Ruth Loosli „Eine Geschichte, erzählt an einem kalten Dezembertag, kurz vor Weihnachten»

Je m’appelle Séraphine.
Je suis un ange. Un singe. Oder etwas dazwischen.
Wo wäre der Unterschied zu finden?
Ich trage immer denselben Mantel.
Nachts lege ich mich in eine Nische, die sich in den Mauern der Kathedrale befindet,
es gibt eine geheime Treppe dorthin. Ich habe Karton hingelegt, doch im Winter ist es zu kalt, um dort zu schlafen.
Tagsüber sitze ich in der Kathedrale. Die Glasfenster sind meine Freude, die Farben sind nur eine der Sprachen Gottes.
Das Licht.
Doch heute ist mir schwindlig.
Das Militär steht draussen, ich weiss nicht weshalb.
Müssen sie die Kathedrale bewachen?
Wenn sie wüssten … ich bin die Wächterin. Moi, Séraphine.
Séraphine, die ohne Besitz.
Séraphine, die Geliebte der Mauern.
Der auffliegenden Vögel.
Der ziehenden Wolken.
Der Gebete. Das Haus ist erfüllt vom Murmeln der Menschen.
Die Jahrhunderte haben sich in die Mauern eingeflochten, in die Struktur eingenistet.
Die Statik all dessen war eine Vision.
Wurde umgesetzt und blieb doch unerkannt.
Séraphine ist die Geliebte der Geheimnisse.
Sie braucht wenig Schlaf, wird von der Kälte beschützt und von der Wärme geehrt.
Wenn meine Glieder trotzdem schmerzen, reihe ich mich ein in den Rhythmus der Lieder. Wie genial einfach ist die Grundkomposition.
Pah!
Ich habe Freunde, trotz meiner verlotterten Erscheinung.
Sie wissen um den Wert meiner Beziehungen zum Himmel.
Meine Währung ist das Wort.
Sie nennen es «Gebet», stecken mir Zettel zu mit dem Namen ihrer Kranken darauf.
Im Gegenzug gibt es ein Fläschchen Gebranntes.
Mein Labsal.
Heute ist mir schwindlig.
Ich weiss nicht, woher das kommt.
Vielleicht der Nacken. Vielleicht die Entzündung um die Zähne herum.
In den Gelenken. Wer weiss das schon.
Heute brauche ich das Elixier, das ich für besondere Momente aufbewahre.
Je m’appelle Séraphine.
Engel im Gefängnis der dicken Mauern.
Mon Dieu, es gibt einen neuen Tag zu bewältigen.
Morgen feiern sie den Weihnachtstag.

Ruth Loosli, geboren 1959, Primarlehrerin. lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen.
2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus.
Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen».

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