Dörte Hansen «Zur See», Penguin

Eine Insel in der Nordsee. Es sind nicht mehr die Gezeiten, nach denen sich das Leben auf dieser Insel richtet, sondern nach den Touristenströmen, die sich mit den Fähren auf die Insel ergiessen. Man fischt nur noch für die Gäste, Gastrozulieferer bringen vorgefertigte Kost, in den Läden verkauft man Souvenirs und jedes Zimmer, das vermietet werden kann, bedeutet Kasse.

Wie sehr wir uns vom Idyll gezogen fühlen, beweist die Tatsache, dass von der vorübergehenden Flugscham wenig bis gar nichts geblieben ist. Ob Alpenidyll, Lagunenidyll, ob Dschungelidyll, Safariidylll oder Inselidyll – nur für jene Idyllen, die mit fettem Portmonee und sicherem Rückreisedatum jenen Mythen huldigen, die von Hochglanzbildern, InfluenzerInnen und Werbestrategien dem gestressten Zeitgenossen jenen Teil des Lebens durch die Nase ziehen wollen, der sich beinahe paradiesisch anfühlen soll.
Zugegeben, dieser Sehnsucht nach einem solchen Idyll bin auch ich schon unzählige Male erlegen, ob nun ganz weit oben in den Kärntner Bergen mit Sicht nach Slowenien mir Aussicht auf bewaldete Täler, schroffe Berge und einen immensen Himmel oder in einem Landhaus im Burgund unter dem Dach eines Freundes.

Von einem solchen Idyll erzählt Dörte Hansen, die sich mit „Zur See“, ihrem dritten Roman, fulminant im Literaturzirkus zurückmeldet. Nach „Altes Land“ und „Mittagsstunde“, die beide preisgekrönt viel Resonanz erfuhren, schrieb Dörte Hansen mit „Zur See“ einen Roman, der in nichts, seinen Vorgängern nachsteht, ganz im Gegenteil.

Dörte Hansen «Zur See», Penguin, 2022, 256 Seiten, CHF 34.90, ISBN -3-328-60222-4

Vordergründig erzählt die Autorin die Geschichte der Familie Sander, die seit Generationen auf der kleinen Nordseeinsel lebt. Einer Insel, die sich über Jahrhunderte vom Fisch- und Walfang ernährte, einer Insel, von der ihre BewohnerInnen nur in den seltensten Fällen ungezwungen den Weg zum Festland wählten.
Im Haus von Hanne Sander ist es ruhig geworden. Obwohl ihr Mann und ihre drei erwachsenen Kinder alle auf der Insel geblieben sind, treffen sich ihre Wege nur noch dann, wenn es nicht zu vermeiden ist. Jens, der Vater, hat sich nicht nur von der Seefahrt verabschiedet, sondern gleich auch von seiner Familie. Er hockt viel lieber in den Dünen, beobachtet Vögel oder stopft welche aus. Ryckmer Sander, der Älteste, einst Kapitän auf einem Frachter, dem Alkohol verfallen, mogelt sich durch ein Leben, das alles zur Fassade macht. Eske, die Tochter, arbeitet als Altenpflegerin auf der Insel, sieht, was bleibt, wenn aus ehemaligen Nachbarn Geister werden, dröhnt sich ihre Wut mit lauter Musik weg und macht ihre Haut mit Tätowierungen zur Kampfansage. Zufrieden mit sich selbst scheint einzig des Jüngste, Henrik, der aus Strandgut Dinge zusammenbaut, die andere als Kunst kaufen, der genügsam in seiner Hütte lebt, den Dingen mehr verbunden als allem, was lebendig ist.

Als auf der Insel der Tourismus begann, änderte sich alles. Auch im Haus von Hanne. So still es in den Wintermonaten war, ausser es lärmten Stürme, so hektisch wurde es in den warmen Monaten, wenn die Kinder ihre Zimmer für Gäste räumen mussten, wenn sich alles, jeder Gegenstand im Haus, in den Dienst der Gäste zu stellen hatte, wenn Hanne etwas bekam, was sie von niemandem sonst bekam. Aber nicht nur im Haus der Sanders drehte der Wind. Auch überall sonst; in den Gasthäusern, den Läden, der Schifffahrt, am Strand, ja selbst in der Kirche. Alles bettelte um die Aufmerksamkeit der zahlenden Gäste. Es war unendlich viel einfacher, als täglich zur See zu fahren, um dem Meer den einen oder andern guten Fang abzutrotzen, immer mit dem Risiko, Leben draussen zu lassen.

Hintergründig erzählt Dörte Hansen die Gegenwart der Insel, eines Touristenorts. Von den Menschen, die geblieben sind, an einem Ort, an dem nichts so geblieben ist, wie es einmal war und alles nur noch Geschichte erzählt. Hannes Haus ist zu einem Museum geworden, Ryckmer, ihr Ältester zur Karikatur eines Seefahrers. Eine Insel, die sich verkauft hat, nicht zuletzt weil sich viele Inselbewohner selbst das Leben auf der von aggressiver Imobilienpekulation heimgesuchten Idylle nicht mehr leisten können. Sie arbeiten noch auf der Insel, leben aber auf dem Festland.

Bis eines Tages ein ausgewachsener Pottwal am Ufer der Insel strandet. Ein riesiges Tier, das vor den Augen der Inselleute verendet, das man auf den Parkplatz zieht und von Menschen zerlegt wird, die nicht von der einstigen Fisch- und Walfängerinsel kommen. Ein Tier aus den Tiefen der See, das zu stinken beginnt. Hanne versuch mit aller Kraft, in Besitz des Skeletts zu kommen, als Attraktion für ihr Museum.

Was für Touristen wie Idylle aussieht, ist wie ein toter Wal am Strand, stilles Spektakel. Dörte Hansen beschreibt den langsamen Kippvorgang, jenen in der Familie Sander, jenen auf der Insel selbst. Jenes Kippen, das keinen Touristen interessiert. Er will bespasst werden. Dörte Hansen erzählt vielschichtig, feinmaschig und äusserst emphatisch. Man kann vom Roman exzellent unterhalten werden. Aber „Zur See“ ist auch ein Statement, ein überaus kraftvolles und überzeugendes!

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt «Altes Land» wurde 2015 zum «Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels» und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman «Mittagsstunde» erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland lebt, war Mainzer Stadtschreiberin 2022.

Beitragsbild © Sven Jaax