Ian McEwan «Am Strand», Film vs Buch

Einmal im Jahr trifft sich eine kleine Schar Literaturinteressierter, um nach der Lektüre eines Buches auch dessen Verfilmung anzusehen, Buch und Film, soweit wie möglich einander gegenüberzustellen. Heuer war es «On Chesil Beach»,  deutsch «Am Strand» von Ian McEwan, 2007 bei Diogenes erschienen und 2017 unter dem gleichen Titel von Dominic Cooke verfilmt.

Florence und Edward haben geheiratet und sitzen sich am Tisch in der Hochzeitssuite eines Hotels am Strand von Chensil Beach gegenüber und wissen beide, dass die Nacht, die vor ihnen liegt, etwas Platz machen muss, was bisher verborgen blieb. Sie stochern in ihrem Abendessen herum und das Himmelbett im Zimmer nebenan wartet auf das, was kommen soll. Sie lieben sich. Sie lieben sich wirklich, wenn auch jeder auf seine Art. Und weil man 1962 weder über Gefühle, Ängste, Befürchtungen und schon gar nocht über Wünsche spricht, schwebt über dieser einen Nacht das Damoklesschwert.

Florence stammt aus einer gutbürgerlichen, „gebildeten“ Familie, der Vater Fabrikant, die Mutter Professorin. Florence studiert, spielt Geige und träumt von einer Karriere als Musikerin. Edwards Elternhaus starrt vor Dreck, sein permanent überforderter Vater kämpft sich durch ein Leben zwischen Pflichten, der Liebe zu seiner Familie und dem Umgang mit einer geisteskranken, „verrückten“ Frau. Für Florence und Edward ist das Studium eine Flucht aus der Enge ihrer Herkunft. Sie treffen sich zufällig an einer Anti-Atombomben- Versammlung, eine Begegnung, von der beide glauben, sie sei schicksalshaft. So sehr Edward fasziniert ist von der Anmut seiner Angebeteten, so sehr ist Florence überzeugt, in Edward jemand Besonderen gefunden zu haben.

Ian McEwan «Am Strand», Diogenes, 2008, aus dem Englischen von Bernhard Robben, Taschenbuch, 208 Seiten, CHF ca. 16.90, ISBN 978-3-257-23788-7

Die frühen Sechzigerjahre sind in Sachen Sexualität Ewigkeiten von der Gegenwart entfernt. Man spürte zwar die Spannung, man erzählte sich gegenseitig Geschichten. Aber „freie Liebe“ spielte sich nur in düsteren Strassen und schummrigen Lokalen ab. Über Sex sprach man nicht. Sex spielte sich in abgedunkelten Ehebetten ab, ob Pflicht oder Routine, ein Geschehen, das ohne den nötigen Sauerstoff durch Gespräche sehr bald verlor, was es davor an Geheimnisvollem barg. Die Pille war noch nicht da und sehr oft fehlte allein schon das Vokabular, um sich dessen bewusst zu werden, was sich zwischen Kopf und Lenden abspielte.

Zwar waren Florence und Edward schon lange vor ihrer Hochzeit ein Paar, aber darüber zu reden, was Sex zwischen den beiden hätte sein können, trauten sie sich nicht in einer Mischung aus Unwissen und Ängsten. Was dann an diesem späten Abend in der Hochzeitssuite nach einem verkorksten Abendessen passiert, ist logische Konsequenz. Beide werden enttäuscht. Beide glauben, versagt zu haben. Beide manövrieren sich in einen Zustand unverrückbarer Verwundung hinein. Florence verlässt panisch das Schlafzimmer. Und als Edward sie später am Strand, über einen Kilometer vom Hotel entfernt wiederfindet, schlingert sich Katastrophe in Ausweglosigkeit.

Das Faszinierende an diesem literarischen Meisterstück sind die kleinen Mosaikstücke, mit denen Ian McEwan den Weg ins Unausweichliche zeichnet, die Dramaturgie, die Mischung aus Rückblenden, die eine Ahnung dessen geben, warum sich die Dinge nicht anders entwickeln können und die Chronologie des Unausweichlichen, Millimeter für Millimeter.

«Am Strand», Spielfilm, 2017, 110 min, Regie: Dominic Cooke, Drehbuch: Ian McEwan, Besetzung: Saoirse Ronan, Billy Howle, Anne-Marie Duff

Vielleicht funktioniert der Film nach der Lektüre auch darum, weil Ian McEwan das Drehbuch schrieb. Der Film hält sich sehr stark an die literarische Vorlage, auch wenn die Rückblenden ein viel grösseres Gewicht tragen. Im Film ist auch sonnenklar, dass Florence traumatisiert ist von einem sexuellen Übergriff ihres Vaters, dass sie den Ekel von damals nicht ablegen kann. Im Buch sind diese Zusammenhänge viel durchscheinender beschrieben. Während das Buch von seiner Erzählweise getragen wird, sind es im Film die schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller Saoirse Ronan und Billy Howle. Der Kontrast zwischen tiefer Liebe, maximaler Sehnsucht nach Zusammensein und bodenloser Enttäuschung und Kränkung ist bravurös gespielt. Ein Film, der es in sich hat!

Sonntag, 28. April 2024, 11:00 Uhr, Bernhard Theater, Zürich, NZZ live

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, John Williams, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – Hauslesung im Literaturport Amriswil

Ein Kunstraub oder gar ein Mord im Museum? Markus Bundis Roman «Wilde Tiere» ist kein Krimi – und schon gar keine Strandlektüre. «Wilde Tiere» ist ein literarisches Abenteuer, geschrieben von einem Schriftsteller, der sich nicht gerne eingrenzen und schubladisieren lässt.

Museen sind Unorte, weder Biotop, noch Lebensraum. Man besucht sie, zuweilen gar nachts. Aber es sind Orte des Schauens. Orte, an denen die Uhr anders oder gar nicht tickt. Orte, an denen die Zeit konserviert wurde, ob Kunstmuseum, Historisches Museum oder dergleichen. Auch wenn Schulklassen manchmal etwas Leben in solche Tempel bringen, bleibt leblos, was da drin von der besten Seite gezeigt wird. Museen sind Orte des Erinnerns, eingelagertes Bewusstsein, nur durch BesucherInnen mit dem Leben, der Gegenwart verbunden.

Dass Markus Bundi in seinem neuesten literarischen Streich einen solchen Unort gewählt hat, ist für einen Philosophen wie ihn doch eigentlich nicht verwunderlich. Sind Museen doch Spiegel der jeweiligen Zeit, passen sich ihrer jeweiligen Zeit wie ein Chamäleon an, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Museen wollen Antworten geben. Museen wollen zeigen, verblüffen, manchmal bluffen, festhalten, das wie alles andere der Vergänglichkeit unterworfen ist. In seinem Roman „Wilde Tiere“ leuchtet der Schriftsteller in ein ganz besonderes Terrarium.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

In diesem Haus kreuzen sich die Wege vieler, von Besucherinnen und solchen, die dort arbeiten. Bis eines Morgens die Polizei auftaucht und man im Haus ein Kapitalverbrechen vermutet. Julius Assinger, Stammgast mit Dauerkarte im Museum, wittert den grossen Kunstraub, bis durchsickert, dass in der Herrentoilette des Hauses eine Tote gefunden wurde. Kaum bekannt, überstürzen sich die Mutmassungen. Ist die Direktorin, die erst seit kurzem das Haus führt, Opfer eines Verbrechens geworden? Sie, die alles umkrempelt, dem Museum eine neue Richtung geben will, Einsparungen für notwendig erachtet und lieber Geld ausgibt für elektronische Überwachung statt für Personal? Odradek, der Museumswärter (In Franz Kafkas „Ein Landarzt“ ist Odradek eine nach Sinn und Unsinn fragende Gestalt oder ein Ding, wie eine seitlich gekippte Spule, von der nicht gesagt werden kann, wozu sie nütze wäre.), der in seiner Abstellkammer mehr Zeit mit Sinnieren verbringt, als mit tätiger Arbeit, glaubt an grosse Zusammenhänge und dass das erst der Anfang sein kann. Oder Hammi, die „Putze“, übrig geblieben von einer ganzen Putzkolonne. Oder Greta, die den Museumsshop führt und an der im wahrsten Sinne des Wortes keine und keiner vorbeikommt. Bis mit einem Mal klar wird, dass doch alles ganz anders ist, als angenommen. Kein Wunder in einem Haus, in dem die Scheinwelt eingerahmt an den Wänden hängt.

