Ulrike Edschmid «Die letzte Patientin», Suhrkamp

Ulrike Edschmid schreibt keine epischen Romane. Ihre Texte sind eingedampfte Literaturkonzentrate, obwohl auch sie in den etwas mehr als hundert Seiten fast ein ganzes Leben erzählt; die Geschichte einer Frau, die ihre Grenzen auslotet, auch darüber hinaus.

Eine ältere Frau wird über Jahre zur Therapeutin einer jungen, traumatisierten Frau. Obwohl die Patientin jede Woche einmal in ihrer Praxis sitzt, dauert es Jahre, bis die junge Frau zaghaft zu sprechen beginnt, erst nachdem sich die beiden lange Zeit über Augenzeichen verständigten. Die junge Frau trägt ein tiefsitzendes Trauma mit sich herum, eine offene und doch unsichtbare Wunde.

Sie war nicht die Tochter, die ihre Mutter sich wünschte, und würde es auch nie sein. Sie schaffte es nicht, einen Mann an sich zu binden, sie würde keine Kinder haben, keine Familie, und sie hatte keinen Beruf. Sie war nichts, nichts als eine Enttäuschung.

Ulrike Edschmid erzählt aber in erster Line das bewegte Leben der Therapeutin. Was macht uns zu dem, was wir sind? Wir sind alle in der einen oder anderen Weise verwundet. Nur haben die einen das Glück, dass sich die Wunden schliessen und man mit den Narben leben kann. Die Erzählerin wird nach Barcelona gerufen, ans Sterbebett ihrer Freundin, die in der Stadt bis kurz vor ihrem letzten Gang ins Spital Traumatherapeutin war. Die junge Frau wird die letzte Patientin der krebskranken Therapeutin. Die Geschichte erzählt eine namenlose ehemalige Mitbewohnerin und Freundin der Kranken. Sie versucht zu verstehen, warum die Freundin schlussendlich jenen Beruf ausübte und zu der wurde, die sie war. Die letzte Patientin, die junge traumatisierte Frau, heisst im Buch, in den Therapieprotokollen nur N., N. wie Niemand. Wann ist man jemand? Was braucht es, damit wir gesehen werden?

Ulrike Edschmid «Die letzte Patientin», Suhrkamp, 2024, 111 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-43183-2

Als die sterbenskranke Therapeutin jung war, schien alles offen, dem Leben der jungen Frau keine Grenzen gesetzt. Der Einzug damals in der WG war eine Flucht, eine Flucht vor der Enge in ihrer Familie. Die Frauen freunden sich an, obwohl sich ziemlich bald abzeichnet, dass die Lebensentwürfe der beiden Frauen unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die Erzählerin bleibt, bricht die Freundin auf eine Jahrzehnte dauernde Reise auf. Eine Reise mit geographischen Markierungen, über Barcelona, von dort über Mexico City und Guatemala nach Costa Rica, Bolivien, Paraguay und Argentinien. Keine Suche nach Sehenswürdigkeiten, sondern eine Suche nach Liebe und Geborgenheit. Es reiht sich Verliebtheit an Verliebtheit, Mann an Mann, Leben an Leben. Aber sie findet nicht, wonach sie sucht, was sie nicht einmal zu formulieren im Stande wäre.

Sie fürchtet sich vor ihrer eigenen Rastlosigkeit, der sie einzig entgehen könne, wenn sie ständig die Orte wechsle und sich nicht mit dem nächsten Tag beschäftige.

Eine Getriebene, eine Suchende, eine Unruhige. Bis sie nach langer Zeit nach Barcelona zurückkehrt und dort eine Praxis eröffnet. Sie, die fast ein ganzes Leben brauchte, um festen Boden unter den Füssen zu finden, will jenen den Boden zurückgeben, die den ihren verloren. Sie, die Bindung und zu offensichtliche Nähe genauso schlecht ertragen konnte wie Einsamkeit und Alleinsein, sitzt Menschen gegenüber, denen es äusserst schwer fällt, einen Platz in der Gesellschaft, im Funktionieren zu finden.

Wann wird man vom Niemand zum Jemand? Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Masse fast alles tut, um einmal an der Oberfläche zu schwimmen. Man setzt alles daran, um seiner selbst ein Zeichen zu setzen. Während die einen eingeschlossen sind in Fremdverschuldetes, finden andere den Abzweiger nicht, um aus den Hamsterrädern der Gegenwart zu springen.

Heilung beginne, sagt sie, wenn eine Sprache gefunden werde für das, was als gestaltloses Dunkel unaussprechlich und in seiner formlosen Existenz nicht zu fassen, nicht zu begreifen, nicht zu benennen und nicht zu beweisen ist.

Ulrike Edschmids Roman ist mit klarem Strich gezeichnet, fast unterkühlt und doch mit Leidenschaft. „Die letzte Patientin“ ist ein Manifest gegen die scheinbare Normalität. Es gibt sie nicht. Es geht Ulrike Edschmid aber auch nicht um Versöhnung mit biographischer Unruhe. Sie protokolliert einen Weg, Stationen des Wachsens, die lange Suche einer mutigen Frau, dass die Antworten nicht im Gegenüber liegen. Ein starkes Buch!

Ulrike Edschmid, 1940 in Berlin geboren, studierte u.a. an der Deutschen Film- und Fernsehakademie und arbeitete als Lehrerin. Für ihre autobiographisch grundierten kurzen Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. 2013 mit dem Preis der SWR-Bestenliste für ihr Lebenswerk.

Beitragsbild © Lukas Hemleb/Suhrkamp Verlag

Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp

Urs Faes erzählt in „Sommerschatten“ von einem Paar, einer Liebe. Durch einen Unfall sieht er nicht nur das bedroht, was zwischen ihnen war, auch sein Selbstverständnis, das er mit einem Mal kippen sieht. „Sommerschatten“ ist mit derart viel Wärme erzählt, das mich die Sprache umarmt!

Der Erzähler hat sich eine Auszeit in einem kleinen Rebhäuschen im Schwarzwald genommen. Auf dem Weg mit dem Auto dorthin erreicht ihn ein Anruf, Ina, seine Liebe, sei beim Freitauchen lebensbedrohlich verunfallt, sie werde ins künstliche Koma versetzt und niemand könne voraussagen, wie sich der Zustand der Patientin entwickeln werde. Er fährt in die Klinik, darf Ina aber nicht besuchen, muss sich gedulden, weil sie Ruhe brauche. Mit einem Mal ist alles anders. Ausgerechnet sie, die die Aktive, die Fordernde, die Bewegte, die Unruhige in ihrer Liebe war, ausgerechnet sie liegt intubiert auf dem Rücken zur inneren und äusseren Bewegungslosigkeit verdammt. Ausgerechnet zwischen ihnen, denen Sprache, Sätze oder nur ein einzelnes Wort viel mehr waren als blosser Austausch, ist mit einem Mal die gläserne Glocke des Schweigens überstülpt.

„Sommerschatten“ ist der Roman einer Findung, einer Zurechtfindung, einer Sprachfindung für ein Paar, dem man die Stimme genommen hat, beide auf ihre Art zu verstummen drohen, sie durch den Unfall, das künstliche Koma, er durch die Angst, dass es nie mehr so werden würde, wie es einmal war. Und er, weil er sein Gegenüber verliert, ihre Nähe, ihren Blick, die Berührungen, das, was durch ihr Cellospiel, ihr Tanzen, ihren Bewegungsdrang, ihre Freude, ihre Liebe mehr und mehr den Mittelpunkt seines Lebens ausmachte, eines Lebens, das niemals das geworden wäre, hätte er sie damals nicht kennengelernt.

Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43224-2

Freitauchen oder Apnoetauchen. Ina liebt den Sport. Diesen ganz stillen Weg in die Tiefe oder in die Distanz, in die zeitliche Distanz, dorthin, wo die Zeit aufhört, über die Grenzen des Schmerzes hinaus. Ina ging es nicht bloss um Rekorde, um ein Limit. Ina liebte dieses ganz eigene Eintauchen in ihr Leben, die Stille, das Ausloten, diesen Schmerz, der auf der anderen Seite der Grenze zu Euphorie, zu einem Rausch wird. Sie wusste um das Risiko. Aber sie brauchte diese Portion Risiko, um sich ihrer Lebensfreude zu versichern, um das Auftauchen zu einem Akt des Erwachens zu machen, einem Erwachen drohender Routine. 

Bis zu diesem einen Tag, als man sie aus dem Wasser holte, als die Rettung gerufen werden musste, als jene letzte Grenze für einen Moment zu lange überschritten wurde und es drohte, kein Auftauchen mehr zu geben. Bis Ina aus dem Leben gerissen wurde und sich der Erzähler mit dem grossen Schweigen konfrontiert. 

„Sommerschatten“ ist mehr als eine Geschichte. Wäre es Urs Faes um die „gute Geschichte“ gegangen, hätte man der Story mit Leichtigkeit mehr Pepp beifügen können. Aber Urs Faes geht es, wenn überhaupt um Dramatik, dann um die innere. Urs Faes schreibt ganz nah am Seelenzustand des Erzählers. Und doch weder in einer Nabelschau noch in einem lyrischen Erguss an Seelenbefindlichkeiten. Obwohl der Roman eine stark lyrische Komponente hat, ist es der sprachliche Pinselstrich des Autors, der mich bei der Lektüre berauscht und beeindrukt. Seine ganz eigene Kunst des sprachlichen Freitauchens, manchmal bis an die Schmerzgrenze, wenn Urs Faes formuliert, als gäbe es nur seine Sprache, wenn Klang und Rhythmus das Erzählen bestimmen. In einem Interview erzählt Urs Faes, dass er mehr als ein Dutzend Mal seinen Roman überschreibt, als würde er immer und immer wieder seinen Melodien zuhören, bis jeder Ton sitzt, jeder Rhythmus stimmt. In „Sommerschatten“ malt der Autor, spielt ein ganzes Orchester. Wer sich auf seine Sprache einlässt, wird reich beschenkt. „Sommerschatten“ macht glücklich, legt sich wie eine warme Decke um meine Schultern, ist genau das, was es in einer Zeit braucht, in der uns die Superreichen erklären, dass die Welt mit Empathie nicht zu retten sei.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Urs Faes liest an den Weinfelder Buchtagen.

Urs Faes auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Jürgen Bauer

Im Erzählen das Verlorene wiederfinden, die Zeit, die Liebe … über «Sommerschatten» von Urs Faes, Suhrkamp (20)

Lieber Bär

Seit ein paar Tagen lese ich den neuen Roman von Urs Faes, nachdem ich zusammen mit Dir an der Buchtaufe im Literaturhaus Zürich war, einer bis zum letzten Platz ausverkauften Veranstaltung. Ich lese das Buch in kleinen Häppchen, wurde mir doch schon beim Zuhören in Zürich klar, dass ich dem Buch nicht gerecht werden kann, wenn ich es in meiner sonstigen Manier in grossen Schlucken trinke.

Urs Faes «Sommerschatten», Suhrkamp, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43224-2

„Sommerschatten“ ist ein ganz eigener Roman. Dass der Applaus nach der Lesung in Zürich damals so lang anhaltend war, ist nicht nur dem Roman zuzuschreiben, auch dem eingelösten Versprechen, das jeder Roman von Urs Faes gibt. Man wusste, es würde ein neuer Faes sein, ein Buch in gewohnt hoher literarischer Qualität, wie jedes Buch mit dem Quantum Überraschung, die mit jeder Neuerscheinungen sicher ist. Auch wenn jedes seiner Bücher zu einer Liebeserklärung, einer Liebesgeschichte wird, ist jedes ein Markstein im Faes’schen Kosmos. Einem Kosmos mit einer ganz eigenen Färbung, einer Sprachlandschaft, die in weichen Konturen zeichnet, die alle Sinne anspricht, das Lesen zu einem Tauchgang macht.

Erst recht in diesem Roman, der eine vielfarbige Zwiesprache ist mit einer Frau, die im künstlichen Koma im Spital liegt. In einer Geschichte, in der sich alles in Rückschauen, in Innenwelten, in Selbstbefragungen und Echoräumen abspielt. Ein Mann muss hinnehmen, dass seine Liebe an Schläuchen angeschlossen im Spital liegt, irgendwo zwischen Leben und Tod, zwischen Hoffnung und Angst. Die Zeit steht still, macht Pause, ist hoffentlich nur unterbrochen und nicht abgebrochen. So wie das Leben dieser Frau durch einen Freitauchunfall zum Stillstand gekommen ist, so ist auch das Leben des Erzählers in gewisser Weise unterbrochen.

Wir kennen die Situationen, in denen mit einem Mal, ganz plötzlich alles ganz anders ist, jede Selbstverständlichkeit einstürzt, das Leben den Atem anhält, die Gradlinigkeit verliert, zu taumeln, zu straucheln beginnt. Nur ein Anruf, ein Satz, eine Feststellung, eine Meldung und Uhren ticken nicht mehr, viel schneller oder unerträglich langsam.

Du bist Arzt, warst in deinem Beruf immer wieder Zeuge solcher Momente. Mich bewegt dieses Buch ungemein, weil Urs Faes nur von den Spiegelungen des Erzählers schreibt. Seine Partnerin Ina, die beim Freitauchen schwer verunglückte und im Spital liegt, bleibt auf Distanz, so wie sie für den Erzähler abgetaucht ist und nie mehr aufzutauchen droht. Was Urs Faes sprachlich schafft, gelingt nur wenigen.

Ich bin gespannt auf Deine Leseeindrücke.

Liebgruss
Gallus

© Sandra Kottonau

Lieber Gallus

Du bist gespannt auf meine Leseeindrücke? Da ich deine Würdigung voll unterschreiben kann und sie nicht wiederholen will, hole ich etwas aus:

Markus Bundi
«Einer wie Lenz im Labyrinth», Telegramme, 2022, CHF ca. 19.90,
ISBN 978-3-907198-56-8

Bei einer deiner Hauslesungen erwarb ich das Buch «Einer wie Lenz im Labyrinth» von Martin Bundi, ein Essay über das Werk von Urs Faes. Nach «Untertags», meiner ersten Begegnung mit diesem Autor, tauchte ich mit Freude und Gewinn in dessen Kosmos ein und las vor kurzem angeregt durch diesen Essay auch den Erstling «Webfehler» aus dem Jahr 1983. Persönlich lernte ich Urs Faes in Gottlieben bei deiner Abschiedslesung von der Leitung des Thurgauer Literaturhauses kennen.

