20 Jahre Literaturhaus Zürich

Das Literaturhaus Zürich feiert sein 20jähriges Bestehen. Ich gratuliere. 1834 als Museums- und Lesegesellschaft gegründet, mit grossem Lesesaal und öffentlicher Bibliothek, wurde das ehrenwerte Haus am Limmatquai 1999 ein Literaturhaus, das in seinen 20 Jahren Dienst an der Literatur zu einem bedeutenden Dreh- und Angelpunkt nationaler und internationaler Wortkunst wurde.

Wem Literatur mehr als nur Unterhaltung ist, wenn Bücher zu Türen und Toren werden, wenn ich mich als Leser nicht mehr begnügen kann allein mit dem, was zwischen zwei Buchdeckeln gefangen ist, dann beginne ich mich für das zu interessieren, was dahinter steckt. Dann will ich wissen, wer sich hinter dem Namen auf dem Cover verbirgt, wer geschrieben hat und warum. Dann werden Lesungen zu Begegnungen mit einer anderen Welt, die verschlossen bleibt, wenn mich nur die Spur interessiert, die der Text im Buch zeichnet.

Lesungen sind Begegnungen, solche mit Autorinnen und Autoren, aber auch solche mit Leserinnen und Lesern. Das, was im Schreiben und Lesen meist zurückgezogen und in innerer Stille passiert, öffnet sich und wird zur Gemeinsamkeit, Lesungen das, was, was das Schreiben und Lesen selbst nicht bieten kann. Für den Schreibenden die Reaktion auf das, was er schreibt, für den Lesenden darauf, was andere fühlen, denken, auslösen.

Dabei sind mir etliche Lesungen, die ich in den vergangenen Jahren besuchte unauslöschlich in Erinnerung geblieben; jene mit Anne Weber, der ich zuvor schrieb und die mich überraschend in ein Gespräch verwickelte, jene mit José Eduardo Agualusa und seinem Übersetzer Michael Kegler, die sich beide freuten über ein von Hand geschriebenes und gezeichnetes Literaturblatt, jene mit Urs Faes, der mich mit Nähe adelte oder eine Gesprächsrunde im Oberschoss des Literaturhauses, bei der ich erlebte, wie viel Leidenschaft Ruth Schweikert entwickeln kann, wenn es um konstruktive Kritik an einem Text geht.

Auch wenn ich nicht in Zürich wohne und der Weg zum Literaturhaus ein weiter ist, bleibt dieses Haus auch in Zukunft ein wichtiges. Eines, das beispielhaft sein muss in einer Zeit, in der man merkt, dass digitaler Austausch kein Ersatz sein kann für das, was an Orten wie dem Literaturhaus Zürich geschieht. Ich danke dem Haus, dem Team, das es führt (und hoffe, dass sich das, was an anderen Orten zaghaft im Entstehen ist, an dem orientiert, was sich bewährt) und all den Institutionen, die ein solches Unternehmen möglich machen.

Urs Faes
Judith Keller

 

Christian Haller, Ruth Schweikert, Franz Hohler
Gesa Schneider

Alle Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Delphine de Vigan «Loyalitäten», DuMont

Delphine de Vigan erzählt jenen Teil des Lebens, der schmerzt. Und dabei schont sie weder sich selbst noch den Leser. Man kann Delphine de Vigans neusten Roman als eine verwobene Geschichte derer erzählen, die sich in entgegengesetzten Loyalitäten unentwirrbar verstricken. Oder aber man liest ihren Roman als gesellschaftlichen «Klimabericht», wie sich Wolken und Stürme zusammenbrauen, die sich die Gesellschaft selbst einbrockte.

Théo ist 12, ein guter Schüler, still, zurückhaltend, unauffällig. Er trifft sich mit seinem einzigen Freund Mathis, manchmal in einem Versteck unter einer Treppe im Schulhaus, manchmal bei Mathis zuhause oder irgendwo in den Regionen der Grossstadt Paris, die sich der Kontrolle entziehen. Sie trinken. Flaschenweise. Immer mehr. Trinken, bis ihnen der Boden unter den Füssen wegbricht, bis sie sich im Dämmerzustand von Rausch und Beinahebewusslosigkeit von all den Zwängen und Klammergriffen befreien können. Théo Eltern sind getrennt, entzweit. Seine Mutter eingespannt in ihren Beruf, ihr schlechtes Gewissen und die Angst, dass alles zu kippen droht. Sein Vater lebt abgeschottet in seiner Depression in seiner vermüllten Wohnung in einem Hochhaus in der gleichen Stadt. Arbeitslos geworden, aus dem Tritt geraten ringt er seinem Sohn, der jede zweite Woche bei ihm verbringt, das Versprechen ab, seiner Ex nichts von seinem Niedergang, seinem Elend, seiner Ausweglosigkeit erzählen, aus Angst, damit das Sorgerecht zu verlieren.

