Nora Gomringer «In mir taucht der Krieg auf», Plattform Gegenzauber

In
mir
taucht
der
Krieg
auf

Fragt: Du bist überrascht?

Ich sag: Na, der Form halber.

Sagt er: Ich hab Konjunktur. Schreib drüber!

Sag ich: Angeber. Hat Brecht schon.

Sagt er (mit lauter Monsterstimme):
Ich bin der Vernichter.

Sag ich: Du bist in mir ein Hall und Jammer.
Ich halt dich ein, werd innen schwarz,
bleib außen Alabaster, bis die Glut durch dringt.
Dann stehst du da. Verbrennst
die mir zu Hilfe eilen wollten.
So vermehrst du dich als Infektion,
Entzündung aller Wunden.

Sagt er: Du hast es dir schon ausgemalt.

Sag ich: Kenn’ dich wie Abel. Kenn’ dich doch ewig.

Sagt er mir (sanft an mich gelehnt, sein Atem köstlich, so warm im Nacken
alles wie immer alles, nicht ohne Melodie):
Ich bin der Funke.
Im Dunkeln bin ich der hellste Punkt.

(aus Nora Gomringer «Gottesanbieterin», Voland & Quist, Berlin, Dresden & Leipzig, 2020)
Immer öfter lässt sich Nora Gomringer die Gretchen-Frage stellen, sie antwortet in Essays, Reden, Geschichten und natürlich: in Gedichten. Das geschieht oft komisch und mit einem Augenzwinkern, ihr und jedes Gläubigsein ist persönlich. Die Lyrikerin hat sich zuletzt mit irdischen Ängsten, Krankheiten und Phänomenen des Oberflächlichen beschäftigt, doch das Metaphysische wohnte dem schon immer inne – und denken wir an Gomringers Wanderung mit einem lispelnden, über die Einsamkeit des Menschen sprechenden Hermelin, so wundert es kaum, dass erneut eine tierische Begegnung Auslöser für die in diesem Band versammelten Gedichte ist: Schon vor vielen Jahren traf die Dichterin auf eine riesige Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie: die Gottesanbeterin. Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens, die Gomringer zur Hinterfragung des irdischen Seins und der Vielgestaltigkeit von Religion gebracht hat, jenem »geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins«. (Verlagstext)

 

Liebesrost

Liebesrost
Über Nacht
Bist du oxidiert
Neben mir

Hast auf mich reagiert
Bist rostig geworden
Du sagst
Golden
Ich lecke an deinem Hals
Du schmeckst wie der
Wetterhahn

(aus Nora Gomringer «Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded», Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2015. S. 168)
Nora Gomringers Gedichte sind viel herumgekommen. Daher haben sie Sieben-Meilen-Stiefel an den Versfüßen und manchmal einen recht breitbeinigen Gang. Dazu eine laute Stimme und manchmal ganz schön viel Attitüde. Doch manche von ihnen haben Katzensohlen, zarte, bebende Haut, sind verweht, fast noch bevor sie ausgesprochen wurden, sind zum Still-für-sich-Lesen statt zum Deklamieren geeignet. (Verlagstext)

Nora Gomringer, geboren 1980, hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preisund 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Judith Kinitz

Basler Lyrikpreis 2024 geht an Carla Cerda

Die Preisverleihung findet im Rahmen des 20. Internationalen Lyrikfestivals Basel am Samstag, 27. Januar 2024 um 19:00 Uhr im Literaturhaus Basel statt. Die Laudatio hält Rudolf Bussmann.

Carla Cerda wagt sich mit ihren Gedichten in Bereiche vor, die für Lyrik weitgehend unentdeckt sind. Sie interessiert sich für automatisierte Nachrichten gleichermassen wie für Wettermessgeräte oder Enzyme. Mit frechem Witz mischt sie die Formeln der Computer- und Wissenschaftssprache auf, lässt ein Sprachassistenzprogramm als Person auftreten, unterhält sich mit einem Bot. Mit leichter Hand hebt sie die Grenzen zwischen Logik, Algorithmenregeln und Fantasie auf. Dass ihre Gedichte dabei die Formstrenge wahren, erhöht ihren Reiz. Die Lektüre ihres noch schmalen Werks ist ein Vergnügen.

