Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jungundjung

Diogenes sass in seinem Fass, bei Italo Calvino der Baron auf einem Baum. Bei Tine Melzer bleibt ein Mann in seinem Badezimmer, verlässt es nicht mehr, zieht sich zurück, kapselt sich ab und fröhnt dem süssen Nichtstun, auch wenn sich zusehends Bitternis einmischt. Nach ihrem furiosen Debüt „Alpha Bravo Charlie“ wagt Tine Melzer mit „Do Re Mi Fa So“ ein fast barockes Sprachabenteuer.

Tine Melzer ist nicht einfach Autorin. Sie schreibt nicht einfach Geschichten, will nicht bloss unterhalten. Tine Melzer ist Künstlerin. Die Sprache selbst muss Kunstwerk sein. Die Geschichte ist das Konstrukt, das das Kunstwerk trägt. Aber selbst das Konstrukt, die Partitur dieses Kunstwerks, der Plan, ist Wagnis, Experiment, vielleicht eine Spur Provokation, aber ganz gewiss die Aufforderung, mir selbst den Spiegel vorzuhalten.

„In jeder Rekapitulation steckt eine Kapitulation.“

Sebastian Saum ist erfolgreicher Sänger, ein gefragter Bariton. Er wohnt schon seit Jahren in Symbiose zusammen mit seinem Freund Franz Gold in einem grossen Haus, Franz unten, er oben. Auf der Klingel am Eingang steht Gold Saum. Das Haus ist geerbt. Sebastians Leben läuft in festen, geordneten Bahnen. Er hält sich die Welt auf Distanz.

Eines Morgens, nach einem Bad, beschliesst er, nicht mehr aus der Wanne aufzustehen, liegenzubleiben, zumindest das Bad mit Toilette und Fenster nicht mehr zu verlassen. Eine Laune. Vielleicht der Entschluss, seinem Leben im Stillstand eine neue Richtung zu geben; minimales Risiko mit maximalem Erfolg. Franz hilft ihm dabei, liefert an Decken, Kissen und Fellen, was er braucht, um sich in der Wanne niederzulassen, trägt ihm auf einem Serviertablett Essen und Getränke in die kleine Kammer und nimmt fürs erste hin, was nichts anderes als eine Marotte, eine Verstimmung, vielleicht ein Mini-Burnout sein kann. 

„Fanz ist in perfektem Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.“

Sebastian bleibt nackt. Er gedenkt nicht mehr, sich zu kleiden, zu verkleiden, auch wenn ihm und seinem Freund die Garderobe bisher sehr viel bedeutete, vielleicht gar etwas davon ausmachte, was er als Künstler zu repräsentieren hatte. Zwar liegt da ein Laptop und ein Telefon, aber Sebastian hängt fast immer seinen Gedanken nach. Gedanken, die sich erstaunlich wenig um sich selbst drehen, viel mehr das Nachdenken darüber sind, was sein Leben bisher ausmachte.

Tine Melzer «Do Re Mi Fa So», Jung und Jung, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-99027-406-4

Das Badezimmer wird zur Inszenierung. Zu einem Protest seinem eigenen Dasein gegenüber. Auch wenn er sich immer mal wieder um seinen Freund sorgt, ob er auch weiterhin auf die Hilfe seines Mitbewohners zählen kann. Wir, die wir Leben und Existenz mit aller Selbstverständlichkeit stets mit Leistung, Fleiss und Erfolg koppeln, werden Zeuge eines Selbstexperiments, einer stillen Demonstration, einer Inszenierung, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge wendet, wenn auch nicht gegen aussen. Sebastian denkt nach, macht Listen, über die Kleider in seinen Schränken, über die Tode jener Menschen, die in den letzten Jahren starben, über die schlechte Angewohnheit des Pfeifens, über all die Lieder in seinem Kopf, über Redundanz, über all die Menschen, Freundinnen und Freunde, die er aus den Augen verloren hat. Seltsame Listen, die das Aussen nach innen holen.

„Perfektionismus ist eine Sache von Leuten, die sich ihrer Sache nicht restlos sicher sind.“

Gleichzeitig nagt der Zweifel, klopft der Wahn. Vor der Tür hört er seinen Freund telefonieren, meist mit seiner Schwester. Irgendwann bekommt Sebstian trotz Protest Besuch von einer Frau, die sich im Bad auf den Klodeckel setzt und verkündet, man müsse mit Hilfe von Chemie ein Lösung finden.

„Do Re Mi Fa So“ ist maximal entfernt von autofiktionalem Schreiben. Dieser Roman ist eine Inszenierung. Ähnlich eines begehbaren Bildes. Ich sehe Sebastian Saum in seiner übergrossen Wanne, inmitten von Kissen und Decken liegen, eine Hand lässig über dem Wannenrand, ein Glas Wein auf dem Toilettendeckel. Die Welt kommt nur durch seinen Kopf in diese kleine Kammer, auch wenn das Fenster das eine oder andere Mal offen ist und Sebastian bei seinen zaghaften Turnübungen den Bauer aus der Nachbarschaft arbeiten sieht. Auch hier maximale Gegensätze.

„Das mit der Nähe ist so eine Sache – wer nicht aufpasst, dem drängt sie sich auf.“

Und dann die Opulenz, die Kraft der Farben. Tine Melzers ganz eigenes Gespür für Textilien, Oberflächen, die Haptik. Das Skurrile dieser Inszenierung. Auch hier die maximale Entfernung von einer Welt, die wuselt und stampft. Die maximale Entfernung von dem, was ich als Leser selbst unter Rückzug und Reflexion verstehen würde. „Do Re Mi Fa So“ ist Kunst. Ein Buch, dass es verdient hätte, auf der Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis zu erscheinen!

© Tine Melzer I Have Changed My Mind 2005 Mann

Interview (mit Arbeiten der Künstlerin Tine Melzer)

Ich las dein Buch ausgesprochen gerne. Nicht zuletzt, weil es sich gleich vielfach von den meisten anderen Büchern, die sich anbieten, unterscheidet.

Danke!

Sebastian Saum ist ein satter Zeitgenosse. Man muss es sich leisten können, für eine unbestimmte Zeit weich gepolstert in seinem Badezimmer abzutauchen, mit Aussicht auf die Wiesen und Felder jener, die eine derartige Pause wohl gar nie verstehen würden. Dabei trägt wohl fast jede und jeder diesen Wunsch mit sich herum, für einmal einfach alles sein zu lassen, die Welt draussen zu lassen, nur seinen Gedanken nachzuhängen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistung definiert, über Erfolg und Resonanz. Die Kunst genauso. Wie weit ist dein Roman eine Versuchsanordnung?
Eine Versuchsanordnung prüft eine Hypothese; in manchem versucht der Roman so etwas. Was wird geprüft? Unser Verantwortungsgefühl, Fragen der Freundschaft und Treue. Mechanismen der Verdrängung und Scham, der Roman ist also auch eine Kritik. Saum ist zwar aus einer Laune in der Wanne gelandet, kommt dann aber nicht mehr so leicht heraus. Er geht von sich selbst aus und landet in einem Karussell der Erinnerungen und Beziehungskonstellationen. Es geht also auch um Entscheidungen und Bedingungen. Er kann es sich leisten, trotzdem läuft er Gefahr, darüber verrückt zu werden, oder depressiv.

Klar, du erzählst eine Geschichte. Sie bleibt seltsam kühl und distanziert. Das Drama, das sich dabei abspielen könnte, ist in den Decken und Kissen in der Badewanne abgefedert. Wer weiss, wäre Sebastian nie mehr aufgestanden. Was wäre geschehen, hätte ihn sein ergebener Freund nicht so fürsorglich unterstützt. Mir scheint, es ging dir gar nicht so sehr um das Drama. War es das Bild, das dich faszinierte, das Gedankenexperiment? Der Typus Mensch, der seine Gedanken in Richtungen schweifen lässt, die überraschend sind? Ging es um die Sprache, die Beschreibungen, die in dem begrenzten Bild des Badezimmers einen ebenso begrenzten Raum benötigen?
Sein Freund rettet ihn zunächst durch seine Bewirtung, versucht immer wieder neue Tricks ihn herauszulocken, ist ohnmächtig und gefangen in dieser neuen Abhängigkeit. Schliesslich rettet er ihn mit dem letzten Mittel, ihn (vorübergehend?) zu verlassen. Das ist natürlich ein Spoiler, nicht verraten. Es geht mir um das Drama, das einsetzt, sobald wir uns mit unseren Zweifeln auseinandersetzen und dadurch die Welt schrumpft oder bedrängend wird. Das steht nicht nur einem bestimmten Typus Mensch zu, alle Privilegierten könnten das, um andere Entscheidungen zu treffen. Und um das Drama, verstanden werden zu wollen. Das Badezimmer ist der ideale (Rückzugs-)Ort dieses Kammerspiels, durch seine Kühle und zugleich Intimität ein passender Ort für diese Parabel, diese Übertreibung. Die Nacktheit ist nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinn das, was ihn verletzlich macht.

