Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag

Es gibt eine Eintagsfliegenart aus der Gattung Ephemeroptera, die zwanzig Jahre als Larve im Schlamm verbringen kann, um dann für einen Tag Flügel zu bekommen. Die junge Rita im Buch der Bachmannpreisträgerin Ana Marwan ist weder hier noch dort, verpuppt in Lauerstellung. „Verpuppt“ lässt sich lesen wie ein Zustand dazwischen, zwischen Fiktion und Realität, zwischen Traum und Tag, zwischen hier und dort.

Ich las das Buch zweimal, bevor ich es wagte, nur einen einzigen Satz darüber zu schreiben. Ich las es zweimal, um sicher zu sein und habe bei der erneuten Lektüre kaum an Sicherheit und Gewissheit gewonnen. Es war, als wäre ich stundenlang alleine vor einem riesigen Gemälde gesessen, um es zu ergründen, mit dem Resultat, dass scheinbare Einsichten immer wieder kippen, dass ich durch die ineinander fliessenden Perspektiven nie jene Sicht gewonnen hätte, die Klarheit verschafft. Aber vielleicht habe ich verstanden, dass es Ana Marwan eben nicht darum geht, eine stringente Geschichte zu erzählen. Sie will mich auch nicht unterhalten. Die Lektüre ihres Buches versetzte mich in einen elektrisierten Zustand, als müssten meine Synapsen permanent neue Verbindungen suchen, weil ich dem Roman mit meiner krampfhaft kausalen Sichtweise nicht gerecht werden kann.

Ana Marwan «Verpuppt», Otto Müller Verlag, aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof, 220 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7013-1302-0

Rita ist jung. Ritas Zustand ist jener der Larve im Sumpf. Verpuppt sieht sie ihre Welt nicht mit den Augen der Objektivität, sondern nach innen gerichtet – subjektiv. Ganz offensichtlich ist sie für unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Einrichtung, regelmässig zu Gesprächen herbeigeholt, von TherapeutInnen ermunterst zu erzählen, aufzuschreiben, jene inneren Bilder in Worte zu fassen, nicht in erster Linie, um sie zu begreifen oder zu verstehen, mehr in der Hoffnung, auf Ordnungen zu stossen. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klinik, aber von einem «Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt», in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einem Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer, wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet. Ein Leben, das für mich als Leser ziemlich verwirrend erscheint. Rita ist gefangen in einem Zustand dazwischen. Ana Marwans Roman spielt mit den „Unwahrnehmungen“ dieses Dazwischens. Rita ist eine junge Frau, der die Realität abhanden gekommen ist, ohne dass das ein Verlust geworden wäre. Ana Marwan nimmt mich mit in den Irrgarten, das Labyrinth einer jungen Frau, die sich in den Zwischenräumen verloren hat.

Ana Marwans Roman erzählt von Ängsten, der „Angst, die menschliche Sprache zu vergessen“. Rita schafft sich in ihrem selbst erschaffenen Kosmos die Welt in ihrer Einsamkeit, eine Insel in ihren Ängsten. Vielleicht erzählt der Roman auch von den Ängsten der Autorin selbst. Aber alle Versuche einer Interpretation bleiben hängen, weil es der Autorin zu allerletzt darum geht, eine „ordentliche“ Geschichte zu erzählen.

Wie bei kaum einem anderen Roman macht es Spass, in der Rezeption darüber zu lesen, den mehr oder minder hilflosen Versuchen, den Roman verstehen zu wollen. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es nicht so sehr um das Geschriebene selbst geht, sondern um dessen Wirkung. Ana Marwans Roman ist ein kunstvolles Verwirrspiel, als hätte sie ihn im Rausch geschrieben, im Wörterrausch. Der Roman ist gespickt mit bühnenhaften Szenerien, voller Sätze, die sich einbrennen, Wendungen, die mich als Leser vom Boden der Gewissheiten wegreissen.

Man muss für ein Abenteuer bereit sein und wird belohnt mit etwas Einzigartigen.

Das Original „Zabubljena“ (Ljubljana: 2021, Beletrina) wurde mit dem Kritiško sito 2022 als bestes Buch des Jahres 2021 in Slowenien ausgezeichnet.

Ana Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaftin Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin in Wien und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exilliteraturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem Kritiško sito 2022 für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2021 und dem Ingeborg- Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Im Oktober 2022 ist der TDDL-Siegertext „Wechselkröte“ als zweisprachige Ausgabe (D/SLO) im Otto Müller Verlag erschienen.

Klaus Detlef Olof, geb. 1939 in Lübeck; Slawist und Übersetzer (Studium in Hamburg und Sarajewo); seit 1973 Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt; Arbeitsschwerpunkt: südslawische Literaturen; zahlreiche Übersetzungen aus dem Slowenischen, Kroatischen, Bosnischen und Serbischen.

Rezension von «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Dörte Hansen «Zur See», Penguin

Eine Insel in der Nordsee. Es sind nicht mehr die Gezeiten, nach denen sich das Leben auf dieser Insel richtet, sondern nach den Touristenströmen, die sich mit den Fähren auf die Insel ergiessen. Man fischt nur noch für die Gäste, Gastrozulieferer bringen vorgefertigte Kost, in den Läden verkauft man Souvenirs und jedes Zimmer, das vermietet werden kann, bedeutet Kasse.