Théo lebt viele Leben. Das des perfekten Sohnes und Schülers, das des Verbündeten seines Vaters. Das des letzten Rettungsankers im kaputten Leben eines Ausgestossenen. Das eines braven Verbündeten einer Mutter, die vom Vater nicht einmal den Geruch in den Kleidern des Sohnes erträgt. Das des Wissenden, Weiler genau spürt, wie sehr seine Mutter unter dem Druck ihres Lebens zu schwanken beginnt. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Mathis macht mit, trinkt mit. Auch er Opfer im Grabenkrieg seiner Eltern. Einer Familie, die sich hinter einer wohlgehüteten Fassade versteckt, alles tut, damit die stinkenden Geheimnisse nicht ans Licht geraten. Mathis will weder seine Eltern noch seinen Freund verlieren, spürt aber ganz genau, dass der Abgrund an beiden Fronten unaufhaltsam auf ihn zurast. Nur zu gerne würde sich Mathis seiner Mutter anvertrauen. Aber er weiss, dass dann Welten einstürzen, seine Freundschaft in Gefahr ist. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Und Helène, die junge Lehrerin der beiden Freude, der das Verhalten der beiden immer mehr Rätsel aufgibt, lässt sich zu Spekulationen hinreissen, spürt, dass etwas geschieht, was schlecht ist, was aufzuhalten wäre. Sie, die als Kind von ihrem Vater misshandelt und gedemütigt wurde, die sich geschworen hat, nicht und niemals wegzuschauen. Sie, deren Blick durch die eigenen Biographie geschärft ist, die Dinge wahrnimmt, die anderen entgehen. Sie setzt sich ein und damit aus, eckt an, verteilt sich in ihrem ungebrochenen Eifer, droht alles aufs Spiel zu setzen, an ihrem Kampf zu zerbrechen. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Was mit Théo und Mathis geschieht ist Spiegel der Gesellschaft. Immer früher werden Sucht- und Betäubungsmittel aller Art zu ständigen Begleitern, auch bei Kindern. Die Lust, Grenzen auszuloten mag eine Ursache sein. Aber als Erklärung taugt «Grenzerfahrung» nicht. Théo zerstört sich.

Delphine de Vigan beschreibt Enge, manövriert mich als Leser in eine Atmosphäre der psychischen Gewalt, die selbst die Autorin während des Schreibens zu überraschen schien, wie sie an einer Lesung im Literaturhaus Zürich erklärte. «Brutal und banal.» Scheidungskinder, die in Extremsituationen stehen, nur schon dann, wenn Elternteile verbal über den jeweils anderen herziehen, die sie als Kinder beide lieben wollen (und müssen). Delphine de Vigan schürt nicht in Gefühlen, auch nicht in jenen des Lesers. Sie ist Seismographin, Stimmengeberin jener, denen die Lautstärke und Kraft fehlt.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension von «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Sandra Kottonau

«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.

José Eduardo Agualusa, ein Geschichtenzauberer in Zürich

José Eduardo Agualusa, der zu den bedeutendsten afrikanischen Schriftstellern der Gegenwart zählt, las im Literaturhaus Zürich zusammen mit seinem Übersetzer Michael Kegler aus seinem 2017 erschienenen Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ (C. H. Beck).

„Überwinden wir unverdauliche Geschichte durch obsessives Vergessen oder obsessives Erinnern?“

Warum reist man vom Rand der Schweiz nach Zürich, um einem Autor aus Angola zu lauschen? Weil in jenem Urlaub vor ein paar Monaten im Ruheraum des Hotels beim Lesen etwas geschah, was bei der Lektüre von Büchern nur ganz selten geschieht; das Gefühl gänzlichen Durchdrungenseins. Als ob beim Lesen Resonanzräume ins Schwingen kommen, die von Sprache sonst kaum je bewegt werden. Ein Gefühl des Erkennens.