«Es geht nicht mit dem Menschen, wir sind eine Fehlkonstruktion……Es muss ein Webfehler sein, der nicht zu korrigieren ist, es sei denn, man zerstört das ganze Gewebe.» Dies ist gemäss Bundi Programm und Schicksal des Werks von Urs Faes zugleich. Ob dieser Webfehler, diese destruktive Kraft, innerlich wirkt wie im ersten Roman, ob sie bedrohlich von aussen kommt wie beispielsweise in «Sommer in Brandenburg» oder durch eine Katastrophe wie in «Sommerschatten», im Menschen kommt es durch Verstrickung, durch ein unerwartetes Ereignis, Schuld und Unvollkommenheit zu Krisen und Herausforderungen. Liebe spielt dabei als existentielle, versöhnende und heilsame Kraft in allen seinen Büchern eine tragende Rolle. 

 «Sommerschatten», das neueste Buch, beginnt mit «Vademecum», einer poetischen dreiseitigen Ouvertüre von packender Dichte und führt unmittelbar auf den Kreuzweg zum Kloster Ottilienberg im Elsass, den der Erzähler und Ina gegangen sind. Sofort nimmt der Autor uns mit (vademecum!) und wir verfolgen gespannt die Ereignisse. Ein Tauchunfall von Ina, der diese ins tiefe Koma stürzt, zwingt ihren Partner zu Fragen der Schuld und Fragen über ihr gemeinsames bisheriges Leben. «Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück; nur dort ist auch das Verlorene wiederzufinden, die Zeit, die Liebe, wird wirklich und zu lesen für andere. Auch dein Leben ist das Leben des anderen, die eigene Geschichte ist immer auch die Geschichte des andern». Seinem alle Sinne ansprechenden Schreibstil treu bleibend und doch in neuer, anderer Färbung erscheinend, gelingt Urs Faes ein reifes Werk von grosser Ausstrahlung. Wie wir bei der Buch Vernissage erfahren durften, geht diese Wirkung auch von der liebenswürdigen Persönlichkeit des Autors aus, seiner sorgfältig gewählten Worte und Ausführungen. Er recherchiere immer genauestens und will einen stimmigen Wortklang erreichen:

«Die Geschichte aber, sie ist nicht zu Ende. Noch lange nicht. Hörst du? Erinnern und erzählen, erzählen und erinnern, wir schaukeln uns ein. Atme durch! Wir riechen den Duft der Pinien nach dem Regen und der Kräuter im Klostergarten, sehen die zitternden Bäume und hören das Seufzen im See.»

Dann habe ich mich also dem Erstling zugewendet. 1983 erschienen, ist «Webfehler» auch heute noch mit Gewinn zu lesen, eine Geschichte von zwei jungen Frauen auf der Suche nach einem neuen Leben. Auch hier geht Anne anhand von Erinnerungen dem Leben ihrer Freundin Bettina nach, die nach einem Nervenzusammenbruch in einer Psychiatrischen Klinik sich befindet. «Das Fremde im anderen annehmen, um das Fremde in sich selber zu akzeptieren. Welch andere Chance birgt eine Beziehung» . Das Bewusstsein vom Verstricktsein in Geschichten und die Kraft des Erinnerns und einer zuwendenden Beziehung spielen bereits hier eine wichtige Rolle. 

Mir wurde bewusst, dass ich mich als Hausarzt oft mit «Webfehlern» verschiedenster Art beschäftigt und versucht habe, mit den betroffenen Menschen gemeinsam eine individuelle Lösung zu finden. Makel, Ungenügen machen uns Menschen einerseits aus, andererseits fordern sie uns heraus, uns zu entwickeln, neue Wege zu gehen. So bin ich sehr dankbar, mit den Büchern aus der Feder von Urs Faes auf hohem literarischem Niveau dem Verstehen von Mensch-Sein näher zu kommen.

Herzlich

Bär

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Webseite des Autors

Marion Poschmann «Die Winterschwimmerin», Suhrkamp

Es ist, als ob die Dichterin Marion Poschmann eine Seherin wäre. Ihre Fähigkeit, durch die Dinge zu sehen, ist bestechend. In «Die Winterschwimmerin» begegnet man einer Sprache, die in Bilder zu fassen vermag, was sonst unfassbar bleibt. Dieses schmale Buch ist ein tiefer Tauchgang in die Vielschichtigkeit des Lebens!

Vor ein paar Wintern war ich einquartiert in ein kleines Haus an einem Baggersee. Es regnete und schneite oft. Auf der anderen Seite des Sees sammelten sich immer wieder Wildgänse auf dem offenen Feld und am Ufer des kleinen Sees hartgesottene Gestalten, die sich mit offenkundiger Regelmässigkeit am Ufer trafen, um kurz und schmerzlos ins kalte Nass zu tauchen. Nur ein paar Züge lang, nachdem man die Kleider zuvor sorgfältig in eine Tasche unter einem Schirm auf einer Bank eingelagert hatte. Ich hinter der grossen Fensterfront mit Bodenheizung und einer Tasse Kaffee in der Hand. Sie dort draussen, fest entschlossen, alle Annehmlichkeiten winterlicher Zivilisation für ein paar Minuten abzustreifen. Ein Warmduscher hinter Glas, unerschrockene Winterschwimmer zwischen dünnen Eisinseln.

Grenzen verbrennen.
Grenzen, die nichts sind als Vorurteile.
Nicht mehr hier enden.

Marion Poschmann, in der deutschen Literaturszene so reich dekoriert wie kaum eine andere, schrieb eine Verslegende, kein Langgedicht, aber auch kein Märchen, keine Sage, auch wenn in ihrem Text immer wieder ein Tiger auftaucht. Vielleicht ist es die Szenerie, aber vielmehr die Sprache, die eigenartig oszilliert zwischen Bildern und Empfindungen, zwischen einer beschaulichen Erzählstimme und beinah metaphysischen Bildern. Thekla, eine literarische Figur aus dem zweiten Jahrhundert, begibt sich eines Tages in die Welten zwischen den Elementen. Zwischen Hitze und Kälte, Feuer und Wasser, genau das, was man empfindet, wenn man als Winterschwimmerin abtaucht.

Marion Poschmann «Die Winterschwimmerin», Suhrkamp, 2025, 80 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-518-43235-8

Marion Poschmann, die während der Coronazeit zur Winterschwimmerin wurde, während des Lockdowns an einem ruhigen See in aller Abgeschiedenheit. Grenzerfahrungen in einer Zeit der Grenzerfahrungen. Den inneren Tiger loslassen, während rundum alles zurückgebunden wird. Thekla will den Tiger suchen, den Tiger in sich, diese Urkraft. Auf dem Umschlag des wunderschön gestalteten Buches sieht man sie Rückenansicht einer Frau mit Streifenmuster auf der Haut. Die Verschmelzung von Frauen- und Tigerkörper, eine Darstellung aus einer mittelalterlichen Schrift aus dem Mittelalter.

Winterschwimmerinnen tauchen aber nicht einfach zu Abhärtung ins kühle Nass. Es ist das, was während des Eintauchens und danach passiert, was Endorphine auslösen und an Beseelung, Erkenntnis und inneren Bildern zurücklassen. «Die Winterschwimmerin» ist ein üppiges Sprachkunstwerk, vielfach unterlegt, das Zeugnis einer sprachlichen Erleuchtung.

Es ist so klar,
so wahr
wie dunkel. Nicht zu fassen.

