Being Human. Writers against Hate – Lesen gegen Antisemitismus und die Bedrohung einer offenen, toleranten und demokratischen Gesellschaft.

Monica Cantieni, Ruth Loosli, Ilma Rakusa, Usama Al Shahmani und Ralph Tharayil: Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller lesen im Literaturhaus St. Gallen gegen Antisemitismus und die Bedrohung einer offenen, toleranten und demokratischen Gesellschaft.

Die Welt hat sich verändert – nicht erst seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres. Gewaltverherrlichung, Hassparolen, Gleichgültigkeit oder Relativierung von Massakern, der Missbrauch von Menschen als Schutzschildern oder als Mittel zur Spaltung der Bevölkerung – diese Entwicklungen sind äusserst beunruhigend. Empathie, Rücksicht und Respekt gegenüber anderen Menschen und Lebenswelten sind schwindende Werte.

Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller reagieren und wenden sich gegen Antisemitismus und die Bedrohung einer offenen, toleranten und demokratischen Gesellschaft: mit differenzierter literarischer Sprache, Geschichten, narrativer Reflexion, mit Texten, die sich der Menschlichkeit in all ihren Facetten widmen.

Es lesen:

Monica Cantieni, geb. 1965, Schriftstellerin und Mitinitiantin von Writers against Hate. Ihr Roman «Grünschnabel» (Schöffling & Co, 2011) war für den Schweizer Buchpreis nominiert und in sechs Sprachen übersetzt.

Ruth Loosli, geb. 1959, lebt und arbeitet in Winterthur. Sie hat mehrere Bücher (Lyrik, Prosa) veröffentlicht sowie in Anthologien und Literaturzeitschriften publiziert, zuletzt «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» (Caracol Verlag, 2023).

Ilma Rakusa, geb. 1946, lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Kritikerin in Zürich. Für ihr umfangreiches literarisches Werk, das Gedichte, Erzählungen, Essays und das Erinnerungsbuch «Mehr Meer» (Literaturverlag Droschl, 2009) umfasst, erhielt sie zahlreiche Preise.

Usama Al Shahmani, geb. 1971 in Bagdad, hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Der Autor von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» (Limmat Verlag, 2018) übersetzt auch ins Arabische und ist seit 2021 Literaturkritiker beim SRF-«Literaturclub». 

Ralph Tharayil, geb. 1986 als Sohn indischer Migranten in der Schweiz, arbeitet spartenübergreifend mit und zwischen Literatur, Audio und Theater. Zuletzt erschienen: «Nimm die Alpen weg» (edition Azur, Dresden, 2023).

So. 6.10.2024 — 18 bis 20 Uhr — Raum für Literatur, Hauptpost, Eingang St. Leonhard-Strasse 40, 3. Etage / Fr. 10.- / Kultur-Legi Fr. 5.- / Mitglieder A*dS gratis, Geflüchtete gratis

TICKETS an der Abendkasse (Anmeldung über literaturhaus@wyborada.ch hilfreich, aber nicht zwingend)

1500 Mal literaturblatt.ch – eine kleine, doch beherzte Würdigung, von Ruth Loosli

Gallus Frei ist nicht nur ein unermüdlicher Leser, sondern auch ein sorgfältiger und eigenwilliger. Er ist sich nie zu schade, auch unbekannten Stimmen eine Stimme zu geben, wenn er sich entschieden hat, ein neues Buch aufzuschlagen und es zu lesen.

Gallus Frei ist sich keines Genres zu fein: Wenn er sich zu eben diesem Buch entschließt, dann legt er es kaum weg, oder es wäre begründet, und das lässt er uns LeserInnen dann natürlich nicht wissen. Er ist ein Gentleman durch und durch, als Leser ebenso wie als Veranstalter und Moderator. Heisst, er ist immer fair und wohlwollend den SchriftstellerInnen gegenüber, ihm ist bewusst, dass sein Lesen, seine Einladungen und „Beurteilungen“ ein Gewicht haben.

Die Kritik des Germanisten interessiert ihn weniger, denn er ist kein Germanist – darauf weist er auch selbst gerne hin – sondern ein vorzüglicher und vielleicht darf man sagen, ein besessener Leser, wie es ihn vermutlich nur noch selten gibt.
Wer ein Buch – von Gallus besprochen – zur Hand nimmt, muss nicht seiner Meinung sein, lässt sich aber gerne von seiner Leseerfahrung mitnehmen und beeinflussen. Zudem gibt es sehr oft nachgehend ein Interview mit dem Autor, der Autorin, das ebenfalls manch Erhellendes zum Buch und zur Arbeit aufzeigen wird.

