1999 bekam Judith Hermann den Bremer Förderpreis für ihr erstes Buch, den Erzählband „Sommerhaus später“. Ein vielversprechender Start in ein Schriftstellerinnenleben, dass mit seinem siebten Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ längst sämtliche Versprechungen eingelöst hat; bei Leserinnen und Lesern, bei Buchhänderinnen – und mit Sicherheit auch bei ihrem Verlag.
4 Bände mit Erzählungen, 2 Romane und nun als siebtem, keineswegs verflixtem, ein Buch, das untertitelt ist mit „Vom Schweigen und und Verschweigen im Schreiben, Frankfurter Poetikvorlesungen“. Ein Buch weit weg von blosser Erklärung oder kühler Vorlesung, ungeheuer intim und grundehrlich. Aber auch verunsichernd und überraschend, nicht zuletzt mit Sätzen wie: «Schreiben imitiert Leben, Verschwinden der Dinge, beständiges Zurückbleiben, unscharf werden, Erlöschen der Bilder.»
Judith Hermann, längst tief im Bewusstsein einer grossen Schar von Lesenden, als Grosse verankert, eine Autorin, die sich selbst noch immer nur schwer als Schriftstellerin bezeichnet, der ein Journalistikdozent einst nur mangelndes Schreibtalent attestierte, schreibt sich die Herzen der Leserinnen. Das bewies der volle Saal im Kunstmuseum St. Gallen!
Judith Hermann schreibt um ihre Person, ein Umstand, der in ihrem neusten Buch mehr als deutlich wird und ihre vorangegangenen Bücher noch einmal in ein ganz anderes Licht taucht. Eigentlich genau das, was unter dem Begriff „autofiktionales Schreiben“ in den letzten Jahren zu einer literarischen Welle wurde. Eine Welle, auf der Judith Hermann nicht reitet, aber eine, die sie mit auslöste. Judith Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen man glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. «Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.»
Wer mit sieben Büchern, mehr Preise als Veröffentlichungen sein eigen nennt, scheint nicht nur bei Leserinnen und Lesern etwas ganz Spezielles auszulösen. Mit Sicherheit das Gefühl, dass das, was Judith Hermann schreibt, uns etwas angeht. Judith Hermann schiebt mich als Leser in Entscheidungssituationen, beschäftigt sich in ihren Büchern mit ihrem, meinem Bewusstsein, ihrem Zustand im Schreiben, weil Schreiben eine Form der Auseinandersetzung mit Bewusstsein ist.
Judith Hermanns Bücher, am meisten wohl ihr neustes „Wir hätten uns alles gesagt“, verunsichern und zwingen mich, der Lektüre mit einem Bleistift hinter dem Ohr zu folgen. „Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“
«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften. Danke für den schönen Abend.» Peter Stamm
Zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren ein unmaskiertes Publikum! Ein voller Saal, bis auf den letzten Platz besetzt. Zusammen mit Peter Stamm auf dem kleinen Podest zu sitzen, um an diesem Abend die Schweizer Buchtaufe seines neuen Romans zu zelebrieren, war eine doppelte Feierstunde, Freude im Quadrat! Als wäre die Situation aus der Zeit gefallen, ein Fenster aufgegangen in eine Zeit, die man vergessen glaubte.
„Das Archiv der Gefühle“ ist neben vielen Erzählungen, Theaterstücken und Hörspielen, sein 8. Roman. Ein Roman, der wie immer mit wenig Spektakel, dafür umso mehr Interpretationsspielraum spielt. Ein Roman, der unweigerlich Fragen stellt, zur Reflexion zwingt. Peter Stamm beweist darin einmal mehr sein Feingefühl für intensive Moment-, Landschafts-, Situations- und Inweltbeschreibungen.
Dass man in Zeiten wie diesen den Tritt im Leben verlieren kann, wird immer offensichtlicher. Und dabei wäre Corona nur einer der Gründe, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Peter Stamms Protagonist verliert viel; seinen Beruf, seine Frau, seine Welt. Ein Aussenseiter, ein Aussteiger, ein Abgedrängter. Er hortet im Keller seines Hauses in Rollregalen das ehemalige Recherchearchiv einer Tageszeitung. Jenes Material, dass vor Zeiten des Internets, vor Google und Wikipedia ein Ort für Nachforschungen war. Von einem ganzen Team betreut, am Schluss nur noch von ihm, bis man es ganz auflösen wollte. Für ihn der Ort, an dem Ordnung in die Welt gebracht werden kann, zumindest als Gegenpol zur Welt der Gefühle, die wohl auch irgendwie archiviert wird, sich aber jeder Ordnung entziehen.
Franziska war zu Schulzeiten seine Freundin. Wahrscheinlich sogar mehr. Nur reichte es nie zu klaren Worten und eindeutigen Zeichen. Nun sind die beiden alt geworden. Er in seinem Keller, sie in ihrem Garten. Beide allein. Beide mit der Ahnung, etwas versäumt zu haben. Während er erzählt, aus seinem Leben in einer still gewordenen Gegenwart und seinen Erinnerungen, die immer lauter werden, erscheint Franziska immer offensiver in seiner Gedankenwelt, beginnt sich beinah zu materialisieren.
«Ich wollte nicht zu den verlorenen Männern gehören, denen man von weitem ansieht, dass sie nicht mehr gebraucht werden…“ Trotzdem wurde er ein solcher, obwohl er sich doch eigentlich gegen Veränderungen auflehnt. Selbst im Haus, das er von seiner Mutter übernimmt, ändert er nur, was unvermeidbar ist.
«Das Archiv der Gefühle» ist ein behutsam erzählter, melancholisch gefärbter Roman, der grosse Fragen ohne grosse Gesten stellt (…) ein Juwel.» Rainer Moritz, NZZ
Im anschliessenden Gespräch zusammen mit dem Publikum meinte Peter Stamm, Liebesgeschichten seien in seinen Romanen nicht zu vermeiden. Er brauche sie, weil sie Räume öffnen, Menschen öffnen, weil sie Zustände offenbaren, an denen er interessiert sei! Seine Nähe zum Publikum offenbarte sich auch in den vielen kleinen Gesprächen im Anschluss an die Lesung, Begegnungen, die den Abend unvergesslich werden liessen.
Wenn Christoph Ransmayr einen neuen Roman veröffentlicht, dann ist es zumindest für mich ein Ereignis grösster Wichtigkeit. Wenn mich dann der Roman wie sein neuster auch noch in die Verzückung hievt, die „Der Fallmeister“ auslöst, dann will man überall Fahnen hissen und Fanfaren blasen.
