohne den andern gelingen kann. Man misstraut sich, versteckt sich hinter seiner Aufgabe, der ganz persönlichen Aussicht auf den grossen Triumph, jedes Scheitern ausblendend.

Während die Natur immer wilder wird, der Fluss immer schmaler, das Weiterfahren mit der Marie immer schwieriger, während die Eingeborenen immer feindlicher werden, sich das, was ihnen begegnet immer mehr verschliesst, steigert sich Akerets Entschlossenheit. Irgendwann bringen Eingeborene den Forschungsreisenden tatsächlich ein Wesen, weder Mensch noch Tier. Ein eindeutig menschlicher Kopf mit haarigem Rumpf und Fischlaib, zusammengenäht mit grobem Garn. Ein Versuch, die Fremden zu beschwichtigen? Ein Glücksbringer, ein Ningyo? Eine Warnung?

Lukas Maisels Sprache ist wie seine Geschichte von einer anderen Welt, erfrischend altbacken, genauso wie der Protagonist, der in naher Zukunft unterwegs ist, wie die einstigen Entdecker, wohl wissend, wie viel Leid, Zerstörung und Krankheiten sie auslösten – im Dienst von Wissenschaft und Forschung, Eroberung und Status. So sehr es Akeret um die Erfüllung seines Traumes geht, dem Zusammenschluss zwischen seiner ganz eigenen Logik und allgemeingültiger Wahrheit, so geht es Lukas Maisel nicht um das Ziel, nicht um die Erfüllung. Das „Buch der geträumten Inseln“ liest sich tatsächlich wie ein Traum zwischen den Wirklichkeiten. Ein Mann fährt durch seine Welt, ohne je in ihr anzukommen. Die Welt bleibt fremd. 

„Ich weiss, wonach ich gesucht habe, wenn ich es finde.“ Unglaublich erfrischend!

Interview mit Lukas Maisel:

80 Prozent der gegenwärtigen AutorInnen beschäftigen sich in ihrem Schreiben in irgend einer Weise mit sich selbst, transformiert oder nicht. Wer weiss, vielleicht ist diese Selbstschau in ihrem Roman so weit verfremdet und verborgen, dass ich an ihr vorbeilese. Umso mehr interessiert mich der Ursprung ihres Romans. Was stand ganz zu Beginn?
Ich habe kein Bedürfnis, etwa meine Familiengeschichte niederzuschreiben. Ich fände es öde, das zu schreiben, und öde, zu lesen. Das ist so eine unnötige Verdopplung der Wirklichkeit, obwohl man doch alle Mittel hätte, eine ganz andere Wirklichkeit zu erschaffen. — Am Anfang dieses Romans standen ein paar Zeilen, die ich am Literaturinstitut in einem Kurs geschrieben hatte. Es gibt darin noch keine Figuren, allein die Bedrohung durch geheimnisvolle Wesen in einem Regenwald. Diese Miniatur hat viele Fragen aufgeworfen, denen ich nachgehen wollte. Es verbanden sich andere Ideen mit dieser, etwa jene von einer Expedition, bei der möglichst viele Insektenarten beschrieben und benannt werden sollten. Ich finde den menschlichen Drang, alles zu benennen, und die Hybris, es auch zu tun, unglaublich faszinierend. Erst später kam dann Robert Akeret hinzu, die Hauptfigur.

Sind Sie zu Recherchezwecken tatsächlich gereist? Und wie weit hat sich ihr Romanvorhaben während dieser Recherchen von seiner ursprünglichen Form entfernt? Oder folgten Sie einem (ge)strickten Plan?
Ja, ich bin gereist, auf die indonesischen Inseln Sumatra, Sulawesi und Ternate, auch auf Waigeo, das zum indonesischen Teil Neuguineas gehört. Auf Ternate gibt es den Vulkan Gamalama, auf den mich ein barfüssiger Führer gebracht hat, der ständig Nelkenzigaretten rauchte: das Urbild Jonahs, einer der Figuren im Roman. Auch auf Sulawesi verbrachte ich einige Zeit, um Mansur nachzuspüren, dem indonesischen Helfer der Expedition. Es geht um Details, aber Details sind alles in einem Roman. Der Kern des Romans hat sich dabei kaum verändert.

Die verbissene Suche nach etwas, was vielleicht nicht einmal sein kann, dass sich allen Wahrscheinlichkeiten entzieht, ist ein weit verbreitetes Phänomen. All die aktuellen Verschwörungstheorien sind Beispiele genug. So wie der Abenteurer Robert Akeret über die Lehnstuhlzoologen schimpft, schimpft der Verschwörungstheoretiker auf den Mainstream, die Wissenschaft, die Politik. Ist dieses „Aufsitzen“ nicht ein urmenschliches Bedürfnis? Ein Stück Zuhause?
Das wiederkehrende Narrativ ist: Nichts sei, wie es scheint, die vorherrschende Meinung sei falsch. Das würde auch Akeret unterschreiben, doch anerkennt er die wissenschaftliche Methode und die durch sie gewonnenen Erkenntnisse. Er glaubt aber, dass die Wissenschaft etwas übersehen hat, das ein unbefangener Laie eher finden kann. Man sieht nur, was man weiss, meinte Goethe.

Frauen scheinen in Ihrem Roman nur eine sehr untergeordnete Rolle zu haben. Ist es, weil die vier Archetypen, die sich auf diese Forschungsreis begeben auch wirklich den verschiedenen, männlichen Archetypen entsprechen?
So ganz stimmt das nicht: Professorin Dr. Unland beansprucht mehrere Kapitel, und auch Margarete ist keine unwichtige Figur. Den Bechdel-Test jedenfalls würde der Roman bestehen.

„Er wusste wohl, dass Scheitern möglich war, ans Aufgeben aber glaubte er nicht. Mit leeren Händen heimzukehren, war keine Möglichkeit.“ Dieses Missionarische. Wie weit gilt dieser Satz auch für die Schriftstellerei, das Leben als „Jungautor“?
Es ist schon so, wie Meister Yoda sagt: »Tu es oder tu es nicht. Es gibt kein Versuchen.« Natürlich ist Talent ungleich verteilt und wichtig für das Schreiben, aber genauso wichtig ist die Bereitschaft, aus jeder Zurückweisung, jedem Scheitern zu lernen. Ich hatte schon einige Jobs, ich habe in einer Weinabfüllerei, einem Warenlager, einer Druckerei etc. gearbeitet — ich weiss, dass jeder andere Beruf mich langweilen würde, nur das Schreiben nicht. Darum ist jedes Scheitern für mich, wie für Akeret, kein Anlass zu Zweifeln, sondern treibt mich weiter an.

© Rowohlt Verlag

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für das Manuskript seines ersten Romans, Buch der geträumten Inseln, erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 den Förderpreis des Kantons Solothurn. Er lebt in Olten.

Webseite des Autors

Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling

Wer Ulrike Almut Sandig live erlebt, wird tief beeindruckt sein. Eine Performerin par excellence! Und klar, wenn dann eine Lyrikerin und Erzählerin wie sie ihren ersten Roman ankündigt, nach über einem Dutzend Veröffentlichungen und noch mehr Preisen, dann sind die Erwartungen hoch. Nichts desto trotz hat „Monster wie wir“ bei mir eingeschlagen. Eine Sternschnuppe aus dem Literaturhimmel, hell und heiss.

Gute Bücher sollen nicht schmeicheln, sie sollen zuweilen sogar weh tun. Auch wenn man damit ein gewisses LeserInnensegment gleich mal ausschaltet; jene, die unterhalten werden wollen, jene, die bestätigt werden wollen, jene, vor denen Schreibende mit ihrem Geschriebenen zu gefallen haben. Gute Bücher dürfen Schmerzgrenzen überschreiten – wenn sie wirklich gut geschrieben sind – und wenn die überschrittenen Grenzen nicht um ihrer selbst willen überschritten werden. Gute Bücher sollen provozieren, und wenn es nur die Angst ist, in Abgründe zu schauen.

„Eine gute Geschichte beginnt weit vor ihrem ersten Wort, und sie hört auch nicht auf.“

„Monster wie wir“ ist wie der Gang über eine schmale Hängebrücke. Man kann den Abgrund durchaus überqueren, wenn man sich am Geländer hält und mit geschlossenen Augen auf die andere Seite tappt. Man spürt den Wind, das Schaukeln, das Filigrane der Konstruktion. Oder man schreitet entschlossen voran, blickt hinunter, lässt sich nicht beirren, nimmt in sich hinein, was da passiert; diesen Schwindel, die Angst, die unfassbare Tiefe.

Mit dem Romandebüt von Ulrike Almut Sandig passiert bei der Lektüre genau das, auch wenn man eigentlich nicht mehr von einem Debüt sprechen kann. Wenn sich eine Dichterin, eine Schriftstellerin so trittsicher in Erzählungen und Lyrik bewegt, nicht nur „eingesperrt“ zwischen zwei Buchdeckeln, sondern noch viel beeindruckender performativ, dann ist der erste Roman einfach der erste Roman, dieses erste Mal, bei dem sich Ulrike Almut Sandig in der langen Form versucht – und wie!

„Ich will, denkt er, alles. Alles ausser zurück.“

Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-89561-183-4

Sie sind alle einsam. Ruth, die Geige spielt und etwas vom Glauben an Vampire bis in ihr Erwachsensein mitgenommen hat, irgendwo im ostdeutschen Nirgendwo aufwächst im Haus einer Pfarrersfamilie. Viktor, der Sonderling, mit dem sich Ruth in der Schule anfreundet, der sich fürchtet vor seinem „Scheissschwager“, der sich an ihm vergeht. Von Fly, Ruths Bruder, der Fliegen und sein Cello malträtiert, weil er von seinem Grossvater ausgesaugt wird. Von all den Eltern, die durch Ignoranz das Leiden multiplizieren, nur weil nichts und niemand die blutenden Krusten aufbrechen will, um endlich dorthin zu gelangen, wo der Eiter das Fleisch erhitzt. Einsam und verletzt. Victor taucht irgendwann ab, um in Frankreich mit Glatze und Springerstiefeln als Au Pair aufzutauchen. Viktor wird zu einem Hulk, der die Kinder in der reichen Familie beschützen soll; Lionel, der sich in seinem Zimmer mit seiner Musik zudröhnt und Maud, noch klein und unschuldig. Aber auch dort grassiert die Verlogenheit, wird alles unter der Oberflächlichkeit weggewischt.