Carla Cerda (*1990) ist Dichterin und Übersetzerin und lebt in Leipzig, wo sie als Teil der «anemonen» interdisziplinäre Lesungen und Workshops mitorganisiert. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht: Loops (2020) und Ausgleichsflächen (2023), beide bei roughbooks.

Mit dem Basler Lyrikpreis zeichnen die Mitglieder der Basler Lyrikgruppe (aktuell Rudolf Bussmann, Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Simone Lappert, Alisha Stöcklin und Ariane von Graffenried) jährlich das Werk eines/einer* Kolleg*in aus. Der Basler Lyrikpreis wird an Dichter*innen verliehen, deren Werk sich durch Innovationskraft auszeichnet und durch den Mut zu konsequentem und eigenwilligem Arbeiten mit Sprache. Er soll dazu beitragen, herausragende Stimmen einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen.

Der mit Fr. 10’000 dotierte Basler Lyrikpreis wird von der GGG gestiftet. Frühere Preisträger*innen waren u. a. Anna Hetzer (2023), Nadja Küchenmeister (2022), Hans Thill (2021), Eva Maria Leuenberger (2020) Katharina Schulthens (2019), Dagmara Kraus (2018), Walle Sayer (2017), Ron Winkler (2016) und José F. A. Oliver (2015).

Vom 25. bis zum 28. Januar 2024 findet das Basler Lyrikfestival bereits zum zwanzigsten Mal statt. Aus dezentral organisierten Veranstaltungen einer Gruppe von Basler Lyriker*innen hat sich im Verlauf der Jahre ein etabliertes Festival entwickelt. Bis heute kuratiert die Lyrikgruppe das Programm. Zum Jubiläum bietet das Festival u. a. Nora Gomringer, Dinçer Güçyeter und Klima-Lyrik eine Bühne.

Schon am 19. Januar präsentieren Schüler*innen im Rahmen der Museumsnacht Basel die Ergebnisse eines Schreibworkshops mit Sarah Altenaichinger in der Fondation Beyeler. Nach einem Lyrikspaziergang gibt es am Freitag den Dichter und Verleger Dinçer Güçyeter im Porträt zu erleben. Darauf folgen waghalsige Sprachperformances im Late Night Varieté. Das 20. Jubiläum wird gebührend gefeiert: am Samstag finden sich aktuelle und ehemalige Mitglieder der Lyrikgruppe zu einer kurzweiligen Gruppenlesung ein, und für den Sonntagnachmittag hat Nora Gomringer eine Carte blanche erhalten. Sie tritt mit der Dichterin und Festivalmacherin Augusta Laar in den Dialog. Auf dem Podium zum Thema Lyrik im Kontext Klima/Wandel diskutieren Daniel Falb, Marion Poschmann und Steinunn Sigurðardóttir. Ausserdem: ein Workshop mit Dinçer Güçyeter, Begegnungen mit Martin Piekar und Verena Stauffer sowie die Verleihung des Basler Lyrikpreises 2024 mit anschliessendem Konzert von Fitzgerald & Rimini. Das Festival endet mit einer Sofalesung von Anna Ospelt.

(aus der Medienmitteilung des Festivals)