Ich liebe Christoph Ransmayrs Bücher nur schon wegen ihrer überragenden Sprache. Ich kann sie unabhängig, völlig losgelöst von Inhalt und Geschichte lesen, einzelne Sätze und Abschnitte, die in ihrer sprachlichen Vollendung derart glitzern und glänzen, dass mir schwindelt. Ich muss Ransmayr lesen und dann stellt sich sprachliche Ergriffenheit gepaart mit eigener Bescheidenheit ein. Wenn es Momente während des Lesens von Büchern gibt, bei denen ich mir einrede, es so durchaus auch zu können, dann reisst mich Christoph Ransmayr von diesem schmalen Podest herunter und lehrt mich meine Begrenztheit. In Ransmayrs Sprache unterliegt nichts der Bescheidenheit, nichts der Begrenztheit. Er erzählt, formuliert und baut mit einer derart verblüffenden Selbstverständlichkeit und scheinbaren Leichtigkeit, dass ich während der Lektüre Atem schöpfen muss. Wer Christoph Ransmayrs Bücher liest, tut gut daran, es mit Langsamkeit und in kleinen Häppchen zu tun, damit sich entfalten kann, was der Autor in mir als Resonanzkörper erreichen kann. „Der Fallmeister“ ist ein Leuchtturm im Meer der Neuerscheinungen!
Aber es ist nicht nur die Sprache allein. Weil Christoph Ransmayr Kosmopolit und stetig Reisender ist, fliesst sein ganzes Erleben, die Fülle seiner Eindrücke mit in sein Schreiben. Was Christoph Ransmayr beschreibt ist durchlebt; jedes Leuchten am Himmel, jeder Schweisstropfen in glühender Hitze, jedes Tosen und Branden. In seinem neuen Roman „Der Fallmeister“ arbeitet der Protagonist in einer Zukunft, in der kaum ein Stein auf dem andern geblieben ist, als Hydrotechniker. In einer auseinandergebrochenen Welt, in der Kleinstaaten, Stadtstaaten, Clans und Grafschaften erbitterte Kriege um Wasser führen, nichts von der Idee Europa geblieben ist und die Küstengebiete unter den Meeresspiegel sanken, sucht ein Mann nach Antworten. Er sucht seinen Vater, seine Schwester, seine Mutter. Christoph Ransmayr schildert diese dystopische Welt in derart verblüffender Leichtigkeit, dass man glauben könnte, er hätte nie in einer anderen Welt, nie anders als aus der Sicht eines Hydrologen die Welt gesehen und erfahren. Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit jedem Satz, mit jedem Fakt mir als Leser beweisen müssen, wie sehr sie sich in ein Thema, in eine Welt hineinrecherchiert haben. Christoph Ransmayr scheint das nicht nötig zu haben. Er weiss und schreibt. Und er schreibt wie ein Maler, der mit seinem Pinsel in der Hand in einer Mischung aus Selbstvergessenheit und grenzenloser Selbstverständlichkeit ein Panorama auf eine riesige Leinwand ausbreitet. Jeder Pinselstrich im Wissen gesetzt, wie dereinst das Ganze erstrahlen muss.
Christoph Ransmayrs neuster Roman „Der Fallmeister“ erzählt die Geschichte von Schuld und erhoffter Vergebung. Die Geschichte eines Sohnes, der überzeugt ist, dass sein Vater nicht der stille Held eines tödlichen Dramas war, sondern Verursacher und Mörder an einem Unglück, bei dem fünf Menschen den Tod in den Fluten reissenden Wassers fanden. Nachdem die Mutter als Ausländerin zurück in ihre Heimat in den glutheissen Süden deportiert wurde und sich der jähzornige Vater durch einen scheinbar perfekt inszenierten Selbstmord aus der Gegenwart verflüchtigte, macht sich der von düsteren Ahnungen Getriebene zuerst auf die Suche nach seiner Schwester. Mira, seine Schwester, die an Osteogenesis imperfecta, der Glasknochenkrankheit leidet, lebt verheiratet abgeschieden weit im Norden, in einem Turm, vom Meer umgeben. Sie, die „Imperfekte“ ist für ihn das Sinnbild der Vollendung, sein Leuchtturm seiner Leidenschaft, die Einzige, mit der er sich untrennbar verbunden fühlt. Die Einzige, die ihm helfen kann, bei all den Fragen, die ihn um- und vor sich hertreiben. Er findet sie nach einer langen Odyssee. Aber was er findet, treibt ihn nur noch weiter. Weil sich die Bestie Vater immer deutlicher in ihm zu spiegeln beginnt, weil er erfahren muss, wie zerstörerisch seine Leidenschaft durchbrechen kann. Er durchquert auf der Fahrt zu seiner Mutter mit den Papieren eines Hydrotechnikers erneut den ganzen Kontinent, von Grenze zu Grenze, Hymne zu Hymne, Währung zu Währung, den Scherbenteppich eines zerstörten Kontinents. Bis er in einem steinernen Dorf hoch über der Küste seine Mutter wiederfindet und erfahren muss, dass nichts so ist, wie er es sich ein halbes Leben lang in Geist und Seele ausmalte.
Ein Fallmeister ist ein Schleusenwärter. Als Fallmeister, als Herr über Leben und Tod, sass sein Vater einst am Weissen Fluss, dort wo sich die Wassermassen durch eine Enge in die Tiefe stürzen und man den Fluss durch ein ausgeklügeltes System von Schleusen bezwingen kann. Sein Sohn, vom Verbrechen seines Vaters überzeugt, macht sich auf eine Reise, die ihn genau dorthin zurückführt, wo er sie einst begonnen hatte, nicht nur geografisch.
„Der Fallmeister“ ist gleichermassen klar wie rätselhaft. Etwas mehr als 200 gewichtige Seiten, die sich lesen, wie Filme, die man sich immer und immer wieder ansehen kann, ohne dass sie jemals ihren Zauber verlieren.
Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen.
Das 15. Thuner Literaturfestival versucht es noch einmal! Und mit den Organisatorinnen hoffen all die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf eine Durchführung, auf BesucherInnen, Menschen, die sich trotz allem von der Literatur verführen lassen – nicht zum Leichtsinn, aber zum literarischen Hochgenuss!
Am Samstag, den 26. September, um 13.30 Uhr im Rathaus Thun: «Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan:
Helene Mazavian kommt in Jerewan, der armenischen Hauptstadt an. Sie soll dort alsBuchrestauratorin im Zentralarchiv für armenische Handschriften eine ganz spezielle Bindetechnik erlernen. Was Helene Mazavian aber wirklich lernt, ist sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Tor zu dieser ist ein Heilevangilar aus dem frühen 18. Jahrhundert. Aber Gewehr und Buch können ganz nah beieinander sein!