Eine Frau will nicht mehr aus einer Wohnung, einem Haus. Unter dem Schutz ihrer Schwester lebt sie, von Panikattacken (Agoraphobie) geplagt, in Luanda in Angola, in einer turbulenten, gewaltigen Zeit, während und lange nach dem Bürgerkrieg. Sie mauert sich buchstäblich ein, nachdem sie das Schicksal, die Zeit, die Schwester und der Schwager alleine gelassen hatten. 30 Jahre in einer Wohnung ganz oben unter dem Dach, weit über dem Geschehen, eingeschlossen in einen vergessenen Hohlraum zwischen den Welten.

José Eduardo Agualusa lebte langen selbst in der Stadt Luanda, in Zeiten grosser Intoleranz. Die Hauptrolle in seinem Roman spielt nicht die Frau, die der Realität entflieht, die sich 30 Jahre eingemauert versteckt, sondern das Haus mitten in einer Stadt, einem Land, das auseinanderbricht. Auf Grund von Drohungen, die gegen José Eduardo Agualusa ausgesprochen wurden, dachte er immer mehr darüber nach, wie es wäre, wenn er seine Wohnung für lange nicht mehr verlassen würde, um sich vor allen Unbill zu verstecken.

Auch Ludo im Roman ist eine Frau, die sich versteckt, sich vollkommen zurückzieht, sich nicht nur mit Ziegeln zumauert, sondern mit Angst und Vorurteilen. Am meisten interessierte Agualusa die Frage nach der Angst, einer Schattierung von Vorurteilen. Ludo verändert sich in ihrer jahrzehntelangen Verborgenheit, bis ausgerechnet ein Kind, kindlicher Entdeckergeist, der Hunger, die alt gewordene Frau befreit.

Ein vielschichtiges Buch über Abgrenzung, das Errichten von Mauern, aktueller denn je. „Das Haus der Beneideten“ steht mitten in einer Stadt. In der Wohnung unter dem Dach schiesst Ludo in ihrer Verzweiflung durch die Wohnungstür, weil Männer sich daran machen, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Ludo schiesst, trifft einen der Männer, während der andere flieht. Sie zieht den Toten in die Wohnung, verscharrt ihn in einem der Gartenbeete auf dem Dach und mauert die Türe zu mit Ziegeln, die für einen Pool bereitliegen. „Jetzt sind nur noch wir da“, sagt sie zu Fantasma, ihrem Hund.
 Sie bleibt 30 Jahre hinter ihrer selbst gebauten Mauer, auf einer Insel über der Realität.

Das Haus widerspiegelt die Geschichte Angolas seit der Unabhängigkeit, hinein in den Marxismus und mit dem fast gleichen Personal weiter in den Kapitalismus hinein. Der Reichtum des Präsidenten José Eduardo dos Santos, das gutbürgerliche Leben im „Haus der Beneideten“, wurde vom Marxismus eingenommen und später von der angolanischen Bourgeoisie zurückerobert, beobachtet von Ludo, von Fenster zu Fenster, von Stockwerk zu Stockwerk. Das Buch ist voller Figuren, voller Geschichten, durchsetzt von der magischen Erzählkraft des Autors und seiner Herkunft, ein Buch, das jedem Protagonisten „eine zweite Chance geben soll“. Ein Buch über die absurdesten Momente, die man sich nur vorstellen kann, über Absurditäten, auf die der Mensch ganz lapidar reagiert. Je absurder, desto wahrscheinlicher.

José Eduardo Agualusa interessiert das Böse, was in Menschen und Räumen geschieht, wenn alle Regeln, Gesetze und Konventionen ausser Kraft gesetzt werden. „Ich will verstehen.“

Der Abend im Literaturhaus Zürich mit José Eduardo Agualusa, seinem Übersetzer Michael Kegler und dem Schauspieler Armin Berger war eine Offenbarung!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für „A General Theory of Oblivion“.
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Rezension von «Eine allgemeine Theorie des Vergessens» auf literaturblatt.ch

José Eduardo Agualusa studiert das Literaturblatt mit der Rezension zu seinem Roman «Eine allgemeine Theorie des Vergessens». Foto: Michael Kegler

Wie magisch war „Magischer Realismus“ in Zürich wirklich?

