Rebecca Gisler «Vom Onkel», Atlantis

Ein neuer Name auf der literarischen Bühne – ein Name, den ich mir merken werde – ein Name, mit dem sich Grosses entfalten kann. Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!

Klar, ein Debüt soll verblüffen. Schliesslich nimmt man mit jedem neuen Namen, der ein Buch ziert die Hoffnung mit, einem aufsteigenden Stern zuzusehen. Keiner Sternschnuppe, sondern einem neuen Fixstern im Meer der vielen kleinen und grossen Lichter am Bücherhimmel. Manchmal, aber eher selten passiert das. So erinnere ich mich an die Erstlektüre von Markus Werners Debüt „Zündels Abgang“ (1984), der mich als Lehrer doppelt bewegte, oder an Ruth Schweikerts „Erdnüsse. Totschlagen“ (1994) Erzählungen aus dem Epizentrum Familie, den ich als Vater einer wachsenden Familie mit einer ordentlichen Portion Verunsicherung las.

„Vom Onkel“ ist als Geschichte schnell erzählt. Der Onkel, noch nicht einmal sechzig, wohnt in einem kleinen Haus an der französischen Nordküste. Weit ab vom Schuss. Der Onkel ist aber nicht nur örtlich weit ab vom Schuss, sondern in seiner ganzen Art, wie er das Leben nicht meistert. Es geht ihm schlecht. Und weil Nichte und Neffe, als sie Kinder waren und die Grossmutter noch lebte, immer wieder Ferien in dem Haus am Meer machten, entschliessen sich die beiden, mehr oder weniger ungefragt in das weisse Haus mit den blauen Läden zu ziehen. Sie ins Zimmer neben dem Onkel, er in einen Teil der Garage. Eine Art Wohngemeinschaft an der bretonischen Küste. 

Rebecca Gisler «Vom Onkel», Atlantis, 2022, 144 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-7152-5003-8

Das Leben des Onkels ist ein einfaches. Seine Arbeit als Gärtner hat er aufgegeben. Er sitzt in seinem Haus, schaut fern, ernährt sich von Schokokeksen und Wurstschnitten, bewegt sich allerhöchstens mit seinem Mofa bis zum nächsten Supermarkt und reisst sich auch zur Körperhygiene kein Bein mehr aus. Nichte und Neffe beginnen eine langsame Annäherung an einen Onkel, der sich eigentlich schon lange verabschiedet, aufgegeben hat. Ebenso ist es für Nichte und Neffe eine Annäherung an sich selbst, an die Frage, was aus ihrem Leben noch werden soll, was im Leben wichtig ist, wofür es sich lohnt. „Vom Onkel“ erzählt von einem Mann, dem das Tempo des Lebens immer zu schnell war, der sich abhängen liess, der es nie schaffte „auf eigenen Füssen zu stehen“. Solange Grossvater und Grossmutter noch da waren, hatte er seinen Platz, später zieht er sich immer mehr in ein Leben zurück, dass mit den anderen und mit anderem nichts mehr zu tun haben will. Bis der Gesundheitszustand des alten Mannes dramatische Dimensionen annimmt.

Aber eben – es ist nicht die Geschichte. Das hätte auch für eine Erzählung gereicht. Was den alles überragenden Reiz dieses Buches ausmacht, ist die überbordende Kraft der Sprache. Die langen Sätze, die sich wie Schlingen um mich als Leser winden, die aber nie krampfhaft einem Plan folgen, einer Absicht, die nichts beweisen müssen. Dass es Rebecca Gisler schon mit ihrem Debüt schafft, mich derart zu verblüffen, in vielfacher Weise hochstehend zu unterhalten, ist selten genug. Mag sein, dass die einen bemerken: Lange Sätze komplizieren nur! Aber bei Rebecca Gislers Erstling eben nicht. Sie schmeicheln mir. Es sind spielerisch, leichte Satzgirlanden, die mich manchmal veranlassten, einen Abschnitt ein zweites Mal zu lesen, um es noch einmal zu geniessen.

Ein erstaunliches Debüt in einem Verlag, der sich mit diesem Buch vielversprechend bemüht aus der Asche seiner grossen Geschichte zu steigen!

Interview

Waren zu Beginn einzelne Bilder, gar Textpassagen, die sich erst mit dem Schreiben zu einem grösseren Gebilde fügten? Oder war das ganz banal auch der Wunsch, „eine Geschichte zu erzählen“?
Tatsächlich war zu Beginn vor allem die Figur des Onkels. Mehr als den Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, gab es den Wunsch, den Onkel zu erzählen, ohne genau zu wissen, wohin das führen soll. Was mich persönlich am meisten interessiert beim Schreiben und am Lesen, sind die emotionalen Eindrücke, die ein Text hinterlässt, Sprachbilder, die aneinandergereiht so etwas wie eine Geschichte ergeben können und weniger der Wunsch danach, etwas (nach) zu erzählen. Ich denke, dass ein Text seine Sprache erfindet, genauso wie die Sprache den Text erfindet. In „Vom Onkel“ widerspiegelt die Sprache die Figur des Onkels und umgekehrt: Eine Psychologie, die vor allem durch Gesten und Körper entsteht, eine Abfolge von beobachteten Tatsachen in einfacher Sprache. 

Lange Sätze, die schmeicheln, die sich wie Sprachmelodien über eine ganze Seite ziehen. Ich erinnere mich an einen meiner Deutschlehrer, der uns stets ermahnte, kurze Sätze zu schreiben, uns nicht zu verheddern. Genau dieses Verheddern passiert Ihnen nie. Gelingt Ihnen das leicht? Wie arbeiten Sie an solchen Sprachgefügen, damit sie so leicht bleiben?
Ich glaube, dass diese langen Sätze viel damit zu tun haben, dass ich das Buch zuerst auf Französisch geschrieben habe. Der Wechsel der Schreibsprache, das Übertragen ins Deutsche aus dem Französischen, das meine Muttersprache ist, eine Familiensprache und damit vor allem eine mündliche Sprache, hat, glaube ich, viel dazu beigetragen, dass diese Figur und diese Sprache entstanden sind. Ich fühlte mich anfangs beim Schreiben auf Französisch viel weniger wohl als beim Schreiben auf Deutsch. Die französische Sprache, die ich in gewisser Weise auf eine naivere Art benutze, hat mir geholfen, mich von einer „korrekten Grammatik“ zu befreien, mit der ich das Deutsche verband, mit der Sprache als Material zu spielen, sie zu einer wirklich subjektiven Erfahrung zu machen, die manchmal roh, manchmal unkorrekt ist und eine grosse Anzahl von Einflüssen mit sich bringt. 
Als es dann darum ging, den Text ins Deutsche zu übertragen, habe ich versucht die Sprache so gut wie möglich anzupassen. Wobei ich sagen muss, dass ich die Sätze in der deutschen Fassung teilweise kürzer halten musste, wahrscheinlich ebenfalls aus dem Grund, dass die deutsche Sprache meine Schulsprache ist und war, die ich anders gelernt habe als die französische. 

Der Onkel ist ein Sonderling, das, was man heute Messie nennt. Ein Mann zieht sich zurück, schliesst sich ein, müllt sich zu. Ein Phänomen, das ganze TV-Dokus füllt und ZuschauerInnen mit Gänsehaut zusehen lässt. Der Onkel in Ihrem Roman offenbart sein Geheimnis nicht. Ihnen geht es nicht um Erklärungen. Dabei ist in einer Zeit wie dieser der Rückzug zumindest aus meiner Perspektive nicht die letzte Option. Ist Schreiben auch ein Rückzug?
Definitiv. Ich merke selber, dass Schreiben und Lesen, fast die einzigen Orte in meinem Alltag sind, in denen ich frei imaginieren kann. In diesem Sinne ist Schreiben ein Rückzug, aber keineswegs ein Rückzug von der Realität oder von menschlichen Kontakten, sondern viel eher ein Ort des Denkens und des Beobachtens von Realitäten. Teilweise, und das ist der Punkt, an dem ich tatsächlich das Gefühl habe, zu schreiben, verschwinde ich hinter dem Schreiben, als ob sich der Text von alleine schreiben würde. Vielleicht ist das mit der Figur der Ich-Erzählerin vergleichbar, deren Rolle es ist, den Onkel zu beobachten, während sie selbst hinter diesem Beobachten verschwindet. Der französische Autor Jean-Pierre Martinet meinte sogar, dass die Literatur ein Zufluchtsort für Nichtsnutze sei. Das finde ich auch schön.

Der Onkel ist auch ein „Pendler“, sein Pendel das einzige, was er bei seinem unfreiwilligen Verlassen des Hauses mitnahm. Nimmt einem das Handeln die Last der Entscheidung? Hat sich der Onkel je entschieden? Etwas, was man von uns in der Gesellschaft permanent abverlangt.
Ich denke, der Onkel ist eher unversöhnlich, oder besser gesagt; er hat sich nie versöhnt (mit der Gesellschaft, wohlgemerkt). Das macht ihn wahrscheinlich zu einem glücklichen Charakter. Weil sein ungewöhnlicher Charakter ihn vor einigen allgemeinen Formen der Entfremdung schützt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob sein Schicksal beneidenswert ist, und ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um nicht in das Klischee des glücklichen Verrückten zu verfallen. Zunächst einmal habe ich darauf geachtet, mich an die Beobachtung zu halten, und dabei kam heraus, dass die Handlungen des Onkels, selbst die irrationalsten, einer ziemlich unerbittlichen Logik folgten, nämlich seiner eigenen, die in keiner Weise weniger logisch ist als unsere. In dieser Hinsicht stellt er meiner Meinung nach eine Herausforderung an die Norm dar. Er ist gleichzeitig sehr isoliert in der Gesellschaft und sehr nah an ihr dran. 

Warum haben Sie es vermieden, ihren Figuren Namen zu geben?
Figuren, die keine Namen haben, tragen etwas Ungreifbares mit sich und leben von ihren Funktionen in dieser freien Familienlegende, in der die Rollen nicht klar definiert sind. Ich glaube, dass diese Freiheit hier zum grossen Teil von der Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem Onkel und seinem Neffen bzw. seiner Nichte herrührt. Es ist ein Verhältnis, das man im Gegensatz zu dem, das uns beispielsweise an unsere Eltern bindet, nicht aufrechterhalten muss und das daher weniger psychologisch belastet ist. Das hat mir eine gewisse Loslösung ermöglicht. Wenn man sich von den Affekten befreit, kann man sich auf das konzentrieren, was vom Klatsch übrig bleibt, der übrigens immer fragwürdig ist und daher, wie mir scheint, die Imagination begünstigt. 
Zu Beginn des Schreibens von «D’oncle» habe ich oft über das Thema der Verantwortung nachgedacht, die die Nichte und der Neffe gegenüber ihrem Onkel haben würden, aber ich habe schnell festgestellt, dass dies eine falsche Fährte war: Die Nichte und der Neffe haben in Wirklichkeit keinerlei Verantwortung gegenüber ihrem Onkel, sie sind völlig frei, nicht bei ihm zu bleiben. Ich hatte dieses Gefühl, dass die Verwandtschaftsbeziehungen erschüttert oder ausgelöscht wurden, und es war, als hätte der Onkel die Erzählerin letztlich zum Leben erweckt.