Von meiner Seite kommt ein übermütiger Dank und eine große Gratulation zu seinem 1500. Beitrag!
Sein 1500. Beitrag!
Man lasse diese Zahl auf sich wirken.
In diesem Sinne meine allergrößte Hochachtung.

Es grüsst eine befreundete Weggefährtin in Sachen Literatur Ende des Jahres 2023 mit den allerbesten Wünschen für sein weiteres Schaffen.
Ruth Loosli

Ruth Loosli «Sopran oder Alt?» – «Tschuldigung» 6

44,44, sagte der Mann an der Kasse und schaute überrascht. Ein interessanter Betrag, fügte er an. Ich stand in einem Bioladen in Konstanz und zückte meine Geldbörse, während ich ihn anschaute. Dass er diese Zahlen interessant genug fand, um sich zu äussern, liess mich innehalten. Sein Gesicht war schmal, es hatte etwas Römisches, die Augen strahlten verhaltene Wärme aus.
In der Geldbörse hatte ich Kleinnoten und eine letzte Visitenkarte mit Namen und Telefonnummer. Ich schob ihm einen 20 Euroschein zu mit der Visitenkarte, als wären die zwei Blätter verschweisst.
Er guckte kurz, legte den dicken Schein in die Kasse, nickte mir zu, seine Augen blieben freundlich, seine Mundwinkel zuckten leicht.
Dass ich einem wildfremden Mann soeben meine Telefonnummer gegeben hatte, überraschte mich.
Ich bin ja nicht mehr die Jüngste, glücklich geschieden, lebe gerne allein.
So what, dachte ich und vergass die Sache.
In meinem Bauch lag wenig später ein minimaler Teil eines Kalbes, das über Mittag als Gulasch serviert wurde mit Spätzle und Gemüse; so stand es auf der Karte und ich wollte unbedingt auf den See schauen. Für einen guten Platz muss man mitbezahlen, dachte ich und dankte dem Kalb, dass es mir Energie spendete.
Nach dem Essen und weiteren kleinen Einkäufen fuhr ich zurück nach Winterthur. Sommerlich warme und zu trockene Herbsttage folgten, danach schlich sich der Nebel in die Gassen. In mein Gemüt. 55 Jahre und zu oft allein.
Trotzig schmückte ich den kleinen Nadelbaum, der auf dem Balkon steht und sich bestimmt nicht auf den alljährlichen Glimmer freut. Hier ein Holzpferdchen an einer goldenen Schnur, dort ein Engelchen mit Posaune: Alles vor wenigen Jahren auf einem Seconhand-Weihnachtsbasar erstanden. Der ganze frühere Schmuck liegt beim Ex in einer Kiste auf dem Estrich.
Noch ein Esel, dachte ich, den hänge ich neben den Hirten.
Fertig.
Ich schenkte mir einen Cynar ein, goss Orangensaft dazu und betrachtete mein Werk.
Da läutete das Telefon. Es war am 19. Dezember.
Eine fremde Nummer leuchtete auf. Normalerweise nehme ich keinen Anruf einer fremden Nummer entgegen.
Hallo, sagte ich.
Eine männliche Stimme sagte hastig:
Tschuldigung, hier ist 44, 44 mein Name ist Joshua.

Ich musste mich setzen, doch das sah er natürlich nicht.
Eine Hitze schob sich vom Kopf in den Bauch in die Beine. Er. Ich sah ihn vor mir, seine warmen Augen, seine Mundwinkel.

Am 24. Dezember sass Joshua in meiner Stube, legte ein flaches Paket unter den Baum und betrachtete den Engel mit der Posaune.
Machst du Musik, fragte er.
Meine Gitarre ist kaputt, leider, sagte ich.
Aber ich singe oft für mich allein.
Er schaute mich an, näherte sich meinem Gesicht und fragte: Sopran oder Alt?

Von da an hatte ich einen Freund. Er hat eine großartige Singstimme. Er hilft nur manchmal aus im Bioladen in Konstanz. Trotzdem hat uns an jenem Tag eine Zahlenkombination zusammengeführt und mein Mut, ihm meine Telefonnummer zu geben. Der Zug trägt uns in 56 Minuten von einem Ort zum anderen. Dazwischen liegt allerdings eine Grenze. Wir sind am Überlegen, wie wir diese in schlechten Zeiten überwinden könnten.