„Ja, man kann wirklich über Nacht erwachsen werden.“

„Monster wie wir“ erzählt schonungslos von der Verlogenheit, von Übergriffen und unheilbaren Verletzungen. Dass sich Ulrike Almut Sandig an diesem Stoff nicht die Finger verbrennt, ist ihrer Sprache, ihrem Geschick, den Bildern und der Art und Weise zu verdanken, wie sie trotz maximaler Nähe keinem Voyeurismus, keinem „Veröffentlichen“ verfällt. Die Verletzten, die Gezeichneten, die Geschundenen und Versehrten bleiben stark, weil die Autorin nicht ihren Niedergang beschreibt, sondern die Kraft, die aus ihrem Kampf erwächst. Und weil Ulrike Almut Sandig eben keine Debütantin ist, sondern sich wie wenige sonst der Möglichkeiten der Sprache bewusst ist, weil sie weder mit den Figuren noch mit mir als Leser spielt, nicht unnötig emotionalisiert, wird der Roman zu einem ganz speziellen Leseerlebnis!

Interview mit Ulrike Almut Sandig

Sie schreiben Gedichte, Erzählungen, mit „Monster wie wir“ ihren ersten Roman, sie geben Zeitschriften heraus, arbeiten mit Komponisten und Musikern zusammen, performen auf der Bühne und im Studio, füttern eine spannende Webseite, reisen für Lesungen quer durch Deutschland bis in die Schweiz und lesen dabei nicht nur, sondern diskutieren über Themen wie „Europäische Identität“. „Daneben“ haben sie eine Familie. Atemlos?

Nein. Ich habe das Glück, ein sehr abwechslungsreiches Berufsleben führen zu dürfen. Es gibt wenig Routine, stille Schreibmonate wechseln mit Probetagen und Reisemonaten. Der Wechsel der Genres und Kunstformen tut meiner Arbeit gut, finde ich. Er sorgt für einen frischen Blick auf Themen und Techniken und verunsichert mich auf eine produktive Art. Aber es gibt einige Konstanten, die meiner Arbeit den festen Boden geben, auf dem alles steht. Die wichtigste ist meine Familie. Bei weiten Reisen begleitet mich manchmal meine Tochter, letztes Jahr waren wir zweimal gemeinsam in Indien. 

Als ich sie im vergangenen Winter in Basel an den internationalen Lyriktagen zusammen mit der Musikerin und Singer-Songwriterin Pamela Méndez sah, hörte und geniessen konnte, öffnete sich mir das Herz. Nicht zuletzt deshalb, weil ich bei ihrer Performance Zeuge ihrer eigenen Offenbarung wurde. Ist das Ulrike Almut Sandig?

Ich versuche, auf der Bühne keine Kunstfigur zu sein, weil mich das zu viel Kraft kosten würde. Aber so ein Ich hat natürlich viele Identitäten, Geschlechter und Rollen. In meinen Büchern schreibe ich dagegen selten über mich selbst. Vieles, was autobiografisch wirkt, ist eigentlich fiktiv. Und andersherum. Die Dinge lassen sich besser untersuchen, wenn man sich dabei nicht im Weg steht, aber bereit ist, sich selbst Material zu sein.

Almut ist ein alter germanischer Vorname und bedeutet „die Edelmütige“. Von diesen Edelmütigen ist in ihrem Roman wenig zu spüren, ausser dem Vater Ruths, dem Pfarrer und ein paar Alten, die aber mehr verrückt und entrückt erscheinen. Drückt da etwas die Pfarrerstochter durch, die uns mahnt vor den Abgründen der Unmenschlichkeit?

Ich möchte nicht mahnen und nicht belehren. Aber die Theologen, die ich kenne, wollen das ebenso wenig wie ich. Ich sehe meine Arbeit als ein Untersuchen der Wirklichkeit mit den Mitteln der Literatur. Dabei will ich keine Figuren vorführen oder für verrückt erklären. Ich fand es wichtig, auch den Figuren im Roman, die hart und brutal sind, mit Respekt zu begegnen. Es gibt nicht den Täter, der nur Täter ist. Und keinem Opfer werde ich gerecht, wenn ich es nur als Opfer sehe.

Es wird nicht nur der Übergriff am Menschen geschildert, sondern auch der an der Natur. Zum Beispiel der, der durch den Braunkohleabbau in Deutschland ganze Ortschaften frisst. Ein Eingriff, der in den dicht besiedelten und kleinräumigen Nachbarländern Österreich und Schweiz so nicht denkbar wäre. Nichts desto trotz grassiert der apokalyptische Übergriff, der auch durch Fridays for Future oder Corona keinen Aufschub erreichte. Wie viel Hoffnung haben sie? Auch Hoffnung für die Literatur?

Der Ausstieg aus der Energiegewinnung durch Braunkohle ist im Juni 2019 von der Bundesregierung gesetzlich beschlossen worden. Laut Martin Kaiser, dem Geschäftsführer von Greenpeace, bedeutet der Beschluss der Kohlekommission, dass die seit Jahren durch Aktivist*innen bekämpfte Rodung des Hambacher Forstes in der Nähe von Köln abgewandt ist. Auch weitere Devastierungen von Ortschaften in der Lausitz, in Mitteldeutschland und im Rheinland können dadurch gerettet werden. Allerdings warten viele Einwohner*innen der unmittelbar betroffenen Ortschaften seit Jahren auf ihre Umsiedlung, weil ein Leben in der Nachbarschaft der Braunkohlekraftwerke wegen der Luftverschmutzung etc. nicht lebenswert ist. Der Protest der Einwohner hält sich aber auch aus einem anderen Grund in Grenzen. In diesen Gegenden sind die Braunkohlegesellschaften ein wichtiger Arbeitgeber, oft für Generationen. Also obwohl Deutschland das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhält, wenn es wie beschlossen erst 2038 aus der Braunkohle aussteigt, steht ihm neben dem Ausbau erneuerbarer Energiegewinnung auch eine Umstrukturierung der Arbeitsstruktur grosser Landstriche gegenüber. Das muss möglich sein, ganz einfach weil es keine Alternative gibt. Es geht also weniger um Hoffnung als um Alternativlosigkeit.

Und Hoffnung für die Literatur? Gar nicht nötig. Die ist doch so vielseitig und aufregend wie selten! Nie in der Geschichte war der Anteil der Analphabeten so gering wie im 21. Jahrhundert. Es wird gelesen, es wird diskutiert, es wird gestritten. Oft gehen die aufregendsten Impulse von Dichtern und Dichterinnen aus. Würde die Lyrikszene sich allerdings weiter aus ihrem selbstgeschmiedeten goldenen Käfig herauswagen, könnte ihr Einfluss auf gesellschaftliche Diskussionen noch viel grösser sein.

Mit dem Romantitel „Monster wie wir“ richten sie den Blick nicht nur auf ihr Romanpersonal, sondern auch auf mich Leser. Kein sehr schmeichelhafter Wink. Aber ganz offensichtlich ist das Schmeicheln nicht das Ihre, ausser mit der Sprache selbst.

Ach, Schmeicheln ist bloss eine Technik, sein Gegenüber klein zu halten. Die Gewaltformen, von denen ich in «Monster wie wir» erzähle, ziehen sich durch alle Bildungsschichten und Familien. Aber Ruth, eine der beiden Hauptfiguren meines Romans, entdeckt im Klavierspiel eine produktive Kraft: «Im Tastenspiel wohnte ein monströser Golem, der es mit allem, was einem so zustossen konnte, aufnahm.» So ein Golem wünsche ich jeder und jedem.

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ulrike Almut Sandig am 17. Lyrikfestival Basel 2020

zu einem Filmporträt über die Autorin

Webseite der Autorin

Beitragsbild: Michael Aust © Villa Concordia

Thilo Krause «Elbwärts», Hanser

Manchmal muss man weg, um irgendwann zurückzukommen, zurückzukommen auf das, was einst passierte, an den Ort, an dem es passierte, zu den Menschen, von denen man sich entfernen musste. Vielleicht wäre Gras über die Sache gewachsen. Vielleicht wären die Geschehnisse in den Sedimenten der Vergangenheit eingesunken. Aber er kommt zurück, in vielerlei Hinsicht zurück.

In Thilo Krauses erstem Roman „Elbwärts“ geht auch der Autor „zurück“, denn Thilo Krause, geboren in Sachsens Hauptstadt Dresden wohnt und wirkt schon lange in der Schweiz, arbeitet neben seinem Wirken als Dichter bei den Technischen Betrieben der Stadt Zürich. Sein Protagonist geht zurück an die Elbe, elbwärts, ohne je an dem Ort anzukommen, den er sich vor seiner Rückkehr ausmalte. Denn er kehrt zurück mit seiner Familie, mit seiner Freundin Christine und dem Kind, in ein Haus mit Apfelhain, einem Haus, das alles hätte, um ein neues Zuhause zu werden, nicht weit von der Stadt-die-keine-ist, nicht weit von dem Fels, der seinem Freund Vito damals zum Verhängnis wurde. Damals, kurz vor dem Mauerfall, als sich die berstende DDR ein letztes Mal aufbäumte.

„Als wir weg waren, schien es hier zu sein, und nun, da wir hier sind, ist es, was weiss ich wo.“

Aber nach der Rückkehr ist nichts so, wie es hätte sein sollen. Die Beziehung zu Christine erstickt in Streitereien, das Leben als Hausmann und Heimwerker scheitert und die Vergangenheit, die nicht zurückzulassen ist, sticht und provoziert aus jedem Winkel an der Elbe, sei es zuhause, im Dorf bei den alten, bekannten Gesichtern, den Glatzköpfen, die sich wie eine Krankheit ausbreiten, in den Wäldern oder um die Felsen, in die er und Vito, sein Freund aus Kinder- und Jugendtagen, hinaufkletterten.

„Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf zu verschwinden.“

Thilo Krause «Elbwärts», Hanser, 2020, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26755-8

Vito und er gingen damals noch zur Schule, waren Freunde wie Pech und Schwefel. Nach der Schule machten sie sich auf zu den Kalkfelsen über dem Elbtal, unter der Festung, kletterten, wollten sein wie die Grossen, mit Seilen, die sie aus den Waschküchen der Mütter klauten. Bis zu jenem Tag, der alles kippte. Als Vito hätte nachklettern sollen. Als er oben wartete und nur dieses eine dumpfe Geräusch hörte. Als Vito abstürzte, liegen blieb, Blut verlor. Als er ihn auf seinen Rücken packte und zurück ins Dorf schleppte. Als man ihn ins Spital brachte und bei der Operation irgendetwas nicht lief, wie es hätte sein sollen. Als Vito im Spital sein Bein verlor, man ihm ein Bein amputierte, seinen Freund amputierte, als Vitos Mutter ihn für das verantwortlich machte, was am Felsen niemals hätte passieren dürfen.
Vitos Absturz wird zum Absturz beider. Vor versammelter Schule wird gebrandmarkt und ausgesondert.

„Wenn es dunkel wurde, schlich ich zu mir nach Hause wie ein Dieb, denn das war ich: ein Dieb, der Vito das Bein geklaut hatte.“

Nach Jahren zurück, sucht er erneut die Nähe zu Vito. Vito ist Tischler geworden, im Ort, wenn auch nicht der Alte geblieben. Als es den Moment endlich gibt, an dem er sich traut, zurück ins Leben seines alten Freundes zu treten, ist es Vito, der „oben auf dem Fels“ steht, ist es sein alter Freund, der einbeinig beide Füsse auf dem Boden hat, während ihm die Gegenwart wegrutscht.

Eine Geschichte, die berührt, eine Sprache, die bezaubert. Dass der Dichter und Sprachkünstler Thilo Krause nicht einfach eine Geschichte erzählen will, wird nicht nur in der Art seines Erzählens klar, auch im Sound, in der Prägnanz. Seien es einzelne Sätze, die wie Blitze aus dem Text schiessen und an mir hängen bleiben oder Dialoge, die viel mehr erzählen, als nur das, was gesprochen wird. „Elbwärts“ ist ein Abtasten der Landschaften, der inneren und äusseren Landschaften: „Elbwärts“ will nichts klären, nichts erklären. „Elbwärts“ ist der Strom des Erzählens, diese langsam fliessende Bewegung, der man sich nicht entziehen kann. Wunderbar.

Begründung der Jury zur Verleihung des Robert Walser Preises 2020:
«Krause erzählt auf höchst eindringliche und sprachlich stimmige Weise von der Rückkehr an den zugleich vertrauten und fremd gewordenen Ort der Kindheit im Elbsandsteingebirge nahe der tschechischen Grenze und von der unvermeidlichen Konfrontation mit einem die Existenz überschattenden, in Schweigen eingemauerten Jugendtrauma. In Bildern von grosser dichterischer Intensität gelingt es Krause, das Eintauchen-Wollen in eine unwiederbringlich verlorene, nicht mehr zu berichtigende Vergangenheit sinnlich fassbar zu machen.»
Die deutschsprachige Jury bildeten unter dem Vorsitz von Stefan Humbel, Jürg Altwegg, Andreas Langenbacher, Camille Lüscher und Anne Weber.

Thilo Krause, geboren 1977 in Dresden, lebt und arbeitet in Zürich. Seit 2005 veröffentlicht er literarische Texte in Zeitschriften (u.a. Akzente, Sinn und Form), Zeitungen (u.a. Die Zeit, Zürcher Tagesanzeiger) und Anthologien. Für seine Gedichte wurde Thilo Krause 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2016 mit dem Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg sowie dem ZKB Schillerpreis ausgezeichnet. Bei Hanser erschien 2018 sein Gedichtband «Was wir reden, wenn es gewittert», für den er den Peter Huchel-Preis erhielt. 

Webseite des Autors

Peter Zimmermann «Was der Igel weiss», edition bücherlese

Tom und Patrick waren Freunde. In den wilden Jahren ihrer Jugend zerriss es ihre Freundschaft. Leben, die vorgezeichnet schienen, warf es aus der Bahn. Ein Vierteljahrhundert später treffen sich die beiden wieder in Bern. Zwei Versehrte stehen einander gegenüber. Patrick hat in Übersee studiert, Tom ist Lehrer geworden. Alleine sind beide.

Patrick ist zur Beerdigung seiner Mutter in die Schweiz zurückgekehrt. Kurz vor seinem Rückflug steht er vor der Wohnungstür seines einstigen Freundes. Wenn die Vergangenheit nach einem Vierteljahrhundert so einfach vor der Türe auftaucht, dann nicht, um Hallo zu sagen, denn als sie sich gegenübersitzen, ist da das leise Surren von Patricks Handprothese.

Damals waren sie Freunde, Blutsbrüder, besuchten das Gymnasium, trafen sich nach der Schule, lümmelten in Rohbauten und Einkaufszentren herum, rauchten, tanzten in den Kellern des Ortes und verdienten sich auf dem Ticketschwarzmarkt vor grossen Konzerten einen ordentlichen Batzen Geld. Dass es dabei mit konkurrierenden Gangs zu Konflikten und handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, schien die Freundschaft zwischen Tom und Patrick nur zu stärken, zumal sich die beiden mit aller Deutlichkeit von ihren Eltern abnabeln wollten. Patrick von Eltern, die nie da waren, selbst wenn die Mutter mit Pumps und vollen Tüten eines Lieferservices den peinlich gewordenen Geburtstag feiern wollte. Tom von seiner Mutter, die sich mit Alkohol tröstete. Weg von Eltern, die sie bloss Zombies nannten.

Peter Zimmermann «Was der Igel weiss», edition bücherlese, 2020, 272 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-906907-31-4

Bis Tom Jasmin in seiner Klasse erstmals wahrnimmt. Ein Mädchen, das anders ist als jene, die im Keller tanzen. Ein Mädchen, das sich anders gibt, auch in der Schule. Auch keines von denen, die seinem grossen und athletischen Freund Patrick wie die Fliegen aufsitzen. Einmal steht Jasmin vorne beim Lehrerpult und hält wie alle anderen einen Vortrag. Aber der Vortrag ist eine Kampfansage gegen die Gewohnheiten der Gesellschaft; Halbnackte Hühner in Massentierhaltung, geschredderte Küken in einem Container, gestapelte Schweinehälften wie Tote in einem Konzentrationslager. Pater Zyrill, der Lehrer, bricht den Vortrag ab und schickt die Gymnasiasten an die frische Luft. Aber Tom ist fasziniert vom Mut seiner Mitschülerin. Sie treffen sich und er erfährt, dass Jasmin nicht bloss Vegetarierin ist, sondern Teil von „Straight Edge“, einer Bewegung, einem Lebensstil ohne Alkohol, Tabak oder andere Drogen, gegen häufigen PartnerInnenwechsel, nüchtern, gradlinig und selbstbestimmt. Tom verliebt sich. Er verliebt sich aber auch in die Kraft seiner Freundin, die sich nicht einfach blossen Schimpfen und Auflehnen hingibt, sondern in den Augen Toms auch für Veränderungen einsteht. Erst recht als klar wird, dass Jasmin Teil einer Gruppe junger AktivistInnen ist.

Tom ist mittendrin. Die alkoholabhängige Mutter, sein Freund Patrick, der mit seiner cool-lässigen Art die Welt zu nehmen versteht, Jasmin, die nicht bloss Steine wegkickt, Toms Onkel, der ihn zum Denken ermuntert und doch ganz anders ist wie sein erloschener Vater. Jasmin nimmt Tom mit und aus ihrer Überzeugung wird seine. 

Aber kann man eine Überzeugung wie einen Mantel umlegen? Wann wird Überzeugung zu eigenem Leben? Was bleibt von dem, was man in seiner Jugend wie ein Schwamm in sich aufgesogen hat? Den Plänen und den Träumen, den Vorstellungen und Visionen? Spiegelt mein gegenwärtiges Leben noch einen Funken dessen, was damals im Brennpunkt war, explosiv werden konnte?
Ein Vierteljahrhundert später treffen sich zwei Ernüchterte. Ist die Handprothese seines Freundes ein Grund, dass Tom Philosophieleher geworden ist? Ist jene Katastrophe, die damals Tom und Patrick beinahe das Leben gekostet hätte, bloss einfach ein Ende mit Schrecken oder ein Anfang?

Peter Zimmermann nimmt mich mit in die 90er Jahre, konfrontiert mich mit mir selbst, der ich auch einmal meine Überzeugung für jeden sichtbar mit mir herumtrug. Was bleibt vom Kampf gegen das Immergleiche, Unumstössliche, gegen Tradition und Establishment? Peter Zimmermanns Roman ist sehr konventionell erzählt, bleibt auf der eingeschlagenen Linie. Ich hätte dem Roman mehr Sprache und Konstruktion gewordenen Mut gewünscht. Doch auch wenn Peter Zimmermanns Debütroman manchmal etwas hölzern wirkt, lohnt sich die Lektüre allemal, weil da einer einen Kampf ausleuchtet, den wir alle mit uns herumtragen; die Rebellion und das, was davon bleibt.

Ein Interview mit Peter Zimmermann:

Tom wurde Philosophielehrer. Sie lassen im Verborgenen, wie sehr die verheerende Geschichte damals einer der Gründe wurde, warum Tom diesen Beruf auswählte. Und warum er einer der Menschen geworden ist, denen nicht die Karriere an erster Stelle steht, sondern ihr Idealismus. Ist jener Idealismus, den man sich bewahrt, nicht immer das Resultat von Leben, das an einem nagt?
Ja, das kann sein. Ich mag solche Figuren. Sie sind mir sympathischer als jene, die das Leben an sich abperlen lassen, keine Ideale besitzen und am Leben ihrer Mitmenschen nagen. Das ist es ja auch, was Tom in Bezug auf seinen Freund Patrick befürchtet: Dass dieser sich zu einem «zufriedenen, satten Geist» entwickelt. Auf der anderen Seite kann das Leben so sehr an einem nagen, dass der Idealismus, den man sich bewahrt, zahnlos wird, zu einer Flucht vor der Realität verkommt. Ich denke, Tom befindet sich da an einer Grenze.