Dieses Haus am Meer. An der bretonischen Küste. Ein Sehnsuchtsort, ein Ort, an dem sich alles niederschlägt, alles liegen bleibt. Ein kleines, weisses Haus, mit blauen Fensterläden. Und doch hat das Haus in Ihrem Roman so gar nichts Romantisches. Das Haus als Kontrast zu Ihrer Sprache?
Ich weiss nicht, ob ich meine Sprache in „Vom Onkel“ als romantisch bezeichnen würde. Vielmehr widerspiegelt sie die Figur des Onkels, wie auch das Haus und die Umgebung, in denen der Onkel lebt. Ein rissiges mit Efeu überwachsenes Haus, welches im Gegensatz zu den anderen Häusern im Dorf, durch seine „unschöne“ Art heraussticht. 
Die Sprache musste sich einfach an den allgegenwärtigen organischen Rhythmus anpassen. Das ist ein Grundprinzip der Erzählung und daher ist es auch kein Zufall, dass sie mit der Szene des Verschwindens in der Toilette beginnt. Mich interessieren diese unterschwelligen, viszeralen Rhythmen, die sich zwangsläufig irgendwo in der Sprache wiederfinden. Aber schlussendlich kann man auch sagen, dass all das Unromantische oder Unschöne, sollte es ein Gefühl für die Welt hervorrufen, für mich das Gefühl ihrer Schönheit wäre, der Schönheit ihrer Wildheit und manchmal auch ihrer Grausamkeit. 

Rebecca Gisler, geboren 1991 in Zürich, studierte von 2011 bis 2014 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und absolvierte anschliessend den Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris. Sie schreibt auf Deutsch und auf Französisch; Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien; Mitorganisatorin der Reihe «Teppich» im Literaturhaus Zürich. Ihr Debütroman «Vom Onkel», den sie auf Französisch und auf Deutsch verfasst hat, erschien im Herbst 2021 unter dem Titel «D’oncle» in Frankreich und wurde für mehrere Literaturpreise, u.a. für den Prix Les Inrockuptibles, nominiert. Mit einem Auszug aus der deutschen Fassung gewann sie 2020 den Open Mike in Berlin. Rebecca Gisler lebt in Zürich und Paris.

Beitragsbild © René Ruis

Constantin Schwab «Das Journal der Valerie Vogler», Droschl

Vier Männer auf Spitzbergen mitten im arktischen Winter. Künstler, die ihrer Individualität entsagen und als Kollektiv AURORA mit ihren Bildern bis in die letzten Geheimnisse menschlichen Daseins vorstossen wollen. Und eine Frau mit einem Stift, Valerie Vogler, die das Geheimnis lüften will: „Das Journal der Valerie Vogler“

«AURORA ist ein Rätsel.»

Valerie Vogler ist aufstrebende Journalistin. Sie schreibt hauptsächlich über Themen, die sich mit Kunst, mit bildender Kunst auseinandersetzen und zögert deshalb nicht, als sie von einem angesagten Künstlerkollektiv nach Spitzbergen eingeladen wird und die Chance wittert, etwas von den Geheimnissen von AURORA lüften zu können. Eine Künstlergruppe, die nicht mit Individualität auffällt, sondern mit einem für den Kunstmarkt gesichtslosen Kollektiv. Und da solche Geheimnisse wie jenes um Bansky das Zeug haben, Sensationen zu generieren, macht sich Valerie Vogler in die winterliche Dunkelheit in den Spitzbergen auf, eingeladen von vier Männern, die sie mit allerlei Bedingungen durch einen Boten per Schiff und zu Fuss an ihrer Türe absetzen lassen: Kein Telefon, keinen Computer, stets in einem weissen Kittel wie die vier Männer und respektieren, was das Kollektiv als ihr Manifest bezeichnet:

  1. Das Werk steht immer an erster Stelle.
  2. Das Werk hat immer recht.
  3. Kunst kommt von Kollektiv.
  4. Jedes wahrhaftige Kunstwerk ist die zu Ende gebrachte Ausführung einer Idee.
  5. Es gibt keine individuellen Ideen.
  6. Das Individuum hat sich für das Werk zu opfern. 
  7. Das Werk muss für sich stehen, der Künstler nie.
  8. Der eigentliche Held ist die Werkstatt.

«Was im Werk zu sehen ist, entscheidet der Künstler. Was im Werk nicht zu sehen ist, entscheidet der Betrachter.»

Valerie Vogler ist gleichermassen fasziniert, verunsichert und misstrauisch. Sie spürt sehr schnell, dass die vier bärtigen Männer, von denen sie nur auswechselbare Vornamen kennt, nicht wirklich daran interessiert sind, sie an einem Geheimnis, an ihrem Geheimnis teilhaben zu lassen. Vier Männer und eine Frau in sieben Räumen, alle ausgemalt in verschiedenen Farben, das siebte Zimmer verboten, so wie in den Märchen, wo dieses eine letzte Zimmer verschlossen bleiben muss und man dem Gast von Beginn weg unmöglich macht, über dieses Geheimnis hinwegzuschauen. Valerie bewohnt eines der Zimmer und schreibt, versucht zu ergründen, was die seltsame Inszenierung bedeutet, und was mit ihr geschieht, während sie diesen Männern in der Küche, die gleichzeitig Werkstatt zu sein scheint, in verschiedenster Weise immer näher kommt. 

«Eine Kunst, bei der es um weniger als Leben und Tod geht, wird sich selbst nicht überleben.»

Constantin Schwab «Das Journal der Valerie Vogler», Droschl, 2022, 128 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-99059-099-7

Je mehr Zeit verstreicht, desto klarer wird, dass in den Räumen von AURORA viele Geheimnisse stecken. Warum dieses verbotene Zimmer? Warum im Gewehrschrank ein eingeritzter Vogel und die Ziffern 4/6? Warum diese seltsame Distanz, wo man sie doch eingeladen hat? Warum diese Abgeschiedenheit, diese Entfremdung von der Welt? Während draussen Schneestürme toben, sitzt man am grossen Tisch und speist, trinkt schwarzen Kaffee. Distanzen weichen auf, Alkohol macht das seinige. Bis Valerie mit Schmerzen aufwacht und in ihrer Armbeuge eine Einstichstelle findet.

«Die einzige Perversion ist die Zurückhaltung.»

Constantin Schwabs Debüt lässt sich wie ein Thriller lesen. Aber „Das Journal der Valerie Vogler“ ist viel mehr; eine Auseinandersetzung mit den Motivationen der Kunst, der Bericht einer Frau, die immer tiefer in die künstliche (durchaus zweideutig gemeinte) Gegenwelt eines Männerquartetts eintaucht, die die feine Membran durchsticht zwischen Realität und Wahn. Ein Buch darüber, wie weit Kunst sich in Leben verhaken kann, wie leicht man zum Opfer werden kann, geblendet, getäuscht, instrumentalisiert. „Das Journal der Valerie Vogler“ ist das Protokoll eines Abtauchens, ein Gang durch die Labyrinthe der Künstlichkeit. Mitreissend geschrieben, mutig, passiert doch bei der Lektüre eines solchen Buches Ähnliches wie Valerie Vogler; Man lässt sich ein – und wenn man gepackt wird, sind die Grenzen zwischen den Seiten eines Spiegels fliessend, erst recht dann, wenn sich Spiegelbilder verselbstständigen.

Interview

Männer ziehen sich nach Spitzbergen zurück, nennen ihr Künstlerkollektiv AURORA (auch wissenschaftliche Bezeichnung für das Polarlicht). Sie arbeiten nach festgelegten Grundsätzen, nennen es Manifest. Eigentlich gleich ein multipler Gegenentwurf zu aktuellen Strömungen. Wie sind Sie darauf gekommen?
Tatsächlich lässt sich in der Kunstszene heute wieder ein Trend hin zur kollektiven Arbeit beobachten. Letztes Jahr standen ausschliesslich Gruppenarbeiten auf der Shortlist zum britischen Turner Price, Kunst und Aktivismus vermengen sich dabei zunehmend. Konkretes Vorbild für das Künstlerquartett in meinen Roman war jedoch das kubanische Kollektiv «Los Carpinteros» («Die Zimmermänner»), auf das ich während meiner Arbeit als Museumsaufsicht in der Wiener Albertina gestossen bin. Ich fand es faszinierend, dass diese Gruppe ihre Namen bewusst in den Hintergrund stellt, um sich auf das gemeinsame, anonyme Kunsthandwerk zurückzubesinnen. Während «Los Carpinteros» dem Kunstmarkt jedoch mit viel Humor und Ironie begegnet, muss die Protagonistin in meinem Buch erfahren, dass AURORA ihre Arbeit sehr, sehr ernst nimmt.  

Das handgeschriebene Original-Journal (also die Urfassung) © Constantin Schwab

Eine Handvoll Männer im ewigen Eis, in der Dunkelheit des arktischen Winters. Sie sind Hüter, Bewahrer ebenso wie Erschaffer und Vollstrecker. Und eine Frau, nur eine einzige Frau als Gegenpol. Sie wird, ohne es in den ersten Tagen zu bemerken, zum Opfer. Eine Art Schöpfungsgeschichte?
Ich denke, jede Kunstgeschichte ist irgendwo eine Schöpfungsgeschichte. Da ist es natürlich kein Zufall, dass AURORA ihr Meisterwerk in genau sieben Tagen erschaffen will. Dass eine junge Frau sich dabei völlig alleingelassen in einer verschworenen Männergruppe wiederfindet, spiegelt für mich nur das Gefühl wider, das der männerdominierte Kunstkanon jahrhundertelang erzeugt hat. Man kann «Das Journal der Valerie Vogler» damit auch als Emanzipationsgeschichte lesen, denn diese Frau will sich eben nicht mit der Opferrolle abfinden, die ihr aufgedrängt wird. Die Frage, die sich ihr dabei stellt, ist: Gibt es überhaupt eine Kunst ohne Opfer? 