Das Geschenk war übrigens in braunes Packpapier eingeschlagen und enthielt ein Buch. Es waren Gedichte von Rumi, einem Sufi-Mystiker aus dem 12. Jahrhundert.

„Das Leben ist kurz wie ein halber Atemzug – pflanze nichts als Liebe», stand als Widmung darin. Dein Joshua

© Vanessa Püntener

Ruth Loosli ist 1959 in Aarberg geboren und im Berner Seeland aufgewachsen. Sie ist ausgebildete Primarlehrerin und hat drei Kinder. Seit 2002 lebt und arbeitet Ruth Loosli in Winterthur, wo sie sich in verschiedenen literarischen Projekten engagiert. Neben dem Schreiben von Prosa und Lyrik gestaltet sie auch Schreibbilder. 2023 wurde Ruth Loosli für ihren Lyrikband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit einem Preis der Stadt Zürich geehrt.

«Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» Caracol; «In ihrem neuen Lyrikband zeigt sich Ruth Loosli wortverspielt und ernst zugleich. In fünf Zyklen vereint sie eine Vielfalt an Themen, die sie zu Gedichten und kurzen Prosatexten verwebt: Politik und Gesellschaft vermischen sich mit persönlichen Erfahrungen und Eindrücken. Alltägliche Bilder sind hinterlegt mit Fragen an diese Welt.

Illustration © leale.ch

Sommerfest 2023 in und ums Literaturhaus Thurgau

Über dem aktuellen Programms des Literaturhauses Thurgau steht ein Zitat der Dichterin Lisa Elsässer, die Anfang Mai Gast in Gottlieben war: „Vielleicht braucht es für die Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.“

Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Lesen ist Reduktion. Schreiben ist Reduktion. Und mit Sicherheit ist eine Lesung, eine Darbietung, ein Sprechstück, Musik oder jegliche Performance eine Reduktion, eine Reduzierung auf das Wesentliche. Ob AkteurIn oder BesucherIn, ich fokussiere mich nicht nur auf das eine, das Geschriebene, Gehörte, Gesehene, Gesagte, ich reduziere meine Wahrnehmung auf das eine, vergesse mich.
In genau dieser Reduktion verbergen sich die grossen Tore des Seins, jene Tore, die keiner Zeit, keiner Distanz, nichts unterworfen sind, begrenzt nur durch die Fantasie, die eigene Innenwelt. Lesen und Hören, das wissen alle, die sich in den Sog eines Kunstwerks hineinlassen können, aber vor allem das Lesen, öffnet uns in der Reduktion Welten, die uns sonst verborgen blieben.

Darum lesen wir. Darum lassen wir uns von Sprache und Dichtung so gerne be- und verzaubern, weil es Tore sind in eine Seinsebene, die auftut, die letztlich konfrontiert und niederreisst, was uns sonst die Sicht vernebeln oder gar verhindern würde.
Darum braucht es Häuser wie das Literaturhaus Thurgau, ein Haus, das Räume aufschliesst, wie alle Orte, an denen sich Kunst manifestiert.
Von Betriebsamkeit, innerer Betriebsamkeit, sind wir nicht gefeit. Schon gar nicht in den Vorbereitungen zu einem solchen Fest, dem traditionellen Sommerfest unseres Literaturhauses.

Ruth Loosli mit ihrem Gedichtband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit Quirin Oeschger am Hackbrett

«Der Abend am Sommerfest im Literaturhaus Gottlieben war heiss! Er war umfassend schön. Wir haben geschwitzt, gelacht, uns der Sprache (und der Musik! dem Klang auf dem Hackbrett von Quirin Oeschger) ergeben: beim Zuhören, beim Text sprechen, beim Austausch (dort waren wir spontan, voller Interesse für das Gegenüber). DANKE für diese wunderschöne Einladung, für die umfassende Gastfreundschaft; auch an Monika Fischer … Das Haus an diesem Ort, an diesem Fluss, der hier „Seerhein“ genannt wird, ist magisch. Der ganze Abend (nach uns die Lesung von Sarah Elena Müller im Gespräch mit Gallus) geht in die Schatztruhe unvergesslicher Erinnerungen.» Ruth Loosli

Es braucht ein solches Fest. In all den Veranstaltungen übers Jahr wird die Literatur, das Wort, die Kunst gefeiert und mit ihr all die Tapferen, die sich in ihrer Kunst durch fast nichts entmutigen lassen.
An einem solchen Fest feiern wir das Literaturhaus selbst, das seit über zwei Jahrzehnten dem geschriebenen Wort Stimmen gibt, wo sich KünstlerInnen und LeserInnen begegnen, wo vom Erdgeschoss bis unters Dach der Sprache eine Heimat gegeben wird.
Wer die Liste all jener durchschaut, die einst in diesem Haus lasen oder für eine gewisse Zeit in der Gästewohnung lebten und schrieben, ist beeindruckt, wie sehr dieses sonst so stille Haus von Bedeutsamem durchflutet wurde.