Markus Bundis Roman ist sonderbar. So museal die Szenerie, so museal die Sprache. Leicht gestelzt, als hätte der Autor beim Schreiben stets den kleinen Finger der Schreibhand nach oben gereckt. Wer ist heute noch ‹frappiert›? ‹Ehedem› und ‹einerlei› – Wörter wie aus dem Setzkasten der Vergangenheit. Markus Bundis „Wilde Tiere“ sind die Figuren im Museum, die durch das Auftauchen der Polizei in Aufruhr gesetzt werden. Hier die stoische Ruhe der Kunst, dort das hektische Treiben der Menschen im Haus. Einem Haus mit offener und versteckter Bühne, mit Räumen und Sälen für das Publikum und solchen, die auf keinem Übersichtsplan vermerkt sind. „Wilde Tiere“ hat kafkaeske Züge und liest sich dann mit Vergnügen, wenn die Lust am Geheimnis grösser ist, als deren Klärung. Was auf den ersten Seiten wie ein Krimi daherkommt und nach Verbrechern und Motiven sucht, ist ein Tiefgang in die Vieldeutigkeit. So wie es die akstrakte Kunst schon lange tut. Ein grotesk-skurriles Kammerstück voller Poesie und Witz für FeinschmeckerInnen!

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Veranstaltungen:
So, 10. März 2024, 11 Uhr, Wettingen, Gluri Suter Huus, Buchvernissage
Moderation: Klaus Merz

Mi, 17. April 2024, 19.45 Uhr, Lenzburg, Literaturhaus, Lesung mit Gespräch
Moderation: Luzia Stettler

Sa, 4. Mai 2024, 18 Uhr, Amriswil, Maihaldenstrasse 11, Hauslesung bei Irmgard
und Gallus Frei-Tomic, Anmeldung unbedingt an info[at]literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Iris Wolff «Lichtungen», Klett-Cotta

„Lichtungen“ ist die Geschichte von Kato und Lev, eine zarte Liebesgeschichte, die Iris Wolff überraschend erzählt, nämlich in neun Kapiteln vom Ende her erzählt. Haben Liebesgeschichten ein Ende? Jene von Kato und Lev nicht, Iris Wolffs Roman nicht, denn der Schluss des ersten Kapitels ist die Frage „Wohin fahren wir?“. Der Anfang ist ein Schluss ist ein Anfang.

Schon in ihren Romanen zuvor ist die Qualität in Iris Wolffs Erzählen die Zartheit ihrer Sprache, dieses filigrane Netz aus Wahrnehmungen, Empfindungen, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. „Lichtungen“ ist die Geschichte einer Freundschaft, zweier Charakteren, die sich wie ein Doppelplanet umkreisen, bis der eine aus dem Gravitationsfeld ausbricht und damit auch die Umlaufbahn des andern zerreisst. Kato reist in den Westen, bricht auf. Lev bleibt im Dorf, bis ihn eine Karte aus Zürich erreicht: „Wann kommst du?“.

Kato und Lev wachsen in Ceaușescus Rumänien auf, das Mädchen Kato mehr oder weniger alleine, zusammen mit einem alkoholkranken Vater, getrieben vom Wunsch auszubrechen, Lev bei seiner Mutter Lis und seinen Grosseltern, seinen beiden Halbgeschwistern, als jüngster Spross einer Familie, in einem kleinen, grauen Ort. Beide sind Aussenseiter, Lev schwächlich, ohne Antrieb, bei all dem Rudelgehabe in der Schule und im Dorf eine Rolle zu spielen, Kato von fast allen gemieden, nicht zuletzt, weil sie sich mit Stift und Papier von all dem absetzt, was die Interessen aller anderen ausmacht. Und weil man Kato dazu verdonnert, dem kranken Lev die Hausaufgaben ans Bett zu bringen, wächst zwischen den beiden etwas, was mit den Jahren immer mehr zu einer Freundschaft wird, die alles andere zusammenzuhalten scheint.

Iris Wolff «Lichtungen», Klatt-Cotta, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-608-98770-6

Dass Iris Wolff Malerei studiert hat, zeigt sich nicht nur, weil ihre Protagonistin Kato Künstlerin, Zeichnerin, Malerin ist. Iris Wolff hat eine ganz eigene Fähigkeit zu sehen. Sie schreibt aus den Augen ihrer beiden ProtagonistInnen, ohne in ihre Figur hineinzuschlüpfen. Kato entwickelt ihre ganz eigene Art des Sehens, so wie die Autorin selbst. Auch Lev ist ein Sehender, ein Beobachtender, einer, der mehr wahrnimmt als andere und doch das Gefühl nicht wegbekommt, aussen vor zu sein. Ein Gefühl, das ihn restlos einnimmt, als ein Fremder in Fahrradmontur im Dorf auftaucht und Kato dazu bringt, mit ihm das Dorf mit unbestimmtem Ziel zu verlassen. Kato entschwindet und Lev bleibt. Bis er es nicht mehr aushält und ein kläglicher Versuch eines Ausbruchs ihn wieder zurück ins Dorf spült. Bis Lev Jahre später die Karte aus Zürich erhält und endlich aufbricht.

Vielleicht beschreibt der Titel „Lichtungen“ auch die Art der Freundschaft der beiden. So wie das, was zwischen Kato und Lev über die Jahre entstanden ist, genau das, was „Lichtungen“ in seinem Leben ausmacht. Für Lev ist Kato die Tür zur Welt, für Kato Lev ein Stück Zuhause, etwas, das ihr im Vergleich zu allem anderen nicht genommen werden kann.

Lev, der die Schule abbricht, als Soldat nur schwer zurechtkommt, als Waldarbeiter in die Tiefen der rumänischen Wälder geschickt wird und nur überlebt, weil er Freundschaft mit Imre schliesst, einem Mann, der sich dort selbst bestraft und in dessen Sägerei er später Arbeit findet, wird durch ein Leben geschoben. Kato, die sich ihre Welt mit ihrem Stift, mit Pinsel oder Kreide macht, die mit ihrer Leidenschaft immer am Fenster zur Welt steht, zieht es weg. Eine Freundschaft in Gegenseitigkeit. Eine Freundschaft, die in Liebe eingetaucht ist, in die sich Leidenschaft mischt, die aber immer zuerst Freundschaft bleibt, bis zu diesem einen Satz „Wohin fahren wir?“.

Ihre Strategie, die Geschichte von Kato und Lev in ihrer Chronologie zurückzuerzählen, scheint experimentell. Aber ein Blick zurück, auf ein Leben, eine Geschichte, auch auf die Geschichte eines Landes, jener Ecke Rumäniens, die die nationale Zugehörigkeit immer wieder wechseln musste, ist immer ein Blick zurück. Nur die meist gewählte Erzählrichtung liegt in der Gegenrichtung. Aber während des Lesens von „Lichtungen“ erschliesst sich Schicht um Schicht, erklärt sich Bild um Bild.

Warum „Lichtungen“ ein ähnliches Lesegefühl wie „Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera bei mir auslöst, weiss ich nicht wirklich. Aber beim Lesen, ich las den Roman gleich zweimal hintereinander, war da das Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu dürfen.

Interview

Ich bin begeistert und schwer beeindruckt. Zum einen ist es eine Geschichte, in der viele Themen eingebunden sind. Aber genauso deine Art des Erzählens, die Zartheit deiner Sprache, die mich ans Zeichnen erinnert. Es sind keine opulenten, mit Öl gemalten Bilder, sondern Zeichnungen in Pastellfarben, ohne je rührselig oder kitschig zu wirken, fein skizziert, mit vielen Zwischenräumen, Zeichnungen in der perfekten Mischung aus Schmeichelei und Herausforderung. Wie passiert Schreiben bei Iris Wolff? Was sind die Zutaten, dass es klappt? Gibt es Dinge, die du um jeden Preis vermeidest?