© Tine Melzer 2018 Protest Nudelhölzerr

Dein Roman ist ausgesprochen stofflich, mehrdeutig gemeint, textil, voll von sinnlichen Beschreibungen. Sprache ist auch ein Stoff, mal seidenweich, mal bretthart, aschfahl oder grell bunt. Dein Erzählen lebt von Listen, Aufzählungen, die sich wie Kaskaden lesen. Faszinierend, aber wohl für viele „Unterhaltungsleser*innen“ fremd. Ist dein Schreiben für dich einfach der sprachlicher Ausdruck deiner Kunst, eine Art Malerei mit Sprache?
Vergleiche, Listen und Ähnlichkeiten sind gute Methoden, um Bedeutungs-Varianten zu zeigen, Verwandtschaften und Gegensätze. Ich suche Pluralität und Mehrdeutigkeit. Auf meinem beruflichen Hintergrund untersuche ich seit langem in verschiedenen Kontexten die Zusammenhänge zwischen verbaler und nonverbaler Sprache, also Bilder in der Sprache. Weniger die Malerei, als die Auffassung von Sprache als (konkretes) Material hat mich zur Literatur geführt. Dort ist die Schrift das Medium, in jedem Satz wird neu verhandelt, wie wir die Sprache als Gewebe zwischen einander nutzen, verstehen, verschieben können. Die Sprache verbindet und trennt gleichzeitig; wo Saum sie wörtlich nimmt, scheinen Bilder darin auf. Die Sprache enthält unser Weltbild. Also sind es eher mentale Bilder, Aha-Erlebnisse, die ich ‘male’. Und die plötzlich nicht nur die Figur betreffen oder treffen.

Ich bewundere Sebastians Freund Franz, der mit ihm unter dem gleichen Dach wohnt, wie lange er mit stoischer Geduld die Eskapde seines Freundes trägt, wie er ihn mit dem Nötigsten versorgt, ihn kulinarisch verwöhnt, bis ihm dann doch ziemlich deutlich der Kragen platzt: „Ich ziehe dich nur nutzlos herum, wie einen toten Elefanten.“ Doch auch ein Satz, der sehr gut ins Argumentarium kulturkritischer Kreise passen würde!
Beide nehmen mehr oder weniger offensichtlich Bezug auf die Rolle der Kunstschaffenden und deren Wert für die ‘Gesellschaft’, die beide alimentiert. Das Essen spielt im Roman eine zentrale Rolle, es verbindet den Menschen mit einem Grundbedürfnis und macht ihn tierähnlich, es ist auch Analogie zur Ermöglichung von Kunst. ‹Aus der Badewanne kann niemand die Welt retten›, ausser es wird darin ordentlich sublimiert, so die Erwartung. Ich schätze Kunst, die aus existentiellen Beweggründen gemacht wird oder unterstützt. Für undogmatische Vielfalt. Und gegen das kollektive Wegschauen. Saum hat also nicht nur Gelegenheit, ’seinen Gedanken nachzuhängen›, sondern gerät an unangenehme Zusammenhänge zwischen sich selbst und der Welt.

Ich liebe dein Buch aus vielerlei Gründen. Nicht zuletzt darum, weil sich in deinem Buch Sätze finden, die ich am liebsten gross an eine Wand schreiben würde. Sätze, die wie Türen wirken, an denen ich kurz verweilen musste, um hineinzusehen oder hineinzugehen. Ist dein Schreiben mehr Lust oder harte Arbeit? Was passiert mit Tine Melzer, wenn sie schreibt?
Die grösste Lust ist das Zusammensetzen der Texte zu einem Gesamtbild. Das Buch ist dann eine Komposition, eine Zusammensetzung wie ein Stück, das dem Publikum überlassen wird, und zugemutet. Ich schreibe nicht ‘plotgesteuert’, ich weiss anfangs nicht, wie sich die Figuren oder deren Handlungen entwickeln werden. Ich folge der Sprache und schaue ihr dabei zu, wie sie sich durchsetzt, sich behauptet, manchmal ‘gegen’ eine Idee oder Geschichte. Wenn ich schreibe, umschwirren mich manche Worte wie Fliegen, die ich aufschreiben muss, damit sie mich in Ruhe lassen. Ich vertraue der Sprache, ja, als Stoff, nehme Worte buchstäblich, folge dem Credo Wittgensteins, dass manches sich sagen lässt, anderes zeigen. Das Schreiben sucht die Grenzen der gewohnten Sprache auf, u.a. weil es materialisiert, wovon wir sonst wenig Zeugnis haben oder ablegen. Die harte Arbeit ist es, den Tag zu überstehen und diszipliniert Nischen zu finden, in denen ich schreiben kann.

© Tine Melzer Dictators 2012

Tine Melzer, geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.

Webseite der Autorin / Künstlerin

Beitragsbild © Jakub Kovalík

Helena Adler «Miserere», Jungundjung

Helena Adler starb Anfang 2024 an einem Hirntumor, nicht einmal 40 Jahre alt. Sie war verheiratet, Mutter eines Sohnes – und begnadete Schriftstellerin. Vielleicht eine der vielversprechendsten im deutschsprachigen Raum, eine der innovativsten, mutigsten. Nach nur drei Romanen brach etwas ab, was grossartig und bahnbrechend immer neue Blüten getragen hätte.

Helena Adler, eigentlich Stephanie Helena Prähauser, war Schriftstellerin und Malerin. 2018 erschien ihr Debüt „Herz 52“, der auf jenen „Hertz 52“ genannten Wal anspielt, der aufgrund seiner falschen Tonhöhe beim Singen von seinen Artgenossen keine Antwort erhält und deshalb völlig einsam ist. 2020 dann ihr vielbeachteter und hochgelobter Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und zwei Jahre später „Fretten“, beide beim Verlag Jungundjung. „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und „Fretten“ sind Unikate der deutschsprachigen Literatur. Obwohl es in Österreich eine regelrechte Tradition des Wutromas gibt, die mit Thomas Bernhard eine unvergessliche „Leitfigur“ hervorbrachte, sind die beiden Romane Helena Adlers viel mehr. Sie sind sprachliche Feuerwerke, wilde Fahrten, Lichtspiele.

Sie kennen das Gefühl, in ihrem Leben das eine oder andere versäumt zu haben? Vorsätze, die sie nie umsetzten, die ins Leere liefen, die nie mehr nachzuholen sind, weil etwas abgerissen ist? Als ich von Helena Adler ihren zuletzt erschienenen Roman „Fretten“ gelesen hatte, nahm ich Kontakt mit der Autorin auf und bat sie um ein Mailinterview. Daraus wurde ein kleiner Mailverkehr, bei dem sie mir auch ein paar Fotographien ihrer Gemälde zusandte, Bilder die man bei meiner Rezension noch immer entdecken kann, Bilder, die wie ihr Schreiben aufs Ganze gehen und gar nichts mit Schmuck zu tun haben. Schreiben und Malen waren ultimativ, griffen bis aufs Mark, kompromisslos und schonungslos ihrem eigenen Selbst gegenüber. Damals versprach ich ihr, auf einer meiner nächsten Reisen nach Kärnten, ins Heimatland meiner Frau, in ihrem Atelier einen Besuch abzustatten. Ein paar Monate später erhielt sie die Diagnose Hirntumor. 

Die Künsterin, die wie manch andere Schriftsteller*innen auch der Malerei zugewandt war, schrieb auf die Frage, was in ihrem Fall das Malen vom Schreiben unterscheide: „Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper.“

Helena Adler «Miserere», Jungundjung, 2024, 72 Seiten, CHF ca. 24.90, ISBN 978-3-99027-407-1

Im Sommer 2023 war Helena Adler zum Bachmann-Preislesen in Klagenfurt eingeladen, musste diesen Auftritt aber wegen ihrer Diagnose absagen. Nun legt Jungundjung mit „Miserere“ drei Texte vor, die für die Autorin als abgeschlossen galten, aber nie in ein Buch Einzug hielten. Der längste der drei Texte „Miserere Melancholia“ wäre Helena Adlers Beitrag in Klagenfurt zum Bachmannpreislesen gewesen, eingeladen vom Juroren Klaus Kastenberger. Drei Texte, die das konzentrieren, was die Besonderheiten Helena Adlers Schreiben ausmachen. Die Intensität, die pralle Bilderflut und die opulenten Satzkaskaden, die von kaum zu bändigender Musikalität sprühen. „Miserere Melancholia“ hätte mit Sicherheit eingeschlagen und Helena Adler zu noch viel mehr Aufmerksamkeit verholfen, einer Aufmerksamkeit, nach der sie nicht suchte, die ihr aber gebührt hätte.