Helene Mazavian ist im Stillen entsetzt, als sie durch die Regale mit den Schätzen des Zentralarchivs geführt wird. Ganz anders wie in Deutschland, wo sie sich ausbilden liess, liegen hier die Bücher nicht in Archivboxen geschützt, sondern offen auf den Regalen. Ihre Chefin, die sie dorthin führt, meint: „Wären die Bücher alle umhüllt oder lägen sie in Schachteln, könnten sie nicht miteinander sprechen, nicht atmen. Eine Schachtel ist wie ein Grab, das Buch vereinsamt und stirbt.“
So manches ist anders, auch wenn Helene armenische Wurzeln hat, eine Vergangenheit, die mit dem blutigen Genozid zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Die Menschen sprechen eine Sprache, die die ihre sein könnte, die sie aber nicht versteht, das Buch, das sie als erstes restaurieren soll, beginnt mit ihr zu kommunizieren, der Mann, der sie vom Flughafen abholte, bringt sie ins Wanken, sie, die sonst alles unter Kontrolle hat.
Schon Helenes Mutter, eine Künstlerin, die sich im Keller ihres Reihenhauses mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigte und dabei auch nicht davor zurückschreckte die Puppen und Kuscheltiere ihrer Tochter in das nachempfundene Gemetzel jenes Schreckens einzubauen, liess, was damals geschah, nicht wirklich an sich heran. „Hier sind Löwen“ beschreibt, wie Geschichte, die Konfrontation mit ihr oder die Verweigerung einer solchen sich bis in die kommenden Generationen hineinfressen kann.
Die Familienbibel, an der sich die Buchrestauratorin versuchen soll, ist und war viel mehr als ein Buch. Ein Schatz, der in einer armenischen Familie von Generation zu Generation mitgetragen wurde. Ein Buch mit Wirkung und Geschichte. Ein Buch voller Zeichen, an die Seitenränder gekritzelt. Ein Buch, das zuerst gesäubert werden musste und zu dem ein Plastikbeutel aus dem Archiv gehört mit Haaren, toten Insekten, einer Theaterkarte, einer Zugfahrkarte von Wladiwostok nach Moskau, zwei Miniaturen, die einmal Seiten im Buch waren, einem Foto, einer Schiffsfahrkarte.
Während Helene sich immer tiefer in Land und Menschen begibt, fesselt sie dieses Buch, das ihr eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von den Geschwistern Anahid und Hrant, die vor mehr als hundert Jahren auf der Flucht vor den Gräueln an ihrem Volk in die Berge flüchteten, ihr Zuhause, ihre Familie zurücklassen mussten, mit nichts als den Kleidern, die sie auf dem Leib trugen und diesem einen Buch, das sie beschützen sollte. „Hrant will nicht aufwachen“ steht mit ungelenken Buchstaben auf den Rand einer Seite gekritzelt.
Und als Helenes Mutter Sara sie auffordert, jetzt wo sie doch dort sei, wo die Familie herkomme, jenes Foto, das sie ihr mitgab, als ersten Hinweis zur Suche nach ihrer Herkunft zu nutzen, begibt sich Helene auf eine Reise, die sie in mehrfacher Hinsicht an und über die Grenzen ihres bisherigen Lebens führt.
Mag sein, dass das Buch etwas kühl erzählt ist. Aber genau das macht den Roman zu dem, was ihn auszeichnet. Er spielt nicht mit den Gefühlen der Leserin, des Lesers. Es öffnet sich Seite um Seite einer Geschichte, eines Lebens, eines Dramas. Katerina Poladjan konstruiert gekonnt, verwebt Geschichten, Stimmen. Und so wie eine Buchrestauratorin mit Vorsicht und Umsicht an die Verletzungen eines Buchschatzes geht, so geht Katerina Poladjan an ihren Stoff.
Von 1915 bis 1917 starben unter der Verantwortung der jungtürkischen, vom Komitee für Einheit und Fortschritt gebildeten Regierung des Osmanischen Reichs mehr als eine Million Armenier, ein Völkermord, ein Genozid, den die türkische Regierung bis heute als «kriegsbedingte Sicherheitsmassnahme» bezeichnet und Regierungen und Persönlichkeiten rügt, die Tatsachen beim Namen nennen oder gar Konsequenzen fordern. Katerina Poladjan klagt nicht an, führt nicht vor. Aber «Hier sind Löwen» rückt ein Verbrechen zurück ins Bewusstsein, dem man angesichts der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen zu gerne aus dem Weg geht.
Ein Interview mit Katerina Poladjan
Sie öffnen mir als Leser die Tür zu einem Kapitel düsterer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit aller Behutsamkeit. Und doch fühlte ich mich während der Lektüre gezwungen, mich mehr mit dem Genozid an den Armeniern zu beschäftigen. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihren Roman mit unerträglicher Dramatik aufzublasen. Ist das auch ein bisschen ihr Kampf gegen den Zeitgeist?
Kampf gegen den Zeitgeist klingt mir zu heroisch, vielleicht ist es eine Don-Quixoterie.Es war wirklich mein Anliegen, von einem der großen Menschheitsverbrechen zu erzählen, ohne dem allgemeinen Drang zur Polarisierung zu erliegen, ohne den Schreckensbildern zu erliegen, die mir oft genug bei der Recherche den Atem nahmen. Die Stille des Gedenkens war mir wichtiger, als laute Schreie der Anklage, Trauer und Wut. Und wenn es mir damit gelungen ist, ein kleines Fenster der Erinnerung zu öffnen, freut mich das sehr.
Das Unglück eines ganzen Volkes, das Unglück einer Liebe, die Helene in der Hauptstadt Armeniens loslassen muss, das Unglück einer Familie – das Glück einer Buchrestauratorin, die Auseinandergefallenes, Verwundetes, Zerrissenes, Verlorenes zurückgewinnen kann. Wie sind sie auf die Idee gekommen?
Einen Roman schreibe ich nicht von Anfang bis Ende. Am Anfang meines Schreibens steht ein Gefühl, eine Idee, ein Thema, ein Klang, hier ein Ort, dort die vagen Umrisse einer Figur. Ich skizziere, recherchiere, experimentiere, verwerfe. Mit diesem Material beginnt irgendwann ein Puzzlespiel, das sich beim Zusammensetzen ständig verändert und erweitert. Eines führt zum nächsten, anderes passt vielleicht nicht mehr ins Bild, Lücken entstehen und müssen gefüllt werden. Als ich in der Werkstatt des Handschriftenarchivs in Jerewan den Buchrestauratorinnen bei ihrer Arbeit zusehen durfte, war ich tief beeindruckt und fühlte ich mich ein wenig an meine eigene Anstrengung erinnert, erzählbare Geschichten aus der Unendlichkeit von Geschichte herauszuarbeiten. So ist Helene Buchrestauratorin geworden.
Liegt in ihrem Roman die Sehnsucht nach Spuren in die Vergangenheit? Eine Bibel, die die Zeichen über Generationen in und an sich trägt? Die Sehnsucht, dass sich mit dem Tod nicht alles dem Vergessen und Verschwinden auftut?
