Juli Zeh «Unterleuten», Lesung im Kaufleuten Zürich

Juli Zeh, in der Presse und von den LeserInnen gefeierte Autorin, las im Kaufleuten, wohl dem einzigen Ort in der Schweiz, der mit grossen Namen viele hundert Besucherinnen und Besucher zu einer einzigen Lesung locken kann. Ein Abend, an dem Buch und Autorin überzeugten und der Saal die Schriftstellerin mit langem Applaus belohnte.

Mag sein, dass gewisse Schriftstellerinnen oder Schriftsteller das Image der antiquierten Veranstaltung, mit Besserwisserei, divenhaftem Getue und schwer kultiviertem Feingeist noch immer zementieren. Aber es gibt auch die anderen, Autoren wie Wolf Haas, der mit Witz einen ganzen Saal durch 90 Minuten reissen kann, Catalin Dorian Flurescu, der als Geschichtenerzähler fabuliert und fasziniert oder eben Juli Zeh, die mit scharfer Zunge, klarem Blick und grosser Erzählgeste beeindrucken kann. Eine Lesung, die mir genau das bot, was ich mir wünsche; Einsichten, Unterhaltung, Gesprächsstoff, Zunder und Genuss.
Juli Zeh hat in ihrem neuen Roman «Unterleuten» ein Dorf erfunden, obwohl damit die Gefahr bestand, Leser und Leserinnen könnten sich erkennen, sowohl die Leser in dem Dorf, das ihr Anschauung lieferte und in dem sie seit ein paar Jahren unweit von Berlin wohnt, wie jenen hinter den Büchern, die sie als moderne Menschen entlarvt. Ein Dorf in Deutschland, in dem dieselbe Sprache gesprochen wird, in dem sich Nachbarn aber unendlich fern sind. Ein Dorf, dass zerrissen wird von Gegensätzen, Gegenteilen. Juli Zeh erzählt nicht nur eine Geschichte. Sie schreibt darüber, wie grundsätzlich verschieden Wahrheiten sein können. Gibt es etwas Objektives, etwas Wahres, das sich nicht teilen lässt? Juli Zeh vermied es gekonnt, eine Welt in Gut und Böse zu teilen. Nichts und niemand im Buch ist gut oder schlecht. So sind auch die Windräder, 610855_original_R_by_Erich_Westendarp_pixelio.dedie in diesem Roman gebaut werden sollen, für die einen Rettung, für die andern Mahnmale der Sinnlosigkeit in Beton, in den Städten geplant und in den Dörfern gebaut. Alle im Dorf geraten sich in die Haare, weil alle das Beste wollen, um jeden Preis. Der Mensch des 21. Jahrhunderts betrachte sich selbst als grenzenlos optimierbare Leistungsmasse. Man betrete nur eine Buchhandlung und betrachte, was verkauft werde. Entweder aus Angst auf der Flucht oder desillusioniert auf einen Punkt hinstolpernd. Dabei sei jeder Realist genug, dass es schnell an Hoffnung in die Zukunft fehlen müsste, weil Perspektiven verloren gegangen sind. Der Optimierungswahn mache verletzlich, weil er erschöpft, letztlich nicht von Erfolg gekrönt sein kann. «Burnout», Erschöpfung ist keine Krankheit, sondern eine Massenerscheinung, ein beinahe kollektives Phänomen, weil Gottesfurcht und Schicksalsglaube nicht mehr entlasten.
Juli Zeh las mit einem Lächeln auf den Lippen, lustvoll, in einer Geschichte, die 10 Jahre reifte, immer wieder liegen blieb, mit der sichtlichen Freude am «Herumfingern an fremder Unterwäsche».

Lesen und geniessen!

Organisiert und durchgeführt von Kaufleuten und Literaturhaus Zürich, moderiert von Gesa Schneider

Juli Zeh «Unterleuten», Luchterhand

Juli Zeh schrieb den lange angekündigten grossen, deutschen Gesellschaftsroman.

Juli Zeh ist eine der Grossen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. 1974 in Bonn geboren, Jura, Europa- und Völkerrecht studiert, landete sie schon mit ihrem Debut «Adler und Engel» einen Grosserfolg und konnte mit Romanen, Essays und Reisetagebüchern auch im weiteren überzeugen. Juli Zeh ist eine der AutorInnen, deren Schreiben immer politisch ist. So nimmt sie kein Blatt vor den Mund, sei es in einem offenen Brief an Angela Merkel als Konsequenz aus der NSA-Affäre oder zusammen mit Illija Trojanow («Der Weltensammler») in der Streitschrift Buch «Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte», wo sie im Rahmen der Buchvorstellung kritisierte, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe.

Und nun also der vom Verlag mit Trommelwirbel präsentierte Roman «Unterleuten». Unterleuten ist nicht das Dorfidyll, von dem Aussteiger, Zivilisationsflüchtlinge, Tierschützer träumen. Es schmaucht, raucht und stinkt. Es wird verleumdet, taktiert, geschlagen, 130 km weg von Berlin in der ehemaligen DDR, aber scheinbar auf der anderen Seite des Planeten. Alteingesessene, durch Jahrzehnte gestählte Befehls- und Ansichtenempfänger prallen auf geblendete Freiheitssehnsüchtige, Zuzüger, die Landschaft, Haus und Garten mit Erwartungen vollpumpen. Aber die alte Ordnung steckt wie all das Gift aus 40 Jahren sozialistischer Erfolgsgeschichte 20 cm unter dem Boden.
Mit den geschärften Sinnen der Autorin taucht der Leser in einen ganzen Kosmos ein, spielt mit bei all den Winkelzügen eines ganzen Dorfes. Die Autorin schildert unverblümt. Mag sein, dass den einen gewisse Charakteren überzeichnet erscheinen. Wer aber Dorfleben kennt, und nicht nur jenes in der ehemaligen DDR, weiss, dass Juli Zeh bloss konzentriert und scharf zeichnet. In Film und Theater wäre der Vorwurf der Überzeichnung hinfällig. Warum soll dies ausgerechnet in der Literatur, in diesem Buch das Vergnügen und die Einsichten schmälern.
Der eine Klimawandel stülpt sich über Landschaft, Dorf und Menschen, während der andere Klimawandel, weg von der eigenen Nasenspitze, auch bei den idealverseuchten Zuzügern und verklebten Ewiggestrigen noch längst nicht stattgefunden hat. Die einen hecheln nach Heimat und die anderen haben sie im Laufe ihres Lebens mehrmals verloren.
Juli Zeh schafft ein weitverzweigtes Panoptikum von Archetypen; Meiler der Spekulant, Kron der ewige Krieger, Linda die Pferdeflüsterin, Gerhard der geleuterte Tierschützer, Jule die verzweifelte Mutter, Hilde die verschrobene Alte… Ich tauchte ein und las mich weg. Juli Zeh fesselte mich an ihr Buch und ich liess es gerne geschehen!

«Wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefgeht, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besassen Qual und Leiden noch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.»

Juli Zeh liest am 17. Mai um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Eine ganze Webseite zu allem rund ums Dorf und ihre BewohnerInnen

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