Florjan Lipuš «Schotter», Jung und Jung

«Schotter» ist keine Geschichte, aber erzählte Geschichte. «Schotter» ist lautes Denken darüber, was Vergessen und Verdrängung anrichten kann, wenn Leiden und Erinnerung zum Permaschmerz werden. «Schotter» verlangt von Leserinnen und Lesern genauso viel ab, wie es Florjan Lipuš Überlebensfrage ist, sich zu erinnern.

Florjan Lipuš musste als Kind mitansehen, wie seine Mutter wie eine Kriminelle verhaftet und abgeführt wurde, weil sie als Partisanen verkleidete Gestapomänner bewirtete, während Florjans Vater in der deutschen Wehrmacht Kriegsdienst leistete. Florjan Lipuš Urtrauma, über das er in allen seinen Büchern auf die eine oder andere Weise schreibt. Sein erster Identitätsverlust, aber längst nicht sein letzter, weil er dort geblieben ist, an der Grenze der Sprachen, der Sprachgrenze zwischen Deutsch und Slowenisch, an der Grenze zwischen Vergessen und Bewahren, an einer Grenze, an der sich noch immer unüberwindbare Gräben ziehen, Gräben in denen Hass und Verblendung mottet, Hass, der sich bis in die Gegenwart manifestiert und Lipuš befürchtet, dass die Zeit jene Wunden nicht heilt.

Überall finden Gedenkmärsche statt «gegen das Vergessen». So auch diesen Frühling in Klagenfurt, der Hauptstadt Kärntens, jenen zum Gedenken, die am 29. April 1943 wegen angeblichen Hochverrats nach einem Schnellgericht hingerichtet wurden, darunter Bewohner jenes Ortes, in dem Florjan Lipuš aufwuchs. Dabei sind die Motive jener, die daran teilnehmen ganz verschieden; von tiefem Verlustschmerz über Angehörige oder Freunde bis zur reinen Neugier. Was macht dieses Gedenken mit einem Dorf, in dem jeder jeden kennt? – Und Florjan Lipuš kennt sein Dorf, ein Dorf, das wie viele andere damals mitten in den Wirren des Krieges steckte, eines Krieges, der im Mai 1945 nicht einfach aufhörte wie ein lang andauerndes Unwetter.

Florjan Lipuš entlarvt das verräterische Grinsen jener, die mit dem Ausspruch «Alles wird gut» jede Woge glätten, jede Tiefe füllen, jede Untiefe verbergen. Aus «Schotter» schreit die Angst, dass nichts besser wird, dass die Geschichte keinen Anlass zur Hoffnung gibt, dass das Böse aus der Vergangenheit in der Gegenwart verschwinden würde. Es versickert in den Schottersteinen zwischen den Baracken, in denen Frauen wie seine Mutter gemartert und gequält wurden. Doch was versickert, ist nicht weg, nur verborgen, mottet und fault im Untergrund weiter.

Gibt es eine angemessene Form des Erinnerns? Genügt ein Augenblick, eine Denkpause, ein Gedenkmarsch, der sich nur wenig in das Leben des Einzelnen einmischt? Ich spüre in den Sätzen dieses Buches den ungestillten Schmerz, das ewig scheinende Wehklagen darüber, dass gewisse Verletzungen durch nichts getilgt werden können. Im Gegenteil. Die Angst vor versuchter Tilgung potenziert den Schmerz.

Florjan Lipuš schreibt mit spitzem Bleistift gegen das Vergessen, schreibt von Hand auf Papier, gegen das Flüchtige, das Ungefähre, gegen das Oberflächliche. Als würde sich die Spur seines Bleistiftes durch das Papier hindurch in die Seelen seiner Leserinnen und Leser graben, einer Sorte Mensch, denen Achtsamkeit mehr als nur Modewort ist, die Bücher wie Schätze mit sich herumtragen, auch wenn der Edelstein von dunkler, lichtschluckender Farbe ist. Er leidet mit den Frauen, die seine Mütter waren, den Frauen, denen man alles Grauen auferlegte, die keine Chance hatten, ihm zu entrinnen.