Ein Vers, ein Gedicht ist ein gestreiftes Wesen, ein in Zeilen geteiltes Ganzes, das in der Realität genauso wie in den Zwischen- und Traumwelten durch unser Bewusstsein streift. Der Tiger hat sich befreit. Marion Poschmanns Tiger hat sich befreit und streift durch ihre Seelenlandschaft. «Die Winterschwimmerin», ein ungemein mutiges Buch, ist eine sprachliche Offenbarung. Anspruchsvoll, voller Anspielungen. Ein Buch, das auf der letzten Seite noch lange nicht zu Ende gelesen ist.

Marion Poschmann (1969) wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband «Nimbus» und im selben Jahr mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.

mehr von Marion Poschmann auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Lesekreis Literaturhaus/2 — Gegenwartsliteratur mit Tine Melzer: «Do Re Mi Fa So» und Urs Faes: «Sommerschatten»

Der LL/2, geleitet von Gallus Frei-Tomic, befasst sich ab Februar 2025 mit Tine Melzers «Do Re Mi Fa So», ab April mit dem neuen Roman von Urs Faes, «Sommerschatten». Start: 4. Februar.

Anmeldungen noch möglich über literaturhaus@wyborada.ch

Lesen ist das eine, aber mit andern unverkrampft über das Gelesene in Austausch treten und sich mit den entsprechendne Schriftstellerinnen und Schriftstellern austauschen ist noch viel, viel intensiver.

In diesem Lesekreis widmen sich die Teilnehmenden sich in fünf Treffen von Februar bis Juli aktuellen Neuerscheinungen. Neben Hintergrundinformationen zu den AutorInnen und ihren Büchern, informiert Gallus Frei-Tomic über weitere Perlen der Gegenwartsliteratur und Literaturrosinen im Veranstaltungskalender.

Das Besondere an diesem Lesekreis: Ein Abend mit der Autorin / dem Autor im kleinen Kreis bietet die seltene Gelegenheit zu einem quasi «privaten» Gespräch über das Buch, ihr Schreiben.

Anmeldung, Teilnahmegebühr:
Um einen intensiven Austausch zu gewährleisten, ist die Anzahl der Teilnehmenden beschränkt (minimum 10 / maximal 12 Personen). Anfragen und Anmeldung über literaturhaus@wyborada.ch. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.

Teilnahmegebühr (5 Termine à 1.5 Std.) Fr. 200.-, zahlbar nach Anmeldung (Überweisung via Einzahlungsschein oder TWINT), vor Ort am ersten Teilnahmetermin oder in der Bibliothek Wyborada zu den Öffnungszeiten.

Termine:
jeweils Dienstags, 19 Uhr im Studio der Bibliothek Wyborada. Ausnahmen: Die Veranstaltungen in Anwesenheit der Autorin, des Autors.

  • 4. Februar
  • 4. März
  • 22. April (mit Tine Melzer, im Bürgerratssaal des Stadthauses)
  • 20. Mai
  • 1. Juli (mit Urs Faes, im Bürgerratssaal des Stadthauses)

Foto Gallus Frei-Tomic: © Yves Noir

Sind wir nicht alle zusammen, wir Menschen auf diesem einsamen, verlorenen Planeten, Geschwister? – Robert Walser „Geschwister Tanner“ (16)

Die ganze Erde schien zu duften und still zu liegen wie ein schlafendes Mädchen. Das grosse dunkle Rund des nächtlichen Himmels breitete sich über alle Augen aus, über die Berge und die Lichter. Der See hatte etwas Raumloses bekommen und der Himmel etwas den See Umspannendes, Einschliessendes und Überwölbendes.

Lieber Bär

Ich weiss, Du liest „Geschwister Tanner“ von Robert Walser. Keine Ahnung, ob zum ersten oder zum wiederholten Mal.

Grab Carl Seelig auf dem Friedhof Sihlfeld, Zürich

Robert Walser zählt heute zu den wichtigsten, deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, obwohl es schon zu Lebzeiten in absolute Vergessenheit geriet und nur Dank der Anstrengungen des Publizisten Carl Seelig zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet. Ein grosses Glück, denn selbst Franz Kafka schätzte den stillen Dichter.

Heute ist Robert Walser ein Stück Schweizer Kulturgut. Seit 1973 kümmert sich das Robert-Walser-Zentrum um den Nachlass, die Forschung, Ausstellungen und Editionen zum Werk des Dichters. Kaum zu glauben, dass er in seinen letzten Jahren entmündigt und fast ohne jegliche Kontakte sein Leben in einer Nervenheilanstalt fristete. Selbst Carl Seelig musste sich das Vertrauen des Stillgewordenen verdienen. 

Das langsame Verschwinden Robert Walsers begann schon lange vor seinem Tod am Weihnachtstag 1956. Nach seiner letzten Veröffentlichung in Buchform («Die Rose») 1925 schreibt Robert Walser nur noch kürzere Prosastücke für Zeitungen und seine mittlerweile berühmt gewordenen Mikrogramme mit Bleistift. Texte, die erst Jahrzehnte nach Walsers Tod von den Publizisten Bernd Echte und Werner Morlang detektivisch entziffert und zum grössten Teil auch veröffentlicht wurden. 

Parallel zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, jenem Land, in dem seine Bücher Beachtung und eine kleine, aber nicht unbedeutende Leserschaft fanden, verschlechterte sich der psychische Zustand Robert Walsers. Irgendwann so sehr, dass sich seine Schwester Lisa, zu der Robert grosses Vertrauen hatte, gezwungen sah, ihren Bruder zum Psychiater zu bringen. 1929 tritt Walser in die Klinik Waldau unweit von Bern ein. Diagnose Schizophrenie. Und nachdem man ihn vier Jahre später gegen seinen Willen in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau verlegte, gab es sein Schreiben vollständig auf, kapselte sich mehr und mehr ein. Ein Rückzug, der schon mit der geringen Resonanz seiner Bucher zwei Jahrzehnte zuvor begonnen hatte.

Warum Robert Walser lesen? Weil die Stimme, der Walser-Kosmos ganz eigen ist. Weil sich Robert Walser Zeit seines Lebens nie vereinnahmen liess. Weil Robert Walsers Stimme etwas Rebellisches hatte, ohne aufbegehren zu wollen. Weil er sich ganz gegen das stemmte, wonach heute eine ganze Generation lechzt; Aufmerksamkeit, Scheinwerferlicht. Weil Robert Walsers Stimme trotz seiner Einsamkeit eine nach Aussen gewandte, eine naturnahe, elementare, äusserst sinnliche war und man auch heute bei der Lektüre von der Musikalität und Intensität der Sprache ergriffen ist, einem Erzählen, das vollkommen plotabgewandt ist.

Robert Walser «Geschwister Tanner», erste Seite der Handschrift. Das 192 Seiten umfassende Manuskript zeigt über weite Strecken keinerlei Korrekturen. Für sie Makellosigkeit seiner Manuskripte war Walser, der einstige Commis, schon früh berühmt.

Heute ist man sich sicher, dass Robert Walser noch weit mehr geschrieben haben muss, weit über das, was im Nachlass des Dichters verfügbar geblieben ist. Aber weil Robert Walser sehr oft seinen Wohnort wechselte und man bei Hinterlassenschaften des immer schrulliger werdenden Mannes nichts von seiner Bedeutung ahnen konnte, gingen mit Sicherheit etliche Manuskripte verloren. Auch deshalb, weil Robert Walser selbst kein Interesse zu haben schien, sein eigenes Schreiben in irgend einer Weise zu dokumentieren.