Ich würde nicht von Sehnsucht sprechen. Das Wesen menschlichen Denkens und Fühlens fusst doch auf der Fähigkeit zur Erinnerung. Wir können ja gar nicht nicht-erinnern, wir können nur leugnen oder vergessen. Erinnerung kann negativ wirken, traumatisch gar, und zum Durst nach Rache und Vergeltung führen. Viel mehr noch ist die Erinnerung eine Säule der Humanität und des Mitgefühls. Und letzteres ist doch Grund genug für die Spurensicherung.
Anahid und Hrant sind jung, sehr jung und auf der Flucht. Hrant, der jüngere der beiden wird krank, fiebert und Anahid ist irgendwann gezwungen, ihren Bruder alleine zurückzulassen, eine Situation, die sich im Laufe der Geschichte noch einmal wiederholt. Darin steckt die Urangst eines jeden, verlassen zu werden. Aber braucht es dieses Verlassen-werden nicht, um autonom zu werden?
Um autonom zu werden, muss man selbst verlassen, ein aktiver Vorgang. Wenn einem das Autonom-werden aus der Zwangssituation des Verlassen-werdens gelingt, ist es ein Glück.
Wie viel will und soll man vom „Geheimnis Familie“ aufreissen, wenn man ahnt, dass es eine Wunde sein könnte, die sich niemals schliesst?
Das vermag ich nicht zu sagen. Nietzsche hat einmal den Satz geschrieben: „‚Wille zur Wahrheit‘ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“
In Ihrem Roman fragt Helene: „Was gibt es Schöneres und Wichtigeres als Bücher?“ Ich stelle die Frage an Sie!
Seit wann gibt es auf rhetorische Fragen eine Antwort? Ach richtig – im Roman lautet sie: „Ein blankgeputztes Gewehr.“
Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.
«I have opened the door In sign of surrender. The house is filling with cold. Why will you stay out there? I am ready to answer. The doors are open. Why will you not come in?»
Zeilen eines Gedichts, das der Erzähler in einem antiquarisch erstandenen Büchlein im kleinen Ort in Vermont findet. Ein paar Zeilen, Einladung und Abschreckung zugleich. Erinnerungen sind Türen. Und hinter manchen Türen verstecken sich Geschichten zu Erinnerungen, die durch die Zeit zu Fiktion werden. Erinnerungen sind immer erfunden. Gesehen und erfühlt durch ganz eigene Wahrnehmung, geformt und verändert bis zur Unkenntlichkeit.
Und mit einem Mal, einem Moment, in dem der Lichtschein einer fernen Erinnerung ins Bewusstsein scheint, machen sich Türen auf zu Zeiten, die in der Vergangenheit vergessen schienen. Türen, die einladen, die im Ungewissen lassen, ob es gut ist, die Tür ganz zu öffnen und einzutreten.
Peter war schon einmal in den Staaten, vor dreissig Jahren, damals noch ein unbekannter Künstler auf der Suche nach einem Weg, einem Ziel. Damals begegnete er durch Zufall auf den Strassen New Yorks einer jungen Frau, Marcia, der er für eine Zigarette Feuer gab, deren Hand er berührte, die ihn mit dieser Berührung in ein anderes Dasein zog, eine Wohnung, ein Bett, in Beziehungen, Freundschaften. Die Tage um Weihnachten bis Neujahr ziehen den jungen Mann in einen Strudel von Geschehnissen, die so intensiv sind wie sie abrupt enden. Erst drei Jahrzehnte später, wieder an Weihnachten, will Peter, mittlerweile gestandener Künstler, wissen, was aus dem geworden ist, was mit einem Mal wieder aufblitzt. Er lässt sich in eine Künstlerresidenz einladen, von der er weiss, dass sie von Marcias reichem Vater initiiert wurde, verbringt Tage im Schnee in Vermont, eingeschlossen von einem Blizzard, zusammen mit einem Bildband, in dem er Fotos von sich und Marcia findet und einem Text ganz am Schluss des Buches mit dem einen Satz «Ein Kind ward uns geboren». Peter wartet auf die Begegnung, auf Klärung, wird krank und sieht im Fieber seine Träume Fiktion und Realität ineinander verlaufen.
Eine Weihnachtsgeschichte, die die alte Frage «Was wäre wenn?» stellt. Fragen, die sich stellen, wenn die Zeit stehen bleibt, wenn man dick eingeschneit ist, wenn sich Fieberträume mit der Gegenwart queren. Ist das, was ich an Erinnerungen mit mir herumtrage, was das Fundament meines Denkens ausmacht, bloss eine sirrende Spiegelung? Eine Täuschung? Verblendung? Ist da sogar ein Kind aufgewachsen, von dem er nichts wusste.
So sehr die Reise damals, vor mehr als dreissig Jahren, ein Befreiungsschlag gegen ein altes klebriges Leben war, so sehr holt Peter in seiner eingerahmten Gegenwart ein Leben ein, dass er so nicht geführt hatte.
Peter Stamms 80seitige Weihnachtsgeschichte ist auch eine Erleuchtungsgeschichte, auch wenn das Licht an ihm vorbeizieht. «Ein Kind ward uns geboren», dieser Satz in jenem Buch, in dem Peter Fotos von sich und Marcia fand, sind wie ein Blitzstrahl in ein Leben, dass während den Tagen in Vermont, über dreissig Jahre nach den Tagen mit Marcia, zu einem Wendepunkt werden könnte, so wie Weihnachtsgeschichten fast immer Wendepunktgeschichten sind.
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Weit über das Land» und «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.
«Ein Schriftsteller? Ein Dichter? Nein, ich erhebe keinen Anspruch auf solche Titel. Ein Erzähler? Nennen Sie mich, wie Sie wollen», meint Christoph Ransmayr über sein Selbstverständnis als Autor. Mit «Arznei gegen die Sterblichkeit» macht Christoph Ransmayr ein Geschenk.
Drei Geschichten, ein schmales Büchlein. Damit macht man eine Zugfahrt durch eine regenverhangene Landschaft zu einem Ereignis, das unerwartet lange Warten beim Arzt zur Reise bis in die Steinzeit, man besänftigt den unruhigen Geist, der sich nachts gegen den Schlaf wehrt.
In seiner Vorgeschichte unter dem Titel «Arznei gegen die Sterblichkeit» macht sich der Schriftsteller Gedanken zu seinem Tun, seinem Schreiben, vergleicht sich mit dem alten, vernarbten Mann, der vor mehr als einer Million Jahren unter einer überhängenden Felswand an einer Feuerstelle sitzt und Geschichten erzählt. «Das einzige Tauschmittel, mit dem er … für menschliche Gesellschaft bezahlen kann, ist der Brückenschlag von den Dingen und Gestalten des Lebens über den Abgrund der Sprachlosigkeit hinweg in das Reich der Laute, des Flüsterns, des Schreiens und der Worte.» Christoph Ransmayr sieht sein Tun wie jenes des Geschichtenerzählers, der sich damit seine Existenzberechtigung gibt. Leicht nachvollziehbar in einer Zeit, in der Optimierung und Leistung zählen, in der einem eine Aufgabe zugesprochen wird, in der man zu funktionieren hat. Etwas, was mit der Kunst alles andere als harmoniert. Etwas, was immer und immer wieder Rechtfertigung fordert, dass allzu schnell und leicht als Beigemüse abgeurteilt wird, wo vergessen wird, dass das Erzählen, die Sprache, die Kunst überhaupt Identität schafft, Selbstbewusstsein. Kunst erinnert, mahnt, konfrontiert, provoziert, hinterfragt. Was wäre eine Gesellschaft, die sich all das nicht leisten würde?