Das Buch, die Geschichte hat das Zeug für einen Thriller. Aber ganz offensichtlich ging es ihnen um ganz anderes, wohl nicht zuletzt um Fragen um die Kunst. Was sie soll und darf. Sie schaffen auch Bezüge zum „Kollektiv“ um Rubens, zu Munch oder Banksy. War das von Beginn weg ein genauer Schreibplan? Welches Bild, welche Geschichte stand am Anfang?
Am Anfang stand das Bild aus einem Traum: Ich war in einer Art Künstlerkommune und jeder Raum hatte eine andere Farbe. Das war für mich der Ausgangspunkt – ich wollte eine Geschichte schreiben, die an einem isolierten Ort spielt, in genau dieser Kommune. Dann kam mir die Idee mit dem Journal und der jungen Reporterin, aus deren Sicht wir von dem mysteriösen Kunstprojekt erfahren sollten. Dabei habe ich mir selbst die strengen Einheiten von Ort und Zeit auferlegt: Eine Werkstatt, sieben Tage. Am Ende sollte «das absolute Kunstwerk» stehen. Aber wie dieses Werk aussieht und wie ich dort hinkomme, das wurde mir erst klar, als ich das Journal tatsächlich geschrieben habe – mit der Hand, übrigens.

Journal 02 © Constantin Schwab

Wir sind süchtig nach Sensationen, nach Geheimnissen. Banksy erzählt mit seinen Werken astronomische Auktionspreise, in der Literatur lässt das Geheimnis „Elena Ferrante“ die Kasse klingeln. In der bildenden Kunst gab es immer wieder solche „alternative Lebens- und Schaffensentwürfe“, bei denen sich Marketing und tatsächliche Alternative nicht immer klar abgrenzen und erkennen lassen. „Wahrhaftigkeit“ als Marketing?
Auf jeden Fall. Auch die nicht abreissende Welle an «True Crime»-Formaten und Enthüllungsbüchern zeigt das grosse Bedürfnis nach Sensationsgeschichten, hinter der ein unermüdlicher Massenvoyeurismus steckt. Dieser Blick durch das Schlüsselloch in andere Leben wird uns wohl immer anziehen. Wer möchte nicht einmal in einem fremden Tagebuch blättern? Mit diesem Bedürfnis und dem Label der künstlerischen «Authentizität» spielt auch mein Roman. Das ständige Werben mit dem Authentischen, das zurzeit in Mode ist, finde ich in der Kunst allerdings sehr problematisch. Hier wird vergessen, dass Kunst an sich immer schon inszeniert ist. Letztlich führen diese Marketingmaschen des Wahrhaftigen nur dazu, dass es den Leuten immer schwerer fällt, zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden. 

Ganz am Schluss kippt die Geschichte. Mit einem Mal stehe ich als Leser auf der anderen Seite eines verspiegelten Fensters. „Das Journal der Valerie Vogler“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung, über Wahrheiten.
Ganz genau. Ein grosses Vorbild von mir ist Leo Perutz, der es meisterhaft verstanden hat, kunstvolle Romane zu schreiben, die am Schluss oft mehrere Lesarten zulassen. Ich persönlich liebe Bücher und Geschichten, deren Ende mich dazu bringt, alles Vorherige in einem neuen Licht zu betrachten.

Constantin Schwab wurde 1988 in Berlin geboren und wuchs in Kärnten auf. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, wo er heute auch lebt. Seine Geschichten werden regelmässig in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. 2019 gewann er den Emil-Breisach-Literaturpreis der Akademie Graz. Im selben Jahr erschien der Erzählband Der Tod des Verführers. «Das Journal der Valerie Vogler» ist sein Debütroman.

Beitragsbild © Aleksandra Pawloff

Noa Theobaldy «Tunnelblick», Die Brotsuppe

Fahren Sie mit dem Zug zur Arbeit? Kämpfen Sie auf dem Nachhauseweg manchmal mit Fragen über die Sinnhaftigkeit ihres Tuns – und mit dem Schlaf? Dämmern sie manchmal weg und schrecken auf, weil der Zug einfährt, wo sie aussteigen sollten? Noa Theobaldy zieht mich mit ihrem Debüt «Tunnelblick» ins Unterbewusste, in die dunklen Zonen menschlichen Seins.

Ein Mann fährt Zug, von der Arbeit nach Hause, müde. Nicht nur müde von einem langen Arbeitstag, sondern von einem ganzen Leben, das nicht in die Gänge kommt. Er freut sich auf seine Ruhe, sein Bier und dämmert kurz vor dem Endbahnhof, seinem Wohnort im Zug weg. Als er wieder aufwacht, rattert der Zug durch einen Tunnel. Obwohl es dort, wo er wohnt, keine längere Tunnels gibt. Aber er sitzt in diesem Zug, sieht sein Spiegelbild in der Schwärze des Fensters und wundert sich. Der Zug ist fast leer. Er steht auf, sucht nach anderen, nach Personal, während vor den Fenstern nichts darauf hinweist, dass der Tunnel zu Ende gehen würde.

Zugegeben, als ich mit der Lektüre der Erzählung „Tunnelblick“ begann, erinnerte mich das Gelesene so stark an die Erzählung Friedrich Dürrenmatts, dass ich das Buch beinahe weggelegt habe. „Der Tunnel“, eine Kurzgeschichte des damals noch jungen Dürrenmatts, die mich in meiner Begeisterung für ihn nachhaltig beeinflusste. Ausgerechnet! Aber glücklicherweise verselbständigt sich Noa Theobaldys Erzählung sehr schnell, denn wer spielt im nebulösen Halbschlaf Zug fahrend nicht zuweilen mit dem Gedanken, was wäre wenn. Silvan, um seine Feierabendruhe gebracht, macht sich auf im Zug, findet ein Mädchen allein in einem Abteil, das mit einer Fledermaus spielt, eine Schaffnerin, die sich wegen seines fehlenden Fahrscheins wohl kulant zeigt, sonst aber nur wenig zur Klärung seiner Fragen beiträgt, eine Handvoll Passagiere, vornehmlich ältere Menschen und mit Dauer der Fahrt immer mehr Fragen. Bis der Zug mitten im Tunnel stoppt. Das Mädchen hängt sich an Silvan, die Schaffnerin glaubt, Vater und Tochter vor sich zu haben. Die Fledermaus ist durch einen Spalt im Fenster entflogen. Man heisst die Passagiere des Zuges wegen technischer Probleme aus dem Zug auszusteigen. Die Schaffnerin führt das Grüpplein zwischen Zug und Tunnelwand zur Spitze des Zuges. Der Lokführer spricht von grösseren Problemen, die Schaffnerin von einem Sammelraum weiter vorne, wo man sich hinbegeben solle.

Noe Theobaldy «Tunnelblick», Die Brotsuppe, 2022, 96 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-03867-037-7

Noa Theobaldys Szenerie in ihrer Erzählung entfernt sich mit fortlaufender Lektüre immer weiter von einem realen Geschehen. Es gibt Fenster, die man nicht öffnen sollte, Vorhänge, die geschlossen bleiben sollten, lange Gänge ohne Licht, hinein in ein Dunkel, das einem bei der Lektüre klaustrophobische Gefühle beschert, ein Mädchen, das mit einem Mal verschwindet und Mitreisende, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Silvan sinkt in das Geschehen, lässt sich aufsaugen. Der Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Tunnel zu kommen, eine Erklärung für ein alleine gelassenes Mädchen zu finden, schwinden hinter dem Bemühen, den nächsten Schritt, den nächsten Moment zu verstehen. Der Mann vergisst sich, verliert sich. Genau das macht den Reiz dieser Erzählung aus und verweist auch auf den Titel der Erzählung. Da ist die Kulisse, dieser Tunnel, die Schwärze, die Enge, das Dunkel, fehlendes Licht, fehlende Distanz. Und ein Mann, der nur noch den Moment zu überstehen versucht. Ich fühle mich gespiegelt in Momenten meiner eigenen Biographie, in denen mein Leben in einem Tunnel zum Stillstand kam, in denen mich nichts und niemand aus den klaustrophobischen Gefühlen einer Ausweglosigkeit befreien konnte. 

Mag sein, dass sich die Erzählung aus meiner Sicht etwas zu sehr ins Traumhafte, ins Alptraumhafte begibt und den Schluss der Erzählung in meinem Kopf viel zu früh provoziert. Aber das verzeihe ich der Erzählung, weil Noa Theobaldy so eigenwillig zu erzählen vermag. Ich lese eine Erzählung in einem ganz eigenen Sound, einer Sprache, die sich erfrischend von allem anderen abhebt. Eine Erzählung, über die man sich in einer Leserunde lange auseinandersetzen könnte, die mehr offen lässt, als sie erklären will.

Interview

Schon über den Titel „Tunnelblick“ könnte man sich vertiefen. Zum einen wichtig, um sich zu fokussieren, zum andern blendet er alles aus, was sich auf die Fokussierung des scheinbar einzigen Lichts am Ende des Tunnels entzieht. Ist der Titel bei dir mehr positiv oder negativ besetzt? Ist das Schreiben selbst nicht auch ein Tun, das einen gewissen Tunnelblick voraussetzt?
Bei mir ist der Titel eher positiv besetzt, denn zwar geht der Protagonist anfangs mit einem Tunnelblick durch die Welt, der ihm viele tiefe Begegnungen und Erlebnisse verwehrt, ihn stattdessen innerhalb des Tunnels der Oberflächlichkeit hält. Doch ich sehe dabei immer auch das Licht. Ein Tunnel ist nicht endlos, irgendwann kann sich der Blick öffnen. Vielleicht brauchte der Protagonist sogar den Tunnelblick, um mit seinem schweren Herzen leben zu können, bis die Zeit und der Mut gekommen sind, den Blick zu öffnen und eine ganze Fülle an Eindrücken, erschütternden wie befreienden, zuzulassen.
Ich würde nicht sagen, dass das Schreiben dieser Erzählung einen Tunnelblick voraussetzte, denn mir war nur der Anfang von Anfang an klar, wie es ausgehen würde, war für mich noch nicht fassbar. Ich bin daher nicht mit Scheuklappen auf ein bestimmtes Ziel zugesteuert. So habe ich die Handlungsstränge eher erhascht, die Figuren und Gestalten sind erschienen, erst im Dunkeln, dann klarer umrissen. Es war eine Annäherung eher vom Offenen ins Konkrete statt umgekehrt.