Umso bedeutender ist die Tatsache, dass sich sowohl das Robert Walser Zentrum wie der Suhrkamp Verlag darum bemühen, das Werk des Dichters zugänglich und kommentiert zu erhalten.

Nachdem sein erstes Prosawerk «Fritz Kochers Aufsätze» ein grosser wirtschaftlicher Misserfolg war und nur ganz wenige Bücher verkauft wurden schreibt Walser seinen zweiten Roman «Geschwister Tanner» in Berlin in der Obhut seines Bruders Karl in wenigen Monaten, ein Roman, der selbst bei seinem Lektor Christian Morgenstern gemischte Gefühle hervorrief. Wenn ich „Geschwister Tanner“ lese, in die Welt des „Taugenichts“ Simon trete, mit ihm all die Wirrungen und Begegnungen mitmache, die das Leben eines Menschen ausmacht, der sich ganz dem Jetzt zuwendet, der sich nicht um Kariere, Sicherheit und Besitz kümmert, und das derart unbekümmert erzählt, dann wird aus der Lektüre beinahe Meditation. 

Ich bin gespannt, was Dir bei der Begegnung mit dem walser’schen Kosmos durch den Kopf geht. Sei freundschaftlich gegrüsst.

Gallus

***

Lieber Gallus

Die «Geschwister Tanner» sind ein Märchen, und sie sind für mich das erstaunlichste Märchen, das je geschrieben wurde, weil es kein anderes gibt, das so nahe an der Realität spielt. Peter Bichsel

Der Walser`sche Kosmos in diesem Buch beglückt, bedrückt, begeistert, berührt, belehrt und bereichert mich auf rätselhafte Weise. Einzigartige Naturschilderungen von unglaublicher Schönheit umhüllen in poetischen Worten geschilderte menschliche Abgründe und Sorgen. Wie Peter Bichsel in meiner Ausgabe anmerkt, ist es ein Märchen sehr nahe an der biografischen Realität, ein Text in einer einzigartigen Sprache, der sich kaum einer Analyse unterziehen lässt. Ich habe das Buch mit Genuss (zum zweiten Mal nach fast zwanzig Jahren) gelesen und finde, es hat eine unfassbare Ausstrahlung.

Es gibt keine echten Dialoge zwischen den Geschwistern, für mich beleuchten ihre Aussagen verschiedene Seiten des Protagonisten Simon (=Robert Walser) aus ihrer Perspektive, geschrieben alle im Walser`schen Stil. Aus Sätzen, die Alltägliches beschreiben, leuchten plötzlich Weisheiten und philosophische Gedanken auf. Was denkt Robert Walser wirklich, was will er uns sagen? Leidet er? Liebt er? Kämpft er? Es bleibt auf wunderbare Weise offen. Mir gefällt dieses Meditative und Mystische sehr, voller Naivität und Unbekümmertheit. 

Es lohnt sich, langsam und nicht zu viel auf einmal zu lesen. Wie Werner Hegglin («Menschsein ist schon ein Beruf») mir einmal sagte: «Walser ist konzentriert in homöopathischen Dosen zu geniessen.»

Hier ein paar eindrückliche Mosaiksteinchen aus diesem Buch:

Sie haben mich enttäuscht, machen Sie nur nicht ein so verwundertes Gesicht, es lässt sich nicht ändern, ich trete heute aus ihrem Geschäft wieder aus und bitte Sie, mir meinen Lohn auszubezahlen.

Das Rechnervolk: Sie hatten alle langen Nasen von dem vielen Rechnen und gingen in zersessenen, zerschabten, zerglätteten, zerfalteten und zerknickten Kleidern.

Gott ist das Nachgiebigste, was es im Weltraum gibt. Er besteht auf nichts, will nichts, bedarf nichts. 

Ich bin demütig, nicht geknickt, nicht etwa gebrochen, aber voll flammender, bittender, flehender Demut. Ich will mit Demut gut machen, was ich mit Liebe verbrochen habe.

Wie kann ich länger zusehen, dass ich mich zu einem solchen Leben verdamme, das nur Achtung einbringt und nur Achtung von anderen, die einen immer so haben wollen, wie es ihnen am besten passt.

Simon hatte den Sommer noch nie so sehr als Wunder empfunden, wie dieses Jahr, wo er vielfach auf der Strasse arbeitssuchend lebte. Es kam nichts dabei heraus, trotz den Bemühungen, aber es war wenigstens schön.

Wahrlich ein Kosmos von grosser literarischer und menschlicher Qualität. Unfassbar, aber beglückend! Walser lesen entschleunigt und wirkt lange nach. 

Das Einfachste von der Welt: Alle mit Freundlichkeit zu behandeln! Sind wir nicht alle zusammen, wir Menschen auf diesem einsamen, verlorenen Planeten, Geschwister?

Mit diesem Satz Robert Walser’s wünsche ich dir und uns allen ein angenehmes friedliches 2025.

Herzlich

Bär

Robert Walser wurde 1878 in Biel, Schweiz, geboren. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, liessen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches «Fritz Kochers Aufsätze» im Insel-Verlag folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane «Geschwister Tanner», «Der Gehilfe» und «Jakob von Gunten». Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Robert Walser starb 1956 auf einem Spaziergang im Schnee.

Perikles Monioudis «Robert Walser», Deutscher Kunstverlag, Rezension

Das Robert-Walser-Zentrum

Maylis de Kerangal «Weiter nach Osten», Suhrkamp

Ein Zug fährt von Westen nach Osten, quer durch ganz Russland. Der Zug der Transsibirischen ist vollbesetzt, Rekruten auf dem Weg in die Ausbildung, Menschen auf der Reise, eine junge Französin, eine Touristin auf der Flucht vor ihrem alten Leben. Aber unter den zukünftigen Soldaten sinnt auch Aljoscha auf Flucht, jedes Mal, wenn der Zug hält.

Hélène fährt in ihrem Abteil erster Klasse. Sie ist aus einer spontanen Eingebung eingestiegen, war mit Anton in Moskau unterwegs, als Begleitung, um dann plötzlich alles in eine Tasche zu stopfen, um Distanz zu dem Leben zu bekommen, in dem sie sich festgefahren fühlte. Sie spricht nicht einmal Russisch, hat keine Vorstellung davon, was dort, irgendwo im Osten sein wird, nur weg.
Aljoscha wurde zwangsrekrutiert, sitzt mit vielen anderen in diesem Zug, Rekruten zur Ausbildung, Männern, die er nicht kennt, zu denen er nicht gehören will, weil er nicht sein will, wozu man ihn machen will. Aljoscha wollte nicht weg und schon gar nicht zu einem Soldaten ausgebildet, Kanonenfutter werden. Jede Haltestelle auf der tagelangen Bahnfahrt ist Aufforderung genug, die Flucht zu ergreifen, abzuhauen, auch wenn er weiss, dass es kein Zurück geben wird.

Am Ende der Schienen wird die Kaserne stehen und die dedowschtschina, das Schikanieren der Wehrpflichtigen, und wenn er dort ist, wenn die Rekruten im zweiten Jahr ihm mit der Zigarette den Schwanz verbrennen, ihn die Latrinen auslecken lassen, ihn am Schlafen hindern oder in den Arsch ficken, wird er allein sein, niemand wird ihm helfen können.