Im Mailinterview zu ihrem Roman „Fretten“ schrieb die Autorin auf die Frage, was ihr das Schreiben bedeute: „Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast.“
Diese Aussage passt mit Sicherheit auch zu dem schmalen Band „Miserere“ (lateinisch ‚Erbarme dich‘). „Miserere Melancholia“, der eigentliche Kerntext des Buches, ist ihre Auseinandersetzung mit der Melancholie, der Schwermut, der Depression, dem Selbstzweifel, manchmal monologisch, manchmal im Dialog mit dem Gnom, dem Mistkerl, der Ausgeburt. Der Text sprüht, badet in Metaphern. Nicht zuletzt beschreibt Helena Adler darin auch ihren Kampf im Schreiben: „Jeder Morgen ein Grauen, in dem es mir dämmert, dass es in mir dämmert“. Helena Adler schrieb nicht, um Geschichten zu erzählen, schon gar nicht zur Unterhaltung. So wie ihre Bilder nie Schmuckstück und Zierde sein sollten. Helena Adlers Texte sind Sprachkunst gewordene Auseinandersetzung, die Spur durch eine gebeutelte Seele. Ein Denk- und Mahnmal dafür, was Kunst sein muss und kann.

Wer sich traut, liest Helena Adler!

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg, starb am 5. Januar 2024 an einem Hirntumor. Helena Adler ist eine der wesentlichen Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Autorin und Künstlerin studierte Psychologie und Philosophie an der Universi-tät Salzburg sowie Malerei am Salzburger Mozarteum und debütierte 2018 mit dem Roman „Hertz 52“. Helena Adlers schwarzhumoriger, sprachkünstle-rischer Anti-Heimat-Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ gelangte 2020 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Im August 2022 erschien im Verlag Jung und Jung ihr Roman „Fretten“, der für den Österreichischen Buchpreis 2022 nominiert wurde.

«Fretten» Rezension mit Interview auf literaturblatt.ch (mit Bildern der Malerin Helena Adler)

Beitragsbild © privat

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung

Was wünscht sich ein Mädchen, eine junge Frau mit 14? Die Zugehörigkeit in einer Peergroup, Anerkennung, die Sehnsucht nach der grossen Liebe, Träume, Freundschaften. Matthias Gruber hat sich in seinem preisgekrönten Debüt „Die Einsamkeit der ersten Art“ ein Leben ausgesucht, dass von vielem ausgeschlossen ist.

Eigentlich ist sie doch mit ihrem Namen schon gestraft; Arielle. Arielle leidet unter einem Gendefekt. Was heisst; Arielle hat als Mädchen fast keine Haare auf dem Kopf, fast keine Zähne im Mund und kann nicht schwitzen. Nicht nur die heissen Sommer sind ihr ein Graus, jede körperliche Anstrengung, das Leben überhaupt. Ektodermale Dysplasien heisst diese Krankheit, oder noch nichtssagender XLHED. Matthias Gruber nennt den Namen dieser Krankheit in seinem Buch nie. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein Buch über diese Krankheit. Und doch trägt das Mädchen den Makel mit sich. Ein Makel, der nicht abgelegt werden kann in einer Welt, die sich vor allem an Äusserlichkeiten orientiert. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein trauriges Buch, sondern mit erstaunlich viel Witz und Humor erzählt. Ein Buch, das mit diesem Makel kein Kapital schlagen will, schon gar kein emotionales.

Arielle geht zur Schule. Während sich ihre Klassenkolleginnen über Social Media ganz über ihre Äusserlichkeiten definieren und die Jungs weit entfernt, wie auf einem unerreichbaren Planeten ihr Ding abziehen, wächst Arielle in einem Zuhause auf, das wenig Zeit hat für die Nöte der Tochter. Der Vater verdient sein Geld mit Entsorgungen und Räumungen und sucht in entsorgten Computern auf Festplatten nach Kryptowährung. Aber weil er, vom Amt zu Räumungen geschickt, mit dem Sammelgut auf illegalen Wegen Bares kassiert, fällt er in Ungnade und ist mehr und mehr auf das Geschick seiner psychisch labilen Ehefrau angewiesen. Aber auch sie ist von sich selbst gefangen, hofft mit Kosmetikartikeln das grosse Geld zu verdienen, über Social-Media-Kanäle zur Influencerin zu avancieren, in der Hirarchie eines Schneeballsystems die grosse Bühne zu besteigen.

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Arielles Vater werkelt in seiner Kammer und sucht nach einem Schatz, Arielles Mutter schichtet in ihrem Keller, in ihrer Online-Boutique – und Arielle versucht mit dem Leben mehr oder weniger alleine zurechtzukommen. Am meisten weggetragen fühlt sie sich, wenn sie mit ihrem Vater im Lieferwagen auf Tour ist, oder wenn sie auf der Müllsammelstelle, wo alles landet, was als Spur hinter den Menschen hergezogen wird, im Studio von Aljosha, in einem Container beim Schrottplatz eine Atempause findet, wenn sie sich in die Welt am Rand mischt.

Und doch möchte ausgerechnet sie helfen. Ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Freundin Yasmine und Aljosha, der von einem Leben in Berlin träumt, von einer Kunstschule, weit weg vom Schmuddeldasein und den Blicken all jener, die ihn in seinem Andersein höchstens tolerieren. Aljosha ist schwul.

Die Situation spitzt sich zu, als Arielle sich ein gebrauchtes Handy unter den Nagel reisst und mit den Fotos eines unbekannten Mädchens nicht nur der Mutter unter die Arme greifen will, sondern damit auch einen Feldzug gegen Jungs führen, bei denen sie als sich selbst nur Unverständnis ernten würde. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist eine bunte Geschichte, von den Rändern her erzählt, ein Stück Menschengeschichte, als wäre diese an ein Ende gestossen, als würde sich das Menschsein in lauter Sinnlosigkeiten bis hin zu Müllhalden und Schrottcontainern ausleeren. 

Wenn Matthias Gruber von den Anstrengungen der Mutter erzählt, im Kosmetikbuisiness Fuss zu fassen, dann sträuben sich die Nackenhaare. Wenn die Krone der Schöpfung nur noch hinter Äusserlichkeiten herhechelt und man den wahren Kern von Leben und Sterben aus dem Blick verloren hat, dann ist „Die Einsamkeit der ersten Art“ nicht tröstlich, aber äussert unterhaltsam, mutig erzählt, frisch von der Leber. Matthias Gruber ist eine unverkrampfte, junge Stimme von der ich mir viel verspreche.

Interview

Zuerst möchte ich Ihnen zum Rauriser Literaturpreis gratulieren! Wer einen Blick auf die Liste aller ehemaligen PreisträgerInnen wirft, ist beeindruckt. Das sind keine Eintagsfliegen. Viele der Namen sind heute Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Setzt Sie das nicht etwas unter Druck oder kann man den Preis einfach als Anerkennung für die Qualität eines ersten Romans geniessen?
Zusätzlichen Druck verspüre ich zum Glück noch nicht. In erster Linie freue ich mich einfach, dass der Roman durch den Preis noch etwas zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt. Es erscheinen so viele großartige Bücher und das in einer solchen Geschwindigkeit, dass ein einzelner Roman nicht viel Zeit hat, um seine Leser*innen zu finden. Vielleicht kann der Preis diese Zeitspanne ein wenig verlängern.

Obwohl die Pupertät eine Zeit des Suchens und Ausprobierens ist, ist es bei vielen Jugendlichen genau die Zeit, in der man auf keinen Fall aus der Reihe tanzen will, in der man zu erstaunlich viel „Uniformierung“ bereit ist, sich einer Peergruppe anschliesst und alles peinlich findet, was keiner Norm entspricht. Gewisse Menschen scheinen aber gar nie darüber hinauszukommen! Arielle (Was für ein Name!) hat keine Chance, einem Bild zu entsprechen, genetisch bedingt. Während andere, scheinbar ebenso genetisch bedingt, unumstösslich in dieser Norm gefangen sind. Ist Schreiben ein Ausbruchsversuch?
Ich denke, wir alle tragen diese verbesserten Versionen von uns in der Hosentasche herum. Auf unseren Social Media-Profilen spielen wir uns selbst und möchten dabei klüger, schöner und witziger erscheinen, als wir uns im echten Leben fühlen. Mich hat interessiert, wie es einem Menschen geht, dem das nicht möglich ist, weil sein Äußeres nicht einfach durch einen Filter oder eine bestimmte Pose verändert werden kann.

Durch Zufall kann Arielle einen eigentlichen Avatar generieren, mittels eines Telefons, das sie sich bei den Touren mit ihrem Vater unter den Nagel reisst. Ein „Spiel“, in dem die Realität mit einem Mal zurückschlägt. Ist das nicht ein bisschen viel Moralität angesichts dessen, was mittels Social Media alles erreicht werden kann? Frage ich meine SchülerInnen in ähnlichem Alter wie Arielle, so ist „InfluencerIn“ ein vielgenanntes Ziel.
Es ging mir beim Schreiben nicht um ein Verteufeln sozialer Netzwerke. Die Arbeit am Buch war eher ein Versuch, auszuloten, wie umfassend diese Plattformen mittlerweile unser Leben beeinflussen: Unser Selbstbild, unsere Beziehungen, die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit gestalten und die Welt betrachten. Das betrifft längst nicht nur Jugendliche, sondern alle. 