Sarah Elena Müller und ihr Debüt «Bild ohne Mädchen»

Letzthin besuchte mich hier in Gottlieben eine Schriftstellerin, mit der ich bislang nur schriftlich Kontakt hatte, die ich aber immer wieder eingeladen hatte, diesem magischen Ort einen Besuch abzustatten. So holte ich sie am Bahnhof ab und spazierte mit ihr bei schönstem Sommerwetter zum Literaturhaus. Sie warf nur einen einzigen Blick auf die Fassade des Hauses und war gebannt. Ich zeigte ihr das Haus und wir machten einen Spaziergang bis nach Konstanz. «Gibt es einen schöneren Ort?», fragte sie. Sie war hingerissen und versprach, alles daran zu setzen, bald möglichst in diesen Mauern als Gast leben und schreiben zu dürfen.

Dass dieses Haus in einer Zeit von Optimierung, vielfältigen Bedrohungen, von Sparrunden und Verunsicherungen funktioniert, gedeiht und bis weit über die Landesgrenzen hinaus wirkt, ist all jenen Menschen zu verdanken, die sich für dieses Haus einsetzen: allen voran die Bodman-Stiftung mit ihrem Präsidenten Lorenz Zubler, den spendablen Gönnerinnen und Gönnern, dem Kanton und ganz speziell der Geschäftsstellenleiterin Monika Fischer und der guten Seele im Haus, der Handbuchbinderin Sandra Merten.

Eigentlich erstaunlich, wie wenig Besatzung dieses Schiff durch all die Stürme segelt!

«Worte sieben» Zu den Schriftbildern von Ruth Loosli, von Julia Röthinger

«Und doch / müssen wir reden / weil wir Menschen sind», schreibt Ruth Loosli in einem ihrer Gedichte, und macht genau dies in und mit ihrem künstlerischen Werk, das Lyrik und erzählerische Prosa ebenso umfasst wie die stetig anwachsende Zahl an Schriftbildern, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist. Leicht, aber nie leichtsinnig, gehaltvoll, aber nie schwer umkreist Ruth Loosli in ihrer Sprach- und Bildkunst die conditio humana, das menschliche Dasein, das geprägt ist von Freud und Leid, von Liebe und Verlust, von Zweisamkeit, aber auch Einsamkeit, von der Ohnmacht des Einzelnen in einer Welt, in der man Krisen und Kriegen hilflos gegenüber steht. Doch es gibt auch Hoffnung. Knochenarbeit; grün lautet der Titel einer der Zeichnungen Ruth Looslis, auf der der grüne Stängel einer Pflanze zu sehen ist, der aber auch ein Knochen sein könnte. Es ist kein gerader Pflanzenknochen, wenn er auch aufrecht ist: er hat einen Knick, ist gebeugt worden, sei es durch Hagel, sei es durch Unachtsamkeit, dass sich jemand mit groben Schritten durch das Gras bewegt und diese aufblühende Pflanze mit einem schweren Tritt geknickt hat. Und doch steht er da, dieser Pflanzenstängel, unbeirrt. Nicht immer ist das Wachsen ein geradliniges, oft genug nimmt es einen Umweg, oft genug ist es auch schwere Arbeit, wie die schwarzen Punkte andeuten: gleich den Jahresringen eines Baumes markieren sie die Entwicklungsschritte, Momente der Verdichtung, bis schliesslich oben die Blüte wächst, ein filigraner Fächer, ein zartes Gebilde, das aus dieser schweren Knochenarbeit hervorgegangen ist. Die Knochenarbeit kennen wir alle, als das Wachsen der Knochen, aber auch als eine intensive und mühevolle Arbeit. Auch Kunst ist eine Knochenarbeit, etwas das wächst und sich ent-wickelt, das gedeiht und oft genug auch Früchte trägt.