Der Zug rattert gen Osten, Kilometer für Kilometer, Stunde für Stunde. Für Hélène genauso in eine ungewisse Zukunft, wie für Aljoscha. An den Haltestellen, an denen sich die Reisenden die Füsse vertreten, auch die angehenden Soldaten dem Zug entlang von ihren Vorgesetzten beobachtet werden, schnuppert Aljoscha nach der einen Chance, die ihn aus dem Würgegriff eines Alps entlassen soll. Aber bei jedem Versuch fehlt der Mut, die letzte Entschlossenheit, aber auch das Glück.

Maylis de Kerangal «Weiter nach Osten», Suhrkamp, 2024, aus dem Französischen von Andrea Spingler, 90 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-518-43212-9

Hélène spürt die Not des jungen Mannes, sieht seinen Blick, die Augen, die das Weite suchen. Sie begegnen sich immer wieder auf den schmalen Gängen des Zuges, wenn er seine Stirn an die Scheibe drückt. Zwischen den beiden wächst ganz zaghaft eine Verbundenheit, eine Mischung aus Mitleid und Verliebtheit, aus Faszination und Hilflosigkeit. Bis Aljoscha alles auf eine Karte setzt und ein weiterer Fluchtversuch zu scheitern droht. Es gibt keine Versuche, nur Scheitern oder Gelingen. Hélène zieht den jungen Mann in ihre Kabine und versteckt ihn dort, wo man sonst die Koffer in einen Zwischeraum schiebt. Die körperliche Nähe wird zur Notwendigkeit, nicht nur in seinem Versuch, sich vor seinen Vorgesetzen und dem Personal des Zuges unsichtbar zu machen, sondern weil der Raum zwischen und um die beiden mit einem Mal auf das reduziert wird, was eine Kabine mit zwei Pritschen hergibt.

Das Hemd verlangt er, weil es um seine Freiheit geht.

Aus Hélène und Aljoscha werden Verbündete ohne gemeinsame Sprache. Aljoscha braucht seine Verbündete und Hélène hat sich an ein Schicksal gehängt, dem auch sie nicht mehr entfliehen kann. Während der Zug unaufhaltsam Richtung Osten rollt, spinnt sich ein Verhältnis, dass die beiden mehr und mehr aneinander fesselt. Werden sie es schaffen? Gibt es ein Danach?

Maylis de Kerangal schafft einen klaustrophobischen Raum, einen Zug in die Verdammnis, einen Weg, den es nur in der einen Richtung gibt. „Weiter nach Osten“ ist ein schmales Buch mit erstaunlichem Tiefgang. Ob in seiner Dramatik oder in seiner Sprache. Lange, mäandernde Sätze, die das Rattern der Räder aufnehmen, die den Zug imitieren, den Zug des Geschehens, den Zug auf Rädern. Maylis de Kerangal schafft Erstaunliches. Es ist das Psychogramm einer Not. Man riecht den Schweiss der Angst, den Zwang des Kollektivs, das lauernde Misstrauen, das Reissen der Verzweiflung.

Irgendwie Liebesgeschichte und doch nicht. Irgendwie Antikriegsgeschichte und doch nicht. Irgendwie Thriller und doch nicht. Aber ein absolut beklemmendes Kammerspiel!

Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman Die Brücke von Coca wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, Die Lebenden reparieren gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris.

Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Beitragsbild © F. Mantovani / Editions Gallimard / Suhrkamp Verlag

Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen», Suhrkamp

Kann man den Schrecken, das Grauen in Worte fassen? Die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska kann es, auch wenn sie angesichts des Grauens ihrer Gegenwart darauf hoffen muss, dass Leserinnen und Leser verstehen und sehen. «Babyn Jar. Stimmen», ihr erster auf Deutsch erschienener Gedichtband ist ein Mahnmal.

Vor dem zweiten Weltkrieg lebten über 200 000 Juden in der Stadt Kiew, die grösste jüdische Gemeinde in der Ukraine. Noch vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht flohen die meisten, aber viele Frauen, Alte, Kranke und Kinder blieben. Kaum war die Wehrmacht in der Stadt, begann das grosse Quälen, Drangsalieren und Morden, mitten auf den Strassen der Stadt, unter dem Beifall vieler Einheimischer. Nur wenige Tage nach dem Einmarsch beschlossen die Besatzer die «Evakuierung der Juden». Am 28. September 1941, das Tausendjährige Reich schien beinahe ungehindert auf Expansionskurs, wurde der verblieben jüdischen Bevölkerung bekanntgegeben, sich am darauffolgenden Tag mit wenig Gepäck zur Aussiedlung in den Westen in bereitstehende Züge aufzumachen. Mehr Juden als erwartet folgten dem Befehl, die meisten nichts Gutes ahnend. Im Norden der Stadt, am Eingang zu einem schmalen Tal, einer Schlucht ähnlich, nahm man den ankommenden Juden alles weg, trieb sie in die schmale Schlucht und erschoss alles, was sich bewegte. Am 29. und 30. September 1941 wurden mehr als 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet, das grösste «einzelne» Massaker an der jüdischen Bevölkerung während des zweiten Weltkriegs.

Als mehr als zwei Jahrzehnte später einer kleinen Gruppe Deutscher in Darmstadt der Prozess gemacht wurde, waren die Männer, die als Angeklagte vor dem Richter standen, ganz unscheinbare Prokuristen, Buchhalter und Bankangestellte, Ehemänner und Familienväter, Einfamilienhausbesitzer und rechtschaffen. Sie wurden zu kurzen Haftstrafen verurteilt, meist früher entlassen, einige straffrei freigelassen. Polizisten, die damals schossen, waren nach dem Krieg weiter Polizisten.

Lange Jahre war das Gedenken an jenes Massaker ein Tabu, auch die fleissige Mithilfe der nichtjüdischen Kiewer Bevölkerung. Es brauchte Jahrzehnte, bis an den Orten des Grauens Gedenkstätten errichtet wurden.

«Babyn Jar. Stimmen» ist der erste Band einer geplanten Trilogie. Der zweite Band erschien in der Ukraine 2023 unter dem Titel „Der Blitz begegnet Wind und Wasser“ und handelt vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der dritte Band soll die zersetzende Wirkung des Krieges auf alle Lebensbereiche thematisieren.

Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43176-4

«Babyn Jar. Stimmen» sammelt 67 Stimmen von Menschen zur Zeit ihres gewaltsamen Todes. Marianna Kijanowska beschäftigt sich aber nicht nur mit den Mechanismen der Gewalt. Sie gibt den vergessenen Stimmen eine Spur, eine Art Tonspur. Jedes Gedicht ist eine Stimme, Stimmen von Kindern, Erwachsenen auf dem Weg in die Schlucht. Stimmen, die nachvollziehbar nicht in Sprache fassen können, was ihnen bevorsteht. Stimmen, die die Angst zudecken, sich selber trösten, das Unaussprechliche ausblenden.

Das Morden unter dem Deckmantel einer Ideologie, als blosse Ausführung von militärischen Befehlen hat in der Ukraine noch immer kein Ende. Die 67 Gedichte in «Babyn Jar. Stimmen» lesen sich wie Meditationen. Sie helfen nicht zu verstehen. Sie trösten nicht. Aber sie streuben sich gegen das Schweigen, gegen das Vergessen, gegen die systematische Tilgung von Erinnerungen.