Die wichtigste Zutat ist Stille. Sprachliche Äußerungen deuten Wirklichkeit, reduzieren sie, verfehlen sie manchmal haarscharf. Es ist schwer, etwas wirklich Neues zu denken und zu schreiben; nicht immer dieselben Erfahrungen zu machen, weil sich die Zukunft aus den Mustern der Vergangenheit wiederholt. Er wolle malen, was er sehe, und nicht, was er wisse, soll William Turner formuliert haben – dabei ist es geradezu unmöglich, die Welt zu sehen, wie sie an sich ist, weil sich alles immerzu in unsere Gedanken einfärbt. Was mir hilft ist Stille. Dort sind Dinge und Erfahrungen noch nicht beurteilt, zergliedert, analysiert. Sie sind einfach da; sie sind groß, überwältigend, mitunter widersprüchlich. Aus dieser Kraft heraus sind Sätze möglich, die jene Balance halten zwischen Präzision und Offenheit, zwischen Gesagtem und Angedeuteten. Was ich unbedingt vermeiden möchte: Meine Figuren festnageln, ausdeuten ins grellste Licht zerren. Ich möchte ihnen möglichst unvoreingenommen begegnen; sehen, was sich verbirgt, zeigen, was ungesagt ist, aber doch auch gleichzeitig das Verborgene, ihr Geheimnis hüten.

Landschaft im Iza-Tal, © Iris Wolff

Die Freundschaft zwischen Kato und Lev ist ein feinmaschiges Geflecht, das den beiden ganz unterschiedliche Positionen erlaubt. Obwohl es zwischendurch ganz ordentlich knistert und Eros schon früh mitspielt, lassen sich die beiden nie bis zur letzten Konsequenz auf den anderen ein. Weil sie ahnen, dass Leidenschaft Leiden schafft?

Mir war es wichtig, in der Schwebe zu lassen, ob es Liebe oder Freundschaft ist. Jeder Freundschaft ist Liebe beigemischt, und jeder Liebe Freundschaft. In der Malerei gibt es in der Moderne die Tendenz, den Rand freizulassen. Es wird nicht etwas gezeigt, sondern das Bild zeigt sich. So wie in Katos Skizzen die Strichführung sichtbar ist, ihre Spontaneität, Wucht, Feinteiligkeit, möchte ich auch in der Literatur mit offenen, unbeschriebenen Rändern schreiben – einen weiten Raum öffnen. So können sich Leserinnen und Leser zu einer Geschichte in Beziehung setzen (mit ihren Fragen, inneren Bildern) und letztlich selbst entscheiden, was das zwischen Lev und Kato ist. 

Weder Lev noch Kato wachsen in klassischen Familien auf, in Familien, die einem Muster entsprechen. Beide fühlen sich nie ganz und gar zuhause, sicher, aufgehoben. Da ist bei beiden die Sehnsucht nach mehr. Nur manifestiert sich diese Sehnsucht ganz unterschiedlich. Bei üblicher Erzählweise frage ich gerne, ob während des Schreibens der Weg oder gar das Ende klar vor Augen war. Du erzählst zuerst den Schluss. Warum diese Strategie?

Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann. In dieser reduzierten Welt, bestehend aus Bett, Haus und Familie, aus Geschichten und Geräuschen, war alles enthalten. Ich wusste: Sein Leben wird rückwärts erzählt, denn so begegnen wir einander auch im „echten Leben“. Man lernt jemanden kennen, und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Die Form setzt den Rahmen für bestimmte Fragen. „Jedes Jetzt enthält das Vergangene“ – das ist eine Erkenntnis, die Lev in Zürich, am Anfang des Romans hat. Ich habe mir gewünscht, dass er die Traumata seiner Kindheit eines Tages hinter sich lassen und dass er neu beginnen kann. Ohne Kato wäre ihm das nie gelungen. Erzählerisch war diese Strategie eine Herausforderung, und habe mir vorgenommen, es mir beim nächsten Buch leichter zu machen 😉

Man muss sich aufmachen. Kato und Lev tun es. Du tust es mit jedem Buch. Du machst dich auf in dein Herkunftsland, eine Geschichte, in „fremdes“ Leben. Angesichts der aktuellen Geschichte, der Probleme, die ungelöst anstehen, scheint mir die einzig wirksame Losung zu sein, sich aufzumachen. Weder in der aktuellen Politik noch in Klimafragen spüre ich diesen unbedingten Willen. Vielleicht deshalb meine Überzeugung, dass die Literatur, die Kunst, dieses Aufmachen initieren kann. Wer liest, macht sich auf in andere Welten, öffnet sich. Oder ist Schreiben doch nur Selbstzweck?

Diese Frage berührt den Kern des Buches. Lev und Katos Geschichte ist als Reise in die Vergangenheit angelegt, weil Erkenntnis am leichtesten rückwirkend geschehen kann. Umso frustrierender, wenn wir merken, dass der Mensch anscheinend nicht fähig ist, aus den vergangenen Jahrhunderten mit seinen Kriegen und Diktaturen zu lernen. Der Blick zurück ist wichtig. Aber wahre Veränderung ist nur möglich, wenn man sich traut, radikal neu zu denken. Es kommt mir vor, als laborierten wir an Systemen herum, die grundsätzlich nicht mehr taugen. Nehmen wir das Beispiel Klimaschutz oder unser Umgang mit der Tierwelt. Wir gehören zur Natur, sind abhängig von anderen Lebewesen. Aber die menschliche Gier setzt sich über diese Einsicht hinweg. Dabei haben wir eine gemeinsame Geschichte, eine Übereinkunft: dass das Leben nur im Verbund möglich ist. Aber statt eine neue Tier-Ethik aufzustellen oder den Mut zu haben, Klimaschutz als oberste Priorität zu setzen, werden nur ab und an (oft genug nicht einmal das) Gesetze verabschiedet, die etwas verbessern sollen. Man könnte, wenn man hier in die Tiefe geht, leicht verzweifeln. Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist. 

„Lichtungen“ ist auch ein Buch der Auslassungen, der Ungewissheiten. Du leuchtest die Szenerien nicht aus. Dein Roman will nicht erklären. Es sind „Lichtungen“, die du beschreibst. So wie die eine Szene im Wald, der Kampf zwischen zwei Wölfen. Eine Szenerie, die nicht verdeutlicht, aber eine Stimmung erzeugt, eine Ahnung, Diskussionsstoff für ganz viele Leserunden, die sich mit deinem Buch zusammensetzen. Wie sehr ist dein Schreibprozess, dieses Buch, der Spiegel deiner ganz eigenen Prozesse? Oder wie sehr öffnest du dich im Schreiben der Einmischung und Beeinflussung?

Jedes Buch ist wie ein weiterer Jahresring eines Baums. Bücher sind Wachstumsprozesse. Es kann mitunter befremdlich sein, aus früheren Werken zu lesen; ein wenig so, als würde man alte Fotoalben durchblättern. Jeder neue Text verhandelt Fragen und bezeugt sicher auch Veränderungen der Weltwahrnehmung. Ich habe in Lichtungen mit Lev gelernt, dass das Gegenteil von Sprechen nicht Schweigen ist, sondern Hören. Dass es wichtig ist, ab und an zu überprüfen, ob Glaubenssätze und Selbstbilder einen am Gehen hindern. Und was den Schreibprozess anbelangt: Ich habe das Manuskript lange für mich behalten, weil ich Angst hatte, dass mir jemand das Rückwärtserzählen ausreden wird. Gleichzeitig bin ich immer offen für Einmischung. Die besten Hinweise begegnen einem zufällig. Wenn man auf „Empfang“ gestellt ist, arbeitet das Leben, der Zufall, die Natur, andere Menschen an der Geschichte mit. 

Iris Wolff liest am 8. Juni in Frauenfeld CH!

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, studierte Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei. Sie ist Mitglied des internationalen Exil-PEN und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Marieluise-Fleißer-Preis und den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Für «Die Unschärfe der Welt» (2020) erhielt unter anderem den Solothurner Literaturpreis. Ausserdem wurde der Roman sowohl von deutschen als auch von Schweizer Buchhändlern zu einem der fünf beliebtesten Bücher gewählt. Iris Wolff lebt in Freiburg im Südwesten Deutschlands.

