Der LL/2, geleitet von Gallus Frei-Tomic, befasst sich ab Februar 2025 mit Tine Melzers «Do Re Mi Fa So», ab April mit dem neuen Roman von Urs Faes, «Sommerschatten». Start: 4. Februar.
Anmeldungen noch möglich über literaturhaus@wyborada.ch
Lesen ist das eine, aber mit andern unverkrampft über das Gelesene in Austausch treten und sich mit den entsprechendne Schriftstellerinnen und Schriftstellern austauschen ist noch viel, viel intensiver.
In diesem Lesekreis widmen sich die Teilnehmenden sich in fünf Treffen von Februar bis Juli aktuellen Neuerscheinungen. Neben Hintergrundinformationen zu den AutorInnen und ihren Büchern, informiert Gallus Frei-Tomic über weitere Perlen der Gegenwartsliteratur und Literaturrosinen im Veranstaltungskalender.
Das Besondere an diesem Lesekreis: Ein Abend mit der Autorin / dem Autor im kleinen Kreis bietet die seltene Gelegenheit zu einem quasi «privaten» Gespräch über das Buch, ihr Schreiben.
Anmeldung, Teilnahmegebühr: Um einen intensiven Austausch zu gewährleisten, ist die Anzahl der Teilnehmenden beschränkt (minimum 10 / maximal 12 Personen). Anfragen und Anmeldung über literaturhaus@wyborada.ch. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Teilnahmegebühr (5 Termine à 1.5 Std.) Fr. 200.-, zahlbar nach Anmeldung (Überweisung via Einzahlungsschein oder TWINT), vor Ort am ersten Teilnahmetermin oder in der Bibliothek Wyborada zu den Öffnungszeiten.
Termine: jeweils Dienstags, 19 Uhr im Studio der Bibliothek Wyborada. Ausnahmen: Die Veranstaltungen in Anwesenheit der Autorin, des Autors.
4. Februar
4. März
22. April (mit Tine Melzer, im Bürgerratssaal des Stadthauses)
20. Mai
1. Juli (mit Urs Faes, im Bürgerratssaal des Stadthauses)
Die ganze Erde schien zu duften und still zu liegen wie ein schlafendes Mädchen. Das grosse dunkle Rund des nächtlichen Himmels breitete sich über alle Augen aus, über die Berge und die Lichter. Der See hatte etwas Raumloses bekommen und der Himmel etwas den See Umspannendes, Einschliessendes und Überwölbendes.
Lieber Bär
Ich weiss, Du liest „Geschwister Tanner“ von Robert Walser. Keine Ahnung, ob zum ersten oder zum wiederholten Mal.
Grab Carl Seelig auf dem Friedhof Sihlfeld, Zürich
Robert Walser zählt heute zu den wichtigsten, deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, obwohl es schon zu Lebzeiten in absolute Vergessenheit geriet und nur Dank der Anstrengungen des Publizisten Carl Seelig zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet. Ein grosses Glück, denn selbst Franz Kafka schätzte den stillen Dichter.
Heute ist Robert Walser ein Stück Schweizer Kulturgut. Seit 1973 kümmert sich das Robert-Walser-Zentrum um den Nachlass, die Forschung, Ausstellungen und Editionen zum Werk des Dichters. Kaum zu glauben, dass er in seinen letzten Jahren entmündigt und fast ohne jegliche Kontakte sein Leben in einer Nervenheilanstalt fristete. Selbst Carl Seelig musste sich das Vertrauen des Stillgewordenen verdienen.
Das langsame Verschwinden Robert Walsers begann schon lange vor seinem Tod am Weihnachtstag 1956. Nach seiner letzten Veröffentlichung in Buchform («Die Rose») 1925 schreibt Robert Walser nur noch kürzere Prosastücke für Zeitungen und seine mittlerweile berühmt gewordenen Mikrogramme mit Bleistift. Texte, die erst Jahrzehnte nach Walsers Tod von den Publizisten Bernd Echte und Werner Morlang detektivisch entziffert und zum grössten Teil auch veröffentlicht wurden.
Parallel zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, jenem Land, in dem seine Bücher Beachtung und eine kleine, aber nicht unbedeutende Leserschaft fanden, verschlechterte sich der psychische Zustand Robert Walsers. Irgendwann so sehr, dass sich seine Schwester Lisa, zu der Robert grosses Vertrauen hatte, gezwungen sah, ihren Bruder zum Psychiater zu bringen. 1929 tritt Walser in die Klinik Waldau unweit von Bern ein. Diagnose Schizophrenie. Und nachdem man ihn vier Jahre später gegen seinen Willen in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau verlegte, gab es sein Schreiben vollständig auf, kapselte sich mehr und mehr ein. Ein Rückzug, der schon mit der geringen Resonanz seiner Bucher zwei Jahrzehnte zuvor begonnen hatte.
Warum Robert Walser lesen? Weil die Stimme, der Walser-Kosmos ganz eigen ist. Weil sich Robert Walser Zeit seines Lebens nie vereinnahmen liess. Weil Robert Walsers Stimme etwas Rebellisches hatte, ohne aufbegehren zu wollen. Weil er sich ganz gegen das stemmte, wonach heute eine ganze Generation lechzt; Aufmerksamkeit, Scheinwerferlicht. Weil Robert Walsers Stimme trotz seiner Einsamkeit eine nach Aussen gewandte, eine naturnahe, elementare, äusserst sinnliche war und man auch heute bei der Lektüre von der Musikalität und Intensität der Sprache ergriffen ist, einem Erzählen, das vollkommen plotabgewandt ist.
Robert Walser «Geschwister Tanner», erste Seite der Handschrift. Das 192 Seiten umfassende Manuskript zeigt über weite Strecken keinerlei Korrekturen. Für sie Makellosigkeit seiner Manuskripte war Walser, der einstige Commis, schon früh berühmt.
Heute ist man sich sicher, dass Robert Walser noch weit mehr geschrieben haben muss, weit über das, was im Nachlass des Dichters verfügbar geblieben ist. Aber weil Robert Walser sehr oft seinen Wohnort wechselte und man bei Hinterlassenschaften des immer schrulliger werdenden Mannes nichts von seiner Bedeutung ahnen konnte, gingen mit Sicherheit etliche Manuskripte verloren. Auch deshalb, weil Robert Walser selbst kein Interesse zu haben schien, sein eigenes Schreiben in irgend einer Weise zu dokumentieren.
Umso bedeutender ist die Tatsache, dass sich sowohl das Robert Walser Zentrum wie der Suhrkamp Verlag darum bemühen, das Werk des Dichters zugänglich und kommentiert zu erhalten.