Wie sehr wir uns vom Idyll gezogen fühlen, beweist die Tatsache, dass von der vorübergehenden Flugscham wenig bis gar nichts geblieben ist. Ob Alpenidyll, Lagunenidyll, ob Dschungelidyll, Safariidylll oder Inselidyll – nur für jene Idyllen, die mit fettem Portmonee und sicherem Rückreisedatum jenen Mythen huldigen, die von Hochglanzbildern, InfluenzerInnen und Werbestrategien dem gestressten Zeitgenossen jenen Teil des Lebens durch die Nase ziehen wollen, der sich beinahe paradiesisch anfühlen soll.
Zugegeben, dieser Sehnsucht nach einem solchen Idyll bin auch ich schon unzählige Male erlegen, ob nun ganz weit oben in den Kärntner Bergen mit Sicht nach Slowenien mir Aussicht auf bewaldete Täler, schroffe Berge und einen immensen Himmel oder in einem Landhaus im Burgund unter dem Dach eines Freundes.

Von einem solchen Idyll erzählt Dörte Hansen, die sich mit „Zur See“, ihrem dritten Roman, fulminant im Literaturzirkus zurückmeldet. Nach „Altes Land“ und „Mittagsstunde“, die beide preisgekrönt viel Resonanz erfuhren, schrieb Dörte Hansen mit „Zur See“ einen Roman, der in nichts, seinen Vorgängern nachsteht, ganz im Gegenteil.

Dörte Hansen «Zur See», Penguin, 2022, 256 Seiten, CHF 34.90, ISBN -3-328-60222-4

Vordergründig erzählt die Autorin die Geschichte der Familie Sander, die seit Generationen auf der kleinen Nordseeinsel lebt. Einer Insel, die sich über Jahrhunderte vom Fisch- und Walfang ernährte, einer Insel, von der ihre BewohnerInnen nur in den seltensten Fällen ungezwungen den Weg zum Festland wählten.
Im Haus von Hanne Sander ist es ruhig geworden. Obwohl ihr Mann und ihre drei erwachsenen Kinder alle auf der Insel geblieben sind, treffen sich ihre Wege nur noch dann, wenn es nicht zu vermeiden ist. Jens, der Vater, hat sich nicht nur von der Seefahrt verabschiedet, sondern gleich auch von seiner Familie. Er hockt viel lieber in den Dünen, beobachtet Vögel oder stopft welche aus. Ryckmer Sander, der Älteste, einst Kapitän auf einem Frachter, dem Alkohol verfallen, mogelt sich durch ein Leben, das alles zur Fassade macht. Eske, die Tochter, arbeitet als Altenpflegerin auf der Insel, sieht, was bleibt, wenn aus ehemaligen Nachbarn Geister werden, dröhnt sich ihre Wut mit lauter Musik weg und macht ihre Haut mit Tätowierungen zur Kampfansage. Zufrieden mit sich selbst scheint einzig des Jüngste, Henrik, der aus Strandgut Dinge zusammenbaut, die andere als Kunst kaufen, der genügsam in seiner Hütte lebt, den Dingen mehr verbunden als allem, was lebendig ist.

Als auf der Insel der Tourismus begann, änderte sich alles. Auch im Haus von Hanne. So still es in den Wintermonaten war, ausser es lärmten Stürme, so hektisch wurde es in den warmen Monaten, wenn die Kinder ihre Zimmer für Gäste räumen mussten, wenn sich alles, jeder Gegenstand im Haus, in den Dienst der Gäste zu stellen hatte, wenn Hanne etwas bekam, was sie von niemandem sonst bekam. Aber nicht nur im Haus der Sanders drehte der Wind. Auch überall sonst; in den Gasthäusern, den Läden, der Schifffahrt, am Strand, ja selbst in der Kirche. Alles bettelte um die Aufmerksamkeit der zahlenden Gäste. Es war unendlich viel einfacher, als täglich zur See zu fahren, um dem Meer den einen oder andern guten Fang abzutrotzen, immer mit dem Risiko, Leben draussen zu lassen.

Hintergründig erzählt Dörte Hansen die Gegenwart der Insel, eines Touristenorts. Von den Menschen, die geblieben sind, an einem Ort, an dem nichts so geblieben ist, wie es einmal war und alles nur noch Geschichte erzählt. Hannes Haus ist zu einem Museum geworden, Ryckmer, ihr Ältester zur Karikatur eines Seefahrers. Eine Insel, die sich verkauft hat, nicht zuletzt weil sich viele Inselbewohner selbst das Leben auf der von aggressiver Imobilienpekulation heimgesuchten Idylle nicht mehr leisten können. Sie arbeiten noch auf der Insel, leben aber auf dem Festland.

Bis eines Tages ein ausgewachsener Pottwal am Ufer der Insel strandet. Ein riesiges Tier, das vor den Augen der Inselleute verendet, das man auf den Parkplatz zieht und von Menschen zerlegt wird, die nicht von der einstigen Fisch- und Walfängerinsel kommen. Ein Tier aus den Tiefen der See, das zu stinken beginnt. Hanne versuch mit aller Kraft, in Besitz des Skeletts zu kommen, als Attraktion für ihr Museum.

Was für Touristen wie Idylle aussieht, ist wie ein toter Wal am Strand, stilles Spektakel. Dörte Hansen beschreibt den langsamen Kippvorgang, jenen in der Familie Sander, jenen auf der Insel selbst. Jenes Kippen, das keinen Touristen interessiert. Er will bespasst werden. Dörte Hansen erzählt vielschichtig, feinmaschig und äusserst emphatisch. Man kann vom Roman exzellent unterhalten werden. Aber „Zur See“ ist auch ein Statement, ein überaus kraftvolles und überzeugendes!

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt «Altes Land» wurde 2015 zum «Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels» und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman «Mittagsstunde» erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland lebt, war Mainzer Stadtschreiberin 2022.