Silvans Herz ist voll mit Enttäuschungen, steht ganz am Anfang deiner Erzählung. Er ist müde, nicht nur vom Arbeitstag. Du gehst aber fast nicht oder nur andeutungsweise auf das ein, was Silvan hinter sich lässt, erzählst mir mit einem Minimum an Erklärungen. Das ist Absicht, das spüre ich. Ist das nicht ein Wagnis, mich als Leser derart (wörtlich) „im Dunkeln“ zu lassen?
Für mich war es nicht relevant, was Silvan zu schaffen macht, ich wollte ein Grundgefühl vermitteln, das ihn umgibt. Dieses bricht nach und nach auf, und was ihm tatsächlich die Energie entzieht, liegt sehr lange zurück. 
Ich habe auch mich als Schreibende im Dunkeln gelassen, was mich beim Verfassen neugierig gemacht hat. Ich war gespannt darauf, was es zu sehen gäbe, wenn ich meinen Protagonisten nach und nach ausleuchten würde. 

Das Personal bewegt sich im Dunkeln, in Gängen, die kaum ausgeleuchtet sind, tief im Berg. Das Unterbewusstsein?
Ich habe es mir so vorgestellt, dass das Innere des Berges gleichsam das Innere von Silvan widerspiegelt. Trotzdem könnten die Figuren wahrhaftig sein, denn wer entscheidet über die Wahrheit – ist sie das, was man sieht, oder eher das, was dahinter verborgen ist? Anouk, das Mädchen, das in der sogenannten Realität am Ende der Geschichte nochmals auftaucht, verknüpft die beiden Welten. Sie hat für mich etwas Engelhaftes, eine Gestalt, die erscheint und weiterhilft, ohne etwas zu fordern, einfach indem sie da ist. Die Schaffnerin ist für mich jemand, die so tut, als würde sie das Innere von Silvan kennen und könnte ihn führen, doch tatsächlich muss er selbst aus den Irrungen rausfinden und sich in diesem Prozess von den Figuren lösen, die es scheinbar besser wissen.

Man begegnet in deiner Erzählung real scheinenden Menschen, die theatral wirken, manchmal bloss Stimmen, an einer Stelle scheint es der Tod selbst zu sein. Deine Erzählung passt in eine Zeit, in der man sich wie nie zuvor mit der Frage beschäftigt, was nun wirklich wirklich, wirklich wahr, wirklich real ist. Muss dieses Bewusstsein, wie sehr sich Wahrnehmung von Wahrheit entfernen kann, nicht Angst machen?
Damit möchte ich auf all die Fakes, Heilsbringer und Besserwisser eingehen, die uns alle mal einflüstern, mal in die Ohren schreien, jeder mit seiner Wahrheit. Gab es doch einmal eine Zeit, in der man das Gefühl hatte, es würde eine Wahrheit geben. Auch diese Heilsbringer und Besserwisser wirken sehr oft theatralisch, sind wirkungsvoll inszeniert. Auch dort stülpt sich ein Tunnelblick über die Menschen, die Objektivität mehr als nur vernebelt.
Mir macht dieses Bewusstsein weniger Angst, seit ich für mich akzeptiert habe, dass es keine eine Wahrheit gibt. Ein Reiz, den das Schreiben auf mich ausübt, ist genau dieses Spiel mit der Wahrheit. Ist das Erfinden von Geschichten ja einerseits der Inbegriff von nicht wahr, und doch steckt für viele Menschen eine Menge Wahrheit in einem fiktiven Text. Und so soll sich jeder Lesende das herausnehmen, was für ihn stimmt oder eben: Wahr ist. 
Ich möchte noch einmal auf die Schaffnerin zurückkommen: Sie ist am ehesten die Heilsbringerin, die einiges anstösst, und doch auf Silvans Nachfragen am Ende zugibt, dass sie nie etwas zu sagen hatte: „Ich bin nur Zugbegleiterin. Es ist Ihre Reise.”

Du bist Lehrerin, ein Beruf, der alles abverlangt, je länger je mehr. Ein Beruf, der einen gänzlich ins Hier und Jetzt stellt. Wie schaffst du es, dir Zeit und Raum zu nehmen, dich literarisch in eine derart „jenseitige» Welt zu begeben?
Tatsächlich bin ich nach einem intensiven Schultag oft zu erschöpft zum Schreiben. Es kann aber auch dabei helfen, abzuschalten, wenn ich noch zwei, drei Sätze schreibe, bevor ich zu Bett gehe. An den Wochenenden oder einem freien Tag kann es sehr schön sein, ganz abseits des Alltags in eine andere Welt hinein- oder hinabzusteigen. Allerdings schreibe ich eigentlich nie länger als zwei Stunden am Stück, meistens weniger und am liebsten in einem schönen Café. Daran, dass der Kaffee dabei kalt wird, habe ich mich gewöhnt und er schmeckt mir unterdessen trotzdem. Ich bleibe nie allzu lange hängen und bin, wenn ich aufblicke, sofort im Hier und Jetzt, sehe die anderen Gäste und höre das Stimmengemurmel. Um ein neues Projekt zu entwickeln, brauche ich etwas mehr Raum, da eignet sich zum Beispiel die lange unterrichtsfreie Zeit im Sommer oder, im Fall des Tunnelblicks, die Zugfahrt von und zur Schule. 

Noa Theobaldy, 1985 in Basel geboren, lebt in Bern und arbeitet als Primarlehrerin. «Tunnelblick» ist ihre erste Veröffentlichung.

Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode

Gehören sie zu den Menschen, die noch mit freudiger Erwartung auf den Briefträger oder die Postbotin warten? Oder schon zu jenen, die sich nur mit einer Mischung aus Befürchtung und Angst einmal in der Woche trauen, das unliebsame Fach zu öffnen? Thomas Pfenniger hat einen wirklich komischen Roman über die verborgenen Kräfte jener Botinnen und Zusteller geschrieben, denen wir sonst kaum mehr Respekt zollen.

Ich wohne seit zwei Jahren in einem Mehrfamilienhaus mit 16 Wohnungen. Müsste ich die Namen aufzählen, würde ich nicht einmal eine Handvoll zusammenbringen. Und wenn ich am Morgen noch in winterlicher Dunkelheit zur Arbeit gehe, aus „meinem“ Haus, vorbei an all den erleuchteten Fenstern, links und rechts vorbei an all den andern Mehrfamilienhäusern, schaudert mich das Wissen, dass dort überall Geschichten und Dramen spielen, mir doch eigentlich so nah, aber ich weiss nicht einmal die Namen. Gesichter bleiben wie stumme Etiketten. Mindestens einmal am Tag taucht der Postbote auf, meist ein junger Mann, manchmal eine ältere Frau. Beide freundlich und mit ihrem Elektroroller ungemein fix unterwegs. Wer glaubt, dass sie nur die Post austeilen, oder wenn noch der gelbe Lieferwagen auftaucht, die Pakete, der irrt gewaltig. Wenn jemand über Jahre die Post zustellt; Pakete, Briefe, Rechnungen, Eingeschriebenes – dann muss sie/er mit etwas Kombination sehr genau wissen, mit wem man es hinter diese Klingel, hinter diesen Türen zu tun hat. Dann tun sich Welten auf. Sie kennen die Namen und noch viel mehr. Vielleicht nicht die Gesichter. Aber die Etiketten sind voll geschrieben, bis ins Kleingedruckte. PostbotInnen sind Geheimnisträger! Ich respektiere sie für ihre Verschwiegenheit und die Tapferkeit angesichts der geringen Anerkennung und der Tatsache, dass aus dem Pöstler aus der Vergangenheit mit selbstbewusster Uniform und dem Nimbus eines Glückbringers ein von der Zeit gepeitschter Vollstrecker geworden ist. Wer bekommt denn noch Briefe! 

Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode, 2022, 279 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-905574-00-5

Thomas Pfenninger erzählt von einem Briefträger in einem Aussenquartier von Zürich, der mehr sein will, als ein Auslieferer von Papier. Der Briefträger liebt seine Arbeit. Er liebt auch die Menschen, denen er die Post verteilt. Auch wenn er manchmal mit Ungeduld erwartet wird, wenn er der Überbringer von Schmerz sein muss, wenn er schon vor dem Einwerfen weiss, dass es nicht zur Freude sein wird. Er möchte ein guter Briefträger sein. Und weil dieses „gut“ nicht zu all dem zu passen scheint, was er einwerfen muss, beginnt jener Briefträger in den sonst so klar geregelten Ablauf des Verteilens einzugreifen. Erst sind es einfach ein paar Sendungen, die nicht zugestellt werden, später ein doppelter Boden in seinem Wagen, den er hinter sich herzieht, wo liegen bleibt, was nicht ankommen soll; die eingeschriebenen Vorladungen für Herrn Schweizer, die Rechnungen für das Ehepaar Manzini, die Todesanzeigen für Frau Kälin, den einen, letzten Brief der Tochter an ihre Mutter, Frau Caluori. Aber das Nicht-Zustellen, Zurückhalten ist irgendwann nicht mehr genug. Der Briefträger spürt und ahnt, dass er durch sein Tun die Geschicke jener Menschen beeinflussen kann. Ein bisschen wie Gott. Er rächt sich am strammen Herr Schweizer durch das Zurückhalten, bezahlte die eine oder andere Rechnung für Manzinis aus der eigenen Tasche, verschont Frau Kälin mit immer noch einer Todesanzeige und frisiert die Tochterbriefe an Frau Caluori so, dass der letzte Rest Hoffnung nicht sterben muss.

Und da ist noch Lauriane im Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses. Sie lebt zusammen mit ihrem nichtsnutzigen Bruder Dave, der es nicht einmal schafft, sich selbst aus dem Dreck zu ziehen. Lauraine bleibt stets oben, schaut nur das eine oder andere Mal aus dem Fenster, bekommt immer wieder einmal eine Karte. Sie wird seine Angebetete, der aber verborgen bleiben würde, dass da ein schmachtender Briefträger ist, wäre da nicht Dave, der durch seine Sucht unvermittelt Mittler wird.

Aber statt dass sich das Glück einstellt, zieht sich die Schlinge um den Hals des Briefträgers immer mehr zu. Es muss unweigerlich zur grossen Katastrophe kommen. Was auch geschieht! Es kann keine Entschuldigungen allein mehr geben.

Thomas Pfennigers Debüt „Gleich, später, morgen“ ist eine überaus köstliche Groteske, ein eigentliches Quartiertheater um die Macht des kleinen Mannes mit wenig viel zu erreichen, den Dingen jenen kleinen Schups zu geben, dass sie sich zum Besseren oder Guten wenden. Aber auch ein Mahnung davor, dass sich letztlich nichts in eine Richtung drücken lässt, das nicht der Allmacht der Logik entspricht. Irgendwann rächt sich alles. „Gleich, später, morgen“ ist verspielt und erzählt doch nichts als die Wahrheit.