In einem Interview erzählen Sie, sie hätten zusammen mit ihrem Kind auf einem Spielplatz ein auffälliges Kind gesehen und danach recherchiert. So sei dieses Kind mit dem Gendefekt Ektodermalen Dysplasie in ein bereits angefangenes Manuskript gekommen. Gab es auch den direkten Kontakt mit Menschen mit dieser „Krankheit“? Ist es nicht abwertend, einen solchen Genunterschied als „Krankheit“ zu bezeichnen?
Über die Vermittlung einer Selbsthilfegruppe konnte ich Kontakt zu Menschen mit Ektodermaler Dysplasie aufnehmen und mit ihnen Interviews führen. Ich bin dafür sehr dankbar, denn ohne diese Einblicke hätte ich den Roman gar nicht schreiben können. Die Frage, ob die Bezeichnung Krankheit per se abwertend ist, kann ich nicht beantworten. Ich vermute aber, es kommt auf den Kontext an. Ein respektvoller Umgang mit Betroffenen sollte jedenfalls selbstverständlich sein. Leider ist das oftmals nicht der Fall, wie auch die Interviews für das Buch gezeigt haben. Nicht wenige Menschen mit Ektodermaler Dysplasie werden wegen ihres Aussehens ausgegrenzt, verspottet und stigmatisiert. Vieles, was ich in Interviews gehört habe, konnte ich kaum glauben. 

Bei einem Museumsbesuch trifft Arielle auf jenes Tier, dass als erstes seiner Art vom Wasser ans Land kam. Arielle, die nicht schwitzen kann und eigentlich ganz gerne im kühlen Wasser bleibt, fühlt die Einsamkeit, weil niemand wirklich nachvollziehen kann, was in ihr und mit ihr geschieht. Erst recht, weil wir in einer Gesellschaft der Äusserlichkeiten existieren und dauernd taxieren, schubladisieren und urteilen. Einsamkeit in einer Gesellschaft, die unter Dichtestress leidet?
Das ist ein wichtiger Punkt. Arielle selbst macht ihren Gendefekt selten zum Thema. Natürlich ist er für sie in mancherlei Hinsicht einschränkend, aber zum Problem wird er nur deshalb, weil ihre „Andersartigkeit“ immer und immer wieder von außen an sie herangetragen wird. Erst diese Schubladisierung isoliert sie und macht sie zur Außenseiterin. Die Szene im Naturkundehaus ist für mich auch deshalb eine Schlüsselszene, weil sich in Arielles Wahrnehmung etwas verschiebt. Wie der Ichthyostega wird auch sie plötzlich nicht durch ein scheinbares Defizit definiert. Sie ist die Erste ihrer Art. 

Arielles Mutter leidet an Ekzemen an der Hand und träumt vom grossen Geschäft mit Kosmetika. Ihr Vater entsorgt Hinterlassenschaften, räumt Wohnungen. Auch er träumt; vom lukrativen Kryptogeldfund in „herrenlosen“ Computern. Arielle, die das Spiel mitmacht, sucht aber eigentlich nach ganz anderem; nach Geborgenheit, Freundschaft, Liebe. Unser Tun hängt sich mehr und mehr an digitale Schein- und Nebenwelten. Ihr Roman moralisiert ganz dezent. Er drückt auch nicht auf die Mitleidsdrüsen. Wollen Sie einfach eine gute Geschichte erzählen oder schwingt nicht immer eine Absicht mit im Schreiben?
Ich wollte von Menschen erzählen, deren Welt in Trümmern liegt. Und von ihren oft vergeblichen Versuchen, damit umzugehen. Die Schicksale der Figuren stehen also klar an erster Stelle. Aber natürlich bewegen sich diese Menschen nicht im luftleeren Raum. Die Dinge, unter denen sie leiden, haben Ursachen. Insofern ist es natürlich ein Roman über gesellschaftliche Ungerechtigkeit und ein zutiefst politisches Buch. Vieles bleibt dabei allerdings in der Andeutung. Vieles läuft über Leerstellen, auch sprachlich. Ich finde, ein Roman braucht diesen Raum. Sonst hätte ich ein Sachbuch oder einen Essay geschrieben. 

Matthias Gruber, 1984 in Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er hat Theaterwissenschaften studiert und als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle gearbeitet. Er ist Mitgründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. »Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art« ist sein erster Roman, für den er mit dem Rauriser Literaturpreis 2024 ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Eva Krallinger-Gruber

Rauriser Literaturpreis 2024 Matthias Gruber, Förderungspreis 2024 Luka Leben

Wenn zu Beginn des neuen Jahres Hoffnungen und Erwartungen auf Ungewissheit und Unsicherheit treffen, ist es ein gutes Gefühl, am Horizont einen Leuchtturm zu sehen. Die Rauriser Literaturtage unternehmen auch dieses Jahr wieder den mutigen Versuch, mithilfe der Literatur Orientierung im dichten Nebel unserer Zeit zu geben.

Mit ihren Geschichten vom Zusammenleben gelingt es den diesjährigen Autorinnen und Autoren durch die Möglichkeiten der Sprache eine Nähe zu schaffen, die in unserer Welt selten geworden ist. In einer Gesellschaft, die immer mehr auseinanderdriftet, wo soziale Medien eine Art des Zusammenlebens propagieren, die nicht nur physische, sondern auch emotionale Distanz zur Grundlage hat, vermag es die Literatur, unsere Empathiefähigkeit und Empfindsamkeit zu stärken. Die diesjährigen Texte laden ein, sich in fremde Personen hineinzufühlen, um ihr Denken und Handeln besser zu verstehen.

Den Rauriser Literaturpreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg, dotiert mit € 10.000,-) erhält Matthias Gruber für seinen Roman «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» (Jung und Jung Verlag, 2023).

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Begründung der Jury (Julia Encke, Jürgen Thaler, Isabelle Vonlanthen):
„In Matthias Grubers «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» tritt uns ein Erzähler mit lebendiger Wirksamkeit entgegen, der uns teilnehmen lässt am Heranwachsen von Arielle, einer jungen Frau, deren Äußeres nicht dem entspricht, was die Gesellschaft für sich als schön ausverhandelt hat. Der Autor führt uns durch ein trauriges wie fröhliches, ein witziges wie desaströses Leben, dessen Ende gleichzeitig überraschend und fantasievoll ist. Vom Rand der Gesellschaft her, von der Einsamkeit der Schrottplätze, der Pyramidenspiele und Entrümpelungsdienste, macht er uns in vielfach gelungenen Szenen und Episoden darauf aufmerksam, wie brüchig und rutschig unser Verständnis von Identität, wie zerbrechlich unser Begriff vom Menschsein überhaupt ist. Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschließt: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“

Matthias Gruber, geb. 1984 in Wien, aufgewachsen in Salzburg, wo er heute mit seiner Familie lebt. Studium der Theaterwissenschaften, arbeitete als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle. Er ist Mitbegründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. 2020 Gewinner des FM4-Kurzgeschichtenwettbewerbs „Wortlaut“. 2018 erschien die Prosasammlung «Das Meer vor dem Fenster» (edition mosaik), 2023 das Romandebüt «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» im Verlag Jung und Jung.

© privat

Den Rauriser Förderungspreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg und von der Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,-) zum Thema „Miteinander“ erhält Luka Leben für ihren Text Nachts nur das Rauschen.

Begründung der Jury (Helmut Neundlinger, Regina Pintar, Gudrun Seidenauer):
„Der Text «Nachts nur das Rauschen» thematisiert in zurückhaltender, doch deutlich sprachbewusster und manchmal zuspitzender Diktion das Leben mit einem Kleinkind, das von einer sprachlich-motorischen Einschränkung betroffen ist. Wir lesen ein sensibles und dennoch immer nüchternes und exaktes Protokoll des Alltags in einer herausfordernden Situation, die trotz väterlichen Einsatzes stärker auf den Schultern und auch der Psyche der weiblichen Protagonistin zu lasten scheint. […] Der Text erfasst mit großer Genauigkeit und sinnlicher Präzision gleichermaßen die inneren Bewegungen, die Gedanken und bisweilen emotionalen Verwerfungen der Protagonistin, die doch über jede Überforderung hinaus immerzu ‚funktioniert‘. Die Glaubwürdigkeit und Schonungslosigkeit der Erzählung beeindrucken und berühren besonders, da die Autorin eine dem komplexen und facettenreichen Thema angemessene und immer souveräne Tonlage wählt, die nie sentimental wirkt oder überhöht, auch da nicht, wo Extremsituationen, Sprachlosigkeit, Missverstehen und Einsamkeit spürbar werden. Dennoch gibt es auch Berührung, Verbundenheit und Momente der Hoffnung auf ein ‚Miteinander‘, das gewiss nicht leicht, aber doch stark und stabil zu sein scheint. Hier schreibt jemand, der die Sprache der Literatur außerordentlich gewandt in den Dienst eines überzeugenden Anliegens zu stellen versteht, ohne es auf eine plumpe ‚Botschaft‘ zu reduzieren.“

Luka Leben, geb. 1989 in Salzburg. Studium der Kunst und kommunikativen Praxis an der Universität für angewandte Kunst in Wien und der Bildnerischen Erziehung und Germanistik in Salzburg. Sie unterrichtet Deutsch, Literatur und Kreatives Schreiben an einem Salzburger Gymnasium. 2017 erschien ihre Textsammlung «Unter der Zunge» (edition mosaik) mit eigenen Illustrationen.  Auch für andere Bücher hat sie Zeichnungen geschaffen (u. a. Die Insel der verschwundenen Klänge von Wolfgang Wenger, Das Leben ist schön und andere Märchen von Elisabeth Escher).