Beitragsbild © Sven Jaax

Kristin Valla «Das Haus über dem Fjord», mare

Elin ist Journalistin in Oslo und kehrt in ihr Heimatdorf an der norwegischen Küste zurück. Ihre Mutter ist gestorben, das Elternhaus leer und Elin hat kein Interesse, jenes Haus wieder zu ihrem Zuhause zu machen. Während sie Ordnung in die Geschichte ihrer Familie zu bringen versucht, offenbaren sich Geheimnisse, die ein Leben dahinter öffnen.

Elins Kindheit war keine einfache. Sie endete abrupt, wie aus heiterem Himmel, an einem Sonntag, an dem man die Verwandtschaft besuchen wollte. Elin hätte mit ihren Eltern und den beiden Brüdern fahren sollen. Aber weil es mit der Zehnjährigen wie immer Probleme gab, sie nicht wollte, wie es die Mutter wollte, fuhren Vater und die Brüder alleine – und kamen nie zurück.

Bauarbeiten wegen einer Umfahrungsstrasse und ungünstiger Untergrund verursachten an jenem Sonntag einen gewaltigen Erdrutsch an Norwegens Küste, liessen scheinbar festen Untergrund zu einem zähen Brei werden und riss alles mit und weg, was der Zufall nicht zu retten wusste. Elins Brüder fand man tot und ihr Vater wurde irgendwann für tot erklärt, obwohl man seine Leiche nie finden konnte.

Kirstin Valle «Das Haus über dem Fjord», mare, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, 2022, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-86648-649-2

Mehr als zwei Jahrzehnte später ist Elin wieder da. Das Trauma der Zehnjährigen ist in den Tiefen ihrer Vergangenheit versenkt. So wie sich die Mutter in den Jahren vor ihrem Tod mit Nippes zudeckte, jeden Zentimeter im Haus mit leerem Zeug belegte, so legte sich Schicht um Schicht über die Trauer, die Angst, die Ungewissheit und eine Ordnung, die geholfen hätte.
Jetzt will sie Ordnung, ein letztes Mal sauber machen, das Haus verkaufen, abschliessen, was vom alten Leben übrig ist. Beim Aufräumen findet sie auch den letzten Terminkalender ihres Vaters. Sie blättert und stellt mit Befremden fest, dass alle Einträge ihres umtriebigen Vaters mit dem Tag seines Verschwindens enden. Die Seiten nach jenem Sonntag vor 22 Jahren blieben leer. Wie kann jemand, der bei einer Naturkatastrophe ums Leben kommt, wissen, dass es danach nichts mehr zu tun und zu erinnern gibt? Elin stutzt. Elin erfährt auch von Konten auf der Bank, die wohl grosse Beträge auswiesen, aber Elin im Unklaren lassen, wofür das Geld verwendet wurde oder liegen blieb. Elin stutzt immer mehr.

Während Elin nicht nur im Haus ihrer Eltern Ordnung zu machen versucht, schläft sie nicht im Haus, das sie verkaufen will. So kommt sie unweigerlich auch mit jenen Leuten in Kontakt, die geblieben waren. Auch mit Ole, dem Freund ihrer Brüder, zu dem sie sich schon in ihrer Jugend hingezogen fühlte, der im kleinen Ort geblieben war und sich als Schriftsteller versucht. So sehr Elin spürt, dass Gewissheiten zu bröckeln beginnen, so sehr spürt sie auch, dass die Menschen von damals mehr mit sich herumtragen, als sie über die Jahre preisgaben.

Kristin Valla hat einen Roman geschrieben, der einem bewusst macht, wie unbedacht wir mit scheinbaren Gewissheiten umgehen. Wie leicht wir uns in falscher Sicherheit wiegen, wie schnell fest geglaubter Untergrund wegrutschen und alles mitreissen kann. Die Autorin beschreibt die Reise einer jungen Frau, die nicht nur von ihrer journalistischen Neugier getrieben wird, sondern von einem alles durchdringenden Wunsch, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Eine Ordnung, die eine echte Zukunft erst möglich werden lässt. Elin geht auf eine Reise, eine Reise bis nach Frankreich, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu einer Familie, die sie verloren und verschollen glaubte, die man ihr weggenommen hatte. 

„Das Haus über dem Fjord“ erzählt von den Geheimnissen einer Familie, vom Versteckspiel, das einem eine Gesellschaft der Angst und Vorurteile aufzwingt. Was sich spannend wie ein Krimi liest. Ein Roman über den Versuch, mehr als ein Leben zurückzugewinnen. Ein Roman über eine Gesellschaft, die sich verschliesst, über versteckte Leben und verlorene Existenzen. Ein Roman darüber, was die Einsicht bewirkt, feststellen zu müssen, dass einem die Nächsten am weitesten entfernt sind.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u.a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Ihr Romandebüt «Muskat» erschien im Jahr 2000 und wurde in sieben Sprachen übersetzt. «Das Haus über dem Fjord» ist ihr dritter Roman.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie und promovierte über das Irenbild der Deutschen. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen Máirtín Ó Cadhain, Eilís Ní Dhuibhne und Eimar O’Duffy. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Birgit Solhaug

Frank Keil-Behrens „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ – ein erster Auszug, Plattform Gegenzauber

„Tut mir leid“, sagt meine Großmutter, „Sie haben sich verwählt.“ „Wen wollen Sie denn sprechen?“, fragt sie beim nächsten Mal. Ich höre sie atmen, dann klickt es in der Leitung. 
„Frank?“, fragt sie, bevor ich etwas sagen kann. Sie fragt: „Du hast noch das Auto?“