«Poesie ist Zuwendung zu Menschen, Dingen, der Natur. Ruth Loosli macht es in ihren wachen Gedichten vor.» Ilma Rakusa

Ruth Loosli «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe», Caracol, 128 Seiten, CHF ca. 20.00, ISBN 978-3-907296-28-8

1959 in Aarberg im Berner Seeland geboren, lebt und arbeitet Ruth Loosli seit 2002 in Winterthur. Seit mehr als zehn Jahren tritt sie mit ihrem lyrischen und erzählerischen Werk in Erscheinung, nicht zuletzt auch mit ihren Schriftbildern, in denen Ruth Loosli das Wort von seiner Abstraktheit entkleidet und es in seiner Bildhaftigkeit darstellt, wodurch sie dessen verborgenen, nicht immer offensichtlichen, manchmal überraschenden Kern herausschält. Da folgt ein seufzendes oh auf honolulu und setzt sich fort in immer weiteren oh´s, an die sich wieder neue oh´s anschliessen, bis all diese oh´s eine Insel bilden, eine Insel des Seufzers, eine Insel der Sehnsucht, eine Insel, in der das oh auch zum ho wird: zum Anfangslaut Honolulus, als ginge die Insel aus dem gehauchten Laut hervor. Oder wir lesen: frau steht am fenster und sehen das Fenster in der Schraffur der Worte, indem sich fenster an fenster reiht, ein Rechteck bildend, geschwungene Linien, als fingen sie die Reflexion des Fensterglases ein, und als träte aus dieser Reflexion die Frau hervor, im schwungvoll ausgeführten f. Und so siebt Ruth Loosli die Worte, prüft sie, klopft sie ab, niemals eindeutig, immer mehrdeutig. Ihre Schriftbilder zeigen uns den Resonanzraum, der hinter den einzelnen Worten steht.

 

Stets lotet Ruth Loosli dabei in ihrer Arbeit die Dimensionen des menschlichen Daseins aus, sein Auf und Ab. Kummer und Tränen werden vom Fluss des Lebens mitgetragen und reingewaschen, Narben verwachsen und neue Haut legt sich über alte Wunden. Es ist der feine Humor, der Welt und dem Dasein trotz aller Verletzungen heiter und offen zu begegnen, der eine Leichtigkeit über ihre Kunst legt. In ihren Schriftbildern, die Miniaturen gleichen, entfaltet sie eine ganze Welt und eröffnet einen Gedankenkosmos, der für das Suchen und Umkreisen steht, für die Verortung des Ichs in der Welt, und der einlädt zum Miteinander-Reden. Die Kunst von Ruth Loosli nimmt sich der Welt und des Menschen an und bewahrt sich eine ganz eigene Ästhetik, in der sich die Weite im Detail zeigt. Bleibt zu wünschen, dass Ruth Loosli mit ihrer Arbeit noch möglichst viele Menschen berühren und miteinander verbinden kann.

Julia Röthinger

Die Ausstellung ist immer offen, wenn Lesungen laut Programm des Literaturhauses stattfinden. Die Künstlerin freut sich, mit Interessierten ins Gespräch zu kommen und ist zusätzlich anwesend am:
Samstag,  9. September von 16-18 Uhr
Sonntag, 15. Oktober von 16-18 Uhr (Finissage inklusive Kurzlesung, falls erwünscht); Kontakt für Anfragen: ruth.loosli@gmail.com

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Nach weiteren Lyrikveröffentlichungen erschien 2021 ihr erster Roman «Mojas Stimmen». Aktuell ist ihr Gedichtband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit Schriftbildern der Autorin.

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau zwischen Mai und August 2023

«Vielleicht braucht es für Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.» Lisa Elsässer

Liebe FreundInnen des kleinsten aber feinsten Literaturhauses,
zücken Sie Ihre Agenden, Planer, Mobilphones oder Wandkalender und markieren Sie die folgenden Termine. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Treue und den Mut, sich in Neues hineinzugeben.

Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr
Ein Abend mit Lisa Elsässer
„Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt.“ Felix Schneider, SRF Literatur

Donnerstag, 11. Mai, 19.30 Uhr
Nadja Küchenmeister „Im Glasberg“
Samstag, 13. Mai, 16 Uhr: Nachlese
In der jungen deutschsprachigen Lyrik gilt Nadja Küchenmeister als einzigartige Stimme. Sie verwebt Erinnerungen mit Märchen und Traumbildern – und findet im Unscheinbaren das Besondere, im Nebensächlichen das Wesen der Dinge. Ihre Dichtung ist immer suchend, tastend unterwegs: sprachspielerisch und zugleich von hoher formaler Schönheit.

Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr
Robert Prosser „Verschwinden in Lawinen“, Performance mit Gespräch
Percussion: Lan Stricker
In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur.

Freitag, 9. Juni, 19.30 Uhr
Milena Michiko Flašar
„Oben Erde, unten Himmel“
Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf Kodokushi-Fälle.

Donnerstag, 15. Juni, 19.30 Uhr
„Der Garten“ von Paul Bowles
mit Florian Vetsch (Autor), Dagny Gioulami (Schauspielerin, Autorin) und Klaus-Henner Russius (Schauspieler)
Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967). Paul Bowles (1911–1999) zählt zu den bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr
Judith Hermann „Wir hätten uns alles gesagt“ 
in Kooperation mit dem Literaturhaus St. Gallen, im Kunstmuseum St. Gallen
„Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.“ Roman Bucheli, NZZ

Donnerstag, 6. Juli
Tabea Steiner „Immer zwei und zwei“
18 Uhr „Literatur am Tisch“
20 Uhr Lesung
Natali heiratet Manuel, Mitglied einer Freikirche, und wird so Teil einer streng christlichen Gemeinschaft. Zunehmend ist sie um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter besorgt. Als sie die alleinstehende Theologin Kristin kennenlernt, wird ihr klar, dass sie so nicht weiterleben kann.

Samstag, 19. August, 18 Uhr, Sommerfest; Ausstellung, Lesungen
18.30 Uhr: Ruth Loosli, Schriftbilder und Lyrik, begleitet von Quirin Oeschger am Hackbrett 
20 Uhr Sarah Elena Müller „Bild ohne Mädchen“
„Sarah Elena Müller bringt eindrucksvoll zum Ausdruck, wie viel Uneinsichtigkeit, wie viel Hilf- und Sprachlosigkeit die Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls oft erschweren oder gar verhindern. Ein starkes Debüt.“ Julian Schütt
«Ruth Loosli schreibt, wie andere tanzen. Anmutig, leichtfüssig, den Menschen zugeneigt.» Susanne Rasser, Salzburg

Illustrationen leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Ruth Loosli «Eine unschöne, beinahe wahre Weihnachtsgeschichte», 4. unschöne Weihnachtsgeschichte

Sie hatte ein Inserat gesehen, «Fett absaugen», stand da.
Genau das wollte sie sich zu Weihnachten schenken, sie wollte die ganze Familie mit einem neuen «Outfit» überraschen, an der Familienfeier, die immer am 24. Dezember stattfand.
So transferierte sie, nachdem sie den Termin festgemacht hatte, eine stattliche Summe von ihrem Bankkonto zu diesem Schönheitsinstitut, den Rest musste sie nach erfolgreicher Ausführung überweisen und dann, dann bliebe kaum noch etwas auf dem Konto.
Und kaum Speck auf den Rippen, lachte sie.
Diese Überraschung würde ihr Geschenk an die Familie sein.

Am 20. Dezember war der Termin.
Der Arzt kam, strichelte allerlei Linien auf die Dellen und Rundungen ihres Körpers, murmelte, als müsste er eine neue Formel erfinden und fragte dann, sind Sie bereit?
Ja, antwortete sie tapfer, obwohl sie am liebsten aufgesprungen wäre, ihre weiten Kleider angezogen und davongerannt. Diese Maschine, die er nun am Bauch ansetzte und sich als unerbittlicher Saugnapf an ihr festsetzte, machte ihr Angst. Laut war die Maschine nicht, doch schmerzhaft.
Der Arzt beugte sich über sie und sagte, ich bin in wenigen Minuten wieder zurück, die Maschine kann allein saugen.

Sie lag da; sie atmete flach, um dem Schmerz zu entgehen.
Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Körper langsam auflöste.
Sie sah, dass durch den Schlauch der Maschine eine helle Flüssigkeit kroch, das war wohl ihr Fett.

Als der Arzt wieder kam, lag vor ihm ein schmaler Körper, eigentlich nur noch ein Skelett.
Er liess sich seinen Schrecken nicht anmerken, stellte jedoch hastig das Gerät ab, was der Klientin völlig entging, denn – sie atmete nur noch sehr unregelmässig.