Interview

Ich bin einer, der sich jeden Tag auf seine Post freut, weil ich nicht nur Rechnungen, Mahnungen oder Werbung erhalte. Für mich ich die Postbotin oder der Postbote eine gute Fee, die mich beschenkt, es sind Überbringer des Guten. Zwei Generationen zuvor brachten Postboten sogar noch die Altersrente, man lud sie zu einem Kaffee und einem Schwatz ein. Was gab den Ausschlag, einen Briefträger zum Protagonisten zu machen? Ein Stück Sehnsucht nach einer überschaubaren Weltordnung?

Diese Lesart – die Sehnsucht nach Überschaubarkeit – wurde mir schon von verschiedener Seite zugetragen. Sie spielte für die Wahl des Protagonisten aber keine Rolle. 
Entscheidend war einerseits die Funktion des Briefträgers als Übermittler von Botschaften und andererseits als Person, die vielen Menschen natürlicherweise sehr nahe kommt, aber ohne sich ihnen aufzudrängen, ohne dass da Skepsis wäre, ohne dass da Vorbehalte wären. 
Ich wollte einen Protagonisten, dem die Menschen ihre Sorgen erzählen. Einer, dem sie Dinge erzählen, die sie ihren Nachbarn, Ehemännern und Freundinnen nicht erzählen können oder wollen.
Stereotypisiert kämen für diese Rolle natürlich auch andere Berufe infrage: der (in der Popkultur überstrapazierte) Taxifahrer, die Friseurin, der Barkeeper, die Psychologin. Aber kein Beruf passte so gut wie der Briefträger, weil die dem Briefträger (oder der Briefträgerin) angehefteten Attribute wie Integrität, Zuverlässigkeit oder Pünktlichkeit so herrlich total sind. Kein Briefträger ist ein bisschen integer oder ein bisschen zuverlässig. Ich glaube, dieses Bild ist extrem tief in uns verankert. Das fand ich äusserst spannend, weil sich daraus ein grandioses Spannungspotenzial ergibt. Was, wenn der Briefträger diese totale Integrität nicht erreicht? Was, wenn er seine eigenen Regeln der Postzustellung aufstellt? Und was, wenn er es nicht aus schlechter, sondern mit durch und durch guter Absicht tut? 

Ihr Briefträger lässt sich ziemlich tief in die Leben seiner Adressaten verwickeln. Auf eine gewisse Art und Weise nimmt er sich ein Stück Allmacht, um seine Welt ein bisschen besser zu machen. Eine Sehnsucht, die sich arg zu rächen droht. Soll man sich festen Ordnungen ergeben? All die „Braven“ bleiben in der Ordnung, weil Gesellschaft nur mit Ordnung funktioniert.

Ich sehe keinen Sinn darin, sich aus Prinzip gegen eine Ordnung aufzulehnen. Und ich sehe auch keinen Sinn darin, sich aus Prinzip einer festen Ordnung zu ergeben. Man mag Gesellschaften attestieren, dass sie nur mit und wegen der Ordnung funktionieren. Vielleicht ist das aber ein Trugschluss. Vielleicht funktioniert »Gesellschaft« nicht wegen der Ordnung, sondern durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit, oder sogar mehr noch, die Überzeugung der Zusammengehörigkeit. Ich plädiere also nicht für mehr oder weniger Ordnungsergebenheit, sondern für mehr »wir« und weniger »ich«. 

Ein Briefträger, der nur ein bisschen Kombinationsgabe besitzt, muss ziemlich viel über seine Kundschaft wissen. Mein Briefträger weiss, dass ich viel lese, dass ich Unsummen für Bücher ausgeben muss (was nicht stimmt), dass ich öfters Blumen verschenke, eine erwachsene Tochter habe, die zeichnet und vieles mehr. Und doch bewegt sich mein Briefträger in absoluter Diskretion. Nicht unbedingt eine Tugend der Gegenwart, oder?

Woher weiss Ihr Briefträger, dass Sie Blumen verschenken? Und woher wissen Sie, dass sich ihr Briefträger in absoluter Diskretion bewegt und nicht am Abend zu Tisch erzählt, dass er dem Herrn Soundso heute wieder zehn Kilo Bücher gebracht hat? Wir nehmen diese Diskretion an und ich glaube, wir tun das noch immer zurecht. Ich bin überzeugt, dass 99 % aller Briefträgerinnen und Briefträger absolut diskret und gewissenhaft und integer arbeiten. Daher würde ich bezweifeln, dass Diskretion heute rarer ist als früher oder dass sie im Umkehrschluss gar eine Tugend der Vergangenheit ist. 

Der Briefträger leidet mit, interpretiert, was er sieht, liest und erlebt, manövriert sich in eine Sichtweise hinein, die ihn zum Handeln zwingt. So wie all jene, die vor ihren digitalen Fenstern und Türen sitzen und sich zum Handeln gezwungen fühlen. Der Briefträger greift in fremde Leben ein, glaubt, dass seine Interpretation Rechtfertigung ist. Ihr Roman als Metapher?

Mich faszinierte die Idee von Grenzüberschreitungen, die besten Absichten und besten Überzeugungen entspringen und dadurch eine Art Rechtfertigung erhalten. Der Briefträger will ja niemandem etwas Böses – ganz im Gegenteil! Das lässt sich durchaus auch als Metapher lesen. Nicht nur ins Digitale, aber auch. Die Überzeugung, dass die eigenen An- und Absichten gut und richtig und wahr sind und der Wunsch, dass andere die Welt ebenso sehen, ist sehr menschlich. 
Das Problem ist aber natürlich, dass auch gut gemeinte Grenzüberschreitungen immer Grenzüberschreitungen bleiben. 
Im Roman entwickelt sich dann aus solchen im Grunde harmlosen Grenzüberschreitungen eine kaum noch zu kontrollierende Eigendynamik. Das Spannende an dieser Dynamik ist, dass sie gerade dadurch aufrechterhalten wird, indem der Briefträger versucht, sie aufzuhalten. Als flicke er das Fass an einer Seite, nur dass es an zwei anderen Stellen Leck schlagen kann. 

Schreiben Sie Briefe noch von Hand? Bedanken Sie sich beim Briefträger? Dass der Roman postgelb ist, ist mit Sicherheit kein Zufall. Sollte er nicht Pflichtlektüre werden in der Berufsschule zum Postlogistiker?

Ich lebe mit einer einzigen Ausnahme praktisch papierlos: Bücher. Ich habe bis heute kein einziges E-Book gelesen. Alles andere, Notizen, Briefe (Mails!), Zeitungen, Manuskripte, lese und schreibe ich wenn immer möglich digital. Ich bekomme übrigens auch höchst selten physische Post. Gerade diese Woche aber zum Beispiel die Jahresrechnung der REGA. Hat mich gewundert, dass die im Briefkasten und nicht in der Mailbox gelandet ist.
Hin und wieder überkommt mich aber ein nostalgisches Gefühl und ich nehme mir vor, mein Smartphone wegzuwerfen und nur noch via Festnetz und Briefkasten erreichbar zu sein. Oder mir vielleicht sogar einen Brieffreund zu suchen und dann komplett entschleunigt im Zweiwochenrhythmus mit ihm zu korrespondieren. Aber natürlich habe ich jetzt erstmal noch so einiges zu erledigen und verschiebe das deshalb auf später.
Wenn ich »meiner« Briefträgerin mal begegne, dann grüsse ich sie immer ganz freundlich. Wie gesagt hat sie aber meistens nichts für mich dabei. (Was ihr aber auch nichts auszumachen scheint). Vielleicht sollte ich ihr bei Gelegenheit ein Exemplar des Buches geben? Vielleicht kann sie dann ein gutes Wörtchen für mich einlegen, dass es in den Kanon der postgelben Literatur aufgenommen wird.

Thomas Pfenninger, geboren 1984, wuchs in Zürich auf und lebt heute in Bern. Neben seiner Tätigkeit als freischaffender Autor und Texter arbeitete er neben anderem als Mediensprecher oder Kommunikationsbeauftragter für verschiedene Unternehmen in Zürich, Berlin und Bern. 2017 veröffentlichte er im Eigenverlag den Gedichtband «Fragmente». 2018 beendete er die Arbeiten am Roman «Die Löffel-Monologe», welcher noch nicht veröffentlicht wurde. Der Roman «Gleich, später, morgen» ist sein Debüt.

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Beitragsbild © Thomas Pfenninger

Gine Cornelia Pedersen «Null», Luftschacht

Eine junge Frau allein mit sich selbst, ohne Filter, ohne Grenzen, sich selbst und allem andern unmittelbar ausgeliefert. «Null» ist sprachlicher Hardrock, literarischer Sprengstoff.

Zuerst dachte ich, ich müsse das Buch weglegen, es sei nichts für mich, biete bei der Lektüre weder Genuss noch Fluss, legte es wirklich weg, um es nach ein paar Tagen doch noch einmal zu versuchen. „Null“ ist kein Genuss-Roman. Aber der Lesefluss stellt sich dann doch ein, wenn man sich auf die formalen Eigenheiten dieses Buches einlässt.
Als „Null“ 2013 in Norwegen erschien, löste das Buch eine Welle aus, mit Sicherheit deshalb, weil Gine Cornelia Pedersen aus einer Perspektive erzählt, die zumindest mir bisher verborgen blieb, weil ich so nie hätte beschreiben können, einer Perspektive, die entweder ihrer überragenden Einfühlung zu verdanken ist, mit der sie als Schauspielerin in tiefere Sphären eindringen kann – oder ganz persönlichen Erfahrungen. Eine unwichtige Frage, aber als Feststellung während der Lektüre beeindruckend.

Gine Cornelia Pedersen «Null», Luftschacht, 2021, aus dem Norwegischen von Andreas Donat, 185 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-903081-90-1

„Null“ erzählt von einer jungen Frau, in Rückblenden bis in ihre Kindheit und Schulzeit. Von einer jungen Frau, die sich nur in ganz seltenen und kurzen Phasen dieser für uns normalen Welt zugehörig fühlt. Einer jungen Frau, die immer wieder in einen selbstzerstörerischen Wahn verfällt, permanent kippt zwischen Hass, Verzweiflung und den kurzen Momenten der Hoffnung, doch irgendwo ein Stück Glück zu erhaschen. Aber Konstanz, Ruhe, Geborgenheit, Ausgeglichenheit, all das, was den „zufriedenen Menschen» auszumachen scheint, ist bei der fast permanent leidenden und getriebenen Protagonistin gleich „Null“.