Wir vereinbaren den Tag, die Uhrzeit, mehr besprechen wir nicht, so ist es immer, sie ist wie sie ist. Sie steht unten auf dem Parkplatz vor ihrem Wohnblock, sie steht da in ihrem blauen Mantel, mit ihrem Gehstock, auf den sie sich mit beiden Händen stützt. Ich halte an, ich steige aus, ich helfe ihr beim Einsteigen und Anschnallen, ich rieche ihr Parfüm, leicht seifig riecht es, wir lächeln uns an, ich steige wieder ein, starte den Wagen, einen roten VW-Käfer, den ich bald verschrotten lassen muss, wir fahren los. 
Es geht in den Sonnenland, am Einkaufszentrum vorbei, ich biege rechts in die Kapellenstraße ein, ich folge der Straße zum Friedhof vorbei, auf dem meine jüngere Schwester beerdigt liegt. „Petra“ steht auf ihrem Grabstein, es fehlt ihr Nachname, es fehlt der Tag, an dem sie geboren wurde, es fehlt der Tag, an dem sie starb, ein erster September, der nachmittags noch herbstmild wurde, nachdem es am Vormittag geregnet hatte, so wie um uns doch noch ein wenig zu trösten, nachdem der Bestatter seinen in Kunstleder eingeschlagenen Katalog mit den verschiedenen Sargmodellen, Blumenbestecken und Totenhemden zugeklappt hatte und gegangen war. Meine Großmutter hält ihre Handtasche auf dem Schoß, und sie hält sie fest, sie schaut geradeaus.

„Fahr‘ erst mal“, sagt meine Großmutter, sie blickt durch die Windschutzscheibe, als sei alles neu für sie, was sie um sich herum sieht, die Bäume am Straßenrand, die Steinbeker Kirche, die hinter den Häusern hervorlugt und die auf einem Geesthang erbaut wurde, wie ich mal im Gemeindebrief gelesen habe, während ich die Gänge schalte und ich mich langsam entspanne. Vielleicht schaffe ich es nachher noch ins Büro.
Mal geht es in die Vier- und Marschlande, wo sie Balkonpflanzen kaufen will, falls wir an einer Gärtnerei vorbeikommen. Mal führt es ins Lauenburgische, wo es bald waldig wird und es nach nassen Nüssen und Moos riecht. Diesmal aber geht es zur Tatenberger Schleuse. Wir schauen auf die Bauernhäuser mit den Gewächshäusern, wir schauen auf das Schleusenbecken, wo gerade Wasser eingelassen wird, dass strudelnd vorwärts drängt. Ein Segelboot mit eingeklapptem Mast wartet auf die Weiterfahrt. Ein Mann steht auf dem Vorderdeck und hält die Leine konstant stramm, mit der das Boot an einem eisernen Ring festgebunden ist. Wir kehren um, wir halten an den Gasthof, an dem wir zuvor vorbeigefahren sind, beide werden wir Gulasch bestellen, dass auf der Schiefertafel vor dem Eingang angezeigt ist, dazu Kartoffelsuppe als Tagessuppe vorweg. „Viel los ist ja hier nicht“, flüstert meine Großmutter und nickt in den leeren Gastraum, in dem bestimmt 50 Personen Platz finden könnten, am Wochenende, wenn die Motorradfahrer einfallen. Aus der Küche kommt leise Musik, manchmal hören wir Stimmen. Der Wirt scheint ein Lied zu summen, doch als er schwungvoll den Gastraum betritt, verstummt er und stellt uns wortlos die Teller hin, erst meiner Großmutter, dann mir, wie es sich gehört. „Lass es dir schmecken“, sagt meine Großmutter, die ihren Hut nicht abgesetzt hat. Sie sieht mich aufmunternd aus ihren mittlerweile wassertrüben Augen an. Sie legt sich die Serviette in den Schoß, faltet sie nicht auseinander.

Sollen wir noch ein paar Schritte gehen? Wir gehen noch ein paar Schritte. Gehen kurz über den Gaststättenparkplatz bis zur Hauptstraße, langsam gehen wir, Schritt für Schritt, meine Großmutter ist jetzt 81 Jahre alt, 1910 geboren, sie erwähnt es manchmal. Sie hakt sich bei mir unter. „Das war ein schöner Ausflug“, sagt sie und ich weiß, dass wir nun umkehren werden. Und wir steigen wieder ein, und ich fahre auf die Stadt zu, die sich langsam vor uns aufbaut, in weiter Ferne die Hauptkirchen, der Fernsehturm, dann die Lagerhallen im Billwerder Industriegebiet, die näherkommen, als wir ostwärts abbiegen, als wir den Unteren Landweg entlang fahren, verschiedene Kanäle überqueren, die Grüne Brücke nehmen, Richtung Billstedt fahren wir, es ist dichter Verkehr, der Nachmittag bricht an, nicht jede Ampel ist nach einem Stopp zu nehmen. „Viel Verkehr“, sagt meine Großmutter zu dem vielen Verkehr und ich versuche mich zu erinnern, ob ich eigentlich gerne bei ihr war, an manchen Wochenende, wenn in der Tischlerei am Deich, in dessen Werkswohnung sie mit ihrem Mann wohnte, niemand arbeitete und auch sonst.

Frank Keil-Behrens, 1958 in Hamburg geboren und aufgewachsen, hat an der dortigen Universität studiert, hat die Stadt nie wirklich verlassen. Er arbeitet als freier Kulturjournalist für verschiedene Print-Medien und Magazine. Er ist Mitbetreiber der Plattform maennerwege.de und stellt dort regelmäßig das „Männerbuch der Woche“ vor; außerdem ist er Deutschland-Redaktor für das Magazin ERNST. Für sein Roman-Projekt „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ bekam er einen der Hamburger Literaturpreise 2022.