Nachdem sein erstes Prosawerk «Fritz Kochers Aufsätze» ein grosser wirtschaftlicher Misserfolg war und nur ganz wenige Bücher verkauft wurden schreibt Walser seinen zweiten Roman «Geschwister Tanner» in Berlin in der Obhut seines Bruders Karl in wenigen Monaten, ein Roman, der selbst bei seinem Lektor Christian Morgenstern gemischte Gefühle hervorrief. Wenn ich „Geschwister Tanner“ lese, in die Welt des „Taugenichts“ Simon trete, mit ihm all die Wirrungen und Begegnungen mitmache, die das Leben eines Menschen ausmacht, der sich ganz dem Jetzt zuwendet, der sich nicht um Kariere, Sicherheit und Besitz kümmert, und das derart unbekümmert erzählt, dann wird aus der Lektüre beinahe Meditation.
Ich bin gespannt, was Dir bei der Begegnung mit dem walser’schen Kosmos durch den Kopf geht. Sei freundschaftlich gegrüsst.
Gallus
***
Lieber Gallus
Die «Geschwister Tanner» sind ein Märchen, und sie sind für mich das erstaunlichste Märchen, das je geschrieben wurde, weil es kein anderes gibt, das so nahe an der Realität spielt. Peter Bichsel
Der Walser`sche Kosmos in diesem Buch beglückt, bedrückt, begeistert, berührt, belehrt und bereichert mich auf rätselhafte Weise. Einzigartige Naturschilderungen von unglaublicher Schönheit umhüllen in poetischen Worten geschilderte menschliche Abgründe und Sorgen. Wie Peter Bichsel in meiner Ausgabe anmerkt, ist es ein Märchen sehr nahe an der biografischen Realität, ein Text in einer einzigartigen Sprache, der sich kaum einer Analyse unterziehen lässt. Ich habe das Buch mit Genuss (zum zweiten Mal nach fast zwanzig Jahren) gelesen und finde, es hat eine unfassbare Ausstrahlung.
Es gibt keine echten Dialoge zwischen den Geschwistern, für mich beleuchten ihre Aussagen verschiedene Seiten des Protagonisten Simon (=Robert Walser) aus ihrer Perspektive, geschrieben alle im Walser`schen Stil. Aus Sätzen, die Alltägliches beschreiben, leuchten plötzlich Weisheiten und philosophische Gedanken auf. Was denkt Robert Walser wirklich, was will er uns sagen? Leidet er? Liebt er? Kämpft er? Es bleibt auf wunderbare Weise offen. Mir gefällt dieses Meditative und Mystische sehr, voller Naivität und Unbekümmertheit.
Es lohnt sich, langsam und nicht zu viel auf einmal zu lesen. Wie Werner Hegglin («Menschsein ist schon ein Beruf») mir einmal sagte: «Walser ist konzentriert in homöopathischen Dosen zu geniessen.»
Hier ein paar eindrückliche Mosaiksteinchen aus diesem Buch:
Sie haben mich enttäuscht, machen Sie nur nicht ein so verwundertes Gesicht, es lässt sich nicht ändern, ich trete heute aus ihrem Geschäft wieder aus und bitte Sie, mir meinen Lohn auszubezahlen.
Das Rechnervolk: Sie hatten alle langen Nasen von dem vielen Rechnen und gingen in zersessenen, zerschabten, zerglätteten, zerfalteten und zerknickten Kleidern.
Gott ist das Nachgiebigste, was es im Weltraum gibt. Er besteht auf nichts, will nichts, bedarf nichts.
Ich bin demütig, nicht geknickt, nicht etwa gebrochen, aber voll flammender, bittender, flehender Demut. Ich will mit Demut gut machen, was ich mit Liebe verbrochen habe.
Wie kann ich länger zusehen, dass ich mich zu einem solchen Leben verdamme, das nur Achtung einbringt und nur Achtung von anderen, die einen immer so haben wollen, wie es ihnen am besten passt.
Simon hatte den Sommer noch nie so sehr als Wunder empfunden, wie dieses Jahr, wo er vielfach auf der Strasse arbeitssuchend lebte. Es kam nichts dabei heraus, trotz den Bemühungen, aber es war wenigstens schön.
Wahrlich ein Kosmos von grosser literarischer und menschlicher Qualität. Unfassbar, aber beglückend! Walser lesen entschleunigt und wirkt lange nach.
Das Einfachste von der Welt: Alle mit Freundlichkeit zu behandeln! Sind wir nicht alle zusammen, wir Menschen auf diesem einsamen, verlorenen Planeten, Geschwister?
Mit diesem Satz Robert Walser’s wünsche ich dir und uns allen ein angenehmes friedliches 2025.
Herzlich
Bär
Robert Walser wurde 1878 in Biel, Schweiz, geboren. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, liessen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches «Fritz Kochers Aufsätze» im Insel-Verlag folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane «Geschwister Tanner», «Der Gehilfe» und «Jakob von Gunten». Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Robert Walser starb 1956 auf einem Spaziergang im Schnee.
Ein Zug fährt von Westen nach Osten, quer durch ganz Russland. Der Zug der Transsibirischen ist vollbesetzt, Rekruten auf dem Weg in die Ausbildung, Menschen auf der Reise, eine junge Französin, eine Touristin auf der Flucht vor ihrem alten Leben. Aber unter den zukünftigen Soldaten sinnt auch Aljoscha auf Flucht, jedes Mal, wenn der Zug hält.
Hélène fährt in ihrem Abteil erster Klasse. Sie ist aus einer spontanen Eingebung eingestiegen, war mit Anton in Moskau unterwegs, als Begleitung, um dann plötzlich alles in eine Tasche zu stopfen, um Distanz zu dem Leben zu bekommen, in dem sie sich festgefahren fühlte. Sie spricht nicht einmal Russisch, hat keine Vorstellung davon, was dort, irgendwo im Osten sein wird, nur weg. Aljoscha wurde zwangsrekrutiert, sitzt mit vielen anderen in diesem Zug, Rekruten zur Ausbildung, Männern, die er nicht kennt, zu denen er nicht gehören will, weil er nicht sein will, wozu man ihn machen will. Aljoscha wollte nicht weg und schon gar nicht zu einem Soldaten ausgebildet, Kanonenfutter werden. Jede Haltestelle auf der tagelangen Bahnfahrt ist Aufforderung genug, die Flucht zu ergreifen, abzuhauen, auch wenn er weiss, dass es kein Zurück geben wird.