Sie wächst auf dem Land auf, ist schon als Kind eine Aussenseiterin, die ihre Umgebung verunsichert und überfordert. Ihre Eltern trennen sich. Ihre Mutter versucht krampfhaft, ihrer Tochter das zu geben, was ihr aus ihrer Sicht zu fehlen scheint. Statt dessen muss die Mutter bis zur Unerträglichkeit zusehen, wie sich ihre Tochter von Katastrophe zu Katastrophe hangelt, Zerstörungen gegen innen und gegen aussen. Seien es Selbstverletzungen, Drogenexzesse, selbst für die junge Frau unkontrollierbare Sexualität, aber auch Zerstörungen an Menschen und Dingen um sie herum – die junge Frau ist weder von aussen noch durch Medikamente zu bändigen, obwohl alles an ihr nach Erlösung und Hilfe schreit. Immer wieder wird sie in Kliniken eingewiesen, mit Medikamenten abgefüllt oder mit Spritzen sediert. Nichts scheint ihr helfen zu können, ausser ihr grosser Traum, dereinst Schauspielerin zu werden, auf der Bühne zu stehen, in eine andere Haut zu schlüpfen.

„Null“ ist weit weg von Erbauungslektüre. Aber auch weit mehr als Betroffenheits- oder Erfahrungsbericht. Was das Buch, den Roman einzigartig macht, ist seine Form, die Sprache, die Unmittelbarkeit, die die junge Autorin nicht durch verschriftlichte Emotionen zu erzeugen versucht, sondern durch den Duktus ihrer Sprache, ihres Ausdrucks. Gine Cornelia Pedersen setzt jeden Satz. Jeder Satz ein Hilferuf ohne Interpunktion. Die Worte, die Sätze brauchen sie nicht. So wie das Leben der Protagonistin auch ein atemloses ist, ein zerstückeltes, im Stakkato eines grellen Lichts, von Blitz zu Blitz. Nach jedem Satz eine neue Zeile, weil dieses Leben nie in jenen Fluss gerät, den es braucht, um Atem zu schöpfen, zu sich zu kommen.
Zugegeben, die Lektüre schmerzt. Keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass sich das Gelesene in die eigenen Träume einschleicht, ist gross. „Null“ ist ein Höllentripp, auf den man sich einlassen muss, der mich vorsichtiger werden lässt, nicht zuletzt im Urteil darüber, wie ich Menschen begegne, denen man den Kampf ansieht.

Gine Cornelia Pedersen ist 1986 in Oslo geboren. Für ihren von der Kritik gefeierten ersten Roman Null erhielt sie 2013 den Tarjei Vesaas Debutantpris. Sie studierte Schauspiel an der Kunsthøgskolen in Oslo und und ist als Schauspielerin und Autorin tätig.

Andreas Donat ist Literaturübersetzer und klassischer Pianist in Berlin. Er wurde 1983 in Wien geboren, studierte Skandinavistik an der Universität Wien und Klavierspiel an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, dem Barratt Dues Musikkinstitut in Oslo und der Universität der Künste in Berlin. Andreas Donat übersetzt aus dem Norwegischen, Schwedischen und Dänischen ins Deutsche.

Beitragsbild © Borg Hakon

«Ein Körper von Erinnerungen», Lesung mit Annina Haab aus ihrem Debüt

Annina Haab las in Gottlieben aus ihrem Debüt «Bei den grossen Vögeln», einer eigentlichen Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und ihrer Grossmutter, von der sie nicht will, dass sie ihre Geschichte, ihre Geschichten mit in den Tod nimmt. Ein Buch über beiderseitiges Loslassen.

Seit 2019 präsentiert die Literaturvermittlerin Judith Zwick unterstützt durch das Kulturamt Konstanz, das Literaturhaus Thurgau, thurgaukultur.ch, die Buchhandlung Homburger und Hepp und den Fonds Neustart Kultur des Deutschen Literaturfonds die Reihe «Debüt. Der erste Roman.» Eine grenzüberschreitende Veranstaltungsreihe, die sich ausdrücklich jenen Autor:innen widmet, denen nicht schon ihr Ruhm vorauseilt.

In ihrem im Frühling erschienenen Roman «Bei den grossen Vögeln» sieht eine junge Frau ihre Grossmutter sterben. Sie will, dass Ali, so heisst sie ihre Grossmutter, weil sie keine Oma und auch keine Grossmutter ist, aus ihrem Leben erzählt. Ali wird sterben. Nur noch nicht jetzt. Sie ist fast 90 Jahre alt und liegt im Krankenhaus – Leberzirrhose. Sie entscheidet sich für das Altersheim. Weil sie es so will. Und der Familie zur Last fallen, das will sie nicht. Aber Ali will nicht erzählen, weil sie sich in ihrem langsamen Sterben viel lieber mit dem Gegenwärtigen beschäftigen will. Und weil sie sich dann doch zum Erzählen drängen lässt, erzählt sie dann eben doch, auch wenn ihr Erzählen manchmal vom Boden abhebt. 

«Was wir erinnern, erinnert an uns.»

Ein Roman, der stark dialogisch gestaltet ist, weder Biographie noch Erinnerungsbuch. «Bei den grossen Vögeln» ist eine Huldigung an das Erzählen. Eine Liebesgeschichte an eine unerschrockene, humorvolle, alte Frau. Eine Frau, die sich immer wieder ihrer scheinbaren Bestimmung verweigerte, wegging, wegfuhr.

Älter werden wir alle, Grossmütter haben wir alle, manchmal nicht lange, manchmal zu lange. Annina Haab erzählt über die Endlichkeit, all die grossen und kleinen Übergänge, die einem erst im Erzählen und damit auch im Lesen bewusst werden. «Bei den grossen Vögeln» ist auch ein Buch, das sich mit institutioneller Alterspflege auseinandersetzt. Kein Abschiedsbuch, aber ein Buch über das Loslassen.

«Zwischen den Balken unterm Dach sprachen wir über das Altern und das Sterben, das Zurückbleiben, während draussen im Novembernebel die Fastnachtsmusik für einen trefflichen Kontrast sorgte. Liebe Judith, lieber Gallus, danke für den schönen Abend und auf ein andermal.» Annina Haab

Rezension von «Bei den grossen Vögeln» auf literaturblatt.ch

Alem Grabovac «Das achte Kind», Hanser

Alem Grabovac ergründet in seinem Debüt „Das achte Kind“ die Geheimnisse seiner Familien. Seiner Familien? Alem wächst als Sohn einer kroatischen Mutter und eines bosnischen Vaters bei einer deutschen Pflegefamilie auf. Zwischen zwei Welten, zwei Familien, eine Kindheit und Jugend lang mit dem Mythos eines unglücklich verstorbenen Vaters.

Alem Grabovac erzählt die Geschichte von Alem Grabovac, nennt dessen Geburtsmoment auf die Minute genau am 2. Januar 1974 um 17.13 Uhr. Damit gibt Alem Grabovac seinem Roman jene dokumentarische Note, die die Diskussion um Fiktion oder Realität vorwegnimmt. Vielleicht ist das auch Alem Grabovac Art an seine Lebensgeschichten heranzugehen, weil Alem Grabovac Journalist ist, den Fakten verbunden. Ob dem Roman diese Nähe gut tut, lässt sich schwer beurteilen. Zumindest ist die Sprache seines Romans eine ebenso dokumentarische, weniger eine literarische. Alem Grabovac zeichnet auf. Da ist in nur ganz wenigen Szenen, dann wenn über dem Dokumentarischen die Emotion heller zu leuchten beginnt, jenes Momentum erkennbar, wo die Sprache über die Szenerie hinauswächst. Aber das tut dem Buch keinen Abbruch. Vielleicht hätte man „Das achte Kind“ nicht als Roman deklarieren müssen. Aber eine blosse Reportage ist das Buch dann doch bei weitem nicht.

Alem Grabovac «Das achte Kind», hanserblau, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26796-1

Was diese Geschichte eines Mannes, der in zwei Familien gross und sozialisiert wurde, in einer kroatisch-bosnischen Familie, die gegen Armut und versteinerte Strukturen zu kämpfen hatte und einer urdeutschen, die hinter der Rechtschaffenheit den Alp einer braunen Gesinnung zu verbergen hatte, ausmacht, sind seine Gegensätze, die Kontraste, die Grund genug hätten sein können, ein Leben scheitern zu lassen. Alems Mutter Smilja heiratet einen Säufer und Kleinkriminellen. Und weil sie das Geld der Familie einbringen muss, ganztags arbeitet und ihrem Mann den kleinen Sohn nicht anvertrauen kann, gibt sie den kleinen Alem in die Pflegefamilie Behrens, als achtes und letztes Kind. Zuerst nur an den Wochentagen und als die Situation zwischen Smilja und ihrem Mann, Alems Vater immer und immer länger mehr eskaliert, dann nur noch in den langen Sommerferien, wo Alem gegen seinen Willen die Tage an der Seite seiner Mutter durchstehen muss. Männliche Gewalt, Saufexsesse, Lügen und permanente Angst prägen Alems Leben mit seiner Mutter. Aber auch das Leben in der Pflegefamilie leidet unter einem Alp, denn Robert, der Vater, der meistens in seiner Kammer sitzt und für Motorradmagazine schreibt, ist alles andere als zurückhaltend, wenn es darum geht, seiner Sympathie für braune Gesinnung und Verehrung für die nationalsozialistische Vergangenheit Luft zu machen. Was Alem als Knabe bewundert, Roberts Liebe für Panzer, Robert vernarbtes Loch an dessen Schulter, Roberts «glorreiche» Vergangenheit als Soldat bei der Wehrmacht wird mehr zu einer übel riechenden Schlangengrube, der sich Alem immer weniger entziehen kann.

Und doch ist „Das achte Kind“ nicht einfach eine Milieugeschichte nach dem Muster „Ein Mann will nach oben“. So wie die Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien nach dem Tod Titos auseinanderbricht, der einstige Vielvölkerstaat, den Tito zum Musterstaat erklärte und in den Jahren 1991 bis 1999 in einen wirren Krieg versinkt, so kämpfen Familien und Ehen an den steinernen Strukturen einer männerdominierten Gesellschaft. Und so wie sich die Gesellschaft in den 80ern und 90ern in Deutschland das Mäntelchen der Rechtschaffenheit und des immerwährenden Fortschritts jeden Abend zufrieden einbürstet, so tief verborgen sitzt die Lüge und die Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Alem wächst in genau diesen Kräften auf, in Kräften, die die einen zerreissen und den anderen alles abfordern, um nicht unterzugehen.

„Das achte Kind“ ist eine offene und direkte Analyse einer Gegenwart, die allzu leicht verborgen bleibt.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz.