Der Arzt musste den Notruf betätigen, die junge Frau wurde ins Spital eingeliefert.

Nach drei Nächten auf der Intensivstation verlegte man sie auf ein Zimmer in der Allgemeinen Abteilung des Spitals.
Holt mich hier raus, schrieb sie dem ahnungslosen Vater. Der war gerade am Einkaufen für das Familienfest am kommenden Tag, er las die Nachricht, während er zum Veloständer eilte, machte einen blöden Misstritt wegen einer Unebenheit am Rande des Gehsteigs, fiel hin, mitsamt der Tasche, mitsamt dem Gerät, auf dem die Nachricht stand, hielt das Gerät fest umklammert, ein Schrei fiel mit ihm, ein Schmerz durchzuckte seine Schulter: Er musste in die Notaufnahme. Oberarmknochen angerissen. OP je nach Entwicklung im neuen Jahr.

Am folgenden Tag wurden die zwei Patienten abgeholt vom Bruder der jungen Frau, die nun unendlich dünn im Rollstuhl sass, vom Sohn des Vaters, der den linken Arm nicht bewegen durfte. Das Filet im Teig schmorte im Backofen, die Kerzen brannten um die Wette, aus dem Radio plärrte «Stille Nacht». Plötzlich begannen sie mitzusummen, ein schräges Lächeln entfaltete sich auf den Gesichtern, auf denen der Widerschein der Kerzen flackerte.

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen.
2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus.
Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen».

Webseite der Autorin

Ruth Loosli «Narbengebiet», Plattform Gegenzauber

Bildbetrachtung zu Hoppers „Four lane road“

Frau steht am Fenster
Frau ruft
Mann hört weg
        wirft Schatten an die Wand
        als hätte er nichts anderes zu tun
        als hätte er keine Spuren zu sichten
        kein Haus zu richten (keine Frau zu lieben)

Als müsste er niemals Sprit verkaufen als führen 
keine Autos vorbei. So sitzt er da. Konzentriert in sich
versunken mit dem linken Ohr ganz der Frauenstimme
zugewandt – doch dieses Hören trotzig verweigernd.

Niemand kommt vorbei
Niemand wirft Schatten 
Niemand kommt und bewegt die Gesichtsmuskeln

Diese Stunde steht ewig da und wirft Schatten an die Wand
Den Mann in den Stuhl
Die Frau ans Fenster
Die Strasse in ihre Linie
Den Himmel in seine Farbe
Den Wald an seinen Rand

Hält er in der linken Hand eine dicke Zigarillo?
Ja, er hält sie und sie brennt langsam nieder. 
Dass niemand merkt wie sich die Hitze in die Finger brennt!
In die Hand. 
Brennt der Mann?
Brennt die Frau?
Ja, sie brennen und ein jeder brennt für sich.

 

Kap der guten Hoffnung

An steilen
Klippen 
Klappern 
Brillenpinguine.

Ein Naturreservat am
Kap der guten Hoffnung.

Da leben Elanenantilopen
Bergzebras Paviane
Baboons Dessies 
Schildkröten
Echsen und Strausse.

Südafrika. 
Das Kap der Guten Hoffnung
Treibt mich in mein eigenes 
Minenfeld absterbender Korallen
Riffe. Sorry Mann, Hoffnung ist 
zuweilen grosse Lüge,
stinkende Brühe. Was wir alles 
zu retten meinen mit der Hoffnung.

Bergzebra gegen Milchzahn.
Milchpulver gegen Muttermilch.

An steilen Klippen klappern 
Brillenpinguine. Lass sie laufen,
alte Kolonialistin.

 

Auf dem Spaziergang

Es klappert im Wind das Signal.
Es wachsen durch Ritzen die Mauerblümchen
Es scheint
Dass die Sonne Batterien auflädt und den 
Brombeeren die Säure raubt.
Sieht so aus 
Als seien die Beine 
Der Katze rasiert 
Wie Seidenstrümpfe so elegant und glatt

Es schaut zurück:
Ein Hund mit ergrautem Schnauz.

 

Arpade mit Hof (fnung)

hof
hofieren
chauffieren
echauffieren
zitieren
vegetieren

auf dem Hof der Chancengleichheit
zieh ich Schweine auf

Vegetarier stehen 
Schlange

 

Frag nicht

Die Schafgarbe, sie weiß es.