„Zürich liest 2017“
Eine Überfülle an Literatur in Zürich? Spüre ich etwas davon, dass „Zürch liest“, wenn ich aus dem Zug in Zürich steige? Vielleicht müsste ich randalieren, einen Zug per Notbremse zum Halten zwingen, ein Riesenaufgebot an Polizei provozieren, so wie beim Risikofussballspiel zwischen Basel und Zürich. Müsste geschriebene Kunst nicht etwas mehr, als gefällig mit Sprache winken? Wo bleibt die Schärfe, der Mut, der Biss in der Spektakelstadt Zürich?

In einem der Flaggschiffe des Zürcher Literaturfestivals „Zürich liest 2017“, im Literaturhaus Zürich, lasen am Samstag Mariana Leky aus ihrem Bestsellerroman „Was man von hier aus sehen kann“ und Sten Nadolny aus „Das Glück des Zauberers“. Beide wurden sie mit ihren Romanen von ihren jeweiligen Moderationen zum „Magischen Realismus“ gezählt, der Verschmelzung von magischer Realität und realer Wirklichkeit. Aber wie magisch war dieser Abend im Literaturhaus Zürich denn wirklich?

Mariana Lekys Roman ist ein Dorfkosmos rund um Selma, die feststellen muss, dass immer, wenn sie nachts von einem Okapi träumt, jemand im Dorf innert 24 Stunden stirbt. Eine scheinbare Tatsache, die ein ganzes Dorf umtreibt. „Schon einmal ein Okapi gesehen?“, fragte die Auorin. „Irgendwie zusammengesetzte Tiere, irgendwie aus bekannten Einzelteilen zu einem neuen, nicht wirklich passendem, zusammengesetzt.“ Das Okapi ist das „Wappentier“ des Romans. So, wie viele die Menschen im Buch in ihren „Einzelteilen“ nicht wirklich zusammenpassen, sieht das Okapi zusammengesetzt aus. Mariana Leky erzählt langsam und genau, verstärkt durch ihre sprachliche Präzision meinen Blick. Sie versteht es, Menschen darzustellen, die langsam und doch mutig sind, etwas, was im realen Leben nicht zusammenzupassen scheint. Mariana Leky erzählt von Luise und ihrer Wunschgrossmutter Selma. Von Eltern, die nie da sind, wenn sie gebraucht werden und über einen grossen Bogen von der 22 Jahre alt gewordenen Luise, die auf der Suche nach ihrem verloren gegangenen Hund Alaska einen 25jährigen buddhistischen Mönch trifft, der zum Mann ihres Lebens wird, sie, die Verstockte, sie, die für einmal die Initiative ergreift. Nicht wie der Optiker im Dorf, der seine Liebe zu Selma, Luises Grossmutter, über Jahrzehnte in einem Bündel Liebesbriefe mit sich herumträgt.
Ergreifende Literatur, wunderbar leicht erzählt. Ein zartes Buch über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Nur oberflächlich betrachtet Wohlfühlliteratur. Mariana Leky macht im Kleinen Grosses auf. Es passieren durchaus tragische Dinge, aber ohne dass mit der Axt geschwungen wird. Tragik von Komik flankiert. Nicht dass am Schluss alles gut sein müsste. Aber Mariana Lekys Buch tut gut.

Etwas, was Sten Nadolny so nicht gelingen will. Nadolny erzählt in zwölf langen Briefen, die der grosse Zauberer Pahroc seiner Enkelin Mathilde schreibt, von 111 Jahren eines grossen Zaubererlebens und eines schrecklichen Jahrhunderts. Mag sein, dass das „Zauberthema“ arg strapaziert ist und ich als Nadolny-Leser mit jedem Roman des Autors jene absolute Faszination zurückwünsche, die ich seit drei Jahrzehnten seit seinem unübertroffenenen Buch „Entdeckung der Langsamkeit“ erwarte. Sten Nadolny bemüht sich, paart Witz mit Düsternis, Schrecken mit Komik, Magie mit der Grausamkeit von Krieg, Schmerz und Verzweiflung. Sehe ich den mittlerweile über 75 Jahre alt gewordenen auf der Bühne erzählen und funkeln, nimmt er mich noch immer für sich ein. Selbst das mir fremde Thema, das er zu einer Metapher für intelligente, kreative und bewegliche Menschen gesehen haben will, die permanent in der Gefahr seien, zu einer Minderheit zu werden. Heute erst recht, in einer Zeit von Engstirnigkeit und Borniertheit, wo blanker Hass und dumpfer Nationalismus Politik machen. Dem Roman fehlt die Tiefe, vielen Szenen der Atem. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, lesen Sie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – epochal!