 

наповнити очі такими сльозами щоби не текли
солонішими аніж сіль кам’янішими аніж камінь
і дім збудувати з усього що всюди й не знати коли
було у дитинстві у небі в пісочниці і під руками
придумати маму нехай буде хаву таку щоб була моя
щоби голову мила мені щоб була чи просто була зі мною

називаючи речі в крамниці де хліб молоко але ще по краях

вітрини багато зимового з ковзанки щастя і сухостою

мене уже не рятує ніщо чи ніщо крім можливо сліз
які проламують тло поверхню і дещицю решти тіла

щоби не вмерти я мушу мати в судинах на дні і на дні валіз

важкі механізми придумувань витіснень крила крила –

***

die augen mit tränen füllen die nicht fließen
salziger als alles salz steiniger als aller stein
ein haus bauen aus allerlei von überall ohne zu wissen
war es als kind im himmel in der sandkiste unter den händen
eine mama ersinnen eine chava müsste es sein die meine ist
die mir das haar wüsche die da wäre oder einfach mit mir zusammen

die dinge im laden beim namen nennt da das brot die milch doch an den rändern

des schaufensters ist auch viel winter eisbahn glück und tote bäume

nichts kann mich mehr retten oder nichts als die tränen
die den grund die fläche das quäntchen die reste des körpers durchbrechen

um nicht zu sterben brauche ich auf dem boden der gefäße und auf dem boden der koffer

schweres gerät aus erfindungen verdrängungen flügel flügel –

 

Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.

Claudia Dathe , geboren 1971, übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u.a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynsky und Yevgenia Belorusez. 2020 wurde sie zusammen mit Yevgenia Belorusez für das Buch «Glückliche Fälle» mit dem Internationalen Literaturpreis und 2021 für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband «Antenne» mit dem Drahomán-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Wissenschaftskolleg Maurice Weiss

Fleur Jaeggy «Ich bin der Bruder von XX», Suhrkamp

Geschichten wie dunkle Gemälde! Dass Fleur Jaeggy bei vielen Leserinnen und Lesern nicht auf dem Schirm ist, mag verschiedene Gründe haben. Zum einen schreibt die Schriftstellerin italienisch, zum andern lebt sie scheu und zurückgezogen in Norditalien. Aber wahrscheinlich liegt der Grund auch in der männerdominierten Vergangenheit der Kultur- und Literaturszene.

Dass Suhrkamp in den kommenden Jahren das Werk von Fleur Jaeggy nach und nach wieder in seiner Breite einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen will, ist löblich und mit einem Seitenblick auf Annie Ernaux mehr als verständlich. So wie die grosse Französin entwickelte Fleur Jaeggy in den fünf Jahrzehnten ihres Schreibens einen ganz eigenwilligen Stil, weit weg vom blossen Geschichtenerzählen. Jaeggys Texte, ihre Kurzgeschichten im 2014 in Italienisch erschienenen Band „Ich bin der Bruder von XX“, schildern in einer dunkel gefärbten Sprache vom Unerklärlichen des Lebens. Fleur Jaeggy erzeugt eine ganz eigene Tiefe in Geschichten, die mich als Leser stets mit einem Rest Ratlosigkeit zurücklassen. Einem Rest, der durch seine Verschlüsselung noch lange nachwirkt. Sie erzeugt Bilder, die über die Grenzen zum Surrealen hinausgehen, manchmal von einer ganz alltäglich, fast banalen Eingangsszene bis in den Alp.

Fleur Jaeggy «Ich bin der Bruder von XX», Suhrkamp, aus dem Italienischen von Barbara Schaden, 114. Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43166-5

Mit ihrer im appenzellischen Teufen spielenden Internatsnovelle «Die seligen Jahre der Züchtigung», erlangte Fleur Jaeggy 1989 Beachtung weit über Europa hinaus, Beachtung, die ihr in ihrem Ursprungsland stets verwehrt blieb. Erst in diesem Jahr ehrte man die 84jährige in der Schweiz mit dem Gottfried-Keller-Preis, einem Preis, die die Schriftstellerin endlich in die Reihe der Grossen in der CH-Literatur stellt.

„Ich bin der Bruder von XX“, 20 Prosaminiaturen, liest sich wie eine Bilder- und Fotoausstellung. Ausschnitte eines Lebens, die Stimmungen aus ihrem Leben schildern, aber nicht, um sie zugänglich zu machen. Fleur Jaeggy verschleiert. Manchmal scheint sie auch mit Absicht in die Tiefenschärfe einzugreifen, als wolle sie mich zwingen, durch ihre Sinneseindrücke Fragen zu verändern, den Blick umzuleiten. Selbst in Familienszenen dominiert das Bedrohliche, die Enge, das Fremde. Als wäre sie in der Welt, in die sie hineingeboren wurde, nie heimisch geworden, auf eine ganz seltsame Weise einsam geblieben.

In einer der kurzen Texte beschreibt Fleur Jaeggy gar eine Begegnung mit ihrer Freundin Ingeborg Bachmann. Darüber, was sein wird, wenn sie dereinst alt sein werden. „Jeden Tag ging ich ins Sant‘Eugenio, Abteilung Schwere Brandverletzungen. Zweimal betrat ich ein Zimmer, das aseptisch sein musste.“ Etwas, was ihre Kurzprosa ganz und gar nicht ist.

Ein Juwel und ein Stück grosse CH-Literatur!

Fleur Jaeggy ist eine schweizerische und italienischsprachige Autorin, Ex-Model, Intellektuelle, Mystikerin, inzwischen etwas über 80 Jahre alt, ehemals enge Vertraute Ingeborg Bachmanns, Witwe des Adelphi-Verlegers Roberto Calasso, heute lebt sie weitgehend zurückgezogen in Mailand. Ihr weltweit gefeiertes Werk umfasst Romane, Erzählungen und Geschichten – beginnend mit «Ich bin der Bruder von XX», wird es fortan vollständig im Suhrkamp Verlag erscheinen. 2025 wird Fleur Jaeggy mit dem Schweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet.

Fleur Jaeggy im Autorenlexikon von Charles Linsmayer

Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München, arbeitete anschliessend als Verlagslektorin und ist seit 1992 freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Sie übersetzt neben Kazuo Ishiguro unter anderem Patricia Duncker und Nadine Gordimer. Barbara Schaden lebt in München.

Fleur Jaeggy «Die Seeligen Jahre der Züchtigung», Suhrkamp, 2024, aus dem Italienischen von Barbara Schaden,
Broschur, 110 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-518-47427-3

Ein Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Gehorsam und Disziplin prägen die Ordnung des Hauses. Die heitere Landschaft vor den Fenstern treibt die vierzehnjährige Ich-Erzählerin zu stundenlangen einsamen Spaziergängen. Eines Tages erscheint eine Neue während des Mittagessens: Frédérique, schön, streng, verächtlich und voller Überdruss. Frédérique ist anders, etwas Leises und Schreckliches umgibt sie. Ihr sind Beherrschung, Gehorsam und Perfektion bereits zur zweiten Natur geworden. Die Erzählerin ist gebannt von ihrer Erscheinung, sie will sie erobern, sucht ihre Freundschaft. Empfänglich für den morbiden Reiz der Disziplin verfällt sie Frédérique mehr und mehr. Und erst ein ganzes Leben später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe in Worte fassen.

Beitragsbild © Effigie/ Bridgeman Images/Suhrkamp Verlag

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (9)

Siebzig Jahre nach Babyn Jar, dem Massaker nazideutscher Spezial- und Polizeieinheiten unter Mithilfe ukrainischer Milizen an über 33000 Jüdinnen und Juden, Frauen, Männern und Kindern nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiev, gibt Marianna Kijanowska den Opfern in «Babyn Jar.Stimmen» Identität und Würde zurück.