Tom hat einen Onkel, den Bruder seines Vaters, der ganz anders ist, der Sätze sagt wie „Dein Verstand muss intuitiv werden. Er darf nicht sezieren, darf sich nicht in Einzelheiten verlieren“. Das tut doch aber die Literatur sehr oft. Man verliert sich in den Einzelheiten, den Details und traut der Intuition nur wenig. Oder liegt dort der Unterschied zwischen Handwerk und Kunst?
Gibt es diesen Unterschied überhaupt? Ich betrachte das literarische Schreiben – zumindest mein eigenes – eher als Handwerk. Aber ich verstehe den Sinn Ihrer Frage: Gewisse Texte sprechen uns in emotionaler und intellektueller Hinsicht auf eine ganz besondere Weise an und in diesen Fällen sagen wir üblicherweise, dass wir es mit Kunst zu tun haben.

 

aus den Notizen Peter Zimmermanns

Was zeichnet solche Texte aus? Ich formuliere eine Gegenthese zu Ihrer Aussage: Oft vernachlässigt Literatur den präzisen Blick auf die Details. Man verliert sich im Abstrakten, produziert «Geschwurbel» und behauptet, es wäre Kunst. Ich will Ihnen aber auch nicht widersprechen. Womöglich liegt die echte Kunst – oder das gute Handwerk – darin, die richtigen Details so zu wählen und zu arrangieren, dass Bedeutungen entstehen, die über die wörtliche Bedeutung des Textes hinausreichen. Dazu braucht es vielleicht tatsächlich so etwas wie Intuition. Ein solches Mehr an Bedeutung lässt sich dann wiederum bloss intuitiv erschliessen und nicht vollständig ausbuchstabieren, was zu dieser besonderen Leseerfahrung führt, die uns dazu bringt, von Kunst zu sprechen.

Was bleibt von dem, was einem in jungen Jahren umtreibt? Wie wächst Ideologie? Was ist von den Idealen des jungen Peter Zimmermann geblieben?
Das ist eine sehr persönliche Frage. Nun gut: Die Ideale des jungen Peter Zimmermann haben sich zu einem guten Teil darauf bezogen, was für ein Leben er führen möchte. Unter anderem wollte er auf keinen Fall Lehrer werden. Genau das ist aber aus mir geworden. Diese Entwicklung bereue ich keineswegs. Das Unterrichten ist eine sehr erfüllende Tätigkeit, die mir zwanzig Jahre lang grossen Spass bereitet hat. Allerdings nähere ich mich inzwischen dem Leben an, das ich mir als Jugendlicher erträumt habe: Nachdem ich diesen Frühling meine Stelle am Gymnasium gekündigt habe, um fortan nur noch in der Lehrerbildung tätig zu sein, werde ich in Zukunft deutlich weniger verdienen, aber auch deutlich mehr Zeit fürs Schreiben haben. Im Vergleich zu früher lebe ich heute in grösserer Übereinstimmung mit den Idealen des jungen Peter Zimmermann.

Sie zielen mit Ihrer Frage aber wohl auf andere Dinge. Wie steht es um meine moralischen Ideale? In gewisser Hinsicht war das auch mein Ausgangspunkt, als ich den Roman zu schreiben begann. Wie wird aus einem fünfzehnjährigen Jugendlichen, der genau dieselben Werte wie seine Eltern vertritt und der vor seinen Mitschülern ein flammendes Plädoyer für die Erneuerung der Schweizer Luftwaffe hält, in kurzer Zeit jemand, der auf die Strasse geht, um gegen die Anschaffung des F/A-18 zu demonstrieren? Auch wenn der Roman nicht als persönliche Aufarbeitung gedacht ist, interessiert mich grundsätzlich, wie ein solcher Wandel zustande kommt.

Im Erwachsenenalter und bis heute sind meine moralischen Überzeugungen im Wesentlichen aber stabil geblieben. Eine andere Frage ist die nach dem moralischen Engagement und der Konsequenz im Handeln. In dieser Hinsicht gilt es, Abstriche einzugestehen. Mein damaliges Ich hätte meine diesjährige Reise nach Costa Rica wohl kaum gutgeheissen. Auf der anderen Seite wäre es sicherlich erfreut zu hören, dass ich während der Recherche zum Buch endlich wieder zum Vegetarier geworden bin und inzwischen auch auf viele Milchprodukte verzichte.

Zur Frage nach der Ideologie: Meiner Meinung nach wächst Ideologie in der Weigerung, die Stimmen der Anderen zu vernehmen. Und Idealismus schlägt dann in Ideologie um, wenn entsprechende Überzeugungen entgegen ihrem Anspruch, vernünftig und allgemeingültig zu sein, lediglich der Verteidigung eigener Interessen dienen. In dieser zweiten Hinsicht würde ich, um auf das Thema des Romans Bezug zu nehmen, eher die Gegner einer veganen Lebensweise und Lebensmittelproduktion unter Ideologieverdacht stellen wollen als deren Befürworter.

am Aareufer © Peter Zimmermann

Sie schildern in ihrem Roman einen „Einbruch“ der jungen AktivistInnen in einen Schweinebetrieb. Eine Sauerei aus der Sicht der jungen Leute, eine Sauerei aus der Sicht des Schweinezüchters. Ihre Schilderungen sind so krass wie die Bilder des Tierschützers Erwin Kesslers. Erziehung, Überzeugung und Korrektur geschieht aber in den wenigsten Fällen durch Abschreckung. Und doch reizt kaum etwas so sehr wie das Krasse, das Schreiende, das Brutale. Warum stechen sie nicht noch viel mehr in die eiternde Beule?
Weil es den Roman aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Die Schilderungen sollten drastisch genug sein, um die Reaktionen der Figuren und das weitere Geschehen plausibel zu machen, ohne dabei die Grenze zum Reisserischen zu überschreiten. Die entsprechenden Passagen dienen der Geschichte und nicht umgekehrt. Aber ja, das Krasse und Schreiende reizt. Tatsächlich hat mir ein Literaturagent geraten, das Manuskript in die Tonne zu treten und die Geschichte neu aufzuziehen, mit literweise Blut und allem. Das entspricht jedoch nicht meinen Vorstellungen. Auch wenn in meinen Texten immer mal wieder brutale oder krasse Ereignisse vorkommen, reizt mich insgesamt doch eher das Subtile.

Um einen weiteren Aspekt Ihrer Frage aufzugreifen: Wäre es meine Absicht gewesen, Leserinnen und Leser zu überzeugen, hätte ich ein Sachbuch geschrieben. Und da stimme ich Ihnen zu: Abschreckung funktioniert nicht. Man müsste eher versuchen, vegetarische und vegane Lebensweisen noch stärker positiv zu besetzen, gegen das Vorurteil anzuschreiben, es handle sich dabei um genussfeindliche Einstellungen, die nur von miesepetrigen Besserwissern vertreten werden. Auf der anderen Seite bin ich schon der Meinung, dass jede Person, die Tierprodukte konsumiert, wissen sollte, unter welchen Bedingungen diese hergestellt werden. Dass ein solches Wissen oftmals schockiert, liegt in der Natur der Sache.

Tom liebte Jasmin, liebt jene Jasmin vielleicht auch noch nach einem Vierteljahrhundert als Imago. Tom ist alleine geblieben, Jasmin längst verheiratet und Mutter von Kindern. Bleibt Tom an seiner Geschichte hängen?
Dieser Schluss drängt sich auf. Aber das eigentliche Geschehen wird ja von drei Kapiteln eingerahmt, die in der Gegenwart spielen. Diese Kapitel sind mir wichtig, auch sie erzählen eine Geschichte: Tom trifft nach fünfundzwanzig Jahren auf seinen Jugendfreund, die Ereignisse von damals werden zum Thema. Das könnte durchaus der Ausgangspunkt einer Entwicklung sein, die es Tom ermöglicht, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Das Leben nagt an ihm, aber es besteht die Chance, dass es ihn nicht zerfrisst.

© Ayșe Yavaș

Peter Zimmermann, geboren 1972, wuchs in Nidwalden auf. Er promovierte in Philosophie und arbeitet als Fachdidaktiker an der Universität Fribourg. Ab 2016 publizierte er diverse Texte in Literaturzeitschriften und wurde für sein Schreiben bereits verschiedentlich ausgezeichnet: 2016 gewann er den Schreibwettbewerb von Das Magazin und den Literaturwettbewerb Treibhaus des Literarischen Monats, 2018 erhielt er einen Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung für die Arbeit an «Was der Igel weiss», und 2019 den Irseer Pegasus. Peter Zimmermann lebt in Bern.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe

Reduziert man die Dinge, die einem ein Leben lang umtreiben, auf das Wesentliche, bleibt wenig, auch wenn das zuweilen viel ist. Aber wahrscheinlich beschäftigt man sich zu gerne mit den überflüssigen Dingen, die trotz aller Einsicht oben aufschwimmen und die Sicht auf all das verbergen, was die Verdrängung, die schiere Menge der Dinge, die einem umtreiben, ausmacht. Janna Steenfatt hat mit ihrem Debüt einen erstaunlich reifen Roman geschrieben, auch wenn der Titel sperrig tönt.

Inas Mutter ist mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren. Alles spricht dafür, dass sie es aus Absicht tat. Ein mässig theatraler Abgang aus einem Theaterleben mit mässigem Erfolg. Inas Mutter hatte an den grossen Bühnen Deutschlands gespielt. Aber irgendwann dünnten die Verpflichtungen aus, die Rollen wurden immer unbedeutender. Und als sie ganz ausblieben, wurde der Rausch der Bühne durch den des Alkohols ersetzt. Das Leben ihrer Mutter verlor sich, so wie sie sich mit ihrem Selbstunfall ausradierte. Nicht das der Tod der Mutter Ina in eine Krise gerissen hätte, dafür hatten sie sich schon lange zuvor verloren. Aber ihr Tod und alles, was sie mit ihm mitgenommen hatte, all die Fragen, die nie eine Antwort bekamen, zwingen Ina, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen, auch wenn Falk, ihr Mitbewohner fast alles regelt, was mit dem plötzlichen Sterben Inas Mutter anfällt.