Rezension von «So tun, als ob es regnet» auf literaturblatt.ch

«(Er)zählen», Iris Wolff, Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Max Gödecke

Waseem Hussain «Verhinderter Eklat an der XVII. Triennale Südasiatischer Hühnereinbalsamierer», Plattform Gegenzauber

Wie alle drei Jahre haben sich auch heuer die Mitglieder des Südasiatischen Kongresses der Hühnereinbalsamierer (SAKHBAL) getroffen. Als Austragungsort ihrer diesjährigen Zusammenkunft hatte der Kongressvorstand das denkwürdige Fort Abbas bestimmt, welches auf halbem Weg zwischen Bahawalpur in Pakistan und Ganganagar in Indien liegt. Die Wahl des Austragungsortes war nicht zufällig, haben doch jüngere Ausgrabungen in und um Fort Abbas zum Teil gut erhaltene Überreste einbalsamierter Hühner zutage befördert, die auf ca. 3500 v. Chr. datiert sind und zu den kostbarsten Exemplaren ihrer Art zählen.

Auf der Traktandenliste standen diesmal, neben routinemässigen Pendenzen wie die Wahl des Präsidenten und des Vorstandes des SAKHBAL, vor allem die Fragen einerseits nach der “wissenschaftlich korrekten” und andererseits der “zeitgeistig angemessenen Zusammensetzung” des Balsams. Das Thema ist bereits mehrmals in “Tikka”, der halbjährlich erscheinenden SAKHBAL-Publikation, aufgegriffen worden. Sowohl die darin veröffentlichten Forschungsberichte als auch die Leserbriefe, die in der jeweils nachfolgenden Ausgabe abgedruckt wurden, haben gezeigt, dass insbesondere die zweite Fragestellung die Expertengeister bewegt.

Grundsätzlich besteht der Balsam aus Rapsöl, Malzessig und Limettensaft, gemahlenem Gelbwurz, geriebenem Ingwer, Kreuzkümmel, zerstossenen Senf-, Pfeffer- und Korianderkörnern, Bockshornkleesamen, Chili, Zimtrinde, Knoblauch, Paprika, Zwiebeln und Salz; wer unorthodox war, gab zusätzlich roten, natürlichen Farbstoff dazu.

Vor nunmehr fünfeinhalb tausend Jahren war das Klima in Südasien deutlich milder als heute. Es soll die damaligen Südasiaten in ihrer Mentalität beeinflusst haben, sodass sie vor allem die scharfen Balsamzutaten geringer dosierten als ihre Nachkommen es heute tun. Die SAKHBAL-Mitglieder einigten sich darauf, eine für jede Epoche standardisierte Rezeptur verfassen zu lassen und diese bei ihrer nächsten Zusammenkunft in drei Jahren zu verabschieden. Nur am Rande sei erwähnt, dass dem Wetteifern, welche Universitäten welcher Länder, südasiatische oder nicht, damit beauftragt werden sollten, die Rezepte zu Papier zu bringen, unter “Varia” am Ende der Versammlung Raum eingeräumt werden musste.

In den antiken Hochkulturen Südasiens wurden Hühner in einem mehrere Stunden dauernden, von Schamanen und Priestern angeleiteten Ritual mit einem Balsam eingerieben und zu Ehren der darüber wachenden Göttin Murgdevi geopfert. Dies geschah, indem man eine ungefähr 21 mal 17 Zentimeter kleine Gruft aus der Erde hob, dort glühende Asche hineinlegte, auf diese die einbalsamierten Hühner platzierte und das Erdloch in einem bei Sonnenaufgang mündenden Zeremoniell zuschüttete. So hofften die Südasiaten von damals auf ein langes Leben, wenn nicht gar auf ein ewiges. Wie ernsthaft dieser Brauch gelebt wurde, zeigt die imposante Nekropolis einbalsamierter Hühner, die ein niederländisches Team von Archäologen vor rund sechzig Jahren unweit der südindischen Hafenstadt Cochin ausgegraben hat.

Der Kongress ist zweifellos unverzichtbar für die akademische Pflege der oft als “Orchideenfach” belächelten Wissenschaft der südasiatischen Hühnereinbalsamierung. Um so bedauerlicher ist es, dass es unter gewissen Mitgliedern des SAKHBAL bereits im Vorfeld der Triennale zu nutzlosen Differenzen gekommen war. Den Anstoss gab die Wahl des Kongressortes Fort Abbas. Dieses ist sowohl den Pakistanern als auch den Indern ein wichtiges Symbol ihres jeweiligen kulturhistorischen Erbes, wenn auch aufgrund politisch bedingt unterschiedlicher Geschichtsauffassung. Zwar waren sich die Experten von hüben wie drüben darin einig, dass die alte Festung zur Abwehr “extremistischer Gegner der Einbalsamierungsrituale” erbaut worden war, doch konnten sich die Experten nicht darauf einigen, ob es sich bei den Gegnern um fremde Invasoren aus Persien und vom Indischen Ozean her gehandelt hat, oder ob die Bedrohung von inneren Feinden zu erwarten war. Dass dies aber keine qualifizierte Debatte unter Historikern war, zeigt sich schon daran, dass sich die Streitenden über die Tatsache hinwegsetzten, dass die phalanx-ähnliche Anlage von Fort Abbas klar darauf hindeutet, dass der Feind von allen vier Himmelsrichtungen her erwartet wurde. Ebenso ist es aber belegt, dass die Herrscher von Fort Abbas drei parallel operierende, sich gegenseitig kontrollierende Innengeheimdienste unterhielten, um Überläufer und andere Verräter frühzeitig festzumachen.

Wie es scheint, waren auch die Organisatoren des XVII. Kongresses Südasiatischer Hühnereinbalsamierer bei ihrem Gezänk derselben Paranoia verfallen. Immerhin aber wurde ihrem offen ausgetragenen Streit ein so grosses Gewicht zuteil, dass die Veranstalter sich nun überlegen, die Triennale an einen Ort ausserhalb Südasiens zu verlegen. Als mögliche Alternative wird die portugiesische Kleinstadt Sines genannt, wo der Seefahrer Vasco da Gama geboren wurde. Dieser erwähnte nämlich in seinen indischen Tagebüchern “rot geschärfte Frangos”; das portugiesische Wort Frango heisst nichts anderes als Huhn.

Dem ganzen sei lediglich angemerkt, dass die Mitgliederorganisationen der übrigen südasiatischen Länder, also Afghanistan, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka, Bhutan und die Malediven, sich aus dem Hahnenkampf ihrer beiden Nachbarländer herausgehalten haben. Man begegnete ihren Delegierten am Buffet mit den Tandoori-Spezialitäten.

Waseem Hussain, 1966 in Karachi, Pakistan, geboren, wuchs in Kilchberg am Zürichsee auf. Er war Gastdozent für internationales und interkulturelles Management und leitete die Stabsstelle Internationales im Rektorat einer Fachhochschule. In jungen Jahren kuratierte er Kunstausstellungen, organisierte kulturelle Veranstaltungen und drehte den mehrfach prämierten Kurzspielfilm “Larry”. Er war Mitglied der regionalen Expertengruppe bei Pro Helvetia sowie freier Südasienkorrespondent für Presse, Funk und Fernsehen. Aktuell lebt er als Autor und Songwriter nahe Zürich und schreibt an seinem ersten Roman.

Webseite des Autors

Jon Fosse «Das ist Alise», Mare

„Das ist Alise“ ist ein seltsames Buch. Jon Fosse geht es nicht darum, eine dramatische Geschichte zu erzählen. Es sind traumhafte Bilder, Erinnerungen, die sich in der Zeit vermischen, ein langes Gebet über die Unergründlichkeit des menschlichen Schicksals, ein langes Gebet. 

Signe erinnert sich. Sie ist alleine alt geworden und wohnt in einem keinen Haus über dem Fjord. Sie liegt auf der Bank im Haus, ihren Blick zur Decke gerichtet, manchmal zum Fenster und erinnert sich an den Tag, als ihr Mann nicht vom Meer zurückkam, als Asle, ihr Mann, auf dem Meer, in den Wellen, der Dunkelheit, dem Regen und der Kälte verschwand und nicht zurückkehrte. Vor fast einem Vierteljahrhundert, in dem sie mit dem Warten nie ganz aufgehört hat.