Beitragsbild © Miriam Kreiseder

«These words are everything or maybe words are just my only thing» – Robert Prosser und Lan Sticker im Literaturhaus Thurgau

Das Zitat aus dem Poem «These Words Are Everything» des US-Rappers Jonwayne hätte auch das Motto für die Performance zu Robert Prosser Roman «Verschwinden in Lawinen» sein können. Was dieser zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker auf die Literaturhausbühne brachte, war Sprache durch und durch.

Robert Prosser so einfach „Schriftsteller“ zu nennen, wird dem, was der Mann tut, nicht gerecht. Zwar wird Robert Prossers literarischer Fussabdruck weit über die österreichischen Grenzen hinaus schon seit 15 Jahren stetig grösser, aber der Erschaffer des Romans mit dem Titel „Verschwinden in Lawinen“ ist, wie alle, die sich an diesem wunderschönen Sommerabend ins Literaturhaus Thurgau trauten, sinnlich erlebten; Performer mit Leib und Seele, Vermittler, Kurator, Dichter, „Experimentierer“, in seiner Vergangenheit Graffitikünstler und seit einigen Jahren, nach einem Schreibaufenthalt in England, Boxer.
Robert Prosser ist körperlich durchdrungen von Sprache. Dass er schon seit mehreren Jahren zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker tourt und international auftritt, mit dem Drumbadour den Rhythmus der Sprache noch verdichtet, ist vielleicht auch ein bisschen aus dem Boxen entstanden; einer sprichwörtlich körperlichen Auseinandersetzung mit Rhythmen und Ein-drücken.

Lan Sticker, der an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz Schlagzeug studierte und sich in seiner Musik zwischen Pop und Jazz bewegt, verschmolz sicht- und hörbar mit dem sprachlichen Metronom seines Gegenübers. Ein Tiroler und ein Kärntner zusammen über die vielfachen Verschüttungen durch Lawinen aller Art. Ein Text über das Monster und das Verschwinden, über den Versuch der Befreiung und das erdrückende Gewicht sich verschiebender Sedimente – ob Schnee oder die Gesellschaft selbst, ob Schuld oder die pure Wucht der Vergangenheit.

Von Bergidylle keine Spur! Romane, die sich kritisch mit Herkunft und Heimat auseinandersetzen, haben in Österreich eine lange Tradition. Bisweilen werden Bücher fast toxisch, triefen im Schmerz der Auseinandersetzung. In der Schweiz scheint alles viel moderater. «Verschwinden in Lawinen» ist auch eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Tourismus, Veränderungen an Mensch und Landschaft, die ganze Gegenden zu Kulisse und Spielplatz machten und machen. Robert Prossers Herkunftsland Tirol ist Synonym für die verkaufte Vorstellung von Freiheit, Abenteuer, Idyll und karikierter Bäuerlichkeit. «Verschwinden in Lawinen» erzählt von den Auswirkungen dieser Veränderungen, wie sehr sich Menschen nach einem Verschwinden sehnen, wie omnipräsent die Bedrohungen vielerlei Lawinen sind.

In Robert Prossers fiktivem Dorf gibt es die Verschütteten; die wirklich Verschütteten, jene die in jugendlichem Übermut den Schnee ins Rutschen bringen, jene, die über Jahre und Jahrzehnte unter Schneemassen kamen. Aber auch die vom Leben Verschütteten; Mathoi, der Einsiedler und Heiler, der in den Bergen ein ganz eigenes Leben führt, Anna, die Mutter des Protagonisten Xaver, die sich aus ihrem alten Leben in die Berge verabschiedet, Xaver, der eigentlich Schauspieler werden wollte und zum Störmetzger wurde oder Flo, sein Freund, der sich von der Gegenwart einlullen, freiwillig verschütten lässt. 

Robert Prosser ist ein literarisches Ereignis und zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker eine Offenbarung.

«Langsam näherten wir uns Gottlieben – Station um Station von Bern kommend, nach relativ kurzer Nacht, und ebenso Schritt für Schritt tasteten wir uns an den Abend heran: Für die Begleitung durch diesen Tag sagen wir Danke, lieber Gallus Frei. Ebenso für die Zeit und den Rundgang durch das Dorf, die Ausblicke auf den See und auf die Literatur. Wie schön, dass sich dieses Gespräch, das so leicht und flink zwischen Themen wie Schreiben, Lesen und Leben tänzelte, auf der Bühne fortsetzen konnte, nach unserem eigenen wilden Tanz durchs Buch, als Lan getrommelt und ich dazu rezitiert hatte, eingenestelt unters Dach des Bodmanhauses.» Robert Prosser

Rezension zu «Verschwinden in Lawinen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung

Gast im Literaturhaus Thurgau!

Robert Prossers scheinbarer Lawinenroman ist viel mehr. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen.

Robert Prosser ist ein erstaunlich vielschichtiges Kunstwerk gelungen. Da gibt es die Geschichte einer Naturkatastrophe, einer Schneelawine, von der man befürchten muss, sie habe zwei noch ganz junge, einheimische Opfer gefordert. Irgendwann findet man das Mädchen, schwer verletzt, bringt es ins Spital und hofft. Vom gleichaltrigen Burschen fehlt jede Spur und es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Das ganze Dorf steht unter Strom, in einer Mischung aus Ergebenheit den Naturkräften gegenüber und der Angst, eine weitere Tragödie akzeptieren zu müssen. 

Da ist die Geschichte einer Familie, die auseinandergebrochen, schon lange in einer Lawine aus Schicksalsschlägen begraben ist. Xavers Familie, jene des Protagonisten, der sich an der Suche nach dem Freund seiner Nichte, Noah, beteiligt. Xavers Grossvater war ein Mann, der Geheimnisse mit sich trug und ganz im Gegensatz zum Rest der Familie seine Welt mit der seines Enkels teilte. Jener Grossvater, schrullig und eigenwillig geworden, verschwand in den unwegsamen Schrunden der Berge. Als man ihn mit dem Hinweis eines Einsiedlers fand, war er bereits seit Tagen tot. Und mit dem Tod des Grossvaters begann auch das langsame Sterben von Xavers Mutter Anna, die sich irgendwann nur noch mit der Flucht vor sich selbst zu retten wusste – in eine Hütte auf einer der Almen.

„Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.“

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-273-2

Da ist die Geschichte von Xaver selbst, der eigentlich Schauspieler hätte werden wollen, aber irgendwie im Dorf hängen blieb, nicht zuletzt, weil er einer der wenigen wurde, die mit mehr oder minder illegalen Schlachtungen zu einem gesuchten Mann im Dorf wurde. Jenes Gerät, den Blitzer, das Bolzenschussgerät dauernd mit sich herumträgt, vielleicht, weil nichts so wie seine Schlachtungen reibungslos von statten geht. Er ist im Dorf verschüttet, in einem Dazwischen, einem Hohlraum, den er zusammen mit seinem schläfrigen Freund Flo lieber mit Kifferdunst füllt als mit der wilder Entschlossenheit auszubrechen.

Und es ist die Geschichte eines ganzen Dorfes, das sich mit gespielter Freundlichkeit dem Tourismus verschrieben hat, einem Dorf zwischen Ergebenheit der Natur und jener der zahlenden Gäste. Ein Dorf, das gute Miene macht zu einem Spiel, das ihm das Letzte raubt; die Ehrlichkeit, das Authentische. Da kommt eine solche Lawine gerade recht. Sie bündelt das Wenige, das an Solidarität geblieben ist für eine hektische Suche nach Noah, dem Vermissten. Man rottet sich zusammen, man reisst sich zusammen.

„Irgendwann gehen dir die Möglichkeiten aus, glücklich zu werden, und bevor es soweit ist, versuch ich es lieber hier.“

Auch Xaver ahnt, dass in dieser Suche nach dem wahrscheinlich Verschütteten auch seine eigene Rettung liegen könnte. Und weil der Einsiedler und Heiler Mathoi damals seiner Mutter Anna den Hinweis gegeben hatte, wo Xavers Grossvater zu finden wäre, macht sich Xaver auf die Suche nach dem Bärtigen irgendwo in den Bergen. Und weil er weiss, dass sich auch seine Mutter nach oben zurückgezogen hat und man sich im Dorf mit Gerüchten um die beiden nicht zurückhält, wird es eine Suche nach vielem, nicht zuletzt nach dieser einen Chance, Wege herauszufinden.