Webseite des Autors

Beitragbild © Petra Behrens

„Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst.“ Artur Klinaŭ erzählte im Literaturhaus Thurgau

Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.

Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.

Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.

Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.

Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.

Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.

Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.

Rezension von „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ auf thurgaukultur.ch

Interview zwischen Artur Klinaŭ und Lukas Bärfuss auf literaturblatt.ch 

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste», Rowohlt

Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.

Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.

Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess.
Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8

Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.

Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?

Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!

Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.

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Illustration © leafrei.com

 

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl

Aus der Irischen Proklamation von 1916: „… Die Republik garantiert allen ihren Bürgern religiöse und bürgerliche Freiheit, gleiche Rechte und gleiche Chancen und erklärt ihre Entschlossenheit, nach Glück und Wohlstand der ganzen Nation und aller ihrer Teile zu streben, indem sie alle Kinder der Nation gleichermassen wertschätzt.“ Ob 1916 oder 1984 – i wo!

Ein kleiner Ort in Irland. Winter, Weihnachten 1984. Furlong, Eileen und ihre fünf Mädchen machen sich an die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest. Furlong spürt Unruhe in sich. Diese Unruhe wird zu einem Beben, als er bei einer Kohlelieferung zum nahen Nonnenkloster ein verschrecktes Mädchen, eingesperrt im klösterlichen Kohlekeller, findet. Und schlussendlich nimmt er ein Mädchen ohne Schuhe, in Lumpen gekleidet, mit Haaren, als wären sie blind geschnitten worden mit nach Hause, in die Wärme seiner Familie. Eine Weihnachtsgeschichte?

Ein kleiner Ort in Irland. Ganze Schwärme von Raben machen sich über alles Fressbare in dem kleinen Dorf her, besetzen Dachgiebel, machen aus kahlen Bäumen schwarze, krächzende Gebilde. Furlong sieht eines Tages bei einem seiner Spaziergänge durch sein Dorf, das seine Welt ist, eine Katze über dem Kadaver eines Raben. Dreht sich die Welt? Werden die schwarzen Schwärme, die den Ort in den Weihnachtsvorbereitungen regelrecht heimsuchen, mit einem Mal zum „Opfer“? Eine Umkehrung? Doch nicht eine Weihnachtsgeschichte?

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl, übersetzt von Hans-Christian Oeser, 112 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-96999-065-0

Ein kleiner Ort in Irland. Nicht weit vom Ort steht seit Urzeiten ein Nonnenkloster mit Wäscherei. Alle im Ort, die es sich leisten können, bringen ihre Wäsche ins Kloster, denn zum Kloster gehört ein Magdalenenheim, wie es damals viele in Irland gab und das letzte erst Jahre nach den Geschehnissen dieser Geschichte schliessen würde. Ein Heim für „gefallene“ Mädchen. Mädchen, denen man sich in der konservativen, katholischen Gesellschaft entledigen (was für ein Wort!) wollte. Was von aussen aussehen sollte, als wäre es Zeichen christlicher Mildtätigkeit, institutionalisierter Fürsorge, war in Wirklichkeit ein perfides System grausamer Peinigung, Zwangsarbeit und Humanentsorgung. Zehntausende junge Frauen wurden bis zur totalen Erschöpfung in konzentrationslagerähnlichen Zuständen wie Tiere gehalten und zur Arbeit gezwungen. Und die Kinder dieser Mädchen wurden zu Hunderten hinter den hohen Mauern dieser Klöster in Massengräbern verscharrt. Alles unter dem Schutzmantel der Kirche, erst in der Gegenwart in seiner fatalen Tragweite realisiert, immer noch ein irisches Trauma. In einem Land, das in seinen Traumata wohl noch lange nicht zur Ruhe kommen wird.

Claire Keegan erzählt genau dort, an der Schnittstelle dieser Geschehnisse. Sie erzählt die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater nie kennenlernte, dessen Mutter, in ihrer Schwangerschaft allein gelassen, das Glück hatte, eine wohlgesinnte Arbeitgeberin zu haben, ihre Stelle als Haushälterin nicht verlor und den kleinen Furlong im Haus ihrer Arbeitgeberin aufziehen konnte. Furlong, zeitlebens Aussenseiter, findet Eileen, geniesst sein kleines Glück als Vater von fünf gesunden Töchtern. Die einen gehen sogar in die Musikschule des nahen Nonnenklosters! Aber Furlong weiss und spürt, wie brüchig dieses Glück ist. Und jetzt, in den Vorbereitungen zu Weihnachten, die Töchter schreiben Briefe an Santa Claus und man backt Kuchen, ahnt Furlong, dass hinter den Klostermauern nicht die Liebe regiert und es Leben gibt, die vom Glück verlassen sind. Selbst Eileen und er reagieren ganz unterschiedlich auf die Bedrohungen des Glücks. Bis Furlong die Zeichen nicht mehr leugnen kann und er sich gezwungen sieht, ein Zeichen zu setzen. Bis er eines der blossfüssigen Mädchen an der Hand nimmt und es in seinen Mantel gehüllt durch sein Dorf nach Hause zieht, während man auf den Strassen raunt oder die Strassenseite wechselt.