Ein kleines Interview mit Florjan Lipuš:

Es sind immer die gleichen oder ähnlichen Themen, um die sich ihr Schreiben bemüht. Fühlen Sie sich manchmal nicht als Gefangener?
Als Gefangener fühlt man sich als Kärntner Slowene in mancherlei Hinsicht, allein schon wegen der Sprache und der Reaktion der Öffentlichkeit auf sie, durch familiäre Verhältnisse, durch persönliche Entscheidungen, durch die man sich freiwillig in die Gefangenschaft begibt. Auch das Dorf nimmt einen gefangen.

Sie schreiben in „Schotter“ über „das Dorf“, mit Sicherheit über ihr Dorf, in dem Sie schon seit Jahrzehnten leben. Hat sich das Verhältnis zwischen Ihnen und dem Dorf und umgekehrt in all den Jahren verändert?
Es hat sich stark zum Schlechten verändert. Mein Verhältnis zum Dorf hat sich sicher verschlechtert und umgekehrt auch.

Der Krieg, die Gewalt sitzt sitzt wie ein unsterblicher Virus in den Genen der Menschen. Ist die Hoffnung auf „Frieden“ Augenwischerei? Vor allem jetzt, wo sich eigentlich die ganze Kraft der Menschheit hin zum Klimaschutz bündeln müsste?
Hier sind Berufenere aufgerufen, für vernünftige und brauchbare Lösungen zu sorgen.

Sie waren einmal Lehrer. Stünden Sie vor einer Schar junger Lehrerinnen und Lehrer, was würden Sie ihnen ganz besonders ans Herz legen?
Als Lehrer fühlte ich mich ganz und gar und in jeder Hinsicht für die mir anvertrauten Kinder verantwortlich, aber ich würde nie Erwachsenen irgendwelche Ratschläge erteilen. Ich fände es anmassend, meinen Mitmenschen irgendetwas ans Herz zu legen.

Ich weiss, dass Sie mit Bleistift schreiben. Eine fast zärtliche Geste angesichts der Wucht, die in Ihrer Sprache liegt. Im Gegensatz zur Lebensspur lässt sich jene eines Bleistifts radieren. Liegt darin der Reiz solchen Schreibens?
Der Bleistift hat für mich nur einen Sinn, nämlich Bleistift zu sein, einfach und praktisch. Und radiert wird auf meinen Blättern überhaupt nicht, sondern durchgestrichen und neu formuliert. So kann es sein, dass ein Satz dann im Buch eine halbe Seite oder einige Millimeter Bleistift verbraucht hat.

Manuskriptseite, vom Autor zur Verfügung gestellt © Florjan Lipuš

«Schotter» ist Mahnmal. «Schotter» ist Denk-mal!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach, Unterkärnten. Er veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Ubersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen: Petrarca-Preis 2011, Franz-Nabl-Preis 2013 und Grosser Österreichischer Staatspreis 2018.

Der Übersetzer Johann Strutz, geboren 1949, lebt als Literaturwissenschaftler und Übersetzer in Ruden/Ruda, Kärnten. 2011 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Literarische Übersetzer.

Rezension von Florjan Lipuš «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

«Ich schreibe, um mich selbst zu retten» literaturblatt.ch vom 17. 11. 2017

«Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert» Florjan Lipuš erhält den Österreichischen Staatspreis 2018

Beitragsbild © Sandra Kottonau

17. Internationale Literaturtage Sprachsalz in Hall in Tirol: «Der letzte Mensch»

Im Foyer schob sich die Menge immer näher an die Tür des grossen Saals. So still und leise die einen, so aufwühlend die anderen Lesungen, manchmal schon bevor sie beginnen. Wie jene der Nobelpreisträgerin Herta Müller, die die Auswirkungen jener Ehrung in Stockholm wohl gerne ungeschehen machen würde, um etwas von dem zurückzugewinnen, was sie mit dem grossen Preis verlor.

So herausfordern und beglückend für den Veranstalter, so schwierig für die Erwartete. Namen wie Herta Müller mobilisieren BesucherInnen, die sonst kaum zu locken sind. Und ist die Lesung vorüber, zieht Ruhe und Beschaulichkeit ein. Dabei verbergen sich hinter den Namen jener, die ohne Spektakel die Bühne betreten, die grossen Namen von morgen.
So sollte man sich Philipp Weiss merken, der mit seinem fulminanten Debüt «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» im vergangenen Jahr für einen aussergewöhnlichen literarischen Paukenschlag sorgte. Der Roman in 5 Bänden und 1064 Seiten, einer Enzyklopädie, einem Manga, einer Erzählung und einer Audiotranskription liegt wuchtig in Händen, entpuppt sich aber beim Blättern und Lesen als lustvolle Wort-, Satz und Geschichtenlandschaft, die auf keinen Fall von der ersten bis zur letzten Seite linear gelesen werden muss. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist ein ganzer Kosmos, in dem man fast überall ein- und wieder auftauchen kann, eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im „ewigen“ Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf Spurensuche  von Jona macht, dem von Chantal verlassenen Künstler, eine Reise nach Japan, in ein Land, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