Robert Prossers Roman ist ein kraftvolles Bergpanorama ohne jedes Pathos, ohne eine Faser Kitsch. Ein grosses Bild mit Übermalungen, Überblendungen, als würde sich das Szenario beim Lesen in mir zu einem feinmaschigen Teppich verweben. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als Xaver bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Man verzeihe mir den Druckfehler: Lan Sticker!

Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach in Tirol. Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit «Phantome» (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. 

Webseite der Autors

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung

Ich musste während der Lektüre von „Fretten“ immer wieder einmal Luft holen. Helena Adler hat sich auch mit ihrem neuen Roman in einen Rausch geschrieben. Ein Rausch, der mich einsaugt und mich in Sphären trägt, die mich trunken machen. Die Schreibe der Salzburgerin ist wie ein Meteorit; sie schlägt ein und wenn man ihren Kern zu fassen bekommt, schillert er!

Sie schreibt. Aber ihr Schreiben ist anders! Man muss diesen Funkelstein nicht gegen das Licht halten. Er leuchtet von selbst. Sie spielt mit der Sprache in einer Virtuosität, der man in dieser Intensität und Kunstfertigkeit nur ganz selten begegnet. Kann gut sein, dass da etwas zu wachsen beginnt, das dereinst alles andere überstrahlen wird. Dabei ist ihre Sprache längst mächtig genug, dass ich mich als Schreibender in Ehrfurcht verneige. 2020 war Helena Alder mit ihrem Zweitling „Die Infantin trägt den Scheitel links“ in der Shortlist des Österreichischen und der Longlist des Deutschen Buchpreises – und nun 2022 bereits wieder in der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Als ob die Jury noch einmal nachdoppelt – und nun, als logische Konsequenz, der Autorin den Buchpreis ihres Landes zuspricht.

„Wir tanzen um die Wette, und ich tanze um mein Leben. Wir tanzen dem Tod durch die Lappen, denn solange wir tanzen, passiert uns nichts.“

Helena Adler klärt ganz zu Beginn des Buches: fret/ten (süddeutsch / österreichisch) sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben.
„Fretten“ ist als Roman die Fortsetzung von „Die Infantin trägt den Scheitel links“. In seiner Art noch zorniger, noch stärker, noch konsequenter. Aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden, die in ihrem Sein, ihrer Wahrnehmung, ihrem Erleben in krassem Gegensatz zu dem steht, was die geranienbehängten Bauernhöfe, die schmucken Kapellen und das saftige Grün mit den schmucken Hügeln und Bergen sonst als Idyll hergeben müssen. 

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-271-8

Eigentlich will sie nur weg; weg aus der Fassade, weg aus der Umklammerung von Geschichte und Gegenwart, der Unausweichlichkeit, der Selbstverständlichkeit des Immer-schon-so-Gewesenen. Am liebsten weg aus dem Kaff in die Stadt, auch wenn das Provinznest in der Nähe in nichts der grossen Freiheit entspricht, in die sie sich verbal verabschieden will. Sie, die schon auf einer versifften Rückbank einer Schrottkarre zur Welt kam. Sie schliesst sich als Wilde mit anderen zusammen, streift durch die Gegend, tut all das, wovon sie weiss, dass man es nicht tun sollte, zieht bandenmässig in der Provinzstadt herum. Sie brechen in Villen ein oder auch mal in einen Schlachthof, um die Fleischseiten vom Dach auf jene zu schmeissen, die mit Abendrobe zum Sehen-und-Gesehenwerden pilgern. Sie sind unentwegt auf der Suche, ohne ein Ziel. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Rebellion ist Prinzip. Man wiegelt sich auf, ohne zu wissen wohin, wo hinaus. Sie will aus der Hexenküche, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo ein Ausweg sein sollte. Die Erzählerin hext selbst. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt längst zerbrochen und wir die Scherben, die niemand aufsammeln will.

Bis sie schwanger wird, ein Kind bekommt. Bis alles in ihr die Richtung wechselt, nur die Intensität nicht. Bis ihr Blick, der sonst immer nach aussen gerichtet war, mit einem Mal ganz nach innen gerichtet wird. Bis aus der Störerin, der Zerstörerin eine Beschützerin wird, während mich Demut überfällt. Eine noch nie dagewesene Demut, eine abhandengekommene Demut, die ich im Laufe der Jahre aus Trotz gegenüber jeglicher Vergänglichkeit abgelegt hatte… Alles, was zuvor auf Abwehr, Rebellion und Ablehnung eingestellt war, wird zu einem weichen, schützenden Schal um die empfindsame Existenz des Kindes.

„Die Distanz zum Mond ist lächerlich, gemessen an der Liebe zu dir.“

Die Kraft ihrer Sätze, ihrer Bilder ist das eine. Das andere die Melodie, die Musik, laut, kraftvoll, als wäre das Erzählblut mit gedopt, als würde beim Lesen der eigene Puls unmerklich schneller werden. Helena Adler sprüht vor Lust und Witz, vor Spielfreude und Fabulierkunst. Und nichts ist gekünstelt. Helena Adlers Sprache ist ihr ganz eigener, absolut solitärer Sound. Eine Sprachmusik, die unverkennbar nur die ihrige ist. Ich kann nicht behaupten, dass sich aus der Sprache allein heraushören würde, wer sie „spielt“. Bei Helena Adler kann man es! Da wird Wut und Zorn zu ästhetischer Kraft.

Ironie des Moments: Ich las „Fretten“ in einem Zisterzienserkloster. In einer Klause um den Tisch herumschreitend, laut lesend, vorbei an Heiligenbildern und dem gestrengen Blick in Öl gemalter Kirchenmänner. Diesen Roman, der durchsetzt ist mit katholischen Fragmenten aus Psalmen und Gebeten! „Fretten“ ist sprachliche Offenbarung! Man lese und staune!

Interview

Dein ganz eigener Ton, den Du in Deinem Roman anschlägst, steht durchaus in einer österreichischen Tradition. Eine Tradition, die ich so nicht in der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte herausgehört hätte. Diese Mischung aus ungezügelter Leidenschaft, überbordender Fabulierlust und Wut. Ist das ein letzter Rest Aufbäumen gegen monarchische Obrigkeitsergebenheit?
Was genau das ist, weiss ich selbst nicht. Letzter Rest? Auf keinen Fall. Das ist doch erst der Beginn. Aber ein Aufbäumen, ein Trotz, ein Widerstand: ja, zweifellos. Gegen bestehende Umstände, gegen Borniertheit, gegen Obrigkeitshörigkeit, gegen Intoleranz. Gegen Kapitalismus. Gegen Arschlöcher und scheussliche Wichte, die selbst wie die Made im Speck leben und sich über andere Menschen erheben, vor allem über jene, die unter widrigen Umständen versuchen zu überleben. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

„fretten“ ist ein Verb und bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben“. Das erklärst Du auch in Deinem Roman. Inhaltlich passt das Verb genau zur Protagonistin. Aber auch zu Dir und Deinem Schreiben? Es scheint, als wäre Deine Art der Sprache, des Schreibens eine sehr musikalische, verbunden mit viel Lust und Freude (auch wenn ich weiss, dass Schreiben harte Arbeit sein kann).
Fretten passt zu mir wie mein finsteres Gesicht zu meinem fiesen Lacher. Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast. Ob es zu meinem Schreiben passt, das ist eine andere Frage. Es passt in Teilen zu meinem Schreibprozess. In Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Da kann ich nämlich nicht schreiben und verzweifle darüber. Dann muss ich mich wieder selbst am Haarschopf aus dem Morast ziehen und von vorne beginnen. Aber dann, wenn es mich packt, bin ich woanders. Dann bin ich Teil des Babylonischen Gartens, blühe dort als Passionsblume und trinke das Wasser aus dem Euphrat.   

Man sieht sie überall in ihrem schwarzen Look, farbigen Haaren, genietet und gepierct. Es scheint immer mehr, dass die Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die sich gegenseitig nichts zu sagen haben. Gut, wenn ein Roman wie „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis erhellt und LeserInnen Welten öffnet. Wieviel „Aufklärung“ und „Wachrütteln“ steckt im Schreiben, in Deinem Schreiben?
Das kann ich nicht beurteilen. Den Anspruch auf Aufklärung erhebe ich keinesfalls. Aber freilich ist es ein Wunsch andere Welten zu eröffnen.  