Claire Keegan stellt sich einem Trauma ihres Landes. Vordergründig erzählt sie eine zärtliche Geschichte von einem feinsinnigen Mann, der nicht mehr wegschauen kann. Hintergründig erzählt sie von diesen schwarzen Gestalten, die in Schwärmen ihren unbegrenzten Hunger stillen, die sich hinter Mauern verstecken und sich über Jahrhunderte in Mechanismen hineinmanövrierten, aus die sie nur die Umkehrung zwingen kann.

Claire Keegan erzählt so feinsinnig und zart, wie Furlong seiner Welt begegnet. Seine Art Licht ins Dunkel zu bringen, ist seinem Wesen geschuldet. Er tut es in Liebe. Claire Keegan hätte die alten Mauern des Schweigens auch mit Knall und Rauch niederreissen können, effektheischend und mit aller Macht anklagend. Tat sie aber nicht, weil die Autorin weiss, dass die Wirkung mit ihrer Art des Erzählens viel subtiler ist.

Es dauerte bis 2013, bis sich die Irische Regierung öffentlich entschuldigte!

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände
«Wo das Wasser am tiefsten ist» und «Durch die blauen Felder» (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2022) erschienen. Ihre Erzählung «Kleine Dinge wie diese» (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod

Bert Strebe «Von dir, von mir», Lyrik zur Ausstellung mit der Keramikerin Ursula Bollack im Literaturhaus Thurgau

Für dich

 

du bist den ganzen weiten weg gekommen
mit deinen seidigen wörtern und der erde an den sohlen
und mit der eisenbewehrten scherbe
die du in deiner linken herzkammer verwahrst

ich habe ein kissen gefüllt mit gras und blüten
und die schafwolldecke liegt bereit

der wind zerrt an der stadt doch das muss uns nicht kümmern
lass dein fieber einfach auf dem esstisch liegen

ich wärme deine füße du trägst meinen ring

***

 

Für jeden einzelnen Tag

 

es gab keinen anfang und es gibt kein ende

du hast mich angeschaut und meine hand berührt 
ich habe wasser geholt für dich
wir haben geatmet 
wie am tag zuvor

und es war wie zuvor bloß eine winzigkeit leichter
und seitdem ist das so an jedem einzelnen tag

du gehst deinen weg und ich gehe meinen
und keiner von uns geht vom anderen fort

***

 

Für unsere Eltern

 

zwischen den müttern liegen fast fünfzehn jahre
zwischen den vätern zwei tagesreisen

sie haben unsere knochen gefügt und uns die augen gefärbt

sie haben uns unser alleinsein zugeteilt

und alles was das alleinsein heilt

jeden morgen noch vor der dämmerung
beugen sie sich über uns

dann gehen sie und trösten den traurigen tod
dass er sanft wird und schwebend wie schnee

***

 

Für unsere Kinder

 

wir haben federn unter ihre herzen gelegt
und ihnen felsen an die füße gebunden

wir haben ihre adern einzeln ausgewaschen
und jede träne für sie vorgeweint

wir wollten sie nicht beschweren

aber wir haben es getan und sie sind gewachsen

sie haben in unserem atem geschlafen 
so lange bis es ihr eigener war

wenn sie die augen schließen sind wir da

***

Für Scott

 

er hat sich nach den ersten drei nächten 
sein ganzes weh aus dem fell geschüttelt 
und hat es unter dem fußboden vergraben

von da an hat er mein weh getragen 
und ein stück von deinem

und als ich nicht bei mir war war er bei mir
und als du nicht bei dir warst war er in deinen träumen

wäre er nicht da wäre ich nicht mehr da
und du wärst hinter den rippen wund

***

 

Für die Engel und die Frierenden

 

dies ist für die die millionenmal zuhören mussten
für die die von ferne gedichte geschickt haben
für die die balsam in den nachtwind gemischt 
und rote streifen an die wolken geklebt haben
dies ist für die engel

und die die schwiegen und ihre kalten arme verschränkten
die bekommen ein lächeln

dies ist für die die da waren wo ich nicht war

dies ist für die die da waren wo du nicht warst

***

 

Für den Bussard, der am Morgen des 25. Juli 2015 auf der umgestürzten Eiche im Warper Wald sass und sitzen blieb

 

ich hätte ihn beinahe berühren können

aus seinen augen rieselte ruhe 
auf blatt und halm und borke und mich

einmal hob er die gelbe kralle 
da muss er die angst erwischt haben

dann zog er sich plötzlich luft unter die schwingen
und die federn vibrierten und der wald fiel in schweigen

doch er faltete die flügel und legte sie zurück
und sagte deinen namen und sagte dass er bei mir bleibt

***

 

Für mich

 

dass ich immer blumen auf den tisch stelle 
dass ich eine kerze anzünde zum essen
dass ich das kreuz mit dem brotmesser schlage
dass ich das licht durch den tag wandern sehe
dass ich das leben achte 
auch meins
das habe ich von dir gelernt

und dass ich nicht mehr traurig bin
von mir

***

 

Für uns

 

komm wir gehen ein stück und schweigen

dann gehen wir noch ein stück und schweigen wieder

dann reden wir dann biete ich dir meinen arm 
und etwas später stehen wir 
und halten uns

dann ziehen die wolken und von diesem moment an
wohnt die sonne in dir in mir

jetzt können wir schlafen und wieder wach werden
und tanzen und zu hause sein

***

Bert Strebe, geboren 1958 in Hunteburg, zu Hause in Hannover. Jahrzehntelang Redakteur, vor allem bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Erster Gedichtband 1999 bei Eric van der Wal, seitdem literarische Veröffentlichungen in unregelmässigen Abständen. Aufsätze, Reportagen, Porträts für die Zeitung.