In der ersten Geschichte «Mädchen mit gelbem Kleid» erzählt Christoph Ransmayr vordergründig von einer Reise nach, der Begegnung mit einem Kind, das sich mit dem Schleppen eines Wasserkanisters abmüht, denn die einzigen Rohre, die je verlegt wurden, gehören Konzernen zur Bewässerung ihrer Plantagen, von der Begegnung mit Berggorillas, dort wo Forscherin Dian Fossey hinterrücks erschlagen wurde. Ransmayr offenbart, wie sehr sich Europa über Jahrzehnte an der Welt bediente, sie sich zu Untertan machte, schamlos ausbeutete, Mensch, Tier, Natur, Bodenschätze. Dass der Reichtum Europas bis in die Gegenwart vom Blut der Jahrhunderte getränkt ist. Ransmayr reist nicht als Tourist. Schon sein Buch «Atlas eines ängstlichen Mannes» macht klar, dass Christoph Ransmayr keine Reiseziele sammelt. Es sind Begegnungen, zu denen mich der Autor mitnimmt, Begegnungen mit Menschen, mit der Menschlichkeit, auch dort, wo sie vergessen scheint.
In der dritten Geschichte «An der Bahre eines freien Mannes» erzählt er die Geschichte von Kohlhaas. Nicht jene mit der sich Kleist in den Kanon der deutschen Literatur schrieb und doch von jenem Kohlhaas, jenem aufrechten, guten Menschen, der sich mit der Justiz anlegt und an der «Gerechtigkeit» zugrunde geht. Ransmayr erzählt von seinem Vater, einem unehelichen Kind, mit vielen Talenten gesegnet und gefördert, der sich während des Krieges erfolgreich um eine Nazikarriere «drückte», Lehrer wurde, engagiertes Mitglied einer kleinen Landgemeinde, bis man ihm den Strick um den Hals legte und ihn in einem dorfinternen Machtkampf unlauterer Geschäfte beschuldigte. Sein Vater verstrickte sich mit der Justiz und dem Dorf und als er endlich freigesprochen in sein altes Leben zurückkehren wollte, starb seine von Sorgen gequälte Frau. Eine Geschichte darüber, dass es manchmal nicht reicht, Gutes zu tun, ein guter Mensch sein zu wollen. Vielleicht auch eine Geschichte darüber, dass sich Ransmayr selbst nicht traut, von sich selbst als Dichter und Schriftsteller zu sprechen.
«Arznei gegen die Sterblichkeit» ist Anstoss für vieles. Ein literarisches Kleinod, ein wunderbarer Beweis für die Kunst eines grossen Schriftstellers. Und für all jene, die Ransmayr schon lange kennen eine Ode an die Erinnerung.
Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen «Die Schrecken des Eises und der Finsternis», «Die letzte Welt», «Morbus Kitahara», «Der fliegende Berg» und dem «Atlas eines ängstlichen Mannes» erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter «Damen & Herren unter Wasser», «Geständnisse eines Touristen», «Der Wolfsjäger» und «Gerede». Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen. Zuletzt erschien der Roman «Cox oder Der Lauf der Zeit».
Über die Jahre ist Peter Stamm ganz leise ins literarische Bewusstsein der Schweiz gerutscht, mit jedem Buch ein bisschen tiefer. Schon im ersten Buchpreisjahr 2008 war Peter Stamm mit «Wir fliegen» Nominierter, 2011 mit «Seerücken». 2013 war der Thurgauer gar nominiert für den Man Booker International Prize. Und im vergangenen Jahr war es endlich soweit, eine fast schon logische Konsequenz: Peter Stamm erhält für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» den Schweizer Buchpreis 2018.
Einmal traf ich Peter Stamm an der Fährenanlegestelle in Romanshorn. Damals begleitete er die Dichterin Daniela Danz auf einem Stück ihrer Reise von ihrem Wohnort im Bundesland Thüringen nach Bern zu einer Lesung. Peter Stamm, der Spaziergänger zusammen mit der sprachgewaltigen Dichterin. Wir sassen zu dritt in einem IC Richtung Zürich, sprachen über das Schreiben und Reisen, so wie Schreiben immer eine Reise ist. Als Begleiter des Schweizer Buchpreises 2019 stellte ich dem Preisträger des letzten Jahres ein paar Fragen.
„Mein Krönchen abgeben, keine Supermärkte mehr einweihen und bei keinem Schwingfesten mehr den Muni überreichen“, schriebst du mir, als ich dich um Antworten auf meine Fragen bat, ein Jahr nach der Preisübergabe.
Gibt einem ein solcher Preis eine neue Position? So etwas wie eine Instanz? Oder bleibt bloss eine hübsche Urkunde irgendwo zwischen Schreibtisch und Haustüre? Bleibt etwas?
Die Idee des Preises war ja von Anfang an, den Verkauf von Büchern zu fördern, nicht, die Autorinnen und Autoren unsterblich zu machen. Die Literatur ist viel schnellebiger als man denkt. Der Bestseller von heute kann in zwanzig Jahren völlig vergessen sein und in fünfzig ist er es mit grösster Wahrscheinlichkeit. Oder auch nicht. Aber wenn er nicht vergessen ist, dann wohl nicht wegen Preisen, die er oder sie gekriegt hat. Selbst die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger des Nobelpreises besteht zum grössten Teil aus vergessenen Namen. Und die meisten der nichtvergessenen Autorinnen und Autoren haben den Nobelpreis nie gekriegt. Was bleibt sind einige Bücher. Ich habe übrigens keine meiner Urkunden aufgehängt, das wäre mir zu peinlich.
Die Verleihung des Schweizer Buchpreises soll ein Medienspektakel sein. Das Radio berichtet live und im Theater Basel stehen an diesem Sonntag morgen Fernsehkameras vom SRF. Aber ein richtiges Spektakel wird der Preis vor allem in seinem Nachgang; wenn Medien kommentieren, wenn in grossen Tageszeitungen seitenfüllende Vorhaltungen publiziert werden und man wie jedes Jahr bestätigt wird, dass es wie mit jedem Wettbewerb ist; Jemand gewinnt und viele verlieren. Dabei sollte der Literaturbetrieb gewinnen. Tut er es?