Deine Protagonistin wird schwanger, bekommt ein Kind. Mit einem Mal verändern sich die Perspektiven dieses Lebens in permanentem Aufruhr vollständig. Eine Erfahrung die wohl alle Eltern machen, Mütter mit Sicherheit mehr als Väter. Du bist auch Mutter. Waren das Erfahrungen, die Du auf Deine ganz eigene Art so verschriftlichen musstest?
Manche Rezensenten sehen in «Fretten» eine Fortführung der «Infantin» und ich frage mich, ob ihnen nicht aufgefallen ist, dass sich die Sprache verändert hat. Für mich sind es zwei unterschiedliche Werke, die sich maximal in der Kindheit überschneiden, vielleicht was den Inhalt betrifft. Doch der Kern liegt anderswo, und zwar in der Mutterschaft. Und dafür wollte ich eine eigene Sprache erschaffen, die meiner Empfindung am nächsten kommt. Darüber wurde noch viel zu wenig geschrieben, darüber wollte ich schonungslos und ehrlich sein, aber auch all die Liebe hineinstopfen, die ich für mein Kind empfinde. Auch, wenn meine Mutterliebe das übersteigt, was ich imstande bin, auszudrücken. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

Neben dem Schreiben bist Du auch bildende Künstlerin. Deine Romane sind Literatur gewordene Klangbilder. Was unterscheidet Dein Malen von Deinem Schreiben? 
Beides passiert vor allem über ein Gefühl. Frei assoziativ. Das Schreiben geht viel über Klang. Beides ist sehr innwendig. Allerdings bin ich durchs Schreiben ausgelaugter, es entspricht mehr meiner Königsdisziplin. Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper. Vielleicht. 

Schreibende MalerInnen und malende SchriftstellerInnen haben Tradition. Braucht das eine das andere?
Nicht notwendigerweise. In meinem Fall empfinde ich es als Bereicherung. Ich bin Autorin und ich bin auch Künstlerin. In erster Linie aber profitiere ich von meinem inneren Reichtum an Bildern, ich kann jederzeit einen Spaziergang durch meine innwendige Gemäldegalerien antreten, andererseits übersetze ich manchmal durchaus auch Geschriebenes in Skizzen.

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Mit ihrem Debüt «Die Infantin» war sie auf der Shortlist des Österreichischen und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Rezension zu «Die Infantin» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Eva Trifft

Ludwig Fels «Mondbeben», Jung und Jung

Ludwig Fels starb am 11. Januar dieses Jahres in Wien. Wie gerne hätte ich den Schriftsteller kennengelernt. Wie gerne hätte ich ihm zu seinem letzten Roman gratuliert, der noch vor seinem Tod bei Jung und Jung erschien. Denn „Mondbeben“ ist starke Literatur, stark in seiner Sprache, stark in seiner Konstruktion, stark in seiner Geschichte!

Angesichts seiner 75 Lebensjahre hätte ich Zeit genug gehabt, den Autor zu entdecken, sowohl für seiner erzählerisches Werk wie auch für seine Lyrik. Aber ich habe ihn zu meinem grossen Bedauern versäumt, habe die Einladung nie angenommen und schäme mich fast ein bisschen. Jetzt, nach der Lektüre von „Mondbeben“, einem Roman, dessen Lektüre in mir auch eine Art Beben auslöste, ergebe ich mich dem Konjunktiv, gestehe mein Versäumnis ein und werde posthum nachholen, was in meiner „Bibliothek der Grossen“ noch fehlt.

Ludwig Fels debütierte 27jährig mit seinem Gedichtband „Anläufe“, zwei Jahre später mit seinem ersten Roman „Die Sünden der Armut“. Etwas, was den Autor durch all die Jahrzehnte ausmachte, war seine Wucht und seine Wut in einer Sprache, einem Erzählen, das sich nicht zurückhält. Keine selbstzerstörerische Kraft, aber eine Energie, die sich auch in seinem letzten Roman unmittelbar in mir als Leser fortsetzt, eine Wut über schiere Ungerechtigkeit und die Unausweichlichkeit des Schlechten. Ludwig Fels beschreibt den Kampf, das Aufbäumen von Menschen, die gefangen sind in Vergangenheit und Gegenwart. Keinen Gutmensch, kein Helden, Menschen, die sich glücklos zu wehren versuchen.

Ludwig Fels «Mondbeben», Jung und Jung, 2020, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-99027-241-1

Olav Ostrander wird nach seiner Haft erwartet. Von seiner Frau, wegen der er für Jahre im Knast auf die Freiheit wartete, auf ein neues Leben, eine zweite Chance. In seinem alten Leben war Olav eine Art Schuldeneintreiber. Nicht von der netten, freundlichen Art, sondern um die Schuldner daran zu erinnern, dass es kein Entrinnen, kein Vergessen, kein Umgehen gibt. Ein Schuldeneintreiber, der auch nicht davon zurückschreckt, Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Im Knast war Olav aber wegen ganz anderem. Er sah im Haus gegenüber einen Mann, der seine Frau verprügelte, hetzte nach drüben, brach in die fremde Wohnung ein und verprügelte den Mann windelweich, den Mann jener Frau, die er Monate später im Gefängnis heiratete.

Olav und Helen wollen neu beginnen, auf Zifere Island, der Insel der Inseln, irgendwo vor der Afrikanischen Küste. Dort fand Helen in einem Prospekt der Hidden Pearl Resort Company eine zum Verkauf ausgeschriebene Villa, nicht weit vom Meer. Ein Haus, das sie mit dem kleinen Vermögen bezahlen konnte, das sie geerbt hatte, das ihnen beiden ein neues Leben schenken, der Beginn einer Neuzeit werden sollte, an einem Ort, der im Prospekt wie ein Paradies anmutet. Aber das Abenteuer gerät schon im ersten Hotel, in dem sie nach dem Flug absteigen, in Schieflache, weil das Paar mit einer Prostituierten in Streit gerät und Helen über dem Auge ernsthaft verletzt wird. Aber auch Olav zieht eine Spur hinter sich her, denn seit einiger Zeit mischt sich Blut in seinen Urin. Irgendwann stehen sie mit dubiosen Vermittlern in dem Haus mit Pool, einem grossen, leeren Haus, eingezäunt, nicht weit vom Meer, das nur über Schutt- und Abfallhalden erreichbar ist. Statt nun endlich das neue Kapitel in ihrem Leben beginnen zu können, werden die Tage zu einem Spiessrutenlauf zwischen Kliniken, Arzt, Taxen und den kleinen Nischen, in denen sie jene Ruhe suchen, die sie sich gegenseitig versprachen. Zu allem Unglück versinkt das Land in gewaltsamen Auseinandersetzungen, einem blutigen Putschversuch und Helen und Olav in den Machenschaften eines korrupten Polizeiapparats und den Fängen einer eigentlichen Immobilienmafia. Olav, der Mann, der einstmals vor nichts zurückschreckte, um zu holen, was befohlen war, wird zum Spielball eines unseligen Kampfes um Macht, Geld und den eigenen Vorteil. Es beginnt ein Wettlauf, der nicht zu gewinnen ist.

„Mondbeben“ zieht mich als Leser in ein Geschehen, dem ich nicht entsagen kann. Der Roman zieht mich in einen Strudel, der mich erzittern lässt, der das Beben in mir fortsetzt. „Mondbeben“ ist ein Roman, der mich in meinen Grundfesten erschüttert, mich förmlich demütig macht, in all den Privilegien, in denen ich mich mit aller Selbstverständlichkeit bewege. Und „Mondbeben“ ist einer jener Romane, die in seiner Stimmlage, ihrem Sound genau dem entsprechen, was Geschichte, Kulisse und Hintergründe zeigen wollen.

Sackstark!

Ludwig Fels, geboren 1946 in Treuchtlingen (Franken), gestorben am 11. Januar 2021 in Wien. Seit 1973 frei­beruflicher Schrift­steller. 1983 Über­siedlung nach Wien. Zahlreiche Publi­kationen, Gedichte, Romane, Hörspiele und Theater­stücke. Lebte bis zu seinem Tod in Wien. Auszeichnungen unter anderem: Leonce-und-Lena-Preis, Hans-Fallada-Preis, Kranichsteiner Literaturpreis und Wolfgang-Koeppen-Preis. Ludwig Fels debütierte 1973 mit dem Lyrikband «Anläufe» bei Luchterhand. Nach weiteren Lyrikbänden und dem Prosaband «Mein Land» folgte 1981 der Roman «Ein Unding der Liebe». Mehrere Monate hielt sich der Titel auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. 1988 wurde das Buch verfilmt (ZDF). Zuletzt erschienen der Roman «Die Parks von Palilula» (2009) und der Gedichtband «Egal wo das Ende der Welt liegt» (2010) bei Jung und Jung.

Beitragsbild © Aleksandra Pawloff

Nadine Schneider «Wohin ich immer gehe», Jung und Jung

Der Schatten bleibt! Man kann sich noch so verzweifelt, entschlossen oder verbissen von ihm zu trennen versuchen; er bleibt. So auch der Schatten in der Geschichte, in der eigenen Geschichte. Nadine Schneider beschreibt einen solchen Versuch, alles hinter sich zu lassen, auch den Schatten.

Johannes ist über die Donau geschwommen, im Dunkeln, weg aus dem Ceaușescu-Rumänien. Endlich, nachdem er sich Monate darauf vorbereitet hatte. Er schafft es, klettert nach ausgestandener Todesangst aus den Fluten und klettert ans Ufer, in ein neues Land, ein neues Leben. Aber schon die Flucht wollte nicht sein, wie sie erdacht war, denn Johannes wollte die Flucht nicht alleine antreten. David hätte ihn begleiten sollen. Sein Freund David, mit dem er so lange das Schwimmen trainiert hatte, mit dem er hätte neu beginnen wollen.