Webseite Bert Strebe

Ursula Bollack-Wüthrich (1967) arbeitet als Keramikerin und Lehrerin. Sie hat sich auf Raku-Keramik spezialisiert, eine alte japanische Technik. Zahlreiche Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland.

Webseite Ursula Bollack

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus – Solothurner Literaturpreis für das Gesamtwerk

Manchmal erscheinen im Meer der Neuerscheinungen Bücher, die wie Leuchttürme aus der schieren Unendlichkeit der grossen und kleinen Wellen ihre Strahlen bis in den Horizont werfen. «Partita» ist ein solcher Leuchtturm. Ein Schatz mit 77 Funkelsteinen, die mich rauschig machen!

1975 veröffentlichte Gertrud Leutenegger mit „Vorabend“ ihren ersten Roman – bei Suhrkamp. Eine beeindruckende Steilvorlage! Drei Jahre später gewann sie, nachdem sie bei Suhrkamp auch ihren zweiten Roman „Ninive“ herausgebracht hatte, dreissig Jahre alt, am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen den Preis der Klagenfurter Jury. Seither veröffentlichte die Dichterin Gedichte, Romane und dramatische Poems stets im Suhrkamp Verlag – und nun mit „Partita“ ihre zweite Veröffentlichung bei Nimbus. Eine überaus erstaunliche und beeindruckende schriftstellerische Karriere, die sie schon lange zu einer der ganz Grossen der deutschsprachigen Literatur macht. Aber da sich der Zeitgeist wenig um Qualität kümmert und schon gar nicht um die grossen Leistungen eines ganzen Lebens, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich das Scheinwerferlicht allzu schnell von den dicken Stämmen im Literaturwald abwendet. (Lieber die bunten Büsche mit knallig leuchtenden Beeren und Blüten!)

«Meine Stimme nicht als ein Teil, sondern als eine Grenze der Welten.»

Aber schon der Umstand, dass auf der Nimbus Verlagswebseite zwei Rezensenten der Extraklasse aufgezählt werden, lässt erahnen, dass dieses scheinbar unspektakuläre Bändchen einen ganz besonderen Schatz birgt. Dass Charles Linsmayer und Michael Krüger sich vor dem Buch der Altmeisterin verneigen, beeindruckt mich so sehr, dass es mich zweifeln lässt, ob ich überhaupt noch etwas Relevantes zu diesem Kleinod beitragen kann.

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus, 2022, 92 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03850-089-6

„Partita“ ist ein Begriff aus der Musik und beschreibt einen Teil einer Tanzfolge oder einer Variationsreihe. Genau das tut Gertrud Leutenegger; sie tanzt in ganz verschiedenen Schrittfolgen durch die Welt ihres Tuns, durch das Schreiben, das Erschaffen, ihre Kreativität. Und ihr Tanz ist derart leicht, anmutig und graziös, dass die Lektüre einem demütig macht. „Partita“ sind 77 Notate, manchmal nur ein einziger Satz, ein andermal eine Betrachtung, sprachliche Meditationen, Schritte, Tanzschritte, Tanzfolgen nach Innen. Die 77 Sprachperlen entstanden wohl nicht, um sie irgendwann zu publizieren. Es waren, wie die Autorin in einem kurzen Nachwort beschreibt, Notate, die über viele Jahrzehnte im Kontext ihres literarischen Schaffens entstanden. Glücklicherweise lässt mich Gertrud Leutenegger an diesen Leichttürmen ihres Lebens teilnehmen.

«Echoraum werden für die geliebten Menschen.»

Fast alle diese Notate drehen sich vordergründig um das Schreiben, ihre Arbeit am Text, was Sprache mit ihr macht, wie sie ringt und ihr Schaffen prüft. Aber wenn man sich während der Lektüre einen Schritt zurück begibt und das Thema ihres Schreibens „verallgemeinert“, denn für Gertrud Leutenegger ist ihr Schreiben ihr Leben, ihr Sein, ihr ganzen Tun, dann werden diese Notate zu Aufforderungen an ein Tun ganz allgemein. Sie erinnern mich durchaus auch an Ermahnungen, dem Geschenk des Lebens, des Erschaffens jenen Respekt zu zollen, den dieses Geschenk einfordert. Gertrud Leutenegger reflektiert ihr Tun. Diese Notate sind die Prüfsteine, mit denen sie ihr Schaffen hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit prüft. Schon alleine die Ernsthaftigkeit dieses steten Prüfens beeindruckt – und noch viel mehr die Leuchtkraft der Notate selbst. Der Dichterin geht es nie um Effekte, so wie „Partita“ in nichts nach Effekt hascht. Eine Seite – ein Satz. Als wären es die in den Leutenegger-Boden versenkten Mark- und Merksteine ihres Schaffens.

«Unter Tränen zum Leben verführen.»

„Partita“ ist ein Geschenk an all jene, für die Lesen auch Kontemplation sein soll.

Der Solothurner Literaturpreis geht in diesem Jahr an Gertrud Leutenegger.

Erst im letzten Jahr wurde der Preis neu aufgestellt; seither wird er vom Verein Solothurner Literaturtage getragen. Der Preis ist mit 15’000 Franken dotiert und zeichnet ein Gesamtwerk aus.

Die fünfköpfige Preisjury begründet ihren Entscheid für die 74-jährige Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger damit, dass sie in ihrem Werk Persönliches und Weltwahrnehmung miteinander verbinde. Sie erforsche «auf zeitlose Weise die menschliche Existenz», heisst es in einer Mitteilung von Mittwoch.
Der Solothurner Literaturpreis wird ihr am 21. Mai im Rahmen der Solothurner Literaturtage verliehen. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern gehören unter anderem die deutsche Autorin Iris Wolff (2021), die Österreicherin Monika Helfer (2020), Peter Stamm (2018) und Lukas Bärfuss (2015).