Er kriegt Aufmerksamkeit und darum geht es doch. Wir wollen auch mal ein bisschen Glamour. Schreiben und Lesen sind stille Geschäfte. Politiker gehen an Sportereignisse, allenfalls noch an die Art Basel oder ein Filmfestival, ganz bestimmt nicht zu Lesungen. Ich habe in meiner ganzen Karriere erst einmal einem Bundesrat die Hand geschüttelt und das war, als er ein Buch schrieb und ich ihn moderiert habe.
Und doch sind sie wichtig, diese Preise. Nebst Publicity fliesst Geld, das AutorInnen mehr oder weniger unabhängig macht, zumindest eine gewisse Zeit, Dinge ermöglicht, die sonst nicht umsetzbar sind.
Das stimmt schon, so ein Preis kann eine Entlastung sein. Man darf nie vergessen, dass die meisten Autorinnen und Autoren grosse Mühe haben, von ihrem Schreiben zu Leben. Die Leistung, die die Literatur für das Land erbringt, wird nicht abgegolten. Die Schweiz brüstet sich gerne mit ihren grossen Autorinnen und Autoren, aber sie tut praktisch nichts für sie. Im Gegenteil: siebzig Jahre nach unserem Tod werden wir quasi enteignet, indem man unser Erbe, also unsere Urheberrechte als Allgemeingut erklärt. Und Mäzene gibt es meines Wissens auch keine mehr. Ein Literaturpreis ist eine gute Sache, aber er ändert nichts am grundsätzlichen Problem, dass man vom Schreiben kaum leben kann. Ich beklage mich nicht, ich lebe gut vom Schreiben, aber ich sehe einfach, wie viele das nicht können und sich noch nicht einmal beklagen.
Der Fernsehliteraturkritiker Denis Scheck nannte dich vor nicht langer Zeit einen „Ausnahmeautor“, einer der für seine Kunst des Weglassens ebenso gelobt werde, wie dafür, was am Schluss auf dem Papier steht. Was ich an deinen Büchern so schätze, ist aber auch das, womit sie mich nach der Lektüre zurücklassen; vielen offenen Fragen, eine Spur Ratlosigkeit und die Gewissheit, dass man Leben nicht „aufschreiben“ kann. Wird das auch in den Reaktionen deiner Leserinnen und Leser gespiegelt?
Ja, schon. Aber wenn ich dann mit den Leuten rede und ihnen erkläre, weshalb es keine „Lösungen“ geben darf in meinen Texten, verstehen sie das eigentlich immer. Natürlich gibt es auch Leute, die mit meinen Büchern nichts anfangen können, auch damit habe ich kein Problem. Ich kann ja auch mit ganz vielen Büchern nichts anfangen und das heisst nicht, dass sie schlecht sind. Sie sind einfach nicht für mich geschrieben.
Du bist ein Spaziergänger. Ein Spaziergänger, der der Enge der Schreibklause entflieht, dem Lärm seiner Umgebung? Ein Spaziergänger, der sich so in die Gänge bringt? Ein Spaziergänger in der Tradition Robert Walsers?
Ich würde mich nie mit Rober Walser vergleichen wollen. Spaziergänger gibt es viele, aber Robert Walser gab es nur einen. Beim Spazieren kann ich einfach besser denken als beim sitzen. Das ist natürlich auch ein bisschen mühsam, vor allem, wenn es regnet. Ich bin einfach gerne an der frischen Luft, ich hätte wohl auch Briefträger oder Gärtner werden können. Nur schreiben kann ich dummerweise fast nur in geschlossenen Räumen. Also ist es ein ewiges Hin und Her. Rausgehen um nachzudenken, reingehen um es aufzuschreiben.
In Weinfelden aufgewachsen begann deine berufliche Karriere als kaufmännischer Angestellter und Buchhalter. Was ist davon geblieben?
Ich mache heute noch meine Buchhaltung selbst. Nur bei der Steuererklärung habe ich Hilfe. Ich bin mich gewöhnt, genau zu arbeiten. Ein Buchhalter kann nicht „fünfe grad sein lassen“. Ich weiss noch, wie mein Lehrmeister mir beibrachte, dass auch ein Fehler von nur fünf Rappen gefunden werden muss. Ich hätte liebend gerne die fünf Rappen bezahlt, aber ich musste den Fehler stundenlang suchen.
Mit Preisen wie dem Schweizer Buchpreis sollen Bücher und ihren Autorinnen und Autoren grösstmögliche Aufmerksamkeit im In- und Ausland erreichen. Hättest du die Möglichkeit, eine Autorin oder einen Autor für einmal ganz ins Rampenlicht zu stellen, um sie oder ihn auf ein wohl verdientes Podest zu heben, sie dem Vergessen oder Übersehen zu entreissen, wer wäre es?
Es gibt ganz viele, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, aber wenn ich jetzt einen Namen nenne, dann unterstelle ich der Person Misserfolg und das wäre nicht sehr freundlich. Ganz generell bekommt aber die Lyrik viel zu wenig Aufmerksamkeit, ähnlich wie die zeitgenössische Musik, die fast eine Sekte ist und kaum gehört wird im Lärm der Greatest Hits der Klassik, die rauf und runter gespielt werden. Um aber doch noch einen Namen zu nennen: ich glaube, Hartmut Lange hätte mehr Aufmerksamkeit verdient. Er ist ein stiller Autor, aber er schreibt wunderbare Bücher.
Wenn einem die Vergangenheit überholt, überrollt. Wenn sich Gegenwart vernichtend kreuzt, wo man doch eigentlich gerne aussteigen würde, aus dem Zug, der ohne Halt durch die Zeit rast. Der schmale aber gewichtige Roman von Marion Brasch tritt leichtfüssig auf, um im Verlaufe seines Erzählens zu beweisen, was Leben und erst recht die Literatur zu erschaffen vermag.
Ein grossartiges Buch. Vielleicht schon deshalb, weil es mich am Anfang der Lektüre auf eine «falsche» Fährte führte und ich geneigt war, es auf die Seite zu legen. Weil sich ein scheinbar leicht durchschaubares Konzept als viel verflochtener erweist. Weil es einem bei der Lektüre bewusst macht, wie sehr man sich in seinem Leben mit dem eigenen beschäftigt, angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig Milliarden anderer Leben passieren, jedes mit dem Anspruch, der Mittelpunkt eines Kosmos zu sein. Weil das Szenario wie ein Film von schnellen Schnitten lebt, alles andere als behäbig erzählt und einem die Personen trotz aller Leerstellen im Scheinwerferlicht des Moments erstaunlich nahe kommen. Weil das Buch mit seinen 154 Seiten suggeriert, dass man es an einem Abend so leicht weglesen kann.
Manchmal spielt uns die Erinnerung einen Streich, schlägt uns ein Schnippchen, gaukelt uns etwas vor.