Magisch waren die beiden Gäste auf der Bühne, magisch und literarisch aber nur der Roman von Mariana Leky.

Und die Magie einer Stadt, die liest? Zürich liest nicht mehr oder weniger als andere Städte, mit oder ohne Literaturfestival. Zürich liest in geschlossenen Räumen, still für sich, alle jenen Recht gebend, die Literatur Eliten und Abgeschotteten zuordnen. Schade.

J. M. Coetzee «Ein Haus in Spanien», S. Fischer

Booker Prize, Nobelpreis – John Maxwell Coetzee braucht keinen Beistand mehr. Schon gar nicht aus der thurgauischen Provinz. Aber es gibt drei Gründe, warum ich doch auf den grossen Schriftsteller und Essayisten hinweisen möchte. Zum einen erschien bei S. Fischer ein schmuckes Bändchen mit drei Geschichten: «Ein Haus in Spanien». Ein schmales Buch, unaufgeregt, das die Stärken des Autors auf wenigen Seiten zeigt. Ein wunderschönes Büchlein, als wäre es mir zum Geschenk gemacht. Und drei Geschichten, die zum Weiterdenken anregen!

Vor ein paar Jahren las J. M. Coetzee schon einmal in Zürich. Und weil ich dachte, Gelegenheiten, ihn zu sehen und zu hören, würden selten genug bleiben, reservierte ich einen Platz früh genug und machte mich am besagten Tag vom Bodensee auf nach Zürich mit einer Tasche voller Coetzee-Romane. Aber als ich zeitlich schon ziemlich knapp, aber meines Platzes sicher vor den Türen des Veranstaltungsortes stand und eine Frau mit Brille die Reservationsliste mit der Nase knapp über dem Papier durchging, entschuldigte sich diese und meinte, mein Name sei nicht zu finden. Ich müsse warten, vielleicht gäbe es kurz vor Beginn noch einen freien Platz, den man mir überlassen könne. Ich stand da wie ein nasser Pudel, liess mich abschütteln, wie einen kleinen Jungen, sass eine  Stunde später wieder im Zug und ärgerte mich nicht über den Veranstalter, sondern über mich, der sich so einfach abschütteln liess.
Aber nun tut es J. M. Coetzee wieder. Er liest am 4. Juli in Zürich am Openair Literatur Festival im Alten Botanischen Garten. Eigens für das Festival präsentiert Coetzee seinen bisher unveröffentlichten Text The Glass Abattoir (Das Glas-Schlachthaus), eine Mischung aus Erzählung, Essay und ethischem Plädoyer. Ausgangspunkt ist die Frage, wie sich ein guter Sohn verhalten soll, wenn ihn die Mutter in einer Spätlebenskrise mit einer Fülle von Materialien über das Verhältnis von Menschen und Tieren bombardiert – und zwar nicht nur mit wissenschaftlichen Texten, sondern auch mit Anklageschriften gegen umstrittene Praktiken wie Vivisektion und industrielle Viehzucht.

Beim S. Fischer Verlag erschien 2017 nun das schmucke Büchlein «Ein Haus in Spanien» mit drei Geschichten, die zwischen 2000 und 2003 zum ersten Mal in den USA veröffentlicht wurden. So wie ich J. M. Coetzee für seine brillanten Romane schätze, für seine Meisterschaft, der Willkür und Gier auf den Nerv zu drücken, grosse Themen mitzunehmen, so liebe ich ihn für sein Feingefühl, Unscheinbares ernst zu nehmen und mehr als nur lesbar zu machen.

Wie schnell geht einem etwas über die Lippen, unüberlegt, dahin geworfen. So wie den Satz: «Ich habe mich in dieses Haus verliebt.» Kann man Dinge lieben? Oder sind Gedanken um solche Aussagen eine altmodische Pedanterie, der Neid eines Mannes, der zu alt, zu unbeweglich geworden ist, sich noch einmal zu verlieben, sei es auch bloss in ein Ding. Aber es ist gleichermassen  subtil und erfrischend, dass sich der Mann der Sprache um Abnützungserscheinungen der Sprache kümmert. Grund zum Kummer darüber gäbe es genug: Sitze ich an meinem Arbeitsplatz bei offenem Fenster, dringen manchmal Gesprächsfetzen von Jugendlichen an mein Ohr. Sie hocken unter meinem Fenster, rauchen, kiffen, schlagen das Rad und übertreffen sich gegenseitig mit verbalen Grobheiten. Da ist dieser eine Satz, dem Coetzee nachhängt kein Hammerschlag. Aber Grund genug, sich über das Wesen und die Launen der Liebe Gedanken zu machen.