Am Ende der Schienen wird die Kaserne stehen und die dedowschtschina, das Schikanieren der Wehrpflichtigen, und wenn er dort ist, wenn die Rekruten im zweiten Jahr ihm mit der Zigarette den Schwanz verbrennen, ihn die Latrinen auslecken lassen, ihn am Schlafen hindern oder in den Arsch ficken, wird er allein sein, niemand wird ihm helfen können.
Der Zug rattert gen Osten, Kilometer für Kilometer, Stunde für Stunde. Für Hélène genauso in eine ungewisse Zukunft, wie für Aljoscha. An den Haltestellen, an denen sich die Reisenden die Füsse vertreten, auch die angehenden Soldaten dem Zug entlang von ihren Vorgesetzten beobachtet werden, schnuppert Aljoscha nach der einen Chance, die ihn aus dem Würgegriff eines Alps entlassen soll. Aber bei jedem Versuch fehlt der Mut, die letzte Entschlossenheit, aber auch das Glück.
Maylis de Kerangal «Weiter nach Osten», Suhrkamp, 2024, aus dem Französischen von Andrea Spingler, 90 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-518-43212-9
Hélène spürt die Not des jungen Mannes, sieht seinen Blick, die Augen, die das Weite suchen. Sie begegnen sich immer wieder auf den schmalen Gängen des Zuges, wenn er seine Stirn an die Scheibe drückt. Zwischen den beiden wächst ganz zaghaft eine Verbundenheit, eine Mischung aus Mitleid und Verliebtheit, aus Faszination und Hilflosigkeit. Bis Aljoscha alles auf eine Karte setzt und ein weiterer Fluchtversuch zu scheitern droht. Es gibt keine Versuche, nur Scheitern oder Gelingen. Hélène zieht den jungen Mann in ihre Kabine und versteckt ihn dort, wo man sonst die Koffer in einen Zwischeraum schiebt. Die körperliche Nähe wird zur Notwendigkeit, nicht nur in seinem Versuch, sich vor seinen Vorgesetzen und dem Personal des Zuges unsichtbar zu machen, sondern weil der Raum zwischen und um die beiden mit einem Mal auf das reduziert wird, was eine Kabine mit zwei Pritschen hergibt.
Das Hemd verlangt er, weil es um seine Freiheit geht.
Aus Hélène und Aljoscha werden Verbündete ohne gemeinsame Sprache. Aljoscha braucht seine Verbündete und Hélène hat sich an ein Schicksal gehängt, dem auch sie nicht mehr entfliehen kann. Während der Zug unaufhaltsam Richtung Osten rollt, spinnt sich ein Verhältnis, dass die beiden mehr und mehr aneinander fesselt. Werden sie es schaffen? Gibt es ein Danach?
Maylis de Kerangal schafft einen klaustrophobischen Raum, einen Zug in die Verdammnis, einen Weg, den es nur in der einen Richtung gibt. „Weiter nach Osten“ ist ein schmales Buch mit erstaunlichem Tiefgang. Ob in seiner Dramatik oder in seiner Sprache. Lange, mäandernde Sätze, die das Rattern der Räder aufnehmen, die den Zug imitieren, den Zug des Geschehens, den Zug auf Rädern. Maylis de Kerangal schafft Erstaunliches. Es ist das Psychogramm einer Not. Man riecht den Schweiss der Angst, den Zwang des Kollektivs, das lauernde Misstrauen, das Reissen der Verzweiflung.
Irgendwie Liebesgeschichte und doch nicht. Irgendwie Antikriegsgeschichte und doch nicht. Irgendwie Thriller und doch nicht. Aber ein absolut beklemmendes Kammerspiel!
Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman Die Brücke von Coca wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, Die Lebenden reparieren gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris.
Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.
Kann man den Schrecken, das Grauen in Worte fassen? Die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska kann es, auch wenn sie angesichts des Grauens ihrer Gegenwart darauf hoffen muss, dass Leserinnen und Leser verstehen und sehen. «Babyn Jar. Stimmen», ihr erster auf Deutsch erschienener Gedichtband ist ein Mahnmal.
Vor dem zweiten Weltkrieg lebten über 200 000 Juden in der Stadt Kiew, die grösste jüdische Gemeinde in der Ukraine. Noch vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht flohen die meisten, aber viele Frauen, Alte, Kranke und Kinder blieben. Kaum war die Wehrmacht in der Stadt, begann das grosse Quälen, Drangsalieren und Morden, mitten auf den Strassen der Stadt, unter dem Beifall vieler Einheimischer. Nur wenige Tage nach dem Einmarsch beschlossen die Besatzer die «Evakuierung der Juden». Am 28. September 1941, das Tausendjährige Reich schien beinahe ungehindert auf Expansionskurs, wurde der verblieben jüdischen Bevölkerung bekanntgegeben, sich am darauffolgenden Tag mit wenig Gepäck zur Aussiedlung in den Westen in bereitstehende Züge aufzumachen. Mehr Juden als erwartet folgten dem Befehl, die meisten nichts Gutes ahnend. Im Norden der Stadt, am Eingang zu einem schmalen Tal, einer Schlucht ähnlich, nahm man den ankommenden Juden alles weg, trieb sie in die schmale Schlucht und erschoss alles, was sich bewegte. Am 29. und 30. September 1941 wurden mehr als 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet, das grösste «einzelne» Massaker an der jüdischen Bevölkerung während des zweiten Weltkriegs.
Als mehr als zwei Jahrzehnte später einer kleinen Gruppe Deutscher in Darmstadt der Prozess gemacht wurde, waren die Männer, die als Angeklagte vor dem Richter standen, ganz unscheinbare Prokuristen, Buchhalter und Bankangestellte, Ehemänner und Familienväter, Einfamilienhausbesitzer und rechtschaffen. Sie wurden zu kurzen Haftstrafen verurteilt, meist früher entlassen, einige straffrei freigelassen. Polizisten, die damals schossen, waren nach dem Krieg weiter Polizisten.
Lange Jahre war das Gedenken an jenes Massaker ein Tabu, auch die fleissige Mithilfe der nichtjüdischen Kiewer Bevölkerung. Es brauchte Jahrzehnte, bis an den Orten des Grauens Gedenkstätten errichtet wurden.
«Babyn Jar. Stimmen» ist der erste Band einer geplanten Trilogie. Der zweite Band erschien in der Ukraine 2023 unter dem Titel „Der Blitz begegnet Wind und Wasser“ und handelt vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der dritte Band soll die zersetzende Wirkung des Krieges auf alle Lebensbereiche thematisieren.
Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43176-4
«Babyn Jar. Stimmen» sammelt 67 Stimmen von Menschen zur Zeit ihres gewaltsamen Todes. Marianna Kijanowska beschäftigt sich aber nicht nur mit den Mechanismen der Gewalt. Sie gibt den vergessenen Stimmen eine Spur, eine Art Tonspur. Jedes Gedicht ist eine Stimme, Stimmen von Kindern, Erwachsenen auf dem Weg in die Schlucht. Stimmen, die nachvollziehbar nicht in Sprache fassen können, was ihnen bevorsteht. Stimmen, die die Angst zudecken, sich selber trösten, das Unaussprechliche ausblenden.
Das Morden unter dem Deckmantel einer Ideologie, als blosse Ausführung von militärischen Befehlen hat in der Ukraine noch immer kein Ende. Die 67 Gedichte in «Babyn Jar. Stimmen» lesen sich wie Meditationen. Sie helfen nicht zu verstehen. Sie trösten nicht. Aber sie streuben sich gegen das Schweigen, gegen das Vergessen, gegen die systematische Tilgung von Erinnerungen.
наповнити очі такими сльозами щоби не текли солонішими аніж сіль кам’янішими аніж камінь і дім збудувати з усього що всюди й не знати коли було у дитинстві у небі в пісочниці і під руками придумати маму нехай буде хаву таку щоб була моя щоби голову мила мені щоб була чи просто була зі мною
називаючи речі в крамниці де хліб молоко але ще по краях
вітрини багато зимового з ковзанки щастя і сухостою
мене уже не рятує ніщо чи ніщо крім можливо сліз які проламують тло поверхню і дещицю решти тіла
щоби не вмерти я мушу мати в судинах на дні і на дні валіз
важкі механізми придумувань витіснень крила крила –
***
die augen mit tränen füllen die nicht fließen salziger als alles salz steiniger als aller stein ein haus bauen aus allerlei von überall ohne zu wissen war es als kind im himmel in der sandkiste unter den händen eine mama ersinnen eine chava müsste es sein die meine ist die mir das haar wüsche die da wäre oder einfach mit mir zusammen
die dinge im laden beim namen nennt da das brot die milch doch an den rändern
des schaufensters ist auch viel winter eisbahn glück und tote bäume
nichts kann mich mehr retten oder nichts als die tränen die den grund die fläche das quäntchen die reste des körpers durchbrechen
um nicht zu sterben brauche ich auf dem boden der gefäße und auf dem boden der koffer
schweres gerät aus erfindungen verdrängungen flügel flügel –
Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.
Claudia Dathe , geboren 1971, übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u.a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynsky und Yevgenia Belorusez. 2020 wurde sie zusammen mit Yevgenia Belorusez für das Buch «Glückliche Fälle» mit dem Internationalen Literaturpreis und 2021 für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband «Antenne» mit dem Drahomán-Preis ausgezeichnet.
Geschichten wie dunkle Gemälde! Dass Fleur Jaeggy bei vielen Leserinnen und Lesern nicht auf dem Schirm ist, mag verschiedene Gründe haben. Zum einen schreibt die Schriftstellerin italienisch, zum andern lebt sie scheu und zurückgezogen in Norditalien. Aber wahrscheinlich liegt der Grund auch in der männerdominierten Vergangenheit der Kultur- und Literaturszene.
Dass Suhrkamp in den kommenden Jahren das Werk von Fleur Jaeggy nach und nach wieder in seiner Breite einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen will, ist löblich und mit einem Seitenblick auf Annie Ernaux mehr als verständlich. So wie die grosse Französin entwickelte Fleur Jaeggy in den fünf Jahrzehnten ihres Schreibens einen ganz eigenwilligen Stil, weit weg vom blossen Geschichtenerzählen. Jaeggys Texte, ihre Kurzgeschichten im 2014 in Italienisch erschienenen Band „Ich bin der Bruder von XX“, schildern in einer dunkel gefärbten Sprache vom Unerklärlichen des Lebens. Fleur Jaeggy erzeugt eine ganz eigene Tiefe in Geschichten, die mich als Leser stets mit einem Rest Ratlosigkeit zurücklassen. Einem Rest, der durch seine Verschlüsselung noch lange nachwirkt. Sie erzeugt Bilder, die über die Grenzen zum Surrealen hinausgehen, manchmal von einer ganz alltäglich, fast banalen Eingangsszene bis in den Alp.
Fleur Jaeggy «Ich bin der Bruder von XX», Suhrkamp, aus dem Italienischen von Barbara Schaden, 114. Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43166-5
Mit ihrer im appenzellischen Teufen spielenden Internatsnovelle «Die seligen Jahre der Züchtigung», erlangte Fleur Jaeggy 1989 Beachtung weit über Europa hinaus, Beachtung, die ihr in ihrem Ursprungsland stets verwehrt blieb. Erst in diesem Jahr ehrte man die 84jährige in der Schweiz mit dem Gottfried-Keller-Preis, einem Preis, die die Schriftstellerin endlich in die Reihe der Grossen in der CH-Literatur stellt.
„Ich bin der Bruder von XX“, 20 Prosaminiaturen, liest sich wie eine Bilder- und Fotoausstellung. Ausschnitte eines Lebens, die Stimmungen aus ihrem Leben schildern, aber nicht, um sie zugänglich zu machen. Fleur Jaeggy verschleiert. Manchmal scheint sie auch mit Absicht in die Tiefenschärfe einzugreifen, als wolle sie mich zwingen, durch ihre Sinneseindrücke Fragen zu verändern, den Blick umzuleiten. Selbst in Familienszenen dominiert das Bedrohliche, die Enge, das Fremde. Als wäre sie in der Welt, in die sie hineingeboren wurde, nie heimisch geworden, auf eine ganz seltsame Weise einsam geblieben.
In einer der kurzen Texte beschreibt Fleur Jaeggy gar eine Begegnung mit ihrer Freundin Ingeborg Bachmann. Darüber, was sein wird, wenn sie dereinst alt sein werden. „Jeden Tag ging ich ins Sant‘Eugenio, Abteilung Schwere Brandverletzungen. Zweimal betrat ich ein Zimmer, das aseptisch sein musste.“ Etwas, was ihre Kurzprosa ganz und gar nicht ist.
Ein Juwel und ein Stück grosse CH-Literatur!
Fleur Jaeggy ist eine schweizerische und italienischsprachige Autorin, Ex-Model, Intellektuelle, Mystikerin, inzwischen etwas über 80 Jahre alt, ehemals enge Vertraute Ingeborg Bachmanns, Witwe des Adelphi-Verlegers Roberto Calasso, heute lebt sie weitgehend zurückgezogen in Mailand. Ihr weltweit gefeiertes Werk umfasst Romane, Erzählungen und Geschichten – beginnend mit «Ich bin der Bruder von XX», wird es fortan vollständig im Suhrkamp Verlag erscheinen. 2025 wird Fleur Jaeggy mit dem Schweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet.
Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München, arbeitete anschliessend als Verlagslektorin und ist seit 1992 freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Sie übersetzt neben Kazuo Ishiguro unter anderem Patricia Duncker und Nadine Gordimer. Barbara Schaden lebt in München.
Fleur Jaeggy «Die Seeligen Jahre der Züchtigung», Suhrkamp, 2024, aus dem Italienischen von Barbara Schaden, Broschur, 110 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-518-47427-3
Ein Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Gehorsam und Disziplin prägen die Ordnung des Hauses. Die heitere Landschaft vor den Fenstern treibt die vierzehnjährige Ich-Erzählerin zu stundenlangen einsamen Spaziergängen. Eines Tages erscheint eine Neue während des Mittagessens: Frédérique, schön, streng, verächtlich und voller Überdruss. Frédérique ist anders, etwas Leises und Schreckliches umgibt sie. Ihr sind Beherrschung, Gehorsam und Perfektion bereits zur zweiten Natur geworden. Die Erzählerin ist gebannt von ihrer Erscheinung, sie will sie erobern, sucht ihre Freundschaft. Empfänglich für den morbiden Reiz der Disziplin verfällt sie Frédérique mehr und mehr. Und erst ein ganzes Leben später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe in Worte fassen.
Siebzig Jahre nach Babyn Jar, dem Massaker nazideutscher Spezial- und Polizeieinheiten unter Mithilfe ukrainischer Milizen an über 33000 Jüdinnen und Juden, Frauen, Männern und Kindern nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiev, gibt Marianna Kijanowska den Opfern in «Babyn Jar.Stimmen» Identität und Würde zurück.
Lieber Gallus
Babyn Jar, ein Wort, das in mir Sprachlosigkeit, Erschütterung, Wut und Erinnerungen auslöst. Zusammen mit unseren Freunden aus Kiev hatten wir vor über 20 Jahren in der Ukraine viele Stätten besucht, wo in Kriegen Leute kaltblütig ermordet wurden. Aber dieses Tal Babyn Jar hat mich am tiefsten beeindruckt, beschäftigt und ist sofort wieder vor meinem inneren Auge präsent.
Der ukrainischen Autorin Marianna Krijanowska ist es gelungen, mit «Babyn Jar.Stimmen» 65 fiktive Menschen sprechen und ihre beklemmenden Momente auf dem Weg zur Ermordung erleben zu lassen. Lesend erinnere ich mich an den Besuch dieser Stätte vor über 20 Jahren, an das erst 1991 errichtete Denkmal und den damals noch kaum zu findenden Weg. Später hatte ich die 13. Sinfonie Schostakowitschs für Orchester, Bass und Männerchor mit dem Namen Babyn Jar auf Schallplatte angehört.
Schostakowitsch, Kondraschin (Dirigent der Uraufführung) und Jewtuschenko am 18.12.1962 (von links)
Der junge russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko hatte 1961 ein Gedicht über die Tragödie der Juden in dieser Schlucht veröffentlicht:
«Es steht kein Denkmal über Babi Jar. Die steile Schlucht gemahnt als stummes Zeichen. Die Angst wächst in mir. Es scheint mein Leben gar bis zur Geburt des Judenvolkes zu reichen.»….
das 1991 errichtete Denkmal
Die politischen Schwierigkeiten im poststalinischen Russland konnten die Uraufführung am 18. Dezember 1962 in Moskau nicht verhindern. Die gesamte kulturelle Elite Moskaus erwartete sie mit Ungeduld. Es wurde ein Riesenerfolg. Trotz frenetischem Applaus der Zuhörerinnen und Zuhörern war anderntags in der «Prawda» nur eine knappe Zeile über das Konzert zu lesen. Leider wäre das heute kaum anders!
«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (Ilma Rakusa zu «Stimmen»)
Der Band «Stimmen» macht mich sprachlos, weil hier eine einmalige Sprache von solcher Wucht, aber auch tiefer Schönheit und von musikalischem Klang vorliegt. Dies dank der wunderbaren Übersetzung:
«……und die sonne steht so hoch als wäre sie aufgestiegen um die stadt von oben zu sehen und wie wir darin sterben und wie wir zum fluss gehen zu schauen weil wir getötet werden adelka miriam debora liegen erschossen in der schlucht ich bin so traurig das herz ist ein stein und die seele ist durchsichtig und wird dünner und dünner und das heisst tod………..
Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, Suhrkamp, 2024,Ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca., ISBN 978-3-518-43176-4
Claudia Dathe (Übersetzerin von «Stimmen») schreibt im Nachwort, der Gedichtband sei der Auftakt zu einer Auseinandersetzung der Autorin mit den Mechanismen entfesselter Gewalt und ihrer Auswirkung auf das Dasein. Es soll eine Trilogie entstehen, wo auch die Schrecken des aktuellen Angriffskrieges Putins literarisch in Sprache umgesetzt werden soll. Auch wenn die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit entfesselter Gewalt anspruchsvoll sind und weil weiterhin weltweit Kriege und Terror unsere menschliche Existenz bedrohen, ist meines Erachtens die Beschäftigung mit dieser dunklen Seite der Menschheit in der Literatur, in der Musik oder im Film sinnvoll und wichtig.
Was denkst du zu diesem Buch?
Herzlich Bär
***
Lieber Bär
Am 29. September 1941 wurden bei Kiev 33000 Menschen bestialisch ermordet, viele von ihnen aus nächster Nähe, unter gütiger Mithilfe vieler Menschen aus der Stadt, ihrer Nachbarn. Die Prozesse nach dem Krieg waren ein Hohn, eine Aufarbeitung kam erst nach Jahrzehnten schleppend in Gang. Selbst ein Dammbruch 20 Jahre später, der die Knochen jener freilegte, die man nach dem Krieg nicht «entsorgte» und vor die Häuser der Nachbarn spülte, war noch nicht Grund genug, sich dem apokalyptischen Schrecken zu stellen.
Vom 11. bis 19. Juli 1995 verübten serbische Soldaten und paramilitärische Einheiten im bosnischen Srebrenica ein unfassbares Massaker unter den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten. Über 8000 Menschen fanden durch Massenerschiessungen den Tod. Obwohl die Drahtzieher und Organisatoren des Massakers Mladić und Karadžić noch im gleichen Jahr verurteilt wurden und man die Tat als Völkermord taxierte, blieben viele der Täter ungeahndet.