Toni und Alex. Die beiden kennen sich nicht und doch sind ihre Leben miteinander verzahnt. Toni lebt in einem Wohnwagen irgendwo auf dem Land. Sie ist jung, zeichnet und hofft, damit ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Alex ist Roadie einer Band, schafft das Equipment von einem Spielort zum andern, ist nie zuhause bei Frau und Kind, wenn man ihn braucht und hat eine andere Frau, die er ebenso liebt, wie seine eigene Frau. Toni macht sich auf den Weg zu einer Verlegerin, die ihr verspricht, aus ihren Zeichnungen ein Buch zu machen, macht sich auf den Weg, irgendwann nach Neuseeland zu fahren zu Oli, ihrem einzigen Freund, der es dort geschafft hat. Alex macht sich auf den Weg zu seiner kleinen Tochter, die nach einer Blinddarmoperation im Spital liegt, zu seiner Frau, die genau das Gegenteil von dem ist, was die andere Frau für ihn ist, auf den Weg nach Hause, das er aber schon lange verloren hat.
«Aus dem Irgendwann wurde ein Nirgendwann. Und im Nirgendwann hingen sie dann fest.»
Sie beide tragen eine Schuld mit sich herum oder zumindest das permanente Verheeren dessen, was ein einziger Moment in ihrer beider Vergangenheit anrichtete, ein Moment, der nicht zu korrigieren, nicht auszulöschen ist. Ein Moment, der sie zu Getriebenen macht, die durch ein Leben stolpern, dass aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Toni trifft ihren unzuverlässigen Vater, das, was von ihrer Familie übrig geblieben ist, denn die Mutter dämmert und der Bruder ist tot, trifft ihn, ohne dass Versöhnung eine Chance hätte. Alex kommt zurück zu Frau und Kind und muss feststellen, dass nichts so ist, wie er es sich auf seinen Fahrten mit dem Truck zurechtgelegt hat.
«So ist das mit der Erinnerung – sie führt uns an der Nase herum.»
Toni und Alex Geschichten sind untrennbar miteinander verzahnt. Eine Tatsache, von der die Protagonisten nichts wissen, in kurzen, aufblitzenden Momenten höchstens erahnen, mehr unbewusst als bewusst. Marion Brasch erzählt einen Tag, vierundzwanzig Stunden, in denen sich die Leben mehrfach kreuzen, letztlich mit fatalen Folgen. Marion Brasch erzählt aber nicht nur einfach zwei kunstvoll ineinander verwobene Geschichten, perfekt inszeniert, spannend bis zur letzten Seite. „Lieber woanders“ schildert genau das,was der Titel verrät. Jeder legt sich sein Leben zurecht, gibt nur soviel preis, damit das Konstrukt nicht in sich zusammenfällt. Wir leben nicht wirklich mit dem Bewusstsein, wie sehr unser Leben mit jenem vieler anderer, von denen wir keine Ahnung haben, verzahnt und verbunden ist. Wie sehr die Metapher „das Leben in die Hände zu nehmen“ über die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums hinwegtäuscht!
«In jedem steckt ein anderer. In jedem Tapferen ein Feigling, in jedem Zärtlichen ein Grobian, in jedem Ehrlichen ein Lügner, in jedem Guten ein Schlechter.»
Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. Fischer erschienen die Romane «Ab jetzt ist Ruhe», «Wunderlich fährt nach Norden» und zuletzt «Lieber woanders».
Warum nach Basel an das Internationale Literaturfestival? Wegen der Preisverleihung? Nein. Wegen der internationalen Gäste? Schon eher, bemüht sich die Festivalleitung doch sehr, aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen eine Bühne zu geben, sei es mit Diskussionsrunden oder Schreibenden, die sich engagiert mit Konflikten, möglichen Antworten und deren Auseinandersetzung stellen. Aber ein Grund; Jedes Jahr Überraschungen und Entdeckungen.
Peter Stamm ist neu gekührter Buchpreisträger mit seinem Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (Rezension vom 1. April 2018 auf literaturblatt.ch). Das ist gut so – und keine Überraschung. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wird bleiben und nicht einfach im Meer der Neuerscheinungen langsam verschwinden. Dereinst wird dieses Buch in Schulen gelesen werden wie man es mit «Agnes» tut, Peter Stamms vor genau 20 Jahren erschienen erstem Roman. Man wird ihn lesen, weil die beiden Bücher miteinander korrespondieren, das eine irgendwie zum andern gehört.
Das alleine ist aber kein Grund, das Buch zum besten deutsch geschriebenen Werk 2018 zu erklären, zumal die Konkurrenz in diesem Jahr sehr gut und ebenfalls preiswürdig gewesen wäre. «Ein vielschichtiger Doppelgänger-Roman, in dem sich zwei Künstlerpaare ineinander spiegeln. Im Innersten dreht sich das Buch um die wirklichkeitsstiftende Kraft des Erzählens – und funktioniert zugleich so spannend wie ein Kriminalroman. Wir sind die Geschichten, die wir uns erzählen. Peter Stamm führt uns in ein virtuos konstruiertes Labyrinth, in dem wir uns glücklich verlieren», heisst es in der Begründung der Jury.
In Peter Stamms Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.
Doch in meinem Bücherkoffer, den ich im Zug von Basel mit nach Hause schleppte, wartete ein ganz besonderer Schatz darauf gelesen zu werden. Als ich auf den Büchertischen im Volkshaus Basel stöberte, fiel mein Blick auf einen grauen Schuber mit fünf verschiedenen Büchern, bei denen man erst es sich erst auf den zweiten Blick bestätigte, dass sie vom selben Autor geschrieben wurden. Fünf Bücher, eine Enzyklopädie, eine Erzählung, ein Notizheft, eine Audiotranskription und ein Comic (jener gezeichnet von Raffaela Schöbitz). «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» (Suhrkamp) heisst das Panoptikum, das Konvolut an Texten, Illustrationen, Berichten, Zeichnungen. 1000 Seiten, von denen der Autor Philipp Weiss meint, es gäbe keinen Anfang, an dem man mit der Lektüre beginnen müsse, weder eine chronologische, oder sonst logische Linie, der man folgen müsse. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist eine literarische Welt, in die man abtauchen kann, die übersprudelt von Ideen, Querverweisen, sprachlicher Vielfalt, Überraschungen und optischem Genuss.
Manchmal zwingt mich einer meiner erwachsenen Söhne, wenn er in meiner Gegenwart am Computer spielt, versuchsweise auch zum Spieler zu werden. Eines dieser neuen Spiele heisst «red dead redemption II», eine Westernwelt im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Ein Spiel, von dem mein Sohn sagt, man können jederzeit irgendwo einsteigen und spielen, ob man nun einer Spur folge oder sich von der Lust leiten liesse.