Frag nicht den Kieselstein

Frag vielleicht deine Schwester 
Sie klügelt aus
Oder den Spaziergänger 
Er bleibt stehen 
Das Gedicht 
Es motzt sich auf

Das Herz ist stark
doch kennt es nur das Alphabet
der verschlungenen Wege.

 

Brennende Geduld, sagt Jordi Vilardaga

Am Ufer des kleinen Baches wachsen Brennnesseln. Ich habe
den Impuls, meine Hände hineinzulegen, damit sich der
Schmerz in der Kehle im ganzen Körper verteilt. Das Wasser
fließt sachte dahin,
die Sonne verguckt sich ins Fließen und ich bleibe lange
stehen.
Danach setze ich mich in Bewegung, setze Fuß vor Fuß, bücke
mich nach einem Holzstück, nach einer Katze, setze Fuß vor
Fuß, höre Kinder schreien, sie schreien, ich mache einen
Umweg. Danach hören sie auf zu schreien, ich breche den
Umweg ab, setze Fuß vor Fuß und bin mir nicht sicher das
Nötige zu wissen. Ich denke eher, dass die Brennnesseln
fähiger sind, sich ihrer Entfaltung zu widmen.
Überall werden alte Häuser abgebrochen, und neue hingestellt.
Woher kommen die Steine? Woher kommt der Zement?
Woher kommen die Arbeitskräfte? Ich bin fast sicher, dass die
Antworten nahe liegen, aber ich erkenne sie nicht.
Dann beginnen die Kirchenglocken zu läuten, es ist
Samstagabend. 
Eine Ameise sucht irritiert einen neuen Weg, die Hecke wurde
entfernt, die Bäume gefällt.

 

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag 2011 «Wila, Geschichten» und 2016 der Lyrikband «Berge falten«. 2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus. Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen«.

Beitragsbild © Vanessa Püntener

Ruth Loosli „Eine Geschichte, erzählt an einem kalten Dezembertag, kurz vor Weihnachten»

Je m’appelle Séraphine.
Je suis un ange. Un singe. Oder etwas dazwischen.
Wo wäre der Unterschied zu finden?
Ich trage immer denselben Mantel.
Nachts lege ich mich in eine Nische, die sich in den Mauern der Kathedrale befindet,
es gibt eine geheime Treppe dorthin. Ich habe Karton hingelegt, doch im Winter ist es zu kalt, um dort zu schlafen.
Tagsüber sitze ich in der Kathedrale. Die Glasfenster sind meine Freude, die Farben sind nur eine der Sprachen Gottes.
Das Licht.
Doch heute ist mir schwindlig.
Das Militär steht draussen, ich weiss nicht weshalb.
Müssen sie die Kathedrale bewachen?
Wenn sie wüssten … ich bin die Wächterin. Moi, Séraphine.
Séraphine, die ohne Besitz.
Séraphine, die Geliebte der Mauern.
Der auffliegenden Vögel.
Der ziehenden Wolken.
Der Gebete. Das Haus ist erfüllt vom Murmeln der Menschen.
Die Jahrhunderte haben sich in die Mauern eingeflochten, in die Struktur eingenistet.
Die Statik all dessen war eine Vision.
Wurde umgesetzt und blieb doch unerkannt.
Séraphine ist die Geliebte der Geheimnisse.
Sie braucht wenig Schlaf, wird von der Kälte beschützt und von der Wärme geehrt.
Wenn meine Glieder trotzdem schmerzen, reihe ich mich ein in den Rhythmus der Lieder. Wie genial einfach ist die Grundkomposition.
Pah!
Ich habe Freunde, trotz meiner verlotterten Erscheinung.
Sie wissen um den Wert meiner Beziehungen zum Himmel.
Meine Währung ist das Wort.
Sie nennen es «Gebet», stecken mir Zettel zu mit dem Namen ihrer Kranken darauf.
Im Gegenzug gibt es ein Fläschchen Gebranntes.
Mein Labsal.
Heute ist mir schwindlig.
Ich weiss nicht, woher das kommt.
Vielleicht der Nacken. Vielleicht die Entzündung um die Zähne herum.
In den Gelenken. Wer weiss das schon.
Heute brauche ich das Elixier, das ich für besondere Momente aufbewahre.
Je m’appelle Séraphine.
Engel im Gefängnis der dicken Mauern.
Mon Dieu, es gibt einen neuen Tag zu bewältigen.
Morgen feiern sie den Weihnachtstag.

Ruth Loosli, geboren 1959, Primarlehrerin. lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen.
2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus.
Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen».

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