Im Frühling 2022 besetzten russische Truppen den ukrainischen Ort Butscha. Die russischen Soldaten töteten innerhalb wenige Tage wahllos fast 500 wehrlose Zivilisten. Die Toten, die nicht eiligst verscharrt wurden, liess man tagelang liegen. Und selbst nachdem westliche Journalisten den Ort des Grauens erreichten, versuchte die russische Propaganda das Massaker als ukrainische Inszenierung herunterzuspielen.
Die Liste der Ungeheuerlichkeiten liesse sich beliebig erweitern, ob in biblischen Zeiten, im Mittelalter, in den Kolonien … ob im Krieg oder in angeblichen Friedenszeiten, ob unter „Barbaren“, im Namen von Kirche oder Krone … der Mensch, meist männlich, benötigt nicht einmal Raserei. Es reicht Kalkül. Dass sich der Schrecken, ob aufgearbeitet oder nicht, in der kollektiven Erinnerung der Opfer über Generationen festsetzt, wird allzu schnell vergessen. Dass sich die Untaten bis in die Gegenwart ausdehnen und in Nachfolgekonflikten, die sich wie Flächenbrände zu Kriegen auswachsen, ausgeblendet.
Die ukrainische Schriftstellerin Marianna Kijanowska
Ein Denkmal mag zur Erinnerung mahnen, eine Symphonie das Erinnern verstärken. Selbst das 2003 veröffentlichte Dokudrama „Das vergessene Verbrechen“, eine deutsch-belarussische Koproduktion des US-amerikanischen Regisseurs Jeff Kanew, vermag nie das zu erzeugen, was Literatur vermag. Marianna Kijanowska lässt die Stimmen in meinem Kopf sprechen. Ich bin während des Lesens unmittelbar bei ihnen. Die Resonanz dieser Texte ist atemraubend.
Ich war noch nie in Kiev und es wird wohl noch eine ganze Weile so bleiben. Aber mit diesem Buch und der ganzen Auseinandersetzung, die es auslöste, war ich dort. Selbst der ukrainische Text neben der deutschen Übersetzung wirkt. Es ist der O-Ton, der Verweis auf das Tatsächliche. Erstaunlich, was Lyrik zu bewirken vermag. Vor allem dann, wenn eine Autorin wie Marianna Kijanowska bei den Menschen selbst bleibt, nichts abstrahiert oder verschlüsselt. Ein starkes Buch. Und ein wichtiges Stück Selbstvergewisserung.
Soll man das lesen? Unbedingt – auch wenn es einen Schritt mehr braucht.
Liebgruss
Gallus
Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.
Man lese und staune! Julia Josts Debüt mit dem sperrig langen Titel «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ ist ein literarisches Feuerwerk, ein barock anmutendes Sittengemälde südkärtnerischer Eigenheiten in bester österreichischer Fabuliertradition. Was hier an Kraft und Intensität gedeiht, ist betörend und verblüffend.
Vordergründig erzählt Julia Jost in ihrem einzigartigen Erstling vom Aufwachsen in Südkärnten, in einer rechten, nationalistisch geprägten Umgebung in den 80ern und 90ern, einem Land, einem Bundesstaat, der sich mit den politischen Kräften rund um den Populisten Jörg Haider damals in eine Richtung aufmachte, aus der Österreich bis in die Gegenwart nicht in der Lage ist, auszusteigen. Julia Jost erzählt von einem elfjährigen Kind, dass sich schon als Mädchen nicht in die ihr zugedachte Rolle einfügen will, das ihre Andersartigkeit spürt, das sich unter einem Lastwagen versteckt, um dem geschäftigen Treiben auf dem Gratschbacherhof zuzuschauen, die lieber mit ihrer Freundin Luca spielt, um sich nicht einholen zu lassen von den aus- und einladenden Geschehnissen auf dem Hof ihrer Eltern und Grosseltern.
Julia Jost «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht», Suhrkamp, 2024, 231 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43167-2
Ihr Vater ist mit seinen Geschäften zu Geld gekommen, zu viel Geld. So viel Geld, dass weder Vater noch Mutter in der Lage sind, das Geld standesgemäss auszugeben. Also zieht man um, vom Gratschbacherhof am Fuss der Karawanken, nicht weit von der Drau, dem Fluss, der Kärnten in Nord und Süd teilt, in die Stadt. Weg vom Gasthof, der der Gratschbacherhof ist und war, in dem sich all die mehr oder minder Originale trafen, kein Geheimnis Geheimnis blieb und die rechts-nationalistische Gesinnung, die auch an den Wänden prangt, bis hin zu einem alten, vergilbten Ariernachweis der Familie aus allen Poren trieft. Schuldgefühle ihrer Mutter, die sich mitverantwortlich fühlt für den Tod eines Kindes, ein Junge, der kopfüber in einem tiefen Brunnen starb mit einem Messer mit der Gravur ‹Meine Ehre heißt Treue’ aus der Waffenkammer seines Grossvaters im Bauch.
«Geh ruhig tiefer hinein. Immer dem Dunkel nach. Und der Stille.»
Auf dem Hof stapeln sich Berge von Material; Möbel, Kleider, Uhren, Schmuck… Dinge mit denen man Dutzende Haushalte ausrüsten könnte. Zeugnisse eines rauschhaften Lebens einer Frau, die nie zur Ruhe kommt, die das ganze Leben zu einer einzigen Kompensation macht, einer einzigen Busse für eine Existenz am Rande des Wahnsinns. Es versteckt sich nur das Kind, unter dem Lastwagen, der das ganze Zeug an den neuen Ort bringen soll, in die Stadt, wo ein neues Leben beginnen soll, weg vom Gratschbacherhof, in dem sich all die Dämpfe, Gerüche und Gase aus der Vergangenheit mit aller Hartnäckigkeit festhalten.
Das Faszinierende an diesem Roman ist aber weder die Geschichte noch das Szenario. Die Österreichiche Literatur ist voller Abrechnungen, Rundumschläge, Beschimpfungen und Triaden. Julia Josts Szenerie erinnert an die gnadenlos frechen Zeichnungen des 2016 verstorbenen Karikaturisten Manfred Deix, an die messerscharfen Antiheimatromane eines Josef Winklers oder die schäumende Sprachlust der in diesem Jahr verstorbenen Schriftstellerin und Malerin Helena Alder. Es ist die schiere Sprachlust und Sprachkunst, der fast atemlose Rhythmus, der erst bei der lauten Lektüre zum Tragen kommt. Es sind die barocken, verspielten, überbordenden Bilder, der lange Atem, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zieht. Da schreibt jemand, der von einer ganzen Horde von Geistern geritten wird. Zugegeben, man muss sich in diese Wort- und Satzkaskaden einlassen. Aber wenn man sich bei der Lektüre betören lässt, wird es zu einem wilden Ritt auf den Zacken der Krawanken! Ein literarischer Hochgenuss!