Asle wohnte in dem Haus sein ganzes Leben lang, als Kind mit seinen Eltern, als Ehemann mit Signe. So lange wie er verschwunden ist, kannten sie sich, bevor sie heirateten. Zwanzig Jahre lang waren sie gemeinsam in dem Haus, in das Asle nicht zurückkehrte. Signe sieht ihn am Fenster stehen, den Mann, der sich schon vor seinem Verschwinden zu entfernen begann, der immer schweigsamer, immer seltsamer wurde.

Jon Fosse «Das ist Alise», Novelle, Mare, 2023, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-86648-743-

Damals war Asle draussen. Schlechtes Wetter. Nichts hat ihn gezwungen, in sein schmales Holzboot zu steigen und hinauszufahren. Und doch stieg er in sein Boot, musste wohl. Einem Boot, das für einen Sturm viel zu klein war, ein Ruderboot.

Draussen, bevor er in sein Boot stieg, auf seinem Spaziergang durch die Dämmerung, sah er Alise, seine Ururgrossmutter mit einem Kind im Arm. Eine Erscheinung. Mit einem toten Kind im Arm, das in dieser Bucht ertrank, ihrem Enkel Asle, seinem Vorfahr, nachdem er getauft wurde.

Jener Asle, der damals ertrank, bekam von seinem Vater zum siebten Geburtstag am 17. November 1897 ein kleines, selbst gebautes Holzboot. Ein Boot, mit dem er noch an seinem Geburtstag im Wasser, im Fjord spielte, Wellen machte mit einem langen Stecken, irgendwann die Hose auszog, um das Boot zurück ans Ufer zu holen – und ertrank.

Im November 1979 stieg Asle in sein Boot, als ob ihn das Boot, das Meer gerufen hätte, und kam nicht wieder. Am nächsten Tag fand man das leere Ruderboot am steinigen Ufer. Fast ein Jahr blieb es dort liegen, bis zwei Jungen aus dem Nachbardorf darum baten, das Boot beim Johannisfeuer verbrennen zu dürfen.

„Das ist Alise“ ist mehrperspektivisch erzählt, kümmert sich nicht um Chronologie, setzt in seiner Erzählart kaum ab, macht selten Punkte, spricht zu mir wie eine Stimme aus dem Off, aus dem Unterbewusstsein. Liest man das Buch laut und ganz langsam, dann spricht jemand. Ein Stimme, die keine Geheimnisse ergründen will, aber dem nachspüren will, was die Menschen in dieser rauhen Gegegend immer wieder aus dem Alltag reisst. Ein archaisches Leben, eine Natur, die nimmt und gibt, von der man keine Logik fordert.

Jon Fosses Novelle liest sich wie ein Meditation, eine Vergegenwärtigung. Da schreibt jemand, der keine Geschichte erzählen will, sondern Gefühle malt, innere Bilder, Stimmungen erzeugen will. Literatur, die sich wie die Musik von Arvo Pärt gängigen Mustern entzieht. Literatur, die nicht abbilden will, wie die Malerei von Gerhard Richter. Literatur, die mich in einen ganz eigenen Sound hineinzieht.

So schmal dieses Buch ist, so beglückend die Lektüre, so nachhaltig die Bilder, die auf der Netzhaus der Erinnerung hängen bleiben.

Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren und am Hardangerfjord aufgewachsen, gilt mit seinem vielfach ausgezeichneten und in über 40 Sprachen übersetzten literarischen Werk als einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Seine mehr als 30 Theaterstücke werden weltweit aufgeführt. Er lebt heute in der »Grotte«, einer Ehrenwohnung des norwegischen Staates am Osloer Schlosspark, in Frekhaug bei Bergen und in der niederösterreichischen Gemeinde Hainburg an der Donau. 2023 erhielt Jon Fosse den Nobelpreis für Literatur.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren zählen Louis-Ferdinand Céline, Jean Echenoz, Tomas Espedal, Henrik Ibsen, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Jane Scatcherd-Preis, dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds, dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (zusammen mit Frank Heibert) und dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Beitragsbild © Agende Brun/Det Norske Samlaget

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber

Leidenschaft allein reicht nicht. Aber Genialität allein ebenso nicht. Gina, eine junge Frau, schreibt zwischen Lähmung und Selbstzerstörung, über Lebensentwürfe, die nach ihrer Erfüllung rufen. In „Die Entflammten“ prallen Welten aufeinander.

Sie kennen Vincent van Gogh mit Sicherheit. Wahrscheinlich kennen sie auch Theo van Gogh, seinen jüngeren Bruder, Kunsthändler und -sammler, ohne den sein genialer Bruder nie und nimmer jene Bilder hätte malen können, die ihn unsterblich machten. Aber wahrscheinlich lernen sie Jo van Gogh-Bonger, die Frau von Theo, erst durch den Roman von Simone Meier kennen. Eine Frau, die es sich nach dem frühen Tod der beiden Brüder zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Vincent van Goghs Bilder dorthin zu bringen, wo sie hingehören; in die grossen Museen der Welt. Vincent van Gogh war einzig und allein an seiner Malerei interessiert, unkonventionell und mit totaler Hingabe. In einer Hingabe, die gekoppelt mit seiner desaströsen Lebensweise schon früh auf eine Katastrophe hinzielte und mit dem frühen Tod seines Bruders, der ihn in jeder noch so zerstörerischen Lebensphase unterstützte, leicht ins grosse Vergessen hätte münden können. Wenn nicht Johanna van Gogh-Bonger gewesen wäre.

Simone Meier erzählt aber nicht einfach die Geschichte jener Frau nach, die die Sehnsucht nach Liebe an die Seite der berühmten Brüder brachte, der die Kunstwelt verdankt, dass jenem Künstler, der viel mehr als einfach abbilden wollte, jener Platz an den Wänden der Welt sicherte.

Über hundert Jahre später stösst die junge Kunsthistorikerin Gina auf die Geschichte dieser Frau. Sie taucht immer tiefer ein in die Biografie dreier Leben, die in ihrer Radikalität und Besessenheit auch im stummen Untergang hätten enden können. Was wäre geschehen, hätte Vincent seinen Bruder Theo nicht gehabt? Was wäre geschehen, hätte Jo das Lebenswerk beider nicht weitergeführt? Was wäre geschehen, wenn das Selbstzerstörerische des Malers, die Syphilis seines Bruders die junge Witwe mit ihrem kleinen Sohn mitgerissen hätte? Gina folgt einem Leben, sucht nach dieser Stimme und findet sie.

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5029-7

Gina sucht aber auch nach den Rätseln in ihrer eigenen Familie. Warum scheiterte die Ehe ihrer Eltern? Warum schafft es ihr Vater in dem kleinen Haus am Meer nicht endlich, aus den vielen Anfängen einen zweiten Roman zu schreiben, nachdem der Ruhm des ersten schon seit Jahrzehnten verflogen ist? Gina zieht für eine begrenzte Zeit in das kleine Haus ihres Vaters, wohl nicht zuletzt darum, weil sie hofft, dass sie mit ihrem Schreiben die Fesseln ihres Vaters lösen kann.

Das Reizvolle an diesem Roman sind die  Prozesse der Begegnungen. Im Vordergrund steht jene zwischen Jo und Gina, zweier Frauen in ganz unterschiedlicher Zeit, obwohl doch eigentlich nur etwas mehr als ein Jahrhundert zwischen den beiden Frauenleben liegt. Gina rutscht mit Recherche und Schreiben immer tiefer in das Leben einer Frau, die ihr Dasein nach dem Tod der van Goghs immer entschiedener in den Dienst einer Sache stellt. Eine Kompromisslosigkeit, von der die Schreibversuche ihres Vaters diametral entfernt sind und wehleidig groteske Züge angenommen haben. Je tiefer Gina forscht und sich in das Leben Johannas hineinversetzt, desto mehr schwinden Barrieren, bis Jo und Gina im letzten Teil des Buches in einen Dialog treten, der die Grenzen schwinden lässt.

