Christoph Ransmayr «Der Fallmeister», S. Fischer

Wenn Christoph Ransmayr einen neuen Roman veröffentlicht, dann ist es zumindest für mich ein Ereignis grösster Wichtigkeit. Wenn mich dann der Roman wie sein neuster auch noch in die Verzückung hievt, die „Der Fallmeister“ auslöst, dann will man überall Fahnen hissen und Fanfaren blasen.

Ich liebe Christoph Ransmayrs Bücher nur schon wegen ihrer überragenden Sprache. Ich kann sie unabhängig, völlig losgelöst von Inhalt und Geschichte lesen, einzelne Sätze und Abschnitte, die in ihrer sprachlichen Vollendung derart glitzern und glänzen, dass mir schwindelt. Ich muss Ransmayr lesen und dann stellt sich sprachliche Ergriffenheit gepaart mit eigener Bescheidenheit ein. Wenn es Momente während des Lesens von Büchern gibt, bei denen ich mir einrede, es so durchaus auch zu können, dann reisst mich Christoph Ransmayr von diesem schmalen Podest herunter und lehrt mich meine Begrenztheit. In Ransmayrs Sprache unterliegt nichts der Bescheidenheit, nichts der Begrenztheit. Er erzählt, formuliert und baut mit einer derart verblüffenden Selbstverständlichkeit und scheinbaren Leichtigkeit, dass ich während der Lektüre Atem schöpfen muss. Wer Christoph Ransmayrs Bücher liest, tut gut daran, es mit Langsamkeit und in kleinen Häppchen zu tun, damit sich entfalten kann, was der Autor in mir als Resonanzkörper erreichen kann. „Der Fallmeister“ ist ein Leuchtturm im Meer der Neuerscheinungen!

Christoph Ransmayr «Der Fallmeister», S. Fischer, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-002288-2

Aber es ist nicht nur die Sprache allein. Weil Christoph Ransmayr Kosmopolit und stetig Reisender ist, fliesst sein ganzes Erleben, die Fülle seiner Eindrücke mit in sein Schreiben. Was Christoph Ransmayr beschreibt ist durchlebt; jedes Leuchten am Himmel, jeder Schweisstropfen in glühender Hitze, jedes Tosen und Branden. In seinem neuen Roman „Der Fallmeister“ arbeitet der Protagonist in einer Zukunft, in der kaum ein Stein auf dem andern geblieben ist, als Hydrotechniker. In einer auseinandergebrochenen Welt, in der Kleinstaaten, Stadtstaaten, Clans und Grafschaften erbitterte Kriege um Wasser führen, nichts von der Idee Europa geblieben ist und die Küstengebiete unter den Meeresspiegel sanken, sucht ein Mann nach Antworten. Er sucht seinen Vater, seine Schwester, seine Mutter. Christoph Ransmayr schildert diese dystopische Welt in derart verblüffender Leichtigkeit, dass man glauben könnte, er hätte nie in einer anderen Welt, nie anders als aus der Sicht eines Hydrologen die Welt gesehen und erfahren. Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit jedem Satz, mit jedem Fakt mir als Leser beweisen müssen, wie sehr sie sich in ein Thema, in eine Welt hineinrecherchiert haben. Christoph Ransmayr scheint das nicht nötig zu haben. Er weiss und schreibt. Und er schreibt wie ein Maler, der mit seinem Pinsel in der Hand in einer Mischung aus Selbstvergessenheit und grenzenloser Selbstverständlichkeit ein Panorama auf eine riesige Leinwand ausbreitet. Jeder Pinselstrich im Wissen gesetzt, wie dereinst das Ganze erstrahlen muss.

Christoph Ransmayrs neuster Roman „Der Fallmeister“ erzählt die Geschichte von Schuld und erhoffter Vergebung. Die Geschichte eines Sohnes, der überzeugt ist, dass sein Vater nicht der stille Held eines tödlichen Dramas war, sondern Verursacher und Mörder an einem Unglück, bei dem fünf Menschen den Tod in den Fluten reissenden Wassers fanden. Nachdem die Mutter als Ausländerin zurück in ihre Heimat in den glutheissen Süden deportiert wurde und sich der jähzornige Vater durch einen scheinbar perfekt inszenierten Selbstmord aus der Gegenwart verflüchtigte, macht sich der von düsteren Ahnungen Getriebene zuerst auf die Suche nach seiner Schwester. Mira, seine Schwester, die an Osteogenesis imperfecta, der Glasknochenkrankheit leidet, lebt verheiratet abgeschieden weit im Norden, in einem Turm, vom Meer umgeben. Sie, die „Imperfekte“ ist für ihn das Sinnbild der Vollendung, sein Leuchtturm seiner Leidenschaft, die Einzige, mit der er sich untrennbar verbunden fühlt. Die Einzige, die ihm helfen kann, bei all den Fragen, die ihn um- und vor sich hertreiben. Er findet sie nach einer langen Odyssee. Aber was er findet, treibt ihn nur noch weiter. Weil sich die Bestie Vater immer deutlicher in ihm zu spiegeln beginnt, weil er erfahren muss, wie zerstörerisch seine Leidenschaft durchbrechen kann. Er durchquert auf der Fahrt zu seiner Mutter mit den Papieren eines Hydrotechnikers erneut den ganzen Kontinent, von Grenze zu Grenze, Hymne zu Hymne, Währung zu Währung, den Scherbenteppich eines zerstörten Kontinents. Bis er in einem steinernen Dorf hoch über der Küste seine Mutter wiederfindet und erfahren muss, dass nichts so ist, wie er es sich ein halbes Leben lang in Geist und Seele ausmalte.

Ein Fallmeister ist ein Schleusenwärter. Als Fallmeister, als Herr über Leben und Tod, sass sein Vater einst am Weissen Fluss, dort wo sich die Wassermassen durch eine Enge in die Tiefe stürzen und man den Fluss durch ein ausgeklügeltes System von Schleusen bezwingen kann. Sein Sohn, vom Verbrechen seines Vaters überzeugt, macht sich auf eine Reise, die ihn genau dorthin zurückführt, wo er sie einst begonnen hatte, nicht nur geografisch.

„Der Fallmeister“ ist gleichermassen klar wie rätselhaft. Etwas mehr als 200 gewichtige Seiten, die sich lesen, wie Filme, die man sich immer und immer wieder ansehen kann, ohne dass sie jemals ihren Zauber verlieren.

Christoph Ransmayr liest

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen.

Rezension von «Cox oder Der Lauf der Zeit» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Arznei gegen die Sterblichkeit» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Magdalena Weyrer