„… das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte.“

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-00831-9

Ina studierte Germanistik und Philosophie. Aber daraus wurde nie wirklich etwas, so wie sich bei ihrer Mutter das verflüchtigte, was vielversprechend begonnen hatte, ein Dasein als erfolgreiche Schauspielerin. Das Leben Inas Mutter dümpelt im Alkohol weiter, das Leben Inas in Unentschlossenheit. Bis sie in der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Spuren ihres Vaters findet.
Und als eben dieser Mann zurück nach Hamburg kommen soll, um am Theater Shakespeares Sommernachtstraum zu inszenieren, wird klar, dass Ina ihr Leben nur weiterführen kann, wenn sie sich nicht nur dem Vater stellt, sondern ihrem im gemässigten Unglück eingerichteten Leben. Ina schafft es, in der Theaterkantine einen Aushilfsjob zu ergattern, auch wenn diese Arbeit nur Vorwand ist, ein Versteck, um „den richtigen Moment“ zu erwischen. Noch so ein Moment, der Ina zu entwischen droht.

„Ich dachte darüber nach, dass man andauernd etwas Neues, Aufregendes wollte, aber dann war das nach kurzer Zeit nicht mehr neu und aufregend, sondern normal, und dann wollte man wieder etwas anderes. Und immer weiter so.“

Am Theater lernt Ina die Schauspielerin Paula kennen, die in dem von ihrem Vater inszenierten Stück den Puck spielt, eine schelmische Fee. Zwischen Ina und Paula wächst eine Liebe, etwas was mit anderen zuvor nie entstehen wollte. Paula wird zu einem Puck in Inas Leben, bringt Inas Leben aus dem Zustand des permanenten Wartens. Aber so wie die vor Wolf Eschenbach dem Regisseur, den Menschen um sie herum, nicht einmal Falk, mit dem sie schon so lange die WG teilt und auch nicht bei Paula preisgibt, wonach sie wirklich sucht, kulminiert in Janna Steenfatt Roman alles auf den einen, unausweichlichen Punkt hin.

„… ich wusste damals noch nicht, dass sich nie etwas ergab, in diesem Rohrkrepiererleben.“

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist eine Suche nach der Herkunft. Darüber, was bleibt, was bleiben soll, wenn ein Mensch stirbt. Was bedeutet Mutter- und Vaterschaft? Was passiert, wenn Verbindungen wissentlich gekappt werden? Heilt die Zeit Wunden wirklich? Gibt es Fragen, die man unbeantwortet stehen lassen kann?
Aber „Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist auch ein Theaterroman, ein Roman, der sich das Theater und den ganz eigenen Kosmos mit aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse macht. Für einmal ein Theaterroman nicht über die hausinternen Frustrationen und Intrigen. Janna Steenfatt beschreibt einen Kampf. Und selbst wenn dieser Kampf autobiographische Züge hätte, schafft es die Autorin, mit kluger Distanz zu erzählen. Ich hätte es dem Roman gegönnt, wenn der Titel nicht durch den sperrigen Genitiv verzerrt worden wäre, denn Janna Steenfatt erzählt direkt, gradlinig und frech. Von diesen Eigenschaften des Romans verspricht der Titel nichts.

„Alles, was ich tat, führte dazu herauszufinden, was ich nicht wollte, aber ich dachte, dass auf diese Weise immerhin irgendwann einmal das, was ich wollen könnte, übrig bleiben müsse.“

Eintauchen und lesen!

Interview mit Janna Steenfatt:

Ina verliebt sich in Paula. Paula spielt in der Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum den Puck, ein buntes, rätselhaftes Fabelwesen, „wild und schön und nicht von dieser Welt“. Sie kommen sich sehr nahe; doch je näher, desto mehr entschwindet Paula. Ist das Entschwinden wirklich Resultat eines Verrats oder nicht viel mehr das Resultat von Unfähigkeiten?
Ich würde sagen: ein Verrat ist immer ein solcher, wenn die verratene Person ihn als solchen empfindet. Und das tut Ina. Natürlich sind Unfähigkeiten – sich zu artikulieren, sich zu zeigen, miteinander zu kommunizieren – die Grundproblematiken meiner Figuren. Das Wort Verrat im Klappentext ist natürlich ein sehr starkes und kommt im Übrigen von meiner Lektorin, nicht von mir.

Inas Mutter stirbt. Und doch hat Ina ihre Mutter damit nicht verloren. Das Verlieren hat schon viel früher begonnen. Ina verliert auch den Vater, verliert die Orientierung, Freundschaft, die Liebe, fast alles. Und trotzdem schildern sie Ina nicht als Geschundene, Verletzte, Verlorene. Ina strahlt Kraft aus, obwohl ihr Leben fast nur aus Warten besteht, dem Warten darauf, dass sich Dinge ergeben. Ist Leben Verlust, wenn man zurückschaut und Gewinn, wenn man die Hoffnung nicht verliert?
Ich glaube, das Leben ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung und lässt sich somit nicht so leicht in Verlust und Gewinn unterteilen. Aus Verlusten kann Gewinn entstehen und zurückschauen sollte man vielleicht trotzdem ab und an, um die Dinge klarer zu sehen. Es kommt nur darauf an, wie man es tut und nicht auf alle Fragen gibt es Antworten. Was Ina auf ihrer Suche lernen muss: die Dinge gutsein lassen. Die Hoffnung nicht zu verlieren ist dabei die Grundvorraussetzung, überhaupt am Leben zu sein.

Wolf Eschenbach, Inas Vater, hat sich vor Jahrzehnten aus dem Staub gemacht. Und Inas Mutter hat sich den Annäherungsversuchen Inas Vaters verschlossen. Heiner, der Koch aus der Theaterkantine sagt: „Es gibt Dinge, die kann man nicht wiedergutmachen.“ Etwas, was Ina auch gar nicht will. Aber ist es die Absicht, Ordnung zu machen? Nicht Ordnung in die Umstände, aber Ordnung in ihr selbst. 
Ja, ich glaube schon. Das hat auch mit Erwachsenwerden zu tun, damit, die eigene Geschichte zu begreifen und sich nicht als das Opfer der Umstände zu sehen. Ina will letztlich ihren Frieden machen, denn für eine direkte Konfrontation mit der Mutter ist es zu spät, also bleibt nur der Vater.

Ina verrät, das sie noch nie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt habe. In der Schweiz ist dieser Satz noch viel fremder. Eigentlich ein Satz, der nur in Schrift und Bild vorkommt. Doch eigenartig, wo sich dermassen viel Leben um diesen Satz dreht? 
Das habe ich schon mal gehört, dass man diesen Satz in der Schweiz eigentlich gar nicht sagt. Ich finde das schade. Es ist so ein gewaltiger Satz. Er ist natürlich auch beängstigend, die Worte wiegen so stark im Deutschen, anders als beispielsweise im Englischen, wo dieser Satz etwas inflationärer gebraucht wird, nicht nur in romantischen Beziehungen. Ich weiss gar nicht, wie diese Stelle in einer Übersetzung funktionieren würde.

Für ein ganzes Stück in Inas Leben reichte ein Auskommen, genug Schlaf, etwas Sex und Gin Tonic. Was braucht Janna Steenfatt? 
Ebenfalls diese vier Dinge! Plus Inspiration, Liebe, Sonne, Wind, Bücher, Filme, Musik und gutes Essen.

Janna Steenfatt, geboren 1982 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als freie Autorin und Moderatorin für verschiedene Filmfestivals. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, Teilnehmerin des 19. Open Mike und erhielt zahlreiche Aufenthaltsstipendien. Die Überflüssigkeit der Dinge ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Sascha Kokott

Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, Gastbeitrag von Frank Keil

Christian Baron erzählt in seinem Debütroman „Ein Mann seiner Klasse“ von Armut, von seinem prügelnden Vater, seiner depressiven Mutter – und wie ihm der Aus- wie Aufstieg gelang.

Frank Keil

Von dort, was man ‚unten‘ nennt
von Frank Keil

Doch, es gibt Lichtblicke. Es gibt Momente, in denen der Vater noch nicht so heillos betrunken ist, dass er hemmungslos um sich schlägt und seine Gewaltausbrüche keine Grenzen kennen. Helle Momente, in denen er vielleicht angetrunken ist, daher gut gelaunt, lustig gestimmt bald, zu Scherzen aufgelegt; wo er aus heiterem Himmel den einen oder anderen Geldschein springen lässt und dann können sich seine Kinder was kaufen, was sie grad wollen; dann umgarnt er seine Frau, auf charmante Art. Oder Momente, wo er seinem ältesten Sohn plötzlich sagt, der könne sein, wie er will, seinetwegen auch schwul – Hauptsache er sei auf das, was er sei, stolz. Richtig stolz. So wie auch sein Vater stolz auf sich sei, egal was die Nachbarn sagten oder die Polizei oder das Jugendamt. Es sind – wie gesagt – Lichtblicke. Meistens aber ist es dunkel. Sehr dunkel. Bis rabenschwarz.

Christian Baron kommt von dort, dass man „unten“ nennt, wenn man nicht von dort kommt; sondern von „oben“ oder – noch beliebter, weil unverfänglicher: „so aus der Mitte“. Er hat einen anderen Weg erst einschlagen können, nachdem das Jugendamt zugriff und dem Vater nach dem Tod seiner Frau die Kinder entzog. Er hat nicht nur die Schule abgeschlossen, er hat studiert und er ist Journalist geworden, Redakteur. Aktuell ist er beim Berliner „Der Freitag“ beschäftigt. Und als die Wochenzeitung eine Kulturbeilage zum Weltfrauentag produzierte, schreibt er für diese einen Essay: „Ganz egal, ob geprügelt und ob das Geld versoffen wurde: Ich wollte immer genau so werden wie mein Vater“, der Untertitel (www.freitag.de/autoren/cbaron/ein-mann-seiner-klasse). Die Literaturagentin Franziska Günther bekommt ihn in ihre Hände, und sie kontaktet Baron und schlägt ihm vor, genau darüber ein Buch zu schreiben. Und er setzt sich hin und schreibt seine Lebensgeschichte auf, und er hat sie vor allem literarisch geformt. 

Die Kapitel heissen ZORN, GLÜCK, SCHMERZ und ÜBERRASCHUNG. Sie heissen SCHAM, STOLZ, ANGST, LIEBE, dann HASS und HOFFNUNG. Und das letzte Kapitel heisst ZWEIFEL. Jeweils in Grossbuchstaben.

Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, 2020, 288 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-546-10000-7

„Vom Laster gefallen“ murmelnd der Vater, wenn er von der Arbeit kommt und irgendetwas mit nach Hause bringt, was er sich sonst nicht leisten könnte, manchmal Spielzeug für die Kinder. Er ist kräftig und stark, der Vater, er arbeitet als Möbelpacker, der alles tragen kann, im doppelten Sinne des Wortes. Und er fürchtet sich nicht – und das hat seine guten, aber vor allem hat es seine schlechten Seiten. Von denen er durchaus weiß, die ihm nicht unbekannt sind. Dass er, der so stolz auf seine körperliche Arbeit ist, die er jeden Tag stemmt, genau davon nicht leben kann, macht die Wut aus, die ihn immer wieder packt. Hätte es einen Ausweg gegeben? Gibt es einen für einen wie ihn?

Baron, 1985 in Kaiserslautern geboren, erzählt die Geschichte seiner Kindheit einerseits gradlinig und direkt; andererseits wechselt er hin und wieder in sachte Rückblenden. Schaut sich zu wie er schaut, auf sich und seine Geschwister und die Eltern, damals. Ist aber auch unterwegs in der erzählerischen Gegenwart, sitzt dann mit seinem entsprechend erwachsenem Bruder zusammen und sie reden über das, was damals war; an das sie sich durchaus unterschiedlich erinnern, wie das so ist. Und im nächsten Moment geht es wieder zurück ins damalige Geschehen, mit einer Unmittelbarkeit, die einen packt, als sei man dabei. Im Schlechten wie im manchmal im Guten.

Und so ist sein Buch entsprechend auch keine blanke Abrechnung mit seinem Vater. Es ist kein hasserfülltes Buch, das ist es so gar nicht. Baron schreibt von dem, was damals war; schlüpft als erwachsener und als entsprechend distanzierungsfähiger Autor in die Sicht eines Kindes, dass sich seine Welt, in der es nun mal lebt, so erklären muss, dass das Leben in ihr aushaltbar bleibt. Und am besten mehr als das. Und er erzählt auch davon, dass es helfen kann, das Lebens (s)eines Vaters zu verstehen, was nichts damit zu tun hat, es zu entschuldigen oder zu billigen. Sondern: verstehen, um wichtiges für sich selbst zu erfahren. Etwa: Warum man seinen Vater, der einen schlägt, trotzdem liebt. Das es kein entweder/oder ist, als Kind. Und später dann auch nicht mehr.

Wobei wir bei alledem nicht im luftleeren Raum bleiben, sozusagen. Es gibt schliesslich auch Nachbarn, die wegschauen oder die mal gegen die Wand hauen, wenn es drüben in der kleinen Wohnung drunter und drüber geht und sie der Lärm stört. Es gibt Mitschüler, die dem Erzähler immer wieder klar machen, dass er unter ihnen nichts zu suchen hat; dass er wieder dort hingehen soll, wo er herkommt. Und dass er dort zu bleiben hat. Auch davon erzählt Baron.

Und es gibt starke Frauenfiguren, offenbar im Leben wie erst recht im Buch. Die Mutter etwa, die in ihren Jugendjahren Gedichte schrieb – und es gibt eine Szene, in denen ein Lehrer diese Gedichte vor der versammelten Klasse verhöhnt und die nun sichtbare Brutalität steht in nichts dem nach, was ihr Mann später mit ihr anrichtet, wenn er ihren Kopf greift und zuschlägt. Gewalt – auch davon erzählt Baron – sind nicht nur Schläge. Man kann auch einen Menschen niederschlagen, ohne ihn zu berühren.

Und es gibt die Tante, die zu retten versucht, was noch zu retten ist: ihre Schwester, die immer wieder in tagelange Depressionen versinkt und dann das Bett nicht verlässt; die Kinder, die in dem Wechselspiel von unerwarteter Zuneigung und plötzlich ausbrechender Gewalttätigkeit unterzugehen drohen. Wie soll man das auch verstehen, dass mit einem Mal wieder alles ganz anders wird?

Es sind denn auch immer wieder die hoffnungsvoll aufscheinenden Momente, die einen durch die Lektüre leiten und die davon erzählen, dass Menschen auch in Momenten großer Bedrängnis versuchen sich ihre Freiräume zu sichern und seien es noch so weniger: Die Mutter tanzt hingebungsvoll zur Musik der Kelly Family. Mit dem Vater spielen die beiden Jungs eine Runde Super Mario auf der Konsole, die rein zufällig vorher vom Laster gefallen ist. Und gelegentlich taucht auch ein ganz feiner Humor auf; der Humor der vordergründig Unterlegenen, die nicht daran denken, dass sie klein beigeben; die darauf bestehen, dass auch ihr Leben eine eigene Würde und immer auch Geschichte hat.

Ja, es gab Momente, in denen sass man gerne mit dem Erzähler, seinen drei Geschwistern und der Mutter in der kleinen Küche und schaute zu, was sich ergab; hörte zu, was gesprochen wurde, was gescherzt. Und wenn der Vater hinzukam, dann war das zuweilen auch okay. Eher selten, eigentlich fast nie. Aber manchmal eben doch. Und genau diese Momente versucht der Autor zu bewahren. Auch um sich zu retten, vielleicht bis heute.

© Hans Scherhaufer

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschlandsowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.

Das Harbour Front Literaturfestival vergibt den Klaus-Michael Kühne-Preis zum elften Mal an das beste Romandebüt des Jahres. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis soll junge Literatur fördern und deren Bedeutung unterstreichen.

Die Mitglieder der Hauptjury – Felix Bayer (Spiegel), Stephanie Krawehl (Buchhandlung Lesesaal), Stephan Lohr (NDR Kultur a.D.), Maximilian Probst (Zeit) und Meike Schnitzler (Brigitte) – begründen ihre Entscheidung für Christian Baron und seinen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ (Claassen) wie folgt:

„In seinem autobiografisch angelegten literarischen Debüt «Ein Mann seiner Klasse» beschreibt Christian Baron auf sehr eindrückliche Art das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie in Armut. Die Jury hat besonders überzeugt, dass die Leserinnen und Leser in ein Milieu geführt werden, das oft nur als statistische Grösse auftaucht. Hier bekommt diese Welt eine Stimme und das in einer literarisch klug gestalteten Weise. Christian Baron verzichtet auf Klischees und ideologische Zuordnungen. Vielmehr entlarvt er die Muster gesellschaftlicher Kategorisierungen und überzeugt durch die Bestandsaufnahme eines Lebens mit einem stets betrunkenen und prügelnden Vater und einer depressiven und früh an Krebs gestorbenen Mutter – Mit allem Schrecken, mit allem Schmerz, aber auch mit den Momenten von Stolz und Glück.

Beitragsbilder © Hans Scherhaufer

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay

Dass sich Beziehungen mit den Jahren abnützen können, die Frische verloren geht und mit der Ansammlung von Konflikten die Brüchigkeit zunimmt, dass sich Beziehungen manchmal entzweien, in Scheidung geraten, wissen wir zur Genüge. Aber wenn Mann oder Frau mit einem Mal ausbricht, am Morgen die Schlüssel nimmt und verschwindet, für immer, ist es viel mehr als eine Trennung allein.

Sind Maria und Herwig noch immer ein Paar? Als ihre Ehe noch jung war, reisten sie durch Griechenland, schlugen ihr Zelt an einer einsamen Bucht mit türkisblauem Meer auf, liessen sich vier Wochen im Lauf der Gestirne und dem Rhythmus der Gezeiten treiben, tranken geharzten Wein, sangen in die Nacht, rauchten Haschisch und liebten sich jede Nacht. Erst als der Wunsch nach einem Kind zum Zwang, eine Fehlgeburt zur Katastrophe wurde, die Nähe im Bett zu sich wiederholenden Versuchen mit ungestillter Absicht, begann sich die Liebe zu verhärten, legte sich Eis zwischen sie, wurden die Distanzen unüberbrückbar. Doch man richtete sich ein. Maria betrog Herwig, Herwig betrog Maria. 

Bis Maria aus einer Laune Herwigs Mobilphone in die Hand nimmt und die Nachricht einer anderen sieht, sie sei schwanger. Maria packt einen Rucksack mit dem Nötigsten und Herwig wundert sich noch am Morgen, dass Maria so ganz gegen ihre Gewohnheit auch ihm einen Kaffee auftischt, dass sie mit Sommerkleid, hohen Schuhen und Rucksack die Wohnung verlässt. Maria fährt zur Arbeit auf die Bank, wo sie ihrem Chef, dem man ihr vor die Nase gesetzt hatte, mit Schwung den Dienst quittiert, nachdem sie sich ihren Teil der Finanzen gesichert hatte, besteigt den Volvo ihres Mannes und fährt los, Richtung Süden. „Mit fünfundfünfzig Jahren wollte sie sehen, ob das Leben für sie noch etwas anderes bereithielt, als im Schlamm dieses trüben Karpfenteichs auf die monatliche Fütterung zu warten.“

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay, 2020, 304 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-552-05972-6

Während Herwig nicht weiss, wie ihm passiert und er sich an die Normalität seines Lehrerberufs klammert, dann auch noch sein Vater mit einem Leichenwagen aus dem Altenheim türmt und bei ihm in der Wohnung auftaucht, in der nicht zu verheimlichen ist, dass Maria abgehauen ist, kurvt Maria durch ein neues Leben. Sie fährt gen Süden, zum Meer, trifft Lisa eine junge Frau, mit der sie Monate verbringt, trifft einen Musiker, Fischer, Pilger und Mönche. Und je weiter sie sich örtlich von ihrem alten Leben wegbewegt, umso mehr löst sich die innere Verkrampfung, die latente Wut, der Knoten in ihrem harten Bauch.

Irgendwann meldet sich die Polizei bei Herwig. Man habe seinen Volvo in Saloniki gefunden. Nachdem es für Herwigs Vater Grund genug ist, sich zu zweit auf den Weg zum Auto und vielleicht zu einer Spur der Vermissten zu machen, kurvt noch ein Gespann Richtung Süden, ohne zu ahnen, wie nahe sich die Wege der vielfach Suchenden geraten.