Wo sind die Grenzen zwischen Eigensinn und Genialität? Wie schafft es Genialität an die Oberfläche, zwischen all die Banalitäten des Lebens? Simone Meier geht es um mehr als Aufklärung über eine Frau, die seit einem Jahrhundert im Schatten „ihrer“ beiden Männer steht. „Die Entflammten“ ist ein Buch über Entflammte, die in ihrem selbstzerstörerischen Tun alles mit sich reissen und über „Entflammte“, die das einst entfachte Feuer nie erlöschen lassen.

Interview

Was war zuerst; die Faszination für die Person Johanna Bonger, später van Gogh oder die Geschichte einer jungen Frau, die sich in ihrer Suche nach einer eigenen Stimme mit dem Scheitern ihres Vaters konfrontiert?
Keine von beiden. Zuerst war Ginas Vater da. Nach meinem letzten Buch war ich frustriert, ich hatte die Ausläufer des Corona-Tiefs schwer unterschätzt, besonders in Deutschland. Man kriegt nun mal keine Sichtbarkeit hin, wenn die Buchhandlungen ganz oder teilweise geschlossen sind. Die Zugänge zu Lesungen waren beschränkt und die Leute blieben vorsichtshalber lieber zuhause. Aus therapeutischen Gründen wollte ich zuerst eine Literaturbetriebssatire schreiben. Einfach um Wunden zu lecken. Das sollte man natürlich unterlassen, das habe ich relativ schnell gemerkt. Und dann kam Jo. Ganz plötzlich, aber sehr bestimmend, und ich wusste, wenn ich mich jetzt nicht ganz in den Dienst dieser Figur stelle, bin ich die blödste schreibende Person weit und breit. Gina kam erst danach, allerdings enorm selbstverständlich, und aus dem Vater wurde aus einer lächerlichen eine gute Figur.

Über ein Jahrzehnt nach dem Suizid des einen und dem Syphilistod des andern war Vincent van Goghs Kunst nur einem ganz kleinen Kreis ein Begriff. Heute werden, wenn ein Bild überhaupt zum Verkauf steht, exorbitante Summen bezahlt, die mit Kunstverstand oder Sammelleidenschaft nichts mehr zu tun haben. Doch eigentlich eine Watsche an Künstler, eine an die Kunstszene, profitiert doch die Kunst selbst nie von solchen Preisen und eine Watsche ins Gesicht all jener, deren Genialität nie an die Oberfläche gelangt.
So what? Im stillen Kämmerchen sind wir alle in irgendwas genial. Ich war mal eine geniale Blockflötistin. Aber braucht die Welt das? In den allermeisten Fällen nicht. In meinen 28 Jahren als Kulturjournalistin sind mir wohl erst zwei lebende Menschen untergekommen, von denen ich sagen würde, sie sind genial und ihre Kunst bringt uns wirklich was. Vorherrschend ist ja immer und überall solides, stabiles Mittelmass. Ich persönlich bin kein Van-Gogh-Fan, mir ist das zu aufdringlich, aber in der Beschäftigung mit ihm für das Buch habe ich verstehen gelernt, wie echt revolutionär er war und was die Menschen in ihm sehen konnten, was sie begeisterte. Tragisch für ihn, dass er das nicht erlebte, Picasso und Warhol hatten mehr von ihrem Ruhm. Aber wenn besonders Viele einen Einzelnen besonders grossartig finden, kommt es unweigerlich irgendwann zu diesen perversen monetären Exzessen, egal ob in der Kunst, im Fussball, in Hollywood oder in Chefetagen. Offenbar haben wir noch nicht gelernt, unsere Wertschätzung anders auszudrücken. 

Das Literaturhaus St. Gallen lädt ein!

Gina setzt sich einigem aus, nicht zuletzt dem Stolpern ihres Vaters, der, statt seinem einstigen Brotberuf nachzugehen, vom Leben eines erfolgreichen Schriftstellers „besessen“ ist. Muss man besessen, entflammt sein, um mit seiner Kunst eine Bühne zu finden?
Für seine Arbeit entflammt zu sein, garantiert noch lange keine Bühne, hilft aber sicher. Was ich jedoch weiss, ist, dass es kein Entkommen vor einer gewissen Besessenheit, einer Auslieferung gibt, wenn man es mit seiner Kunst wirklich ernst meint. 

Jo findet schlussendlich ihre Bestimmung in der Kunstvermittlung, mit ihrer Strategie, die Werke ihres Schwagers nicht einfach gewinnbringend zu verscherbeln, sondern den Bildern jenen Platz zu geben, der ihnen durch ihre Einzigartigkeit zusteht. Ein typisch «weibliches Prinzip»?
Ist diese Frage ernst gemeint? Ich hoffe nicht! Das Einzige, was Jo an Weiblichkeitsklischees wie diesem interessierte, war, sie aus der Welt zu schaffen. Zum Glück hatte sie dank Theo, aber auch dank ihrem späteren Umfeld ganz unweibliche Einblicke in den damals zu hundert Prozent von Männern beherrschten Kunstmarkt. Sie sah, wie man es eben nicht machen sollte. Und sie war ein totaler Kontrollfreak. SIE wollte das Narrativ bestimmen, niemand sonst. Das Praktische an Vincent van Gogh war ja nun mal, dass er schon tot war und nicht mehr von seiner Kunst zu leben brauchte, sie konnte die Nachlassverwaltung entsprechend gründlich und langfristig angehen. Und sie legte sich einen genialen Dreiphasenplan zurecht: Sichtbarkeit schaffen, Rarmachen auf dem Markt, am Mythos basteln. Die breitestmögliche Sichtbarkeit erreichte sie, indem sie Zeit ihres Lebens über 100 Ausstellungen organisierte und dabei immer darauf achtete, dass Leute, die wenig verdienten, weniger Eintritt zahlen mussten. Da war sie ganz Sozialistin, wie übrigens die meisten im Van-Gogh- und Bonger-Clan damals glühende Sozialisten waren, was in der Van-Gogh-Rezeption natürlich gerne unterschlagen wird. Am Mythos bastelte sie bei ihrer Herausgabe der Briefe der Brüder, zu der sie selbst den alles entscheidenden Essay schrieb, der das Bild von van Gogh nachhaltig prägte. Und mit dem Zurückhalten besonders beliebter Bilder vom Markt befriedigte sie einerseits die Museumsbesucherinnen und -besucher und schuf andererseits noch grössere Begehrlichkeiten bei den abgewiesenen Käufern. So kam der immer lautere «Buzz» um van Gogh zustande.

Im zweiten Teil ihres Buches mischen sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen Jo und Gina zu einem Dialog über Zeit und Raum hinaus. Eigentlich eine virtuelle Begegnung. Ist das nicht genau das, was die Literatur kann? Warum muss die Grenze des Möglichen ausgerechnet auch für die Literatur gelten? 
Mich müssen Sie das nicht fragen, ich bin eh das Schmuddelkind, das sich nicht um die Genregrenzen und die albernen Reinheitsgebote der deutschsprachigen Literaturkritik kümmert. In jeder anderen Weltliteratur ist diese Art der Kunstfreiheit, des ’magischen Realismus’, des kreativen Ausserkraftsetzens von Zeit, Raum und Konventionen völlig normal und anerkannt. Bei uns nicht.

Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane «Fleisch«, «Kuss» und «Reiz». Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Terézia Mora «Muna oder Die Hälfte des Lebens», Luchterhand

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist vieles; eine Liebes- und Leidensgeschichte, ein Versuch einer Emanzipation, die Geschichte eines deutschen Lebens vor und nach der Wende und ein emotionaler Erklärungsversuch. Térezia Mora erzählt vielschichtig, taucht tief in die Psyche einer Frau und zeigt die Unaufhaltsamkeit menschlichen Schicksals.