Genauso scheint «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» zu funktionieren. Eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im «ewigen» Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf die Suche nach Spuren macht und von Jona, dem von Chantal verlassenen Künstler, der sich auf die Suche nach Chantal macht und in Japan ein Land findet, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.
«Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist eine Reise, eine 1000 Seite lange Reise, auf die ich mich freue, von deren Erlebnissen ich mit Sicherheit noch berichten werde, weil Philipp Weiss zusammen mit der Künstlerin Raffaela Schöbitz etwas schuf, was einmalig, extravagant, kühn und intelligent ist!
Philipp Weiss, geboren 1982 in Wien, studierte Germanistik und Philosophie. Er schreibt Prosa und Theaterstücke, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2009 nahm er mit seinem Text «Blätterliebe» am Ingeborg-Bachmann-Preis teil. 2011 gewann er mit seinem Stück «Allerwelt» das Hans-Gratzer-Stipendium; das Stück wurde am Schauspielhaus Wien uraufgeführt, wo er in der Spielzeit 2013/14 Hausautor war. «Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne» gewann 2015 den Preis der Theatertage Lyon und erschien auf Französisch in den Éditions Théâtrales (Montreuil). «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist sein Romandebüt. Webseite des Autors
Raffaela Schöbitz, geboren 1987 in Korneuburg, hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien sowie Filmwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin studiert. Sie arbeitet als freischaffende Autorin, Dramatikerin und Illustratorin, u. a. für Revolver. Zeitschrift für Film und Deadline. Das Filmmagazin, und ist Teil des nicht.THEATER-Ensembles. Ihre Theaterstücke, «Zugvögel» (2014) und «Im Mutterbauch war’s früher besser» (2015), werden vom Kaiser Bühnenverlag vertreten. Daneben hat sie Kinderbücher verfasst, u. a. «Knollnase» und «Roboter haben’s auch nicht leicht», deren Illustrationen ebenfalls aus ihrer Feder stammen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem DIXI Kinderliteraturpreis für Illustration (2015) und mit Stipendien des BKA Kunst und Kultur (2016 & 2017). 2017 war sie Stipendiatin der Peter Suhrkamp Stiftung. Ihre Bilder sind oft Mixed-Media-Collagen, ansonsten arbeitet sie häufig mit Tusche, Wasserfarben, Kohle und Buntstiften. Webseite der Künstlerin
Mina Wolf lebt allein in einer Wohnung über der Strasse und hat einen Vogel. Eine Krähe. Zuerst frass sie bloss das Fleisch vom belegten Brot, später lockte Mina den Vogel mit Leckereien in ihr Wohnzimmer, wo er sie nun zuweilen besucht und mit ihr spricht. Nur mit ihr, auch nicht mit ihrer Freundin Rosa. Gespräche über alles andere als Banalitäten. Wie es die Menschen schaffen, sich nicht mehr vor sich selbst retten zu können, sich als das Mass aller Dinge zu nehmen und zu vergessen, dass man einst überzeugt war, den Tieren ebenso viel Gottähnliches zuzutrauen wie den Zwischenwesen und den Menschen.
Mina Wolf hat Fragen genug, denn sie ist allein, Journalistin und Gelegenheitstexterin. Allein mit einer Arbeit über den Dreissigjährigen Krieg, der zwischen den Jahren 1628 und 1648 fast die Hälfte der betroffenen Bevölkerung direkt oder indirekt dahinraffte, mit der Festschrift einer Kleinstadt, mit der profanes Geld in die Kasse fliessen soll, den Schreckensmeldungen aus der Presse und dem akustischen Terror in ihrer Nachbarschaft.
Da sind eine Frau, die mit krächzender Stimme und schamlos falscher Intonation einen ganzen Strassenzug von ihrem Balkon aus beglücken will und nicht versteht, dass man ihr nicht dankbar entgegenklatscht, aufgeschlitzte Autoreifen, eine fast vergewaltigte Frau und ein erstochener Hund und immer mehr schwarz, rot, goldene Fahnen, zuerst nur am Taxi des wütenden Fahrers, dann immer mehr.
Mina zieht sich in die Nacht zurück, um die Ruhe zu finden, die sie braucht, um an ihrer Schrift arbeiten zu können und wartet aus Munin, die Krähe, der sie den Namen einer der beiden Raben des germanischen Gottvaters Odin gibt. Hineingestossen von der Brutalität eines eine ganze Generation dauernden Krieges, dessen Schicksale und all dem, was in die offenen Türen ihres sonst stillen Lebens einbricht, breitet sich Chaos im Kopf aus.
„Ich weiss es nicht, vielleicht weil ihr so geheimnisvoll seid. Weil ihr diese Augen habt, so dunkel und unergründlich wie der Äther. Vor allem, weil ihr immer und überall über uns hockt wie ewige Zeugen.“
Monika Marons Roman mischte die ihr sonst so zugewandte Kritik mächtig auf, weil der Roman und seine Rezeption beweist, wie schwierig es ist, Inhalt und Autorin voneinander zu trennen. Wenn im Text Ängste mitschwingen, Ängste vor dem Islam zum Beispiel, ist das Geschrei unzimperlich und die Debatte darüber unverhältnismässig. Monika Maron schrieb ein Buch. Die Frau im Buch heisst Mina Wolf, eine einsame Wölfin in der Angst, die Welt immer mehr dem Chaos übergeben zu müssen. Und so spiegelt sich das Chaos in ihrem Kopf.
Die Krähe sagt zu Mina: „Du traust dich nicht zu sagen, was du denkst.“ Monika Maron traut sich zu sagen, was man denken kann. Was gedacht wird. Was in vielen Ängsten steckt. Sie stellt Fragen und debattiert mit einem Göttervogel, der ihr die Stirn zu bieten weiss. Fragen über Krieg, Überalterung, über die Dynamik einer Zusammenrottung und die Unfähigkeit aus Fehlern wirklich zu lernen. Mit einem Mal brennt der Spiegel des Weltgeschehens ein grosses Loch in den Quartierfrieden ihrer Stadt.
Monika Maron wagt es, erstaunlich mutige Fragen zu stellen, und setzt sich mit deren Antworten aus den Figuren ihres Romans in Nesseln, weil wir keinen Platz mehr haben für pointierte, unausgewogene, kompromisslose Antworten, die sich nicht als Meinung verstehen, auch nicht als wahrheitsgebende Betrachtung in einer Welt, die an Harmoniesucht zu ersticken droht. Monika Maron ist eine Seismographin!
Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, darunter «Flugasche», «Animal triste», «Endmoränen», «Ach Glück» und «Zwischenspiel», außerdem mehrere Essaybände, darunter «Krähengekrächz», und die Reportage «Bitterfelder Bogen». Zuletzt erschien der Roman «Munin oder Chaos im Kopf». Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis (1992), dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2003), dem Deutschen Nationalpreis (2009), dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und dem Ida-Dehmel-Preis (2017).