„flüchtig“ sind sie alle und immer wieder. In Hubert Achleitners Roman ist alles in Bewegung. Frauen verflüchtigen sich, Normalität verflüchtigt sich, Sicherheiten. Maria kommt schon nicht wie andere Kinder zur Welt, sondern hoch oben über dem Tal in einer Gondel, mitten im Sturm. Man tauft sie Eva Maria Magdalena mit der Bitte um Beistand. Aber der verflüchtigt sich. Maria lernt Herwig kennen, wird schwanger; das Familienglück verflüchtigt sich. Die Liebe, die Leidenschaft verflüchtigt sich, auch jene im Beruf. Bis der einzige Weg, der einzige Ausweg die Flucht ist. Nicht die Flucht vor Herwig, nicht die Flucht vor einem verkorksten Leben, sondern die Flucht vor sich selbst. Etwas, was wohl jeder Mensch mehr oder weniger oft als Gedanke oder Wunsch mit sich herumträgt; weg, alles stehen und liegen lassen. Und während Herwig in ein Doppelleben flieht, Herwigs Vater vor dem langsamen Wegsterben, Wegdämmern im Altersheim flieht, flieht Maria in eine offene Zukunft, verschwindet, verflüchtigt sich.

„flüchtig“ ist vieles; ein Familienroman, ein Eheroman, ein Roadtripp, ein Findungsroman und mit Sicherheit auch eine Liebesgeschichte. Ein Roman mit kernigen Sätzen, überraschenden Wendungen und einer grossen Portion bissiger Klugheit. Und: Der Musiker Hubert von Goisern hat auch als Schriftsteller Hubert Achleitner Sound im Ohr!

© Konrad Fersterer

Hubert Achleitner, bekannt als Hubert von Goisern, wurde 1952 in Bad Goisern geboren. Er gilt als prononciertester Vertreter der «Neuen Volksmusik» und Erfinder des sogenannten «Alpenrock». Seine Interpretation alpenländischer Musik ist stilübergreifend und inspiriert von anderen Kulturen. Die «Linz Europa Tour 2007-2009» gilt bis heute als eines der grössten grenzübergreifenden Musikprojekte unserer Zeit. «flüchtig» ist sein erster Roman.

Webseite Hubert von Goisern

Beitragsbild © Stefan Wascher

Ariela Sarbacher «Der Sommer im Garten meiner Mutter», Bilger

Geheimnisse gibt es in jedem Leben, in jeder Familie. Geheimnisse, die unausgesprochen, verschwiegen oder scheinbar vergessen wie schwarze Locher ein Familiengefüge bedrohen können. Ariela Sarbacher erzählt von einer Frau, die durch ihre sterbenskranke Mutter und ihren Willen auch den letzten Schritt selbstbestimmt zu gehen, jenes Licht zurückbekommt, das jene Löcher ein Leben lang zu schlucken drohte.

Samstag, 22. August!

Ich kenne Ariela Sarbacher als Schauspielerin, als Stimme. In einem Sommer sass ich ihr und ihrem Mann im Zug schräg gegenüber auf der Fahrt nach Leukerbad im Wallis. Dort gaben die beiden ihre Stimmen jenen Autorinnen und Autoren, die ihre Texte in deutsch nicht lesen wollten oder konnten.
Und in diesem Frühling hat Ariela Sarbacher sich selbst eine Stimme gegeben. Eine Stimme, die wegen der Pandemie aber des öftern zurückgepfiffen werden musste. So auch im Literaturhaus Thurgau, wo die programmierte Lesung am 2. April dieses Jahres den strikten Massnahmen zum Opfer fiel. Eine Stimme, der sich nun glücklicherweise doch noch ein Fenster öffnet, denn die Autorin wird ihren Debütroman am 22. August doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren können. Eine Veranstaltung, die mit Musik, Speis und Trank zu einem kleinen Sommerfest werden soll, zum Start in eine neue Saison.

Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter. 

Ariela Sarbacher «Der Sommer im Garten meiner Mutter», Bilger, 2020, 155 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03762-083-0

Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.

Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.

So ist die Stärke des Buches auch ihre Achillesferse. Die erzählerische Nähe der Autorin zu ihren Protagonisten suggeriert unweigerlich, dass vieles im Roman autobiographisch sein muss. Dabei spielt das für Literatur eine völlig unwichtige Rolle. Diese Nähe macht den Text zerbrechlich, führt mich ganz nahe an starke Emotionen. Dabei passiert diese Auseinandersetzung im und um den Tod mit allen, die zurückgelassen werden. Mit dem kleinen, grossen Unterschied, dass es im Sterben dieser Mutter im Roman eine Alternative zu geben scheint.

Aber wenn man „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ auf ein „Sterbe-Buch“ reduziert, wird man dem Roman nicht gerecht. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte von Francesca, ihrer Kindheit zwischen den Kulturen, zwischen Italien und der Schweiz. Francesca erfährt, was es bedeutet, hin- und hergerissen zu werden, nicht nur zwischen den Kulturen, auch zwischen Eltern, die sich irgendwann trennen, in den Gegensätzen dieser Welten. Francesca muss erfahren, dass es mit dem Sterbewunsch ihrer Mutter auch ein anderes Sterben gibt, als all jene Tode, die sich im Laufe ihres Lebens in die Erinnerung gruben. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte einer hellen Kindheit, wie sich der Wunsch, Schauspielerin zu werden, eingräbt, vom Kampf bis der Wunsch Realität wird. Von unsäglicher Fremdheit und schmerzhafter Nähe. Davon, dass aus jahrzehntelanger Distanz zwischen Mutter und Tochter nicht mit einem Mal Nähe entstehen kann, schon gar nicht unter dem Zwang einer lebensbedrohenden Krankheit. Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt. 

Ein ungeheuer bewegendes Buch.

Ariela Sarbacher wurde 1965 in Zürich geboren. An der Schauspiel-Akademie Zürich wurde sie als Schauspielerin ausgebildet. Ihre ersten Engagements führten sie ans Stadttheater Heidelberg und an die Bremer Shakespeare Company. Nach der Geburt ihrer beiden Töchter liess sie sich zur Taiji-, Qi Gong- und Pilateslehrerin ausbilden. 2002 gründete sie ihre Schule »Einfluss«. Sie hat ein eigenes Präsenztraining entwickelt, mit dem sie Menschen für ihre Auftritte vor Publikum vorbereitet. Von 2017 – 2018 Ausbildung Literarisches Schreiben am EB Zürich. Heute arbeitet sie als Schauspielerin, Sprecherin, Schriftstellerin und Präsenztrainerin.

Webseite der Autorin

© Elke Hegemann

Das Sommerfest im Literaturhaus Thurgau wird musikalisch begleitet von «Stories»: Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula).

Webseite von Stories

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp

Bei den einen geschieht es mit vierzig, bei andern mit fünfzig. Den einen reicht ein Auslöser, die andern schubst das Schicksal an den Rand. Dann sind es Fragen: War es das? Hätte es anders werden können? Will ich weitermachen wie bisher? Was zwingt mich? War es das? War es das? War es das?

Markus ist 54, hat sich in seiner Familie, seiner Arbeit eingerichtet, auch mit seinen zwei Kindern. Bis ihn eine neue Angestellte im Betrieb an Olivia erinnert. Jenes Mädchen, das er mit 15 zu lieben begann, das ihn gleichermassen faszinierte wie erschreckte, das sich in der Zeit, als sie zaghafte Küsse tauschten, eher von ihm weg bewegte, als auf ihn zu. Schwarze Fingernägel, zerrissene und mit Sicherheitsnadeln zusammengehaltene Kleider, farbiges, gestärktes und wild geschnittenes Haar und laute Musik, wenn sich Markus zu ausgemachten Zeiten aber nie, wenn die Eltern zuhause waren, sich zu ihr ins Zimmer wagen durfte, zu den krassen Fratzen auf den Langspielplatten und der ebenso krassen Musik, die zur Geistervertreibung gereicht hätte – Punk.

Es war auf dem Heimweg, seine Frau hatte ihn gebeten, noch etwas einzukaufen, mit einem Mal weg von seinen immer gleichen Trampelpfaden, als er vor dem Laden stand. Lipstick, dem Laden, den es schon damals gab, mit allem im Schaufenster, was einem die Eltern verboten hätten, mit Ramones, Sex Pistols und The Clash. Dort inszenierte Markus sein erstes Treffen mit der Neuen in der Klasse, dem Mädchen, das nicht nur anders aussah als alle andern. Olivia wohnte in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand. Neben dem Klingelschild, ein Blümchen, das sie gezeichnet hatte, ein Blümchen, das sich wie alles immer weiter von Olivia entfernte.

Olivia wurde im Ort, in der Schule, in Markus Leben die Verkörperung von Rebellion. Und nicht weniger, als sie, nachdem sie immer wieder einmal nicht zum Unterricht erschienen war, ganz von der Bildfläche verschwand. Kommentarlos. Endgültig. Nie mehr wiederkam. Markus zögerte zu lange, auch deshalb, weil Olivias Verschwinden mit Erleichterung quittiert wurde. Er begann zu studieren, lernte Lisa kennen, fuhr mit ihr auf Weltreise und kehrte mit einer schwangeren Verlobten nach Hause.

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8

Und jetzt, fast vier Jahrzehnte später, die Kinder in die Ferne ausgeflogen und nur noch am Bildschirm mit von der Partie, im Geschäft dort, wo es wahrscheinlich nicht weitergehen würde, so wie in der Ehe mit Lisa, dem fixen Wochenplan, den immer gleichen Ferien in der Toscana bei Freunden, die keine sind, taucht mit der Neuen in der Firma Olivia wieder auf. Und mit ihr all die Fragen. Die Frage, warum sie damals verschwunden war. Die Frage, warum sein Leben verschwunden war. Der Hauch Pink in Olivias Haaren war auch mit dem Hauch Pink in ihrer Wohnung nicht zu kompensieren.

Es sind die Fragen, die nicht in Ruhe lassen, die sich ungefragt und immer wieder in den Vordergrund drängen, für andere nur in leeren Blicken sichtbar. Markus taumelt, erfindet Antworten und verweigert Fragen. An einem Klassentreffen aber schiebt ihm eine ehemalige Klassenkameradin, nachdem er sich möglichst beiläufig nach Informationen zu Olivia durchgefragt hatte, eine Visitenkarte zu mit dem Versprechen, mehr zu wissen.

Alexandra von Arx versteht es erstaunlich gut, in die Rolle des Verlorenen zu schlüpfen. Ihre Erzählweise orientiert sich nicht am Spektakel, nicht einmal an den Rätseln der erzählten Geschichte, sondern an den inneren Konflikten eines Gestrauchelten. Den Konflikten, die Markus nicht aus der Bahn werfen, aber sein Inneres erschüttern. Wie kann es geschehen, dass man der ist, der man ist? So weit weg von dem, was er einst in der Verkörperung Olivias zum Massstab machte? Warum hat er die Suche aufgegeben? In der Jugend im Innern ein Punk, jetzt durch und durch Versicherer?