Julia Jost, geboren 1982 in Kärnten, Österreich, studierte Philosophie, Bildhauerei und Theaterregie. Sie arbeitete als Regisseurin und Dramaturgin in der freien Szene sowie u. a. am Thalia Theater Hamburg. 2019 wurde sie für einen Auszug aus «Wo der spitzeste Zahn der Karawanen in den Himmel hinauf fletscht» mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. Ihr Theaterstück «ROM» feierte im April 2024 am Volkstheater Wien Premiere. Julia Jost lebt in Wien und Berlin.
Ob Terézia Mora, Ronya Othmann oder Joanna Bator, von Frauen erduldete und erlittene Gewalt ist immer wieder Thema in der Literatur, als wäre die Literatur die Waffe, um sich mit Sprache gegen diese Gewalt zu wehren.
Nicht ganz einfach für mich als Mann, zumal mich die Lektüre dieser Bücher und die Gespräche darüber immer und immer wieder mit Selbstreflexion konfrontieren; Wie weit bin ich selbst Teil dieser Mechanismen? Wie viel davon ist mir bewusst, wie viel ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen? Was hat sich in meine Sprache eingeschlichen? Warum scheint sich in Büchern leichte Unterhaltung mit den Sonnenseiten der Liebe zu beschäftigen und „ernste“ Literatur mit den Schattenseiten? Warum beschleicht mich beim Lesen immer wieder das Gefühl, „auf der falschen Seite“ zu sein.
Weder Gewalt an Frauen, oder all die unauffälligen, verborgenen männlichen Verhaltensweisen, die sich bewusst oder unterbewusst gegen Frauen richten bis hin zu offensichtlicher Misogynie, waren Thema am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Aber selbst der ofenfrische Roman der jungen Michelle Steinbeck widmet sich dem Thema, lässt Männer oder zumindest Männlichkeit schlecht aussehen.
Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator, nicht zum ersten Mal Gast (Man kündigt in Leukerbad weibliche Gäste als Gästinnen an. Etwas was mir weder über die Lippen noch in die Tasten geht, zumindest vorläufig.) in Leukerbad, brachte einen monumentalen Roman ins Wallis. Auf 800 Seiten erzählt Joanna Bator virtuos, verschachtelt und leidenschaftlich von vier Generationen Frauen, einem Jahrhundert deutsch-polnischer Geschichte. Eine Geschichte, in der die Männer einzig und allein da sind, Schwierigkeiten zu machen, abwesend zu sein oder sich ganz offensichtlich gegen die weibliche Kraft zu wenden, bis hin zu schreiender Gewalt.
Noch offensichtlicher wird es bei Ronya Othmann, die sich mit ihrem Roman „Vierundsiebzig“ auf beklemmende Weise mit ihrer jesidischen Herkunft, ihren Wurzeln beschäftigt. 2014 verübte der IS einen Genozid an den Jesiden im Sindschar-Gebirge. Weitab von der medialen Aufmerksamkeit wurden im Norden des Iraks Tausende von Jesiden umgebracht, hauptsächlich Männer, während man Frauen als Sexsklavinnen verkauft und Kinder zu Selbstmordsoldaten macht. Ein Massaker in einer langen Reihe, das vierundsiebzigste, ein Genozid über Jahrhunderte, ein genetisch verankertes Trauma einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die als Minderheit immer und immer wieder zwischen die Fronten gerät. Ein massenhaftes Töten fanatischer Männer. „Vierundsiebzig“ ist ein langer Erklärungsversuch einer jungen Autorin, die nicht nur in ihrem Roman um eine Stimme ringt. Selbst während des Gesprächs am Festival über ihr Buch rang sie nach Fassung. Ein Buch, dem ich möglichst viel Publikum wünsche!
Viel abgeklärter die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora, die in ihrem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ erstmals aus der Sicht einer Frau erzählt. Muna liebt Magnus. Es könnte eine Liebesgeschichte sein, ist aber viel mehr die Leidensgeschichte einer Frau, die sich nicht aus dem Dunstkreis eines Mannes befreien kann, der sie fesselt und erniedrigt. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.
Das sind nur ein paar wenige Eindrücke aus dem vielfältigen Programm des diesjährigen Festivals, das trotz prominenter Absagen, reiste ich doch mit vollständiger Svenja-Leiber-Bibliothek an, äusserst dicht und kurzweilig war. Selbst mit den Unmengen an Wasser, die dem Wallis in diesen Tagen arg zu schaffen machten. Ein grossartiges Geschenk!
Vielleicht beschreibt der 1719 erstmals erschienene Roman “Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe mit dem heute seltsam anmutenden Originaltitel The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der achtundzwanzig Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des grossen Flusses Orinoco; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“) nicht nur einfach ein Abenteuer, sondern die Sehnsucht des Menschen nach einem echten, wahren, unmittelbaren, naturverbundenen Leben. Damals wie heute scheint Fortschritt eine stetige Entfernung von der Natur zu sein, eine immer grösser werdende Entfernung und Entfremdung.
Keine Kunstrichtung wie die Literatur versteht es so sehr, uns Menschen in einen Zustand zu versetzen, der uns aus unserem Leben, unserem Umfeld herausreisst, manchmal vielleicht sogar nachhaltig. Ich könnte eine ganze Reihe Bücher aufzählen, die mich in meinem Menschsein unmittelbar beeinflussten. Filme und Musik berauschen. Aber weil mich Bücher viel länger, über Tage oder gar Wochen begleiten, ist ihre Wirkung eine ganz andere. Ich bin überzeugt, dass ich als Vielleser ein anderer geworden bin, als der, der ich ohne die Literatur geworden wäre. Literatur wirkt unterschwellig, nicht wie ein halbstündiges Sonnenbad mit anschliessendem Sonnenbrand, sondern wie ein langer, guter Traum.
H. D. Thoreau «Walden oder Leben in den Wäldern», Diogenes Taschenbuch, 2007, übersetzt von Emma Emmerich, 352 Seiten, CHF ca. 17.90, ISBN 978-3-257-20019-5
Als Henry David Thoreau 1854 seinen zeitlich befristeten Ausstieg aus seinem Alltag, sein zurückgezogenes und reduziertes Leben in einer Blockhütte im Wald in seinem Buch „Walden“ veröffentlichte, wurde er zu einem der Begründer des Nature Writing. Eine Bewegung weit über die Literatur hinaus. Dass Nature Writing zu einem eigentlichen Bedürnis geworden ist, zeigt sich im durchschlagenden Erfolg der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, die mit ihrer Herausgeberschaft der „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz nicht nur einen wirtschaftlichen Überraschungserfolg landete, sondern auf dem deutschsprachigen Büchermarkt eine regelrechte Welle von hochwertigen Naturbüchern mit literarischem Anspruch verursachte.