 

Beitragsbild © Paula Winkler

Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, #SchweizerBuchpreis 21/8

Wer geht schon ohne Grund auf einen Polizeiposten. Auch der Mann in Thomas Duartes Roman „Was der Fall ist“ nicht, auch wenn er niemanden und auch nicht sich selbst anzeigen will. Aber manchmal werden Polizeiposten auch zu Beichtstühlen – in Ermangelung einer Alternative. Thomas Duartes Roman ist ein kafkaesker Stich in die Tiefen menschlichen Seins.

Eigentlich ist es seine Stadt, sein Sommer, seine Nacht. Aber das was er tut, ist mitten in der Nacht nicht einfach ein Spaziergang, um Klarheit und etwas Abstand in sein Leben zu bringen. Es regnet, er ist nass bis auf die Haut. Scheinbar rein zufällig kommt er an einem Polizeiposten vorbei, von dem er gar nicht wusste, dass es ihn in seiner Stadt gibt. Und weil er klitschnass ist, durstig und ein Gegenüber braucht, geht er durch die beiden Glastüren zum einzigen Polizisten an einem fast leeren Schreibtisch, der Nachtwache im Posten hält. 

Beide brauchen sie ein Gegenüber, der nasse Mann, um Ordnung in ein Leben zu bringen, das aus den Fugen geraten ist und der Polizist, weil ihm eine Aufgabe in einer sonst ereignislosen Nacht gegeben ist. Der nasse Mann ist vertrieben worden. Vertrieben von seinem eigentlichen Zuhause, seiner Aufgabe, seiner Arbeit, von seiner Chefin, von Franz und Mira, der Frau, die längst viel mehr ist als nur die Putzfrau, die einmal wöchentlich bei ihm im Büro sauber macht. Denn er arbeitet nicht nur in seinem Büro. Er lebt dort. Tagsüber an seinem Schreibtisch, seiner Aufgabe, nachts in dem kleinen, fensterlosen Kabuff hinter seinem Schreibtisch, in dem eine schmale Pritsche steht. Er ist Buchhalter und „Exekutivperson“ in einer Stiftung, die finanzielle Unterstützung an Gesuchsteller auf der ganzen Welt gewährt, die in Notlage geraten sind, an Leute, die auf der Flucht sind, gezwungen werden, für einen Hungerlohn Drecksarbeit zu verrichten, für Menschen, die sich für ihr Recht zur Wehr setzen wollen. Er nimmt Gesuche entgegen, bearbeitet sie, nimmt Kontakt mit Gewährsleuten auf und legt die Gesuche seiner Chefin und Franz, dem Inhaber der Stiftung, vor. Franz residiert einige Etagen weiter oben in seinem vermüllten und zugestellten Büro. Auch er lebt mehr als er dort arbeitet und schreibt an seinem „Buch über den Zustand der Welt“. Franz ist der Mann mit dem nötigen Kapital, Geld, das nicht nach den Regeln von Rendite und Investition eingesetzt werden soll.

Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, 2021, 301 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-016-5

Aber nach der ordentlichen Jahresversammlung des Stiftungsrates hat man dem Buchhalter das Vertrauen entzogen, ihn seines Postens, seines Lebens entzogen, aus seiner ganz engen Welt katapultiert, die er immer mehr nach seiner Fasson zurechtgeschrieben hatte, denn so gefärbt die Wahrnehmung eines jeden Gesuchsstellers (inkl.*) ist, so sehr gab er den Gesuchen bei seiner Endformulierung eine Färbung. Und weil Mira, die Putzfrau, immer mehr zu einer Gefährtin wurde, die im Kabuff hinter dem Büro die schmale Bettstatt mit ihm und gegenseitiger Leidenschaft teilte, weil später noch ein weiterer Ayslsuchender dazukam, weil Bilanzen ganz offensichtlich nicht mehr zum Stimmen gebracht werden konnten, endete die sonst zur Routine gewordene Jahresversammlung im Desaster, auch deshalb, weil selbst Reihen von säuberlich aufgereihten Ordnern das Chaos nicht mehr verbergen konnten.

Zwei Männer eine ganze Nacht lang auf einem Polizeiposten. Der eine erzählt, der andere tippt mehr oder weniger sein Protokoll in den Rechner auf dem sonst blanken Tisch. Der Roman switcht vom Erzählen auf dem Polizeiposten und dem Gespräch zwischen dem Buchhalter und Franz, seinem Chef. Sie färben beide ihre Wahrheit, der eine in seinen Berichten, seinen bearbeiteten Gesuchen, der andere in seinem Lebensprojekt, seinem „Buch über den Zustand der Welt“.

Wer bei seinem Lesestoff den Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“ braucht, ist mit diesem Buch schlecht bedient. „Was der Fall ist“ ist auch weder Krimi noch Enthüllungsgeschichte. Thomas Duarte taucht in eine skurrile Welt, die sich wie die Stiftung selbst nicht an geltende Regeln hält. Das ist äusserst erfrischend, aber auch gleichermassen verunsichernd. Aber weil Thomas Duarte sein Erzählen so selbstverständlich und gekonnt präsentiert, weil sich der Humor des Erzählers nicht an Pointen orientiert, sondern in allem Duartes spezieller Sound unterlegt ist, weil „Was der Fall ist“ nicht zuletzt eine gesellschaftliche Kritik an der Unsinnigkeit geltender Regeln ist, wird dieser Roman zu einem echten Leseabenteuer!

Fazit: Man muss schon eine gehörige Portion Mut besitzen, um sich von den gewohnten Lesepfaden entfernen zu wollen, will man die Qualitäten dieses Debüts erkennen. Aber weil ihn der Charta des Preises steht: um …“herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen…“, gebe ich der Perle wenig Chancen, weil die breite „Öffentlichkeit“ solche Bücher gar nicht will.

«… Unaufgeregt und mit feiner Ironie entlarvt Thomas Duartes Text Gemeinplätze und bringt vorgefasste Sichtweisen ins Wanken. Dabei reflektiert er nicht nur das Erzählen und Rezipieren von Geschichten, er porträtiert auch mit frohgemuter Verzweiflung die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft…»
(Zitat aus der Jurybedründung zum Studer/Ganz-Preis 2020)

Thomas Duarte, geboren 1967, aufgewachsen bei Basel. Er studierte Geschichte und Philosophie und arbeitete nach Aufgabe des Studiums zuerst als Tramchauffeur, dann als kaufmännischer Angestellter und Sachbearbeiter. Später Studium der Kulturwissenschaften und der Literaturwissenschaft. «Was der Fall ist» wurde 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet. Thomas Duarte lebt in Bern.

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Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, #SchweizerBuchpreis 21/6

„Grösser als du“ ist mit ‹Geschichten› untertitelt. Aber wie schafft es ein „Geschichten-Buch“ in die Shortlist des Schweizer Buchpreises? Veronika Sutter Buch ist alles andere als harmlos. Weder inhaltlich noch sprachlich. Wie gut, dass es auch in der dritten Reihe leuchtet, blitzt und funkelt! 

Geschichten bekam ich von meiner Mutter vorgelesen, wenn ich krank war. Wahrscheinlich glaubte meine Mutter an deren heilende Wirkung. Selbst ich glaube an die heilende Wirkung von Literatur, auch wenn Veronika Sutters Geschichten so gar nichts gemein haben mit den Geschichten, die immer ein gutes Ende hatten, wenn meine Mutter sich an mein Bett setzte und vorlas. Veronikas Geschichten sind alles andere als Geschichtchen. Und ob sie heilsam waren, zumindest für mich, weiss ich nicht, denn sie lösten einiges aus, nicht zuletzt eine ganze Portion Wut.

„Grosser als du“ sind 16 Erzählungen (Geschichten als Bezeichnung ist zu harmlos!) die alle zwischen den Jahren 1991 und 2019 spielen, zwischen den beiden grossen Frauenstreiks. 1991 nahmen Hunderttausende an jenem Streik teil, der für viele, nicht bloss für Frauen, zu einer Zäsur wurde, war es doch erst 20 Jahre her, seit die Männer in der Schweiz über das Frauenstimmrecht abstimmten und noch immer ein Drittel dieser Männer dafür gewesen wäre, es besser beim Alten zu lassen. 20 Jahre, in denen wohl das Frauenstimmrecht funktionierte, aber von gleichen Rechten keine Rede sein konnte. Dass damals Hunderttausende auf die Strasse gingen, nicht nur in Zürich, machte vielen Mut, nicht zuletzt jenen, die in ihrer eigenen Geschichte noch weit davon entfernt waren, sich auf Augenhöhe mit der Männerwelt zu behaupten. Frausein muss immer noch Selbstbehauptung sein, auch wenn es mittlerweile, ein halbes Jahrhundert später, Männer gibt, die sich von der Wucht der Weiblichkeit überrumpelt und bedroht fühlen.

Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, 2021, 192 Seiten, CHF 22.80, ISBN 978-3-85990-421-7

In Veronika Sutters Buch sind aber nicht 16 lose Erzählungen aneinadergefügt, die alle irgendwie mit den beiden Streiks, mit Frauenschicksalen zu tun haben. Wer zu lesen beginnt, merkt nach und nach, dass die Erzählungen miteinander verknotet sind, dass es Momentaufnahmen im Leben von Gloria, Karo und Helen oder Aldo und Walter sind, die miteinander verwoben sind. Momentaufnahmen, die zeigen, wie weit Frauen und Männer bis in die Gegenwart voneinander entfernt sind, wie tief Verletzungen sind und wie sehr sich Menschen hinter ihrem Schweigen, hinter Fassaden und ihren ungestillten Sehnsüchten verstecken.

Was bleibt, wenn man nach einer Flucht aus einer übergriffigen Beziehungen, in die man fast bewusstlos hineinrutschte? Was passiert, wenn sich perfekte Missverständnisse wie Druckwellen ausbreiten? Wenn sich fremde Welten für einen Augenblick nicht wirklich begegnen, dafür sich umso mehr in diesem einen Moment abstossen? Wenn der Tod so kalt wird wie die Gurkensuppe, in der das Gesicht der Mutter liegt. Wenn sich Syphillis in die Seele frisst. Wenn die Enkelin Gloria am Sterbebett ihrer Grossmutter Annie sitzt und sich abhängen lassen muss von der Urgewalt ihrer Junkiemutter Selma.

Veronika Sutters Bilder, die Szenerien ihrer Geschichte gehen unter die Haut, lösen Emotionen aus, bei mir im ersten Teil des Buches sogar Wut. Männer sind fast ausnahmslos Monster, trunkene Schläger, blinde Grobiane. Ich mache der Autorin keinen Vorwurf. Mein Problem, ich bin ein Mann. Und weil Veronika Sutter in ihrer Brotarbeit wohl immer wieder mit Schicksalen, Frauenschicksalen konfrontiert wird und es unbestreitbar wichtig ist, dass man(n) darüber schreibt, sind Erzählungen wie diese von Veronika Sutter Notwendigkeit, wenn man(n) sich nicht vor Tatsachen und Schicksalen verschliessen will.