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014) und «Späte Gäste» (2020).

Rezension von «Das Klavier auf dem Schillerstein» auf literaturblatt.ch

Peter Weibel «Akonos Berg», edition bücherlese

Er ist geflohen. Immer wieder. Und jetzt noch einmal. Hinauf auf den Berg in der Fremde, die ihn nicht haben will. «Akonos Berg» erzählt von einer letzten Flucht, einem letzten Akt der Verzweiflung, der Hoffnung auf ein letztes Licht in einem Leben, das auszulöschen droht.

Im Jahr 2022 starben weit über tausend Flüchtlinge auf ihrer verzweifelten Fahrt übers Mittelmeer. Eine solche Zahl ist Statistik. Mit Sicherheit starben viel mehr. Sie starben auch schon vorher auf dem Marsch durch die Wüste. Oder nachher durch Krankheit, Kälte und Erschöpfung irgendwo auf der Balkanroute. Dann sitzen sie Monate später irgendwo in einem Durchgangsheim, einem Auffanglager, isoliert, nicht willkommen, zur Untätigkeit verdammt, jeder Würde beraubt, getrennt von ihren Familien, verlassen von all den Träumen und Erwartungen, für die sie einst alles Geld in ihrer Verwandtschaft erbettelten, zu Hoffnungsträgern wurden, alles zurückliessen, was ihnen in ihren Ländern geblieben war, ewig bedroht durch Hunger, Krieg und die dramatischen Klimaveränderungen. Klimaveränderungen in der Natur, aber auch in den Gesellschaften, im Umgang miteinander, im Zusammenhalt der Generationen, Klimaveränderungen der Politik.

Was in der Gegenwart passiert, ist logische Folge dessen, was wir uns selber eingebrockt haben, der Westen durch gnadenlose Ausbeutung, global durch grenzenlose Gier und der Süden, die Länder Afrikas als Folge dessen, was wir mit der Einteilung und Fixierung in eine erste, zweite und dritte Welt anrichteten.

Nun reibt sich die erste Welt die Augen, will nicht wahrhaben, dass das, was den Menschen in der Fremde als Paradies auf Bildschirmen präsentiert wird, nicht auch ein Teil ihrer Welt sein könnte. Man muss sich nur kräftig in die Hände spucken (ein paar Tausender hinblättern, alles zurücklassen) und sich aufmachen in eine bessere Welt. Weiss man doch, ohne Fleiss kein Preis.

Peter Weibel «Akontos Berg», edition bücherlese, mit Aquarellen des Autors, 2022, 64 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-906907-66-6

Wir reiben uns die Augen über die Entschlossenheit all dieser Menschen, die sich mit kleinen Kindern und ihren greisen Müttern und Vätern auf den Weg machen. Wir reiben uns die Augen und wollen nicht verstehen, dass sich auch sie einen schmalen Streifen des Kuchens abschneiden wollen. Wir reiben uns die Augen mit der Ahnung, dass das, was von Süden auf uns zurollt weder mit schärferen Gesetzen, besser ausgerüsteter Grenzpolizei oder grenzübergreifenden Massnahmen in den Griff zu bekommen ist.

„Akonos Berg“ erzählt von einem jungen Mann, der aus lauter Verzweiflung einen Berg besteigt, um sich selbst zu einer Fackel werden zu lassen, einem Mahnfeuer für all die Entkräfteten und Entrechteten. Ein letztes Aufbäumen hinein in den Schnee, hinauf in das Licht, weil es in seinem Dorf einst hiess; auf dem Berg stehen die Glücklichen. Weil er seine Familie verliess, seine beiden toten Schwestern, denen man das Leben stahl, seine Eltern, denen er einzige Hoffnung war.

Jonas und Sara, zwei junge Bergführer machen sich trotz unsicheren Wetters auf die Suche nach dem jungen Mann, weil es die Pflicht eines Bergführers ist, Leben zu retten, weil man nicht tatenlos zuschauen kann. Und weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, mit dem eigenen Leben ins Reine zu kommen. Hilfe als Selbsthilfe. Die beiden machen sich auf den Weg, auf einen vielspurigen Weg, auf die Suche nach einem Mann, der mit Sicherheit erfrieren, verhungern oder abstürzen wird, wenn er nicht rechtzeitig gefunden wird. Auf den Weg zu sich selbst, um sich nicht seiner Tatenlosigkeit wegen vor sich selbst entschuldigen zu müssen. Und auf den Weg zueinander, denn die beiden hatten sich aus den Augen verloren.

Peter Weibel webt Geschichten und Leben zusammen. Die verschneiten Berge, die abweisende, weisse Kälte sind mehr als Metapher. Der Autor macht die Kälte vielfach spürbar. Sie schleicht einem während der Lektüre in die Glieder, erzeugt ein tiefes Frösteln. Da schreibt ein Mann, der von den Ängsten aller weiss, der die Menschen kennt, der mit seinem Schreiben an die Ränder des Erträglichen geht.

„Akonos Berg“ ist keine Wohlfühlliteratur. Und doch ist die Geschichte mit grosser Zärtlichkeit geschrieben. Mit dem Wissen um die wahrhaftigen Dinge der Welt, ohne Pathos, mit aller Verletzlichkeit.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «MENSCH KEUN» (2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» und 2021 «An den Rändern». Peter Weibel lebt in Bern.

Beitragsbild © Sandra Kottonau