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren ist und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für ›Leben und Zeit des Michael K.‹ und 1999 für ›Schande‹. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Titelfoto: «Himmel über Meran» ©️ Philipp Frei

Juli Zeh «Unterleuten», Lesung im Kaufleuten Zürich

Juli Zeh, in der Presse und von den LeserInnen gefeierte Autorin, las im Kaufleuten, wohl dem einzigen Ort in der Schweiz, der mit grossen Namen viele hundert Besucherinnen und Besucher zu einer einzigen Lesung locken kann. Ein Abend, an dem Buch und Autorin überzeugten und der Saal die Schriftstellerin mit langem Applaus belohnte.

Mag sein, dass gewisse Schriftstellerinnen oder Schriftsteller das Image der antiquierten Veranstaltung, mit Besserwisserei, divenhaftem Getue und schwer kultiviertem Feingeist noch immer zementieren. Aber es gibt auch die anderen, Autoren wie Wolf Haas, der mit Witz einen ganzen Saal durch 90 Minuten reissen kann, Catalin Dorian Flurescu, der als Geschichtenerzähler fabuliert und fasziniert oder eben Juli Zeh, die mit scharfer Zunge, klarem Blick und grosser Erzählgeste beeindrucken kann. Eine Lesung, die mir genau das bot, was ich mir wünsche; Einsichten, Unterhaltung, Gesprächsstoff, Zunder und Genuss.
Juli Zeh hat in ihrem neuen Roman «Unterleuten» ein Dorf erfunden, obwohl damit die Gefahr bestand, Leser und Leserinnen könnten sich erkennen, sowohl die Leser in dem Dorf, das ihr Anschauung lieferte und in dem sie seit ein paar Jahren unweit von Berlin wohnt, wie jenen hinter den Büchern, die sie als moderne Menschen entlarvt. Ein Dorf in Deutschland, in dem dieselbe Sprache gesprochen wird, in dem sich Nachbarn aber unendlich fern sind. Ein Dorf, dass zerrissen wird von Gegensätzen, Gegenteilen. Juli Zeh erzählt nicht nur eine Geschichte. Sie schreibt darüber, wie grundsätzlich verschieden Wahrheiten sein können. Gibt es etwas Objektives, etwas Wahres, das sich nicht teilen lässt? Juli Zeh vermied es gekonnt, eine Welt in Gut und Böse zu teilen. Nichts und niemand im Buch ist gut oder schlecht. So sind auch die Windräder, 610855_original_R_by_Erich_Westendarp_pixelio.dedie in diesem Roman gebaut werden sollen, für die einen Rettung, für die andern Mahnmale der Sinnlosigkeit in Beton, in den Städten geplant und in den Dörfern gebaut. Alle im Dorf geraten sich in die Haare, weil alle das Beste wollen, um jeden Preis. Der Mensch des 21. Jahrhunderts betrachte sich selbst als grenzenlos optimierbare Leistungsmasse. Man betrete nur eine Buchhandlung und betrachte, was verkauft werde. Entweder aus Angst auf der Flucht oder desillusioniert auf einen Punkt hinstolpernd. Dabei sei jeder Realist genug, dass es schnell an Hoffnung in die Zukunft fehlen müsste, weil Perspektiven verloren gegangen sind. Der Optimierungswahn mache verletzlich, weil er erschöpft, letztlich nicht von Erfolg gekrönt sein kann. «Burnout», Erschöpfung ist keine Krankheit, sondern eine Massenerscheinung, ein beinahe kollektives Phänomen, weil Gottesfurcht und Schicksalsglaube nicht mehr entlasten.
Juli Zeh las mit einem Lächeln auf den Lippen, lustvoll, in einer Geschichte, die 10 Jahre reifte, immer wieder liegen blieb, mit der sichtlichen Freude am «Herumfingern an fremder Unterwäsche».

Lesen und geniessen!

Organisiert und durchgeführt von Kaufleuten und Literaturhaus Zürich, moderiert von Gesa Schneider