Aber auch sprachlich ist Veronika Sutters Buch eine Kostbarkeit, auch wenn sich Helvetismen in den Text eingeschlichen haben, für die mir Erklärungen fehlen. 

Fazit: „Grösser als du“ hat die grosse Bühne verdient. Nicht nur, weil das Buch mit wichtigen Themen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit aufrüttelt, sondern weil das Buch klug konstruiert und die Dramatik des Buches Lesern in die Knochen fährt!

Veronika Sutter, 1958 geboren und im Sihltal aufgewachsen, arbeitete Veronika Sutter als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und Journalistin. Seit dem Studium in Kommunikationsmanagement ist sie in der Öffentlichkeitsarbeit für Non-Profit-Organisationen tätig. Sie engagierte sich im Vorstand der Stiftung Frauenhaus Zürich und bei Greenpeace. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich. «Grösser als du» ist ihr erstes Buch.

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Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag

Livs Leben gerät vollkommen aus dem Tritt. Das alte Leben versucht sie abzustossen, die Gegenwart zerbröselt und in der Zukunft droht das Chaos. Lea Caterina verblüfft in ihrem Debüt durch die Brutalität des Lebens und die feine Spur gekonnten Erzählens. Ein Roman, der bei der Lektüre zuweilen schmerzt, aber ebenso bezaubern kann.

Mit ihrer Vergangenheit verbindet sie nur noch wenig. Jene Olivia, die sie einmal war, ist nicht einmal mehr ein Bild, das sie zulassen möchte. Einzig die Mutter, die sie mehr oder weniger regelmässig in einer Klinik besucht, ist der letzte Rest Vergangenheit, den sie zulässt. Die Versprechen, die sie sich einst gaben: „Niemand wird dich je mehr lieben als ich. Versprich mir, dass du immer daran denken wirst.“ „Ich verspreche es.“ 

Liv hatte Familie. Eine Mutter, einen Vater, einen Bruder. Geblieben ist nur die Mutter. Als ihr Bruder starb, war Olivia vier. Monate später schlägt der Vater den Kofferraum zu und verschwindet aus den Leben seiner Frau und seiner Tochter. Was danach kommt, ist ein verschwörerischer Rest, der sich mit keiner Zelle an das Damals erinnern will. Und trotzdem schaffen es weder die Mutter noch die Tochter, dem Trauma der Vergangenheit zu entfliehen. Selbst Livs Beziehung zu Alex, die alles hätte, um zu dauern, selbst der Blumenladen ihrer Mutter, selbst Livs Wohnung, ihre Arbeit in einer Bar. Alles wackelt, nichts ist auf Fels gebaut. Und als sich Liv an einem Abend zu einem schnellen Abenteuer hinreissen lässt und Alex am Tag darauf den Laufpass gibt, weil sie spürt, dass in ihrem Leben nichts so ist, wie es sein sollte, bricht Liv auf. So wie ihr Leben aufbricht.

„Ich habe Angst, mich zu verlieren.“

Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-907238-08-0

Sie verlässt Alex, sie verlässt ihre Arbeit, sie verlässt die Stadt, in der sie zu leben versuchte, sie verlässt ihre Wohnung, die bloss ein Versuch war. Sie findet Asyl bei ihrer Tante Edie. Ein Zimmer in einem Haus, das einmal einen Hauch Zuhause bedeutete. Und einen Job in der Restaurantküche ihrer Tante. Aber die Gegenwart ihrer Tante ist nicht mehr jene, in der Liv einst ein Stück Daheim spürte. Im Haus wohnt auch Milo, Edies viel jüngerer Freund und Mitarbeiter in der Küche. Liv tut, was man ihr sagt, auch wenn alles am neuen Leben provisorisch ist. Liv weiss es, spürt es. Sie wird von allen Seiten damit konfrontiert, endlich diesen einen, ersten Schritt zu tun. Den Schritt, verstehen zu wollen, was sie wie einen übergrossen, eisernen Haken mit sich herumschleppt. Sich der Angst zu stellen, die Büchse der Pandora zu öffnen, zuzulassen, was an Zorn und Verzweiflung aus der verschlossenen Vergangenheit wirkt und sie nicht freilässt.

Es ist Steph, ein Barman aus ihrer Stadt, in der sie damals wohnte, der die Fragen stellt, die es braucht. Es ist George, ein alter Mann aus Edies Nachbarschaft, den sie schon kannte, als sie als Mädchen bei Edie wohnte, der ihr sein Auto verspricht, wenn sie mit ihm das eine und andere noch erledigt. Und eine ihr unbekannte Frau auf der Geburtstagsparty ihrer Tante, die ihr Sätze an den Kopf wirft, die wie ein Gegengift ihren Körper in Wallung bringen.

„Die blauen Scherben lagen auf dem Boden, als hätte jemand den Himmel zerschmettert.“

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ein starkes Debüt einer vielversprechenden Autorin. Ein Roman, der Zorn und Wut bis zur Selbstzerstörung offenbart. Ein Roman über die Macht dessen, was sich in tiefen Schichten verbirgt, was sich nicht zudecken, nicht löschen lässt. Ein Roman mit bestechenden Sätzen, Sätzen, die bleiben, die sich eingraben.

Interview

Vieles in der Geschichte dieser Familie bleibt skizzenhaft. Eben deshalb, weil vieles verschüttet, zugedeckt, verdrängt wurde. Sie legen den Fokus ihres Erzählens ganz auf Liv, die ihr Leben nur schwer in den Griff bekommt. Ist Verdrängung nicht notwendige Überlebensstrategie?
Bestimmt. Gerade wenn Themen eng verbunden sind mit uns nahestehenden Menschen ist das Verdrängen vielleicht ein notwendiges Übel, um einem Konflikt zu entgehen. Aber etwas zu verdrängen bedeutet ja auch immer, einen Teil von sich selbst zu leugnen. Auch Liv tut sich damit schwer. Im Roman spitzt sich die Lage entsprechend schnell zu.

Der Moment der Dämmerung kann ganz kurz sein. Man kann ihn verpassen. Liv verpasst in ihrem Leben so einiges. Und mit Sicherheit immer wieder den Moment, wo die Selbstzerfleischung, die Selbstzerstörung jene Gesten wegwischen, die ihr eigentlich helfen wollen. Selbstzerstörung ist nicht nur individueller Akt, sondern ein menschliches, ein gesellschaftliches, sogar ein politisches Phänomen. Sie lassen offen, ob sich Liv zu retten weiss. Sind wir zu retten?
Ja, Olivia verpasst vieles, denn ihr Leben ist wahnsinnig voll. Sie hat kaum Ruhe oder Zeit nachzudenken. Sie fürchtet die Stille und sucht den Lärm. Vielleicht lässt sich das tatsächlich ein wenig auf die Gesellschaft übertragen. Ich selbst ertappe mich jedenfalls oft dabei, wie ich dem Lärm verfalle, um die grösseren Fragen zu übertönen.
Selbstzerstörung genau wie Selbstverwirklichung sind definitiv Themen dieses Romans. Für mich geht es in dem Buch daher auch um das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Leben, um das Heraustreten aus dieser destruktiven Opferhaltung, in der auch Olivia zu Beginn festzustecken scheint.

Liv stürzt sich in einem Moment ins Chaos, der auch ihre Rettung hätte sein können. Sie ist mit Alex zusammen, der alles tut, um Ordnung in ihr Leben zu bringen. Sie hat Wohnung und Arbeit. Und sie hat Freunde. Und doch zieht sie die kalkulierte Katastrophe in ihren Bann. Warum ist Leben, das eigene Leben so schwer zu kontrollieren?
Ich weiss es nicht. Geht das überhaupt? Das Leben kontrollieren? Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist dieses vermeintlich «kontrollierte» Leben vielleicht sogar das, was einen auf Dauer den Verstand raubt. Zumindest ist das bei Olivia der Fall. Sie macht alles richtig mit Freund, Job, bemüht sich um das Verhältnis zu ihrer Mutter. Nur fühlt es sich nicht richtig an. Da wären wir wieder bei der Selbstzerstörung, die ihr zunächst unbewusst als einziger Ausweg erscheint. Kontrolle suggeriert ja auch, dass eine starke Kraft im Spiel ist, die eingedämmt werden muss. Oder eingesperrt. Die Frage müsste vielleicht eher lauten: Wieso fällt es uns so schwer, die Kontrolle aufzugeben?

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ihr erster Roman. Sind sie eine Schriftstellerin, die alleine an ihrem Manuskript brütet oder ist ihr Roman das Endergebnis ganz vieler Konfrontationen mit Menschen und Meinungen?
Ich brauche beides. Anfangs arbeite ich allein und zeige meine Projekte niemandem, bis sie genügend Substanz haben, um nicht bei der kleinsten Kritik auseinanderzufallen. Bei «Die Schnelligkeit der Dämmerung» habe ich danach mit einer Schreibgruppe zusammengearbeitet, wo wir uns intensiv über unsere Manuskripte ausgetauscht haben. Das war sehr wertvoll.

Irgend eine Szene, eine Idee muss der Anfang des Romans gewesen sein, der kleine Samen, auf dem der Baum gewachsen ist. Wo lag der Beginn?
Bei Olivia. Ich hatte ein klares Bild von ihr vor Augen und wollte wissen, was sie für ein Leben führt. Wie sie so geworden ist.

Jedem Kapitel geht ein Zitat voraus. Viel mehr als ein Titel oder eine Überschrift, sondern sprachliche Spotlichter. Wie kam es zu der Idee?
Freut mich, dass Ihnen das aufgefallen ist.
Es ist die Stimme der Mutter, die Olivia immer wieder hört. Für mich sind diese Zitate wie akustische Klänge, die einen in den Moment zurückholen. Das ist auch das, was die Mutter mit Olivia immer wieder macht. Sie zurückholen und festhalten.
Aber wie es zu dieser Idee kam, weiss ich nicht mehr.

Lea Catrina ist Autorin und Texterin. Sie hat Multimedia Production in Chur sowie Literarisches Schreiben in Zürich studiert. Zudem ist sie seit 2019 Mitglied des Literaturkollektivs «Jetzt». Catrina ist in Flims aufgewachsen, lebt heute in Zürich und verbringt einen Teil des Jahres in der San Francisco Bay Area.

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Beitragsbild © Oceana Galmarini