Informationen zum Lyrikfestival Basel

Nora Gomringer «Krippel“, 2. unschöne Weihnachtsgeschichte

Weiß man gar nicht, wie dunkel die Zeit der Lichter ist, bevor einer darin stirbt, statt geboren zu werden. Ähnlich ist, was sie dir ins Haus tragen, wenn du dann alle wissen lassen musst: Wir haben einen verloren. Myrrhe, Weihrauch, zu wenig Gold. Keiner bringt die Windeln mehr, die Sanitärartikel, keiner rollt die Augen, weil die Rezepte immer zum Freitag auslaufen und die Stürze als Regel immer tief in der Nacht, früh am Morgen ebenfalls zum Wochenende hin geschehen. Keiner telefoniert mehr wie wild. Und keiner weint, weil der Schnee selbst unwissend fällt. Die Natur ist Komplizin ihrer selbst, lacht ein bisschen über dich, weint verstohlen ein bisschen mit dir. Hast eine ganz neue Landkarte und wünschtest, da wäre ein Esel, ein Ochse. Ein paar große Tiere, die dich ablenken, deren Umsorgung eine Anstrengung wäre. So bist du nur ein Lebewesen ohne den anderen und das zur Weihnachtszeit. Vielleicht selbst der Ochse, der Esel – ein Tier, das man waschen und füttern muss, trotz schwerer Hufe, die man kaum anheben kann. Liegen da die Strümpfe, die engmaschigen, hautfarbigen, die man kaum über Beine und Hände zwingen konnte. Liegen da die Unmengen an Handtüchern, die Unfälle vermeiden, rasch ungesehen machen sollten. Liegen da Brille und Zähne. Engel kommen und gehen, sie lassen Federn. Das Haus wird ein Flughafen. Du hältst die aufwirbelnden Blätter fest: Fotos, Einkaufs- und Notizzettel, Beweise der Handschrift einer Hand, die nie mehr sichtbar werden wird. Du begreifst und verschiebst und verschreibst dich der Erinnerung, wirst ihr Besitzer, hängst ein Schild an dein Hirn: Cave Canem. Dieser Hund wird beißen, wer deiner Erinnerung widerspricht. Diese Phase – alles wird phasisch – hält an, wird groß und wild, deine Tränen waren nie feuchter. Nach dem Grab kommen der Frühling, das Auferstehen. Und schon im Sommer sind die Gedanken wieder voller Kerzen und du machst Yoga und lernst neue Rezepte für den Winter. Darin wird alles Schleife. So eine um die Geschenke, so eine im Hirn. Im Gottesdienst wird noch einmal der Name erwähnt, da klingt er schon fremd und wie Legende. Dann ist Weihnachten. Und die, die übrig sind, schlafen vor der Mitternacht. Schlafen im Stroh, träumen von sprechenden Tieren.

Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Nora Gomringer «Vielmals», Plattform Gegenzauber

Einmal tanzte der Bauer so wild im Matsch, dass das Kalb sich erschreckte

Einmal nahm ich Rizinus und verlor das Kind

Einmal lief sie einem Mann nach, der sie partout nicht wollte

Einmal wollte ich einen Apfel vom Baum schütteln und bekam zehn auf den Kopf

Einmal kam ein Soldat und als ich ihm die Hand geben wollte, sah ich, dass da bei ihm keine mehr war

Einmal schoss ihr das Blut in den Kopf, als sie einen Ländler mit dem Landrat tanzen sollte

Einmal pinkelte sie im Stehen, um ihre Füße auf der eiskalten Weide zu wärmen

Einmal stand da ein Kuchenbuffet und das Haus duftete nach Erinnerungen, weil sie keinen mehr backen würde

Einmal rief er mich beim Namen meiner Schwester

Einmal war der Bauer so müde, dass er im Stall auf meiner Schwester einschlief

Einmal erzählte ich der Lehrerin, was uns passierte auf dem Hof

Einmal kam sie zu Besuch Einmal und nie wieder

Einmal schüttelte ich die Betten und die Federn wirbelten herum wie im Märchen

Einmal sagte sie, sie wolle den Bruder in der Stadt besuchen und der Bauer sagte vielleicht

Einmal wieder sagte er vielleicht

Einmal noch fragte sie

Einmal zeichnete ich einen großen Hund und schraffierte seine Umrisse, weil es wichtig ist, unberechenbar zu bleiben

Einmal kam ein Brief an meine Schwester an und der Bauer las ihn ihr vor in ihrer Kammer, der Bauer las sehr langsam

Einmal hielt ich eine Hand im Dunkeln, sie war warm und weich

Einmal war die Mutter bei uns und trank Schnäpse mit dem Bauern

Einmal berührten sich dabei ihre Hände, gleich packte sie ihre Tasche und ging, ohne auf mich gewartet zu haben

Einmal kam ich nach Hause zu einem leeren Haus, nie war ich glücklicher

Einmal fiel ein Hund in die Jauchegrube

Einmal musste der Jäger kommen, der trank auch Schnäpse

Einmal sagte meine Schwester, sie könne rennen wie der Wind

Einmal war das Fenster offen, bevor alle wach waren in diesem Haus, der Wind wehte hinein