Johannes schafft es im neuen Land, beginnt ein neues Leben, findet Freunde, findet Giulia, die ihm Familie gibt, findet eine Arbeit und Einkommen und irgendwann sogar einen Ausbildungsplatz als Hörhilfeakustiker, nachdem er seine als Tischler begonnene Lehre in Rumänien nicht abgeschlossen hatte. 

Es ist ein neues Leben, auch wenn er dort genauso wenig den Tritt findet, eine Heimat, jene Geborgenheit, nach der er sich sehnt, wie an dem Ort, den er damals verlassen hatte.

Nadine Scheider «Wohin ich immer gehe», Jung und Jung, 2021, 234 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-99027-256-5

Als ihn nach Jahren, nach der Wende in Rumänien, die Nachricht erreicht, dass sein Vater gestorben sei, dass man ihn zur Beerdigung erwarte, fährt Johannes mit Giulias Auto zurück in das alte Land. Ein Land, das nicht auf ihn wartet, zurück in ein Land, das sich äusserlich kaum veränderte und sich doch unsäglich von ihm entfremdete. Zurück in das Land, das seinen grossen Schmerz verursachte und eine offene Wunde nie schliessen liess, denn Johannes hat nie erfahren, was aus seinem Freund David geworden ist. Warum er damals nicht mit über den Fluss geschwommen war. Warum er ihn verloren hatte. Dieses Geheimnis, das er wie einen unverdauten Kloss mit sich herumschleppt, eine Mischung aus Schmerz, Enttäuschung, Schuld und Trauer.

Was er in Rumänien antrifft, ist jenes Leben, das er hinter sich lassen wollte. All die Ur- und Vorurteile, all die Gewissheiten, die keine sind, seine alte Rolle, die wie eine Kette um seinen Hals hing. Seine Mutter ist noch da, aber auch die Verletzung einer Verlassenen. Verlassen von Johannes und verlassen vom toten Ehemann. Damals war die Flucht auch eine Flucht vor der Familie, weil sie ahnte, dass Johannes ein Geheimnis mit sich herumtrug, das in der Gesellschaft und schon gar nicht im Dorf Platz hatte. David wohnte im gleichen Dorf, im Haus mit dem abgestorbenen Baum davor. David war Johannes Freund. Sie waren sich nah, sehr nah, so nah, dass daraus eine Liebe wurde, die unmöglich war und nur Platz bekommen konnte, wenn sie auf der anderen Seite des Flusses ein neues Leben begonnen hätten.

Als Johannes zurück an den Ort seiner Kindheit und Jugend kommt, hat sich vordergründig kaum etwas verändert. Auch in seiner Familie. Nur dahinter, hinter den Fassaden, ist alles anders geworden – und eben auch sein Blick auf diese Welt, denn David ist weg, wie ausgelöscht.

Kein Wunder fallen mit dem Namen Nadine Schneider auch jene ihrer grossen Schreibschwestern; Herta Müller und Iris Wolff. Nadine Schneider schreibt mit einem grossen Gefühl für die richtige Nähe zu ihrem Personal und der Deutlichkeit ihres Erzählens. Nadine Schneider ist keine Chronistin. Sie mäandert in den Innenansichten ihrer Protagonist:innen, leuchtet nur so viel aus, dass das Geschehen in diesigem Licht bleibt, geheimnisverwoben und -verklebt wie die die Welt der Protagonist:innen selbst.

Nach ihrem vielgelobten Debüt „Drei Kilometer“ ist „Wohin ich immer gehe“ ein grosses Versprechen in die Zukunft!

Nadine Schneider, geboren 1990 in Nürnberg, lebt in Berlin. Ihr erster Roman «Drei Kilometer» (2019) wurde unter anderem mit dem Hermann Hesse Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. 2021 las sie auf beim Ingeborg-Bachmann-Preis. «Wohin ich immer gehe» ist ihr zweiter Roman.
Nadine Schneider studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Berufliche Stationen führten sie unter anderem an die Komische Oper und an die Vaganten Bühne Berlin. Derzeit arbeitet sie für den Bundeswettbewerb Gesang.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Laurin Gutwin

Eva Schmidt «Die Welt gegenüber», Erzählungen, Jung und Jung

Eva Schmidt ist eine feine Beobachterin. „Die Welt gegenüber“ ist ihre Welt, von der sie betroffen ist, in die sie sich auf die ihr ganz eigene Weise einmischt; zurückhaltend, behutsam und doch ganz unmittelbar. Ihr erster Erzählband ist ein Genuss, sowohl sprachlich wie auch in der Unaufgeregtheit ihrer Geschichten.

Ich unterstelle der Autorin, dass sie mit ihren Geschichten nichts zeigen, nichts offenbaren und schon gar keine Moral verpacken will. Und doch blickt Eva Schmidt auf eine Welt, die den Schmerz mit einschliesst. Den Schmerz, es geschehen lassen zu müssen. Selten haben mich Erzählungen derart bewegt, wie jene von Eva Schmidt. Nicht nur weil sie sorgsam, unspektakulär und gradlinig aufgebaut sind, sondern weil sie sich in eine beinahe feinstoffliche Ebene hineinwagen. Weil Eva Schmidts Sprache genau ihren Bildern, ihrer Figurenzeichnung entspricht. Sie füllt ihr Personal nicht aus, sondern zeichnet das Darumherum und schafft es so, dass Konturen klar und überdeutlich hervortreten.

Eva Schmidt «Die Welt gegenüber», Erzählungen, Jung und Jung, 2021, 224 Seiten CHF 31.90, ISBN 978-3-99027-250-3

Da ist eine ältere Frau, die seit dem Tod ihres Mannes und ihrer Pensionierung als Krankenschwester allein in einem Haus lebt. Ins Haus nebenan zieht eine Familie, ziemlich plötzlich, weil der Hausrat der Vorbewohner noch nicht einmal aus dem Haus geschafft ist. Eine Familie mit zwei Kindern. Eine Familie, über die man sich freuen könnte, wäre da nicht schon vom ersten Tag weg das Gefühl, dass diese in Schieflache geraten ist. Ein Mann, der noch unbedingt vor Ferienschluss ein riesiges Loch im Garten graben muss, eine Frau, die einen abwesenden Eindruck hinterlässt, eine halbwüchsige Tochter, die sich ganz offensichtlich an ihre Familie gekettet fühlt und ein jüngerer Bruder, den sie trotz mehrerer Anläufe nicht zu erreichen versteht. Was sich über Tage und Wochen in unausgesprochener Ahnung abzeichnet, passiert auch eines Nachts. Und obwohl die ältere Frau noch aus ihrer Berufszeit stets einen Notfallkoffer im Haus bereitstehen hat, kann sie nicht helfen.

Oder Falk, ein älterer Schauspieler, der im Haus einer alleinstehenden Frau ein Zimmer findet, aber als Mann im Haus unscheinbar und zurückgezogen bleibt. Bis aus der Situation doch Nähe entsteht und die beiden mit einem Mal zusammen in einem Auto Richtung Norden sitzen, dorthin, wo Falk einst herkam und ein Ferienhaus besitzt. Bis der Frau klar wird, dass es eine Abschiedsreise werden wird, denn Falk ist krank, sehr krank. Was für die Frau zu einem Anfang wird, wird für den Mann zu einem Abschluss.

Oder von dem Gärtner, der in einem Wohnwagen auf einem Dauercampingplatz wohnt und in einem Tankstellenshop bei einem Kaffeeautomaten eine junge Frau mit einer Tasche kennenlernt. Eine Frau, die eine Bleibe für die nächste Nacht sucht und dann bleibt. Für wie lange, weiss der Mann nicht. Und weil sich das Leben des Mannes in seiner Gleichförmigkeit eingependelt hatte und er mit der jungen Frau unweigerlich wieder zu hoffen wagt, lässt er die Frau gewähren, lässt sie im Wohnwagen bei seinem Hund zurück und hofft jeden Abend, dass sie noch da sein werde. Bis ihn seine Gutgläubigkeit, seine naiven Hoffnungen strafen.

Wer noch kein Buch der Schriftstellerin Eva Schmidt gelesen hat und sich mit „Die Welt gegenüber“ auf die Meisterschaft der Vorarlbergerin einlässt, wird mit Sicherheit noch mehr von ihr lesen wollen!

Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz, Österreich. Sie hat neben Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften vier Bücher veröffentlicht. Mit ihrem Erstling erhielt sie diverse Stipendien und Literaturpreise, u.a. den Nachwuchspreis zum Bremer Literaturpreis (1986), den Rauriser Literaturpreis (1986), den Hermann-Hesse-Förderpreis (1988) und den Nicolas-Born-Preis (1989). «Ein langes Jahr» (2016) war ihr erstes Buch seit fast 20 Jahren.

Rezension von «Die untalentierte Lügnerin» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat