Ruth Loosli «Eine unschöne, beinahe wahre Weihnachtsgeschichte», 4. unschöne Weihnachtsgeschichte

Sie hatte ein Inserat gesehen, «Fett absaugen», stand da.
Genau das wollte sie sich zu Weihnachten schenken, sie wollte die ganze Familie mit einem neuen «Outfit» überraschen, an der Familienfeier, die immer am 24. Dezember stattfand.
So transferierte sie, nachdem sie den Termin festgemacht hatte, eine stattliche Summe von ihrem Bankkonto zu diesem Schönheitsinstitut, den Rest musste sie nach erfolgreicher Ausführung überweisen und dann, dann bliebe kaum noch etwas auf dem Konto.
Und kaum Speck auf den Rippen, lachte sie.
Diese Überraschung würde ihr Geschenk an die Familie sein.

Am 20. Dezember war der Termin.
Der Arzt kam, strichelte allerlei Linien auf die Dellen und Rundungen ihres Körpers, murmelte, als müsste er eine neue Formel erfinden und fragte dann, sind Sie bereit?
Ja, antwortete sie tapfer, obwohl sie am liebsten aufgesprungen wäre, ihre weiten Kleider angezogen und davongerannt. Diese Maschine, die er nun am Bauch ansetzte und sich als unerbittlicher Saugnapf an ihr festsetzte, machte ihr Angst. Laut war die Maschine nicht, doch schmerzhaft.
Der Arzt beugte sich über sie und sagte, ich bin in wenigen Minuten wieder zurück, die Maschine kann allein saugen.

Sie lag da; sie atmete flach, um dem Schmerz zu entgehen.
Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Körper langsam auflöste.
Sie sah, dass durch den Schlauch der Maschine eine helle Flüssigkeit kroch, das war wohl ihr Fett.

Als der Arzt wieder kam, lag vor ihm ein schmaler Körper, eigentlich nur noch ein Skelett.
Er liess sich seinen Schrecken nicht anmerken, stellte jedoch hastig das Gerät ab, was der Klientin völlig entging, denn – sie atmete nur noch sehr unregelmässig.

Der Arzt musste den Notruf betätigen, die junge Frau wurde ins Spital eingeliefert.

Nach drei Nächten auf der Intensivstation verlegte man sie auf ein Zimmer in der Allgemeinen Abteilung des Spitals.
Holt mich hier raus, schrieb sie dem ahnungslosen Vater. Der war gerade am Einkaufen für das Familienfest am kommenden Tag, er las die Nachricht, während er zum Veloständer eilte, machte einen blöden Misstritt wegen einer Unebenheit am Rande des Gehsteigs, fiel hin, mitsamt der Tasche, mitsamt dem Gerät, auf dem die Nachricht stand, hielt das Gerät fest umklammert, ein Schrei fiel mit ihm, ein Schmerz durchzuckte seine Schulter: Er musste in die Notaufnahme. Oberarmknochen angerissen. OP je nach Entwicklung im neuen Jahr.

Am folgenden Tag wurden die zwei Patienten abgeholt vom Bruder der jungen Frau, die nun unendlich dünn im Rollstuhl sass, vom Sohn des Vaters, der den linken Arm nicht bewegen durfte. Das Filet im Teig schmorte im Backofen, die Kerzen brannten um die Wette, aus dem Radio plärrte «Stille Nacht». Plötzlich begannen sie mitzusummen, ein schräges Lächeln entfaltete sich auf den Gesichtern, auf denen der Widerschein der Kerzen flackerte.

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen.
2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus.
Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen».

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