Einmal stand ich im Nachthemd, es war sehr früh, und ich sah meiner Schwester nach, wie sie rannte wie der Wind

Einmal stellte ich Milch, Brot, Schnaps auf den Tisch

Einmal fasste er mich an, sagte Worte, die ich nicht verstand, zeigte Geheimnisse auf

Auf einmal war und blieb ich meine Schwester, ersetzte ein um das andere Mal einen Menschen mit einem anderen

Einmal noch sah ich die Glühwürmchen im Glas, wurde noch einmal meine Schwester 

Einmal mein Bruder dann: der Wind

(2015 Verlag für gesunden Menschenversand. «Ach Du je«)

Video © Judith Kinitz

Nora Gomringer «Gottesanbeterin», Voland & Quist, 2020, 95 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-86391-250-5

Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Judith Kinitz

4. Lyrikfestival Neonfische 7./8. März in Lenzburg

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!

Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.

PDF Programmheft Neonfische

Webseite Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Eine geballte Ladung Poesie an den Brugger Literaturtagen

Eugen Gomringer, der über neunzigjährige Begründer der konkreten Poesie, ein nimmermüder Streiter für die Macht des einzelnen Wortes und seine Tochter Nora Gomringer, auf allen Kanälen wirkender Tausendsassa der Lyrik, sind eine Wand, wenn sie miteinander oder nacheinander auf der Bühne auftreten. Begleitet von Nora Gomringers Mutter, Nortrud Gomringer, Herausgeberin und Literaturwissenschaftlerin, schuf die Dichterfamilie eine ganz spezielle Atmosphäre im Salzhaus, jenem alten Lagerort, in dem sich die Urwürze bis tief in die eichenen Balken frass.

Eugen Gomringer, vor fast einem Jahrhundert in einer anderen Zeit in Bolivien geboren, in der Schweiz aufgewachsen und schon lange in Deutschland lebend, fühlt sich nicht nur diesen drei Sprachen im Speziellen verpflichtet. Schon früh, in der Zusammenarbeit mit Max Bill, dem grossen Künstler und Architekten, verbanden sich Sprache mit Mathematik, Kunst mit Form, schoben sich Gestaltung und Reduktion ins Zentrum seiner Arbeit.
 Nicht viel mehr als vier Wörter in verschiedenen Kombinationen schaffen es, dass eine Hauswand auf der ein Gedicht Eugen Gomringers zu globalem Gesprächsstoff wird.

avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador

Eigentlich ein Glück für die Poesie, ein Glück für Eugen Gomringer. Denn die zum Teil wilden Diskussionen und unmöglichsten Interpretationen beweisen die Kraft der Literatur, einzelner Wörter. Genau das, was Eugen Gomringer in seinem langen Wirken wirken will und kann. Die beste Werbung für ihn, auch wenn Ursache und Wirkung bisweilen bloss Kopfschütteln auslösen können, wohl verstanden nie in die Richtung des Erschaffers.

kein system im fehler
kein system mir fehlen
keiner fehl im system
keim in systemfehler
sein System im fehler
ein fehkler im system
seine kehl im fyrsten
ein symfehler im sekt
kein symmet is fehler
sey festh kleinr mime

Eugen Gomringer war 1944 zum ersten Mal in Brugg, damals knapp zwanzigjährig als Fliegerbeobachter. Heute, mehr als siebzig Jahre später, ist er der Flieger, der Überflieger, der brummende Koloss, der seine Ladung abwirft, begleitet von seiner Frau in weissen Handschuhen. Gomringers Gedichte sind metaphysische Sprach-Strichcodes, deren monolithischer Niederschlag sich manchmal um einen ganzen See verteilt.
 Gomringer gibt den Worten durch die Beziehung untereinander Gewicht, durch strenge Anordnung, lässt sie wirken, erst recht, wenn er sie selbst, klein geworden und gebeugt, auf der Bühne vorträgt. Gomringer versteckt sich nicht, in keiner Weise, auch wenn er vor lauter Buchzeichen nach dem richtigen Gedicht in der vorbestimmten Reihenfolge sucht. Er lässt sich Zeit, ein ganzes Leben lang. Aus Baum, Haus, Kind und Hund zeugt Gomringer einen ganzen Kosmos, den Kosmos seiner Kindheit. In der Lesung mit Witz kommentiert und neu kombiniert zeigen Gomringers Gedichte Zeitlosigkeit und Beständigkeit.