Delia Owens «Der Gesang der Flusskrebse», hanserblau, 2019, übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-26419-9
Aber auch Romane der Gegenwart spielen mit der Sehnsucht des Menschen nach unberührter Natur, Naturverbundenheit, den Auswirkungen von Klimaveränderungen und menschlicher Zerstörungen. Dass der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens 2023 zu den bestverkauften Büchern gehörte, ist nicht nur der erzählten Liebesgeschichte und der überwältigen Kulisse zu verdanken. Delia Owens beschreibt eine junge Frau, die ganz mit der Natur lebt, die die einzige Liebe ohne Schmerz in der Natur findet. Ein Roman, der Sehnsüchte stillt und weckt.
Douna Loup «Verwildern» Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6
Vor wenigen Tagen las ich „Verwildern“, die deutsche Übersetzung des Romans „Les Printemps sauvages“ von Douna Loup. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus ihrem kleinen Paradies am Rande eines Sees vertrieben fühlt und auf die Suche machen muss, auf die Suche nach ihrem Bruder, ihrem Vater, sich selbst. Aber Douna Loup gelingt in ihrer fast märchenhaften Geschichte etwas, was in der Literatur nur ganz selten passiert. In ihrem Roman ist die Natur nicht bloss Kulisse. Sie schreibt nicht einfach eine Geschichte in sie hinein. “Verwildern“ ist auch als Schreibkonzept ganz wörtlich zu nehmen. Douna Loup schreibt aus der Natur heraus. Geschichte und Figuren treten nicht aus ihr heraus. Sie sind ineinander verschlungen. Die eigentliche Geschichte «verwildert». Ein betörendes Buch.
Ich bin gespannt auf deine Meinung!
Liebe Grüsse Gallus
***
«Um jedoch auf meinen neuen Gefährten zurückzukommen, so gefiel mir dieser ausserordentlich» Daniel Defoe, Robinson Crusoe
Lieber Gallus
Dein letztes Schreiben hat mich erreicht, als ich am Packen war für eine Schiffsreise von Berlin nach Rügen. Zufall? Ich hatte die Lektüre von Lutz Seilers erstem Roman «Kruso» begonnen, um ihn auf dem Schiff fertigzulesen. Obgenannter Satz steht als Motiv vor dem Beginn.
Die Sehnsucht des Menschen nach einem wahren naturverbundenen Leben, die Entstehung des Nature Writing und die Beeinflussung der LeserInnen durch Bücher im Vergleich mit Musik sprichst du in deinem Schreiben an. Du erwähnst Daniel Defoe, Henry David Thoreau, Judith Schalansky, Delia Owens und Douna Loup.
Lutz Seiler «Kruso», Suhrkamp, 2014, 484 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-42447-6
Du forderst mich wieder einmal heraus, was ich sehr schätze, und ich habe viel nachgedacht. Dies unter dem Einfluss von «Kruso», der Geschichte einer ausserordentlichen Männerfreundschaft unter ausserordentlichen historischen Bedingungen, dies auf einer Insel in der Ostsee, ich selbst auf einem Schiff nach Rügen. Dabei konnte ich gut erahnen, was es bedeutet, in einem Land «gefangen» fern das unerreichbare «Land der Freiheit» zu erblicken. Nach der Wende und dem Verlust seiner Freundin sucht der Protagonist Edgar auf dem wilden Eiland zu sich selbst. Inseldasein, Wind, Wetter und Wellengang spielen eine wichtige Rolle, Nature Writing? Jedenfalls ein grossartiges Buch in einer poetischen Sprache.
Die Wirkung von Literatur und Musik sind für mich gleichwertig prägend und nachhaltig wirkend. Mich haben in den siebziger Jahren sowohl die Romane von Dostojewski als auch die Sinfonien von Bruckner stark beeinflusst. Bis heute beschäftige ich mich immer wieder mit beiden. Auf unserer Reise erlebten wir in Peenemünde (mir bisher unbekannt) eine Führung und ein Konzert in der Industriehalle bei der Heeresversuchsanstalt der Wehrmacht. Nicht «nur» Rausch, sondern ein unvergessliches, nachhaltiges Ereignis. Wort, Bild und Musik ergänzten sich fantastisch, diese Botschaft wirkt noch lange weiter.
An die Hoffnung ist ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, das von Hanns Eisler vertont wurde. Hier sind die ersten Zeilen:
O Hoffnung! Holde, gütiggeschäftige! Die du das Haus der Trauernden nicht verschmähst, Und gerne dienend, zwischen Sterblichen waltest, Wo bist du? Wenig lebt’ ich; doch atmet kalt Mein Abend schon.
Die Versuchsanstalten Peenemünde waren von 1936-1945 das grösste militärische Forschungszentrum Europas. Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten hier unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und sind zu Tausenden verstorben. Lieder von Schubert, Eisler, Weber u.a. verbunden mit gesprochenen Texten von den damaligen Forschern und ArbeiterInnen wurden von einer Sängerin mit Klavierbegleitung tief bewegend vorgetragen, mit Bildern vom Krieg ergänzt. Sprache und Musik auf höchstem Niveau.
Barbara Berg, Sopran und David Santos, Klavier
Zuhause wartete das Buch «Verwildern» von Douna Loup auf mich. Obwohl müde von der Reise und sehr angesprochen vom Cover, begann ich die Lektüre. Wow! Eine neue Reise beginnt, unmittelbar bin ich in einer magisch-sinnlichen Welt. Wieder einmal hast du eine Rosine aus dem Literatur-Kuchen gepickt! Ich habe das erste Kapitel gelesen, bin hell begeistert. Und sie kommt nach Leukerbad! Wahrlich betörend. Gerne lese ich morgen weiter und freue mich auf die baldige gemeinsame Begegnung mit dieser Autorin in Leukerbad.
«Man muss durch den Abend wandeln und daran glauben, dass der Tag und das Morgengrauen kommen werden, man muss hinaus in die Nacht brüllen und den Mond lieben.»
«Die Literaturrunde» auf Tele-Diessenhofen mit Jeanette Bergner (Moderation), Peter Höner (Schriftsteller) und Gallus Frei (Literaturvermittler). Wer die Sendung sehen will, klicke auf das Foto!