Manchmal sind es profane Wiederholungen. Fragen, die wie ein Stakkato hämmern. Auslassungen, die mehr erzählen als das Geschilderte. Alexandra von Arx ist ein eindringlicher Roman gelungen, dem ich es gegönnt hätte, wenn sein Kleid, sein Outfit dem Buch die Ehre erwiesen hätte.

Interview mit Alexandra von Arx

Markus ist im Stillstand angekommen, im genauen Gegenteil dessen, was man mit 15 anstrebt, als Punk oder nicht. Aber selbst die Krise bleibt verhalten, schlägt keine grossen Wellen, zumindest kaum solche, die aussen sichtbar werden. Was hielt sie zurück, ihren Protagonisten nicht noch viel mehr entgleiten zu lassen?
Mich interessieren die Anfänge von Krisen, die kleinen Risse, die sich plötzlich auftun und die sich genauso rasch wieder schliessen können. Ich betone: können. Aus den Rissen können natürlich auch Brüche werden, aber darauf wollte ich den Fokus nicht setzen. Ob und wie stark Markus weiter entgleitet, lasse ich deshalb bewusst offen.

Sie wählten einen männlichen Protagonisten, zehn Jahre älter als sie. Gab das die nötige Distanz, um beim Erzählen die Souveränität zu behalten?
Diese Überlegung hat bei der Wahl des Protagonisten keine Rolle gespielt. Aber es ist sicher so, dass ich ein anderes Leben führe als Markus, insofern war zu viel Nähe nie ein Thema. Ob ich die Geschichte dadurch besser erzählen konnte, weiss ich nicht.

Markus weiss wenig über die Vergangenheit seiner Frau Lisa und Lisa hat er nie etwas erzählt von Olivia. Wahrscheinlich blieb noch viel, viel mehr unerzählt. Und trotzdem sind sie seit drei Jahrzehnten ein Paar, leben noch immer zusammen, wahrscheinlich auch weiterhin, sind Familie, gehören irgendwie zusammen, auch wenn der Urlaub zum ersten Mal getrennt stattfindet. Warum deckt die Gegenwart die Vergangenheit einfach zu, obwohl Markus die Kraft des Vergangenen drängend spürt?
Ich glaube, das hat mit dem Blick zu tun, der sich bei Markus verändert. Als er und Lisa ein Paar wurden, machten sie Zukunftspläne und gründeten eine Familie. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, die Vergangenheit unwichtig. Jetzt sind die Kinder ausgezogen und er schaut auf sein Leben zurück. «War es das?», ist eine Frage, die ihn umtreibt. In dieser Phase nistet sich die Erinnerung an Olivia hartnäckig ein. Dass die Vergangenheit sich so aufdrängt, ist neu für Markus und führt zum Anfang einer Krise oder ist Ausdruck dieser Krise.

Was war die Uridee zu ihrem Roman? Die Initialzündung?
Da war einmal ein Mittfünfziger, der eine pinkfarbene Jacke trug und vor einer Immobilienagentur stand… Ich habe ihn im Rahmen einer Schreibübung ein paar Minuten lang beobachtet und in der Folge als Romanfigur im Kopf weiterentwickelt.

Sie sind Wahlbeobachterin, eine Frau mit grossem politischen Bewusstsein. Und doch spielt sich ihr Roman fast nur im Innenleben eines in die Jahre gekommenen Mannes ab. Das scheinen Gegensätze zu sein. Oder nicht?
Nicht unbedingt. Als Wahlbeobachterin habe ich viel mit Menschen zu tun. Bei Gesprächen achte ich auf Details, auch auf non-verbale Kommunikation. Das Innenleben meiner Gegenüber interessiert mich eigentlich immer, egal, ob ich mit einer jungen Aktivistin über die bevorstehenden Wahlen rede oder auf der Strasse einen Mittfünfziger beobachte.

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Rainer Jund «Tage in Weiss», Piper

«Das Leben muss weitergehen … vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht muss das Leben gar nicht weitergehen, vielleicht muss es einfach gar nichts. Nichts. Nur eines müssen wir: ein Wunder sein. Verletzlich sein. Sterben.»

Rainer Junds Buch ist kein Roman, eher eine Art reflexive Sammlung von Spitalgeschichten. Aber selbst diese Klassifikation wird dem überaus literarischen Schreiben des Arztes und Schriftstellers nicht gerecht. Wäre es ein Roman, wäre ein Protagonist im Zentrum. So sind es sie alle: Sie, die dort arbeiten, weiss gekleidet oder nicht. Sie, die dort hineingehen und etwas erhoffen, als Begleitung oder direkt betroffen. Sie, die dort in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen, die in extremis über Leben oder Tod entscheiden. Sie, die bewegungslos daliegen, weggetreten. Sie, die schon beim Eintritt alles besser wissen. Sie, denen alles oder fast alles genommen wird oder werden muss.

„Tage in Weiss“ erzählt von Liebe, Leben und Tod, von Verzweiflung, Ergebenheit und Hingabe. Rainer Jund erzählt in allem von allem: zarte Liebesgeschichten, schmerzhafte Trennunsgeschichten, solche von Macht und Ohnmacht, manchmal actiongeladen, manchmal ganz nach Innen gerichtet, genauso wie der Arzt im Spital zwischen seinen selbstvergessenen Einsätzen einen Moment der Rück- und Einkehr braucht.

Rainer Jund nimmt mich als Leser an der Hand, nicht weil er eine Sammlung Spitalanektoten zum Besten geben will, um mir zu beweisen, wie sehr im Kosmos Spital die Post abgeht. Er nimmt mich bei der Hand und führt mich zu den Menschen, denen in jenen Mauern das Schicksal durch Fremdbestimmung aufgezwungen wird, wo sich in Extremsituationen das zeigt, was sonst hinter Fassaden, Coolness und Selbstbeherrschung verborgen bleibt. Er nimmt mich an der Hand und zeigt mir das wahre Antlitz des Menschen, sei es in der Liebesgeschichte eines alten Ehepaars, wo der greise Ehemann am Bett seiner Frau sitzt und die durchscheinende Haut auf der Hand in seiner Hand streichelt oder wenn Naivität, Nicht- und Halbwissen auf Wissen und Wissenschaft prallt. Zuweilen reisst er mich an der Hand in einen Kampf um Leben und Tod, ob gewonnen oder verloren, dorthin, wo alles vorbei ist, die Nähe, das Glück, das Leiden, das Leben.

Rainer Jund «Tage in Weiss», Piper, 2020, 240 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-492-05878-0

Rainer Jund schildert die Arbeit jener Menschen in Weiss, die sich in diese Farbe gewandet manchmal fast in Maschinen verwandeln, unter Stress zu reinem Funktionieren und Reagieren gezwungen werden. Zum Glück der Betroffenen, denn nähmen die Helfenden in allem Stress ihre Emotionen wahr, fände der Kampf gleich an mehreren Fronten statt, ganz zum Nachteil jener, deren Leben an einem Faden hängt.
Da ist auch kein Funke Heroismus, denn Rainer Jund zeigt in den Schwächen und Fehlern die Menschlichkeit.

Wer im Spital liegt, liegt unter einer Decke. Wer geht, geht im Spitalhemd oder im Morgenmantel. Aber eigentlich sind sie alle nackt, ihrer Schalen, Krusten, Schichten und Fassaden beraubt. Noch in diese Nacktheit hinein schneidet das Skalpell, öffnet noch einmal, noch tiefer. So wie Rainer Jund mit seinem Schreiben. 

Und manchmal sind es einfach und immer wieder Sätze, die mich als Leser berühren. „Es gibt Menschen, deren Leid wie Schimmel auf dem feuchten Boden drängender Erwartungen aufkeimt.“ „Die Leere in mir war wie ein kahler Block.“

Noch während meiner Ausbildungszeit leistete ich Zivildienst in einem grossen Spital, zuerst einen Monat auf der septischen Abteilung, später auf der Orthopädie. Als ich mich am ersten Tag zum ersten Mal weiss eingekleidet hatte, nahm mich eine Pflegefachfrau an ihre Seite und mit zu einer Wundreinigung am Oberschenkel eines jungen Mannes. Der Mann sass aufrecht in seinem Bett. Die Schwester packte den Schenkel aus und begann mit ihren Gerätschaften die handlange Wunde zu reinigen. Mir wurde übel. Die Schwester schickte mich, nachdem sie mein bleiches Gesicht mit einem kurzen Seitenblick diagnostiziert hatte, weg, zurück ins Stationszimmer, wo mich Minuten später, nachdem man mich höflich gefragt hatte, ob ich wieder zum Einsatz bereit sei, eine andere Schwester bat, ihr zu folgen. In einem anderen Zimmer musste bei einer jungen Frau eine Magensonde gelegt werden. Aber nachdem sich die Patientin immer wieder mit Würgereizen gegen den langen Fremdkörper in ihrem Innern zu wehren schien, begannen meine Beine erneut zu wackeln. Ich zog mich kommentarlos zurück und schaffte es gerade noch auf das Personalklo auf der Etage. Dort sass ich dann ziemlich lange auf dem heruntergelassenen Klodeckel. Würde ich das schaffen, nachdem meine Standhaftigkeit schon mit den ersten beiden Einsätzen in Frage gestellt wurde? Oder war das alles Strategie, um dem jungen Gockel zu zeigen, wo «Bartli den Most holt»?

In „Tage in Weiss“ ist kein Funke Selbstinszenierung. Rainer Jund geht es um die Geschichten hinter den Gesichtern, hinter den Augen, hinter geschlossenen Lidern.

Unbedingt lesen, wer sich traut!

© Rainer Jund

Rainer Jund, geboren 1965, studierte Medizin und Wissenschaftsmarketing. Nach seiner Ausbildung an der Universitätsklinik München praktiziert er heute als HNO-Arzt. In den letzten Jahren näherte er sich seinem Beruf zunehmend auch erzählerisch. Er lebt mit seiner Frau, ebenfalls Ärztin, und ihren drei gemeinsamen Kindern in München. „Tage in Weiß“ ist seine erste literarische Veröffentlichung.

Beitragsbild © Sandra Kottonau