schwiizer

luege
aaluege
zueluege

nöd rede
sicher sii
nu luege

nüd znäch
nu vu wiitem
ruig bliibe

schwiizer sii
schwiizer bliibe
nu luege

Und Nora Gomringer? Seine Tochter, sprachlich längst abgenabelt und vogelfrei, zielt mit ihren Gedichten mitten ins Herz der Zeit, endgültig mit ihrer in den letzten Jahren geschaffenen Trilogie „Monster“ (2013), „Morbus“ (2015) und „Moden“ (2017). Während ihrer Lesung in Brugg fallen ihre Haare übers rechte Auge. Mit dem linken zielt sie, treffsicher und routiniert. Sie liebt wie ihr Vater das Konzentrierte, den „Espresso“ der Literatur. Im Geist, ganz und gar nicht im Windschatten ihres Vaters, sehr gut um die Wirkung des Konzentrats wissend, der Heilung, wie in der Medizin.

VERSIONEN

und
ein Boot legt an
Böcklin malt ein Boot, das anlegt,
umschattet,
soghaft.
Ein Bootsmann, namenlos,
allzu willig, sich preiszugeben.
Hitler besaß eine Version,
Utoya wurde eine
Insel
umschattet,
soghaft.
Ein Boot legt an,
an Bord ein Tod
ein Übergangsadvokat
Böcklin malt ein Boot, das anlegt.
Ein Bootsmann namenlos,
Versionen von Breivik.
An Bord ein Tod,
friedlos,
umsogen,
schattenhaft,
schemenlos,
eine Insel
und

(in: Nora Gomringer: Monster Poems. Voland & Quist 2013. S. 16)

Nora Gomringer ist genau das, was die Lyrik und damit die Literatur braucht; der lebende Beweis dafür, dass sich Lyrik seit ein paar Jahren mit neuem Selbstbewusstsein aus ihrer immer enger werdenden Nische zu befreien weiss. „Stand up“, „Slam Word“ oder „Poetry Slam“ beweisen, dass sich Lyrik nicht mehr abdrängen lässt in staubige, geriatrische oder schöngeistige Gefässe.

 

Semana santa

Als das Mädchen verschwand,
war es verschwunden ganz.
Tag 1 und alle fragten wen:
Wo ist es? Fragten sie und
wohin ist es denn so ganz?
Tag 2 und ein paar schlichen
verlegen aus den Häusern ein und aus.
Tag 3 und die Katzen saßen im Fenster.
Das war kein Zeichen.
Jeder weiß, dass Felidae
die Menschen hassen.
Tag 4 und eine Verwandte sprach ein Gebet
in der Ferne hinter vorgehaltener Hand.
Sehr leise, nachts, im Badezimmer
unter sehr grellem Licht.
Tag 5 und zwei, drei Schalen bargen Dinge
der Verschwundenen. Wer war sie noch?
Tag 6 und es stand eine Ersatzperson
im Garten, erschütternd plötzlich, unter einem Baum.
Tag 7 und es war eine Frau.
Und wie bei Frauen üblich trug sie einen Rock.
Und wie bei Frauen üblich trug sie langes Haar.
Und wie bei Frauen üblich trug sie einen Ring.
Unter ihrem Schleier
– wie bei Frauen üblich –
wurd sie unsichtbar.

(In: Nora Gomringer: Moden. Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2017.)

Nora Gomringer, die Medusa der neuen, deutschsprachigen (Lyrik)Welle, die Sirene, die lockt, schmeichelt und ohne Scham ihre Reize zeigt.

Eugen Gomringer, geb. 1925, ist bolivianisch-schweizerischer Autor und Begründer der Konkreten Poesie. Er war Max Bills Sekretär an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, gab die Buchreihe «konkrete poesie – poesia concreta» her aus und war u.a. Professor für Theorie der Ästhetik an der Staatl. Kunstakademie Düsseldorf. 1984 eröffnet er das Kunsthaus Rehau im oberfränkischen Rehau, wo er bis heute lebt.