Lieber Gallus

Babyn Jar, ein Wort, das in mir Sprachlosigkeit, Erschütterung, Wut und Erinnerungen auslöst. Zusammen mit unseren Freunden aus Kiev hatten wir vor über 20 Jahren in der Ukraine viele Stätten besucht, wo in Kriegen Leute kaltblütig ermordet wurden. Aber dieses Tal Babyn Jar hat mich am tiefsten beeindruckt, beschäftigt und ist sofort wieder vor meinem inneren Auge präsent.

Der ukrainischen Autorin Marianna Krijanowska ist es gelungen, mit «Babyn Jar.Stimmen» 65 fiktive Menschen sprechen und ihre beklemmenden Momente auf dem Weg zur Ermordung erleben zu lassen. Lesend erinnere ich mich an den Besuch dieser Stätte vor über 20 Jahren, an das erst 1991 errichtete Denkmal und den damals noch kaum zu findenden Weg. Später hatte ich die 13. Sinfonie Schostakowitschs für Orchester, Bass und Männerchor mit dem Namen Babyn Jar auf Schallplatte angehört.

Schostakowitsch, Kondraschin (Dirigent der Uraufführung) und Jewtuschenko am 18.12.1962 (von links)

Der junge russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko hatte 1961 ein Gedicht über die Tragödie der Juden in dieser Schlucht veröffentlicht:

«Es steht kein Denkmal über Babi Jar.
Die steile Schlucht gemahnt als stummes Zeichen.
Die Angst wächst in mir.
Es scheint mein Leben gar bis zur Geburt des Judenvolkes zu reichen.»….

das 1991 errichtete Denkmal

Die politischen Schwierigkeiten im poststalinischen Russland konnten die Uraufführung am 18. Dezember 1962 in Moskau nicht verhindern. Die gesamte kulturelle Elite Moskaus erwartete sie mit Ungeduld. Es wurde ein Riesenerfolg. Trotz frenetischem Applaus der Zuhörerinnen und Zuhörern war anderntags in der «Prawda» nur eine knappe Zeile über das Konzert zu lesen. Leider wäre das heute kaum anders!

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (Ilma Rakusa zu «Stimmen»)

Der Band «Stimmen» macht mich sprachlos, weil hier eine einmalige Sprache von solcher Wucht, aber auch tiefer Schönheit und von musikalischem Klang vorliegt. Dies dank der wunderbaren Übersetzung:

«……und die sonne steht so hoch als wäre sie aufgestiegen
um die stadt von oben zu sehen und wie wir darin sterben
und wie wir zum fluss gehen zu schauen
weil wir getötet werden adelka miriam debora
liegen erschossen in der schlucht ich bin so traurig
das herz ist ein stein und die seele ist durchsichtig
und wird dünner und dünner und das heisst tod………..

Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, Suhrkamp, 2024,Ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca., ISBN 978-3-518-43176-4

Claudia Dathe (Übersetzerin von «Stimmen») schreibt im Nachwort, der Gedichtband sei der Auftakt zu einer Auseinandersetzung der Autorin mit den Mechanismen entfesselter Gewalt und ihrer Auswirkung auf das Dasein. Es soll eine Trilogie entstehen, wo auch die Schrecken des aktuellen Angriffskrieges Putins literarisch in Sprache umgesetzt werden soll.
Auch wenn die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit entfesselter Gewalt anspruchsvoll sind und weil weiterhin weltweit Kriege und Terror unsere menschliche Existenz bedrohen, ist meines Erachtens die Beschäftigung mit dieser dunklen Seite der Menschheit in der Literatur, in der Musik oder im Film sinnvoll und wichtig.

Was denkst du zu diesem Buch?

Herzlich
Bär

***

Lieber Bär

Am 29. September 1941 wurden bei Kiev 33000 Menschen bestialisch ermordet, viele von ihnen aus nächster Nähe, unter gütiger Mithilfe vieler Menschen aus der Stadt, ihrer Nachbarn. Die Prozesse nach dem Krieg waren ein Hohn, eine Aufarbeitung kam erst nach Jahrzehnten schleppend in Gang. Selbst ein Dammbruch 20 Jahre später, der die Knochen jener freilegte, die man nach dem Krieg nicht «entsorgte» und vor die Häuser der Nachbarn spülte, war noch nicht Grund genug, sich dem apokalyptischen Schrecken zu stellen.

Vom 11. bis 19. Juli 1995 verübten serbische Soldaten und paramilitärische Einheiten im bosnischen Srebrenica ein unfassbares Massaker unter den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten. Über 8000 Menschen fanden durch Massenerschiessungen den Tod. Obwohl die Drahtzieher und Organisatoren des Massakers Mladić und Karadžić noch im gleichen Jahr verurteilt wurden und man die Tat als Völkermord taxierte, blieben viele der Täter ungeahndet.

Im Frühling 2022 besetzten russische Truppen den ukrainischen Ort Butscha. Die russischen Soldaten töteten innerhalb wenige Tage wahllos fast 500 wehrlose Zivilisten. Die Toten, die nicht eiligst verscharrt wurden, liess man tagelang liegen. Und selbst nachdem westliche Journalisten den Ort des Grauens erreichten, versuchte die russische Propaganda das Massaker als ukrainische Inszenierung herunterzuspielen.

Die Liste der Ungeheuerlichkeiten liesse sich beliebig erweitern, ob in biblischen Zeiten, im Mittelalter, in den Kolonien … ob im Krieg oder in angeblichen Friedenszeiten, ob unter „Barbaren“, im Namen von Kirche oder Krone … der Mensch, meist männlich, benötigt nicht einmal Raserei. Es reicht Kalkül. Dass sich der Schrecken, ob aufgearbeitet oder nicht, in der kollektiven Erinnerung der Opfer über Generationen festsetzt, wird allzu schnell vergessen. Dass sich die Untaten bis in die Gegenwart ausdehnen und in Nachfolgekonflikten, die sich wie Flächenbrände zu Kriegen auswachsen, ausgeblendet.

Die ukrainische Schriftstellerin Marianna Kijanowska

Ein Denkmal mag zur Erinnerung mahnen, eine Symphonie das Erinnern verstärken. Selbst das 2003 veröffentlichte Dokudrama „Das vergessene Verbrechen“, eine deutsch-belarussische Koproduktion des US-amerikanischen Regisseurs Jeff Kanew, vermag nie das zu erzeugen, was Literatur vermag. Marianna Kijanowska lässt die Stimmen in meinem Kopf sprechen. Ich bin während des Lesens unmittelbar bei ihnen. Die Resonanz dieser Texte ist atemraubend.

Ich war noch nie in Kiev und es wird wohl noch eine ganze Weile so bleiben. Aber mit diesem Buch und der ganzen Auseinandersetzung, die es auslöste, war ich dort. Selbst der ukrainische Text neben der deutschen Übersetzung wirkt. Es ist der O-Ton, der Verweis auf das Tatsächliche. Erstaunlich, was Lyrik zu bewirken vermag. Vor allem dann, wenn eine Autorin wie Marianna Kijanowska bei den Menschen selbst bleibt, nichts abstrahiert oder verschlüsselt. Ein starkes Buch. Und ein wichtiges Stück Selbstvergewisserung.

Soll man das lesen? Unbedingt – auch wenn es einen Schritt mehr braucht.

Liebgruss

Gallus

Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.