Philipp Weiss © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Philipp Weiss schrieb sechs Jahre in aller Ruhe und Stille an seinem Monument. Am Festival in Hall las er auch aus seinem Theaterstück «Der letzte Mensch», das am 8. Oktober in Wien uraufgeführt wird. Ein Stück, das sich mit den grossen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt; Wie kam es dazu, dass sich über die ganze Menschheit eine hochtechnische Membran legte, aus der sich nicht einmal das Denken befreien kann? Was wird mit den Menschen passieren, die 2019 zur Welt kommen, in eine Welt geboren werden, die sich den Konsequenzen ihres Tuns verschlossen hat, die jeden technischen Fortschritt als Glückseligkeit verkauft, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was dahinter folgt? Kann eine Zukunft auch anders gedacht werden als apokalyptisch? Reicht es, sich das Schlimmste vorzustellen, um für das gewappnet zu sein, was zu kommen droht? Gedanken darüber, warum der Mensch das einzige Wesen auf der Erde ist, das etwas produziert, was es nicht braucht – Müll. Darüber, dass das, was der Mensch durch sein Tun unausweichlich verändert, nicht das Leben wirklich meint, sondern bloss verändert, wenn auch letztlich nicht zu seinem Vorteil.

Philipp Weiss denkt schreibend über das Leben nach, das Menschsein, das, was bleibt. Blosses Erzählen ist nicht das seine. Er schafft Welt, stellt Fragen, konstruiert filigrane Szenerien über das nachparasitäre Zeitalter. Sein Theater «Der letzte Mensch» ist keine weitere Dystopie in einer langen Reihe. «Der letzte Mensch» ist die Aufforderung mitzudenken, mitzugestalten, mitzuentscheiden.

Ganz anders, diametral verschieden ist der neue Roman «Jahr ohne Winter» von Lorenz Langenegger. Der in Wien und Zürich lebende Romancier und Theaterautor erzählt die Geschichte(n) von Jakob Walter, einem Mann, der sich auf der Suche verliert. Nicht nur in Australien auf der Suche nach seiner Exfrau, die zu ihrer totkranken Mutter in einem Berner Spital zurückkehren sollte, auf der Suche nach jemandem, der eigentlich nicht gefunden werden will. Über den wilden Tripp eines Mannes, der sein fein säuberlich eingerichtetes und geordnetes Leben verlassen muss, um jemanden zu finden, die von ihm getrennt sein will.

Lorenz Langenegger © Yves Noir

Lorenz Langenegger las in einem Raum, knapp unter dem Terrain draussen, unter dem grossen Fenster, an dem Menschen vorbeigehen, denen die leichte Verwunderung dessen ins Geschieht geschrieben steht, was all die Mensch treibt, die dichtgedrängt dem Mann hinter dem Mikrophon lauschen. Wie ein Aquarium!
In «Jahr ohne Winter» ist ein Mann unterwegs, wörtlich. Die Biederkeit himself in Down Under. Eine Suche im Outback, einer Welt, die maximal anders ist, als jene, aus der er kommt. Bis er in einem zerbeulten Truck mit einem Aborigines sitzt, unterwegs ins Nirgendwo. Jakobs Ex-Schiegermutter Ursula ist krank, braucht dringend eine Stammzellenspende. Und Edith, seine Ex, mit der er seit fünf Jahren kein Wort gewechselt hatte, ist in Australien, in einer mehrwöchiger Schweigemeditation in der Abgeschiedenheit, in maximaler Entfernung von dem, was sonst ihr Leben ausmacht.
Lorenz Langeneggers Spezialität ist das Kleinräumige, selbst dann, wenn der Schauplatz Australien ist. Die Seele eines Mannes, mit dem es gegen seinen Willen geschieht. Jakob Walter ist ein liebenswerter, patschiger Antiheld, «Jahr ohne Winter» aber durchaus ernstzunehmende Literatur über ein entwurzeltes Individuum.