Muna wächst als Einzelkind vor der Wende in einer ostdeutschen Kleinstadt auf. Der Vater starb früh an Lungenkrebs, die Mutter versucht sich an ihrem Engagement am örtlichen Theater festzuhalten, schwankt zwischen Alkohol und Depression und überlässt ihre Tochter sich selbst. Eine Kindheit zwischen Einengung und Verlorenheit. Kaum ist der 18. Geburtstag von Muna vorbei, muss die Mutter mit einer Alkohol- und Tablettenvergiftung notfallmässig ins Spital gebracht werden, lässt Muna im Ungewissen darüber, was wirklich passiert ist. Die eine Woche zwischen Geburtstag und Einweisung der Mutter ist für Muna eine Woche voller Glück. Endlich tut sich eine Tür auf.

«Es wird Zeit, dass du etwas aus deinem Leben machst.»

Leben ist permanente Unsicherheit. Nichts an Munas Leben gab ihr Sicherheit. Am ehesten noch die Träume von einer Befreiung, von Ausbildung, von einem eigenen Leben, weit weg vom alten. Sie erfährt schon früh von ihrem Geschick zu schreiben, arbeitet als Praktikantin in einer Redaktion und glänzt bei kleinen Schreibwettbewerben. Bis sie auf eben einer solchen Redaktion Magnus kennenlernt, Lehrer und Fotograf. Sie verliebt sich in den um einiges älteren Mann, obwohl der sie kaum beachtet, sich kühl und distanziert gibt. Und als wäre der Unerklärbarkeiten nicht genug, verschwindet Magnus nach der ersten und einzigen gemeinsamen Nacht.

Terézia Mora «Muna oder Die Haelfte des Lebens», Luchterhand, 2023, 448 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-630-87496-8

Muna beginnt Literatur zu studieren und hält sich mit vielerlei Jobs über Wasser. Sie arbeitet an Forschungsprojekten zu Frauenrechten, zieht von Berlin über London nach Wien, immer auf der Suche nach einem festen Stand, mit der Sehnsucht nach Ankommen und der Hoffnung, dereinst Magnus wiederzusehen, dem sie Briefe schreibt, die sie bei einem Freund von ihm hinterlegt.
Sieben Jahre nach seinem Verschwinden trifft sie ihn wieder, im Foyer eines Theaters. Sie setzt alles daran, wieder mit ihm zusammenzukommen, manövriert sich von einer zur nächsten Abhängigkeit, reist ihm von Stadt zu Stadt nach, bis nach Übersee und blendet geflissentlich aus, dass Magnus längst nicht der Mann ist, der sie auf Händen trägt. Ganz im Gegenteil. Es fliesst Blut.

«Begehren, sagte er schließlich. Das glaube ich. Dass das ziemlich zuverlässig funktioniert. Der Rest ist Schwulst.»

Der Roman ist konsequent aus der Sicht von Muna geschrieben. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.

Die Lektüre dieses Romans erzeugt Schmerz, weil es nur schwer erklär- und ertragbar ist, dass eine intelligente Frau nicht erkennt, was passiert, selbst dann, wenn ihr Nahestehende schonungslos spiegeln, wie perspektivlos sie in eine ungewisse Zukunft torkelt.

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist ergreifend, eine Geschichte, die unter die Haut geht, in einer Sprache, die grosse Meisterschaft verrät, so souverän erzählt wie das Leben Munas in Zwängen eingeschlossen ist.

Im Sommer ist Terézia Mora Gast im Literaturhaus St. Gallen.

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman «Das Ungeheuer» erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband «Seltsame Materie», wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt ausserdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.

Beitragsbild © Antje Berghäuser

Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin

Immer wenn sich Beziehungskatastrophen ereignen, stellt sich die Frage, wann und wo man etwas hätte tun können, noch tun können, um das schlimme Ende zu verhindern. Lana Lux dritter Roman „Geordnete Verhältnisse“ spielt das, was den Beobachtern sonst verborgen bleibt und zeigt, dass selbst 290 Seiten niemals für eine Erklärung reichen.

Es hätte auch eine Liebesgeschichte sein können. Es war über weite Strecken auch eine Liebesgeschichte. Aber wir wissen von klassischen Theaterstücken, wie unabwendbar eine Liebe in ein Drama, in eine Tragödie umschwenken kann und wieviel Leid von dieser Lawine mitgerissen wird.

Noch in der Grundschule kommt Faina aus Russland zu Philipp in die selbe Klasse. Sie beide sind Aussenseiter, beide rothaarig und sommersprossig. Philipp ist schon als Junge eingesperrt in seine Marotten. Und obwohl er sich nichts mehr wünscht als Freundschaft, bleibt er in der Schule aussen vor. Weder seine Tante Martha, bei der er lange Zeit wohnt, noch seine Lehrerin und schon gar nicht seine alkoholkranke Mutter finden einen Zugang zu Philipp, der sich mehr und mehr in seiner immer enger werdenden Welt zurückzieht.

Bis Faina auftaucht und sie von der Lehrerin gezwungen wird, sich mit ein paar radebrechenden Sätzen vor der lachenden Klasse vorzustellen. Faina ist mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, in ein fremdes Land, mit fremden Sitten. Und weil Faina genauso wie Philipp jemanden braucht, der sie schützt, schliessen sich die beiden zusammen. Philipp im Glück, jemandem etwas zu bedeuten, Faina im Glück, jemanden an ihrer Seite zu wissen, der ihr hilft, wenn auch damals schon ausschliesslich und fordernd.

Vielleicht hätte damals jemand oder etwas helfen können. Aber die beiden waren sowohl in Familie und Schule derart isoliert, unverstanden und von Erwartungen gepeitscht, dass sie sich in ihrer Not immer mehr aneinanderklammerten, in guten und in schlechten Zeiten.

Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin, 2024, 288 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-27955-1

Beide kommen weiter ins Gymnasium, Philipp von den Eskapaden seiner Mutter gebeutelt und Faina von den Erwartungen ihrer Familie, die in sehr beengten Verhältnissen von Sozialhilfe lebt. Es ist logische Konsequenz, dass die beiden im Duett durchs Leben schreiten, auch wenn sich immer deutlicher abzeichnet, dass sich die Vorstellungen von „Leben“ bei den beiden immer weiter auseinderbewegen. Philipp will sich von einer Welt absondern, die er nie zu lesen verstanden hat und Faina möchte eintauchen in ein Leben, von dem sie fürchtet, es könnte ohne sie an ihr vorbeiziehen. Auch in der Beziehung zwischen Faina und Philipp ändern sich die Vorzeichen. Während sich Faina immer mehr nach Zärtlichkeiten und körperlicher Geborgenheit zu sehnen beginnt, macht Philipp unmissverständlich klar, dass er von dem ganzen Getue gar nichts hält, schon gar nichts von Sex.

Es kommt zum ersten, grossen Zerwürfnis. Faina verlässt Philipp. Philipp leidet. Mit dem Verschwinden seiner Freundin ist ihm sein Lebensinhalt genommen. Bis sie Jahre später wieder vor seiner Tür steht, schwanger, mit Schulden, einem kaputten Leben. Bei ihm, der sich in seinem gestylten Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Was dann aus den beiden wird, ist ein toxisches Gemisch zwischen Abhängigkeiten, Liebe, Wahnsinn, Wut und Obsession. Bis zur Katastrophe.

„Geordnete Verhältnisse“ schmerzt, weil Lana Lux nicht aus auktorialer Erzählperspektive schildert, sondern aus der Sicht der beiden in der Ich-Perspektive. Somit auch in ihrer jeweiligen Sprache, ihrer Weltsicht, ihrem eigenen Schmerz. Ich verstehe als Leser vieles, weiss, dass jede Handlung, die auf eine Katastrophe hinzielt, die Summe vieler kleiner und grösser Ursachen ist und irgendwann eine selbst- und fremdzerstörerische Eigendynamik ergibt, die kaum mehr aufzuhalten ist. „Geordnete Verhältnisse“ ist das Protokoll einer Katastrophe, die kein Einzelfall ist, die über Jahrhunderte verharmlost und verschwiegen, den Frauen selbst in die Schuhe geschoben wurde. „Geordnete Verhältnisse“ ist ein ungeheuer mutiges Buch ohne Schuldzuweisung. Lana Lux reisst Fassaden nieder!

Lana Lux ist eine deutschsprachige Schriftstellerin, Illustratorin und Moderatorin ukrainisch-jüdischer Herkunft. Sie ist 1986 in Dnipro geboren, emigrierte 1996 ins Ruhrgebiet und lebt seit 2010 in Berlin. 2017 ist ihr Debütroman «Kukolka» erschienen, 2020 ihr zweiter Roman «Jägerin und Sammlerin«. Geordnete Verhältnisse ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.

Beitragsbild © Paula Winkler

Nora Gomringer «In mir taucht der Krieg auf», Plattform Gegenzauber

In
mir
taucht
der
Krieg
auf

Fragt: Du bist überrascht?

Ich sag: Na, der Form halber.

Sagt er: Ich hab Konjunktur. Schreib drüber!

Sag ich: Angeber. Hat Brecht schon.

Sagt er (mit lauter Monsterstimme):
Ich bin der Vernichter.

Sag ich: Du bist in mir ein Hall und Jammer.
Ich halt dich ein, werd innen schwarz,
bleib außen Alabaster, bis die Glut durch dringt.
Dann stehst du da. Verbrennst
die mir zu Hilfe eilen wollten.
So vermehrst du dich als Infektion,
Entzündung aller Wunden.

Sagt er: Du hast es dir schon ausgemalt.

Sag ich: Kenn’ dich wie Abel. Kenn’ dich doch ewig.

Sagt er mir (sanft an mich gelehnt, sein Atem köstlich, so warm im Nacken
alles wie immer alles, nicht ohne Melodie):
Ich bin der Funke.
Im Dunkeln bin ich der hellste Punkt.

(aus Nora Gomringer «Gottesanbieterin», Voland & Quist, Berlin, Dresden & Leipzig, 2020)
Immer öfter lässt sich Nora Gomringer die Gretchen-Frage stellen, sie antwortet in Essays, Reden, Geschichten und natürlich: in Gedichten. Das geschieht oft komisch und mit einem Augenzwinkern, ihr und jedes Gläubigsein ist persönlich. Die Lyrikerin hat sich zuletzt mit irdischen Ängsten, Krankheiten und Phänomenen des Oberflächlichen beschäftigt, doch das Metaphysische wohnte dem schon immer inne – und denken wir an Gomringers Wanderung mit einem lispelnden, über die Einsamkeit des Menschen sprechenden Hermelin, so wundert es kaum, dass erneut eine tierische Begegnung Auslöser für die in diesem Band versammelten Gedichte ist: Schon vor vielen Jahren traf die Dichterin auf eine riesige Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie: die Gottesanbeterin. Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens, die Gomringer zur Hinterfragung des irdischen Seins und der Vielgestaltigkeit von Religion gebracht hat, jenem »geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins«. (Verlagstext)

 

Liebesrost

Liebesrost
Über Nacht
Bist du oxidiert
Neben mir

Hast auf mich reagiert
Bist rostig geworden
Du sagst
Golden
Ich lecke an deinem Hals
Du schmeckst wie der
Wetterhahn

(aus Nora Gomringer «Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded», Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2015. S. 168)
Nora Gomringers Gedichte sind viel herumgekommen. Daher haben sie Sieben-Meilen-Stiefel an den Versfüßen und manchmal einen recht breitbeinigen Gang. Dazu eine laute Stimme und manchmal ganz schön viel Attitüde. Doch manche von ihnen haben Katzensohlen, zarte, bebende Haut, sind verweht, fast noch bevor sie ausgesprochen wurden, sind zum Still-für-sich-Lesen statt zum Deklamieren geeignet. (Verlagstext)

Nora Gomringer, geboren 1980, hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preisund 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Judith Kinitz

Martin Frank «ter fögi ische souhung», Der gesunde Menschenversand

Als „ter fögi ische souhung“ von Martin Frank 1979 erschien, war der Roman Sensation und Skandal zugleich. Der Roman bestach erst recht damals mit seiner absoluten Eigenwilligkeit, seiner Unverblümtheit und als erster queerer Mundartroman aus der Schweiz. Auch über vier Jahrzehnte nach seinem Ersterscheinen ist „ter fögi ische souhung“ ein Ereignis!

Beni ist fünfzehn und irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Pflichten und Rebellion, zwischen Rausch und Zorn. Die Beziehung mit seinen Eltern ist schwierig. Sie haben resigniert, ihren Sohn auf den richtigen Weg zu bringen. Nicht einmal ein arrangiertes Treffen mit dem erfolgreichen Onkel bringt Beni zurück auf den tugendhaften Weg. Beni hat ganz andere Vorstellungen von Leben, einem Leben, das gar nichts zu tun haben will mit den Konventionen der Zeit.

Beni will sein wie Fögi. Wie Fögi Musik machen. Musik wie die Stones. Wie Fögi die Welt sehen. Wie Fögi das Leben geniessen und abhängen. Fögi ist zehn Jahre älter als Beni und versucht sich mit seiner Band über Wasser zu halten, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Es geht nicht ohne das Verticken von Stoff, den er für sich und seine Band, für Beni und zum Verkauf besorgt, mit Connections bis in den Libanon und nach Schweden. Beni vergöttert Fögi als seinen ganz persönlichen Guru. Er liebt ihn, ist ihm verfallen. Er liebt ihn über alles, nur schon deshalb, weil Fögi ihm alles gibt, was ihm sein Leben sonst verweigert. Beni fühlt sich getragen und begehrt, verstanden und geliebt.

«mängisch chunntermer for wine guru odere zem meischter so öpis fo rue giz eifach nid.»

Zusammen mit Fögi taucht er immer öfter und intensiver ab in den Rausch, erlebt die Fahrten in den Taumel zusammen mit seinem Freund wie ein weiches grosses Bett, ein in weiche Decken gepolsterter Himmel des Glücks. Und wie alle, die sich solchen Zuständen ergeben mit dem Glauben, alles vollkommen im Griff zu haben.

Marin Frank «ter fögi esche souhung», Der gesunde Menschenversand, 2023, Neuauflage, 104 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-144-9

Da ist die Geschichte eines Jugendlichen, der in eine Zwischenwelt ab- und eintaucht. Aber da ist auch die absolute Selbstverständlichkeit, mit der sich Beni seinen Neigungen hingibt, seiner Liebe zu Fögi, seinem Traum einer ganz eigenen Zweisamkeit. Als der Roman 1979 erschien, entsprach die Welt der meisten so gar nicht der, die Beni und Fögi auslebten. Dass Martin Franks Art über alternative Lebensvorstellungen und die Schwulenszene zu schreiben später unter den Eindrücken und Schreckensszenarien von Aids wieder verwässert wurde, ist nicht verwunderlich. Verwunderlich hingegen ist es, dass dieser Roman, der wie „Mars“ von Fritz Zorn (erschienen 1977) in vielerlei Hinsicht einzigartig ist in der Schweizer Literaturgeschichte.

Neben Geschichte, Szenerie und Selbstverständlichkeit ist es aber vor allem die Sprache, die Mundart, die in Schrift gefasste Mundart, beinah phonetisch, die Martin Frank zu einer Kunstsprache macht, ermachis eifach uf guet Glük. Ein Unterfangen, dass das Lesen nicht einfach, aber – wer genug Geduld aufbringt – zu einem ganz besonderen Lesegenuss macht, einem Lesen zwischen kindlicher Freude und einer Authentizität, die sonst in der geschriebenen Sprache kaum erreichbar ist.

«tagen unächt schpile lose schite trip ufoglen uaues he zech ufglöst inen uferlose fluss womer trin tribe si oder no bessere teil fo üsem tanz fürnen übermächtige go.»

„ter fögi ische souhung“ ist ein Stück Geschichte, Literatur- und Kulturgeschichte. Ein ganz spezieller Genuss!

Martin Frank, geboren 1950, aufgewachsen in Bern und Zürich. Ab 1970 Reisen in Süd- und Nordindien, wo er Hindi, Urdu und Tamil lernte. Die Erzählungen «Blinde Brüder» erhielten 2001 den Buchpreis der Stadt Bern. Martin Frank schreibt Schweizerdeutsch, Deutsch und Englisch. Letzte Veröffentlichung: «Venedig, 1911» (Rimbaud Verlag, 2021).

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Beitragsbild © Ayse Yavas