Nora Gomringer hat sieben Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Für Goethe Institut und Pro Helvetia reist sie um die (Literatur)Welt. Sie war Poetikdozentin an den Universitäten Koblenz-Landau, Sheffield und Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik 2015 (DVA). Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Berlin, Ahrenshoop, Krems und Novosibirsk wurde ihr 2011 der Jacob-Grimm-Preis als Teil des Kulturpreises Deutsche Sprache und 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Weilheimer Literaturpreis und im Juli den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet.

Beitragsbild © Regula Gerber, vlnr: Gabi Umbricht (Moderation), Eugen Gomringer, Nortrud Gomringer, Nora Gomringer

23. Literaturfestival Leukerbad: ein Rückblick

Solche mit Bikes, andere mit Wanderschuhen und Funktionswäsche, etliche mit Sonnenhüten, riesigen Koffern und dem staunenden Blick in die felsige Kulisse, manchmal in Bademäntel gehüllt und über dieses eine Wochenende im Sommer eine ganze Schar von Leuten mit Stofftüten, die die Therme in Leukerbad betreten, ohne jemals nass zu werden, die von eine Lokalität zur nächsten wandeln oder hetzen, ins Gespräch vertieft oder die Nase tief in einem Buch – Literaturfestival Leukerbad.

Ein solches Festival ist ein Ort der Begegnung. Leserinnen und Leser untereinander; trifft man doch oft die immer Gleichen, Unverbesserlichen, die jedes Jahr verkünden, das nächste Jahr dann einmal ein Pause einzulegen, um den Vorsatz irgendwann zu vergessen, weil Literatur lockt.

Man kommt Schriftstellerinnen und Schriftstellern so nah wie sonst nie. Nicht wie bei einer Lesung, bei der es während des Signierens für ein paar unbeholfene Nettigkeiten reicht. Man begegnet ihnen auf der Strasse, im Café, unterwegs, im Publikum, auf dem Heimweg.

So wie der Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer auf dem Weg nach Bern und später nach Klagenfurt zum Bachmann-Wettlesen. Sie sitzt dort in der Jury und hat sich vorgenommen, an jedem Tag ein anderes T-Shirt mit einem Bachmann-Zitat zu tragen, um so wenigstens etwas von der Namensgeberin ins Showlesen hineinzugeben.

Oder Sasha Maria Salzmann, die mit ihrem Erstling «Ausser sich» in Leukerbad las und diskutierte und mit ihrer Moderatorin Jennifer Khakshouri jenes Haus suchte, in dem James Baldwin vor einem halben Jahrhundert in der Abgeschiedenheit Leukerbads sein Romandebüt vollendete.

Oder den Künstler, Buchgestalter, Illustrator und Herausgeber Christian Thanhäuser, der einem in ein Gespräch verwickelt, von seinen Freundschaften zu Autoren erzählt, der Zusammenarbeit und dem Entstehen eines Buchprojekts, wie man mit Jaroslav Rudis Bier trinken kann, was ebenso wichtig für ein gemeinsames Buch- oder Kunstprojekt sein kann, wie schürfende Gespräche.

Oder den schüchtern wirkenden Péter Nádas, der 1942 in Budapest geborene grosse Chronist, der in Leukerbad aus seinen Memoiren «Aufleuchtende Details» liest und mit jedem Bild aus seinem umfassenden Werk nachempfinden lässt, was es heisst, untrennbar mit der Geschichte eines Landes, eines Volkes, seiner Familie verbunden zu sein. (Auf dem Beitragsfoto zu Beginn des Textes sitzt Péter Nádas zwischen der Moderatorin Ilma Rakusa (rechts, Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin) und seiner Übersetzerin Christina Viragh (Schriftstellerin)).

Vier Bücher, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Vier Perlen, die in Leukerbad aufleuchteten und denen ich wünsche, dass die viele Leserinnen und Leser finden.

Beitragsfoto: Fotocredit Literaturfestival Leukerbad, Ali Ghandtschi