Sprachsalz ist das Salz in der Suppe!

Beitragsbild: Ulrike Woerner © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Eva Schmidt «Die untalentierte Lügnerin», Jung und Jung

Eva Schmidt erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ständig das Gefühl des Ausgeschlossenseins mit sich herumträgt. Maren ist kaum zwanzig, als sie nach einem gescheiterten Schauspielstudium zurück in ihr Elternhaus kommt und doch nicht in ein altes Leben zurückkehren will, nicht in die Lügen in der Familie, nicht ins feine Netz ihrer eigenen Lügen. 

Als Eva Schmidt mit ihrem letzten Roman «Ein langes Jahr» 2016 nach zwei Jahrzehnten zurück auf der Literaturbühne erschien und sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, war auch ich begeistert von ihrem neuen Auftritt. Wer von einem Roman beeindruckt war und mit viel Erwartung einen neuen liest, kann leicht enttäuscht oder auf dem falschen Fuss erwischt werden. Nicht so bei Eva Schmidt. Die Vorarlbergerin, die sich als 67jährige auf eindrücklichste in das Leben einer 20jährigen in der Gegenwart versetzen kann, beschreibt fein und ziseliert, verliert sich nicht in psychologischen Deutungen und lässt Leben ganz nah passieren.

Die einen haben mit zwanzig einen Plan. Andere sind ganz offen oder suchen noch. Maren musste ihren Plan aufgeben. Nicht so sehr weil sie als Schauspielerin nicht getaugt hätte, sondern weil sich Probleme einschlichen, die sich auf ihre Gesundheit auswirkten; Essstörungen. «Die untalentierte Lügnerin» ist aber kein Roman über Essstörungen. Maren kommt zurück zu einer Familie, die sich schon seit Jahren im Zustand des Zerfalls befindet; Vater und Mutter zerstritten und trennten sich, der Vater lebt weit weg, die Mutter heiratet wieder, mehr die Sicherheit und das Geld als den Mann, Marens Stiefvater lebt ein Doppelleben, ihr älterer Bruder hat sich nach Finnland abgesetzt und ihr jüngerer Halbbruder studiert in der Ferne den Waldrapp. Obwohl Eva Schmidt das Familiengeflecht bis in Kleinigkeiten schildert, obwohl sie deutlich macht, wie vielschichtig und verknotet dieses Gefüge ist, ist «Die untalentierte Lügnerin» auch kein Familienroman, kein Soziogramm. Einzelne Figuren, wie der Vater und Jazzmusiker in der Hauptstadt, bleiben skizzenhaft. Eva Schmidt bemüht sich viel mehr um die Wirkung dieser Personen in Marens Leben.

Maren ist weder für alles offen noch auf der Suche nach neuen Türen. Marens Leben geschieht. Sie knüpft zum einen an das Leben zuvor, an den DJ Max, der sie einmal hängen liess, der sie aber spüren lässt, etwas zu sein, auch ohne Absicht, ohne Plan. Sie lernt Alex kennen, einen unglücklichen und kranken Schauspieler und Lisa, die in der Bar serviert. Sie geht Vera, ihrer Mutter aus dem Weg, die der ganzen Welt zu verstehen gibt, dass nichts so funktioniert, wie es sein müsste und erfährt in der Wohnung ihres reichen Stiefvaters Robert, dass auch dessen Leben nicht das ist, wonach es aussieht. Maren prallt am Leben ab, findet keinen Tritt, spürt keine Wirkung. Bis sie einen neuen Mann kennenlernt. Bis sie merkt, nichts mehr darstellen zu müssen. Bis sie sich auf einer Reise in die Hauptstadt ihren eigenen Lügen stellt.

Eva Schmidts Bücher sind kein Spektakel. Sie sind ruhig erzählt, von fast unterkühlter Skepsis. Eva Schmidts Erzählton ist der einer Beobachtenden, unaufdringlich und dezent. Hinter dem Geschriebenen weiss ich viel mehr, nämlich das, was sich erschliesst, wenn man über die verschiedenen Lesarten dieses Buches zu diskutieren beginnt.

© Lisa Mathis

Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz, Österreich, hat neben Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften drei Bücher veröffentlicht, zuletzt »Zwischen der Zeit« (1997). Diverse Stipendien und Literaturpreise, u.a. Nachwuchspreis zum Bremer Literaturpreis (1986), Rauriser Literaturpreis (1986), Hermann-Hesse-Förderpreis (1988), Nicolas-Born-Preis (1989). »Ein langes Jahr« 82016) war ihr erstes Buch seit fast 20 Jahren.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

41. Solothurner Literaturtage «Warum wir zusammen sind»

Wie fast jedes Jahr wird scharf geschossen, sobald die Teilnehmenden und das Programm feststehen. So wie dieses Jahr; es wird eifrig polemisiert, geschimpft, gewarnt und Gift gestreut. Mit Sicherheit gibt es Kritikpunkte genug, Erwartungen, die sich im Vorfeld schon nicht erfüllen. Aber die Solothurner Literaturtage sind nicht nur Nabel- und Werkschau der Schreibenden, sondern Literaturtage der Lesenden. Und die freut’s.

Erster grosser Programmpunkt des ersten Tages war der neue Roman «Warum wir zusammen sind» von Martin R. Dean, dem schon kurz nach dem Erscheinen in den Medien viel Platz eingeräumt wurde, denn Martin R. Dean trifft mit seinem Buch den Nerv der Zeit. Der Roman erzählt nicht nur von Beziehungen und Lieben, es sind gesellschaftliche und sehr intime Betrachtungen dessen, was Paare verbindet, genau das, was jene betroffen macht und gleichermassen fasziniert, die morgens in Scharen den Landhaussaal an der Aare füllen.

Solothurn war, ist und wird während dreier Tage Nabel und Mekka der Schweizer Buchwelt, das Epizentrum aller tektonischer Literaturverschiebungen, die dieser Anlass jedes Jahr auslöst. Seien es die Diskussionen in den Medien darüber, was an jenem oder diesem zu kritisieren sei, an den Eingeladenen, der Programmierung, dem Frust der einen, nicht oder schon wieder nicht eingeladen zu sein, den Ärger, den einen oder anderen Fixstern im Programm zu vermissen.

Vielleicht liegen die Gründe für all die immer wiederkehrende Kritik darin, dass dieses Buchfest mit jedem Jahr um eine Stufe mehr ins Unermessliche und Unerfüllbare aufsteigt. In der Schweiz gibt es kein zweites derartiges, in der Tradition verwobenes Festival, das ein so breites und zahlreiches Publikum zu mobilisieren vermag, wo das Dabeisein darüber entscheiden kann, ob ein Buch zu einem «finanziellen Erfolg» wird, ob sich ein Titel, ein Name überhaupt erst an die Oberfläche schält, wo die Leserschaft ihre Fühler ausstreckt.

«Die Ehe ist der Repräsentant des Lebens, mit dem du dich auseinandersetzen sollst.» Franz Kafka 

Martin R. Dean eröffnete mit seiner Lesung den Reigen vor grossem Publikum mit einer Liebesgeschichte, einer Geschichte um Lieben, Verhältnisse, Tabubrüche, Bedrängnisse und das Elend des Getriebenseins. Eine Liebesgeschichte für die einen, das blanke Elend für die andern, genauso wie das ambivalente Verhältnis vieler zu den Solothurner Literaturtagen. Solothurn ist die alljährlich wiederkehrende, institutionelle Flitterwoche der Vermählung zwischen Literaturbetrieb und Leserschaft. Vielleicht müssten die vorhersehbaren Diskussionen über das Gute und Schlechte dieser Literaturtage einmal mit jenen geführt werden, die vom Bodensee und vom Genfersee, vom Tessin oder vom Glarnerland an die Aare reisen, sei es für einen Tag oder für die ganze Festivalzeit. Sie kommen aus Liebe zum Buch, zur Literatur. Liebe reibt sich am Widerspruch. Solothurn ist eine Langzeitbeziehung mit Höhen und Tiefen, durchdringendem Glücksgefühl dann, wenn man erhört wird, wenn einem gehuldigt wird. Enttäuschung und Frustration dann, wenn man sich missverstanden oder übergangen fühlt.

Die 41. Solothurner Literaturtage sind ins Alter gekommen. Gut, wenn da immer wieder frisches Blut durch die Arterien des Festivals gepumpt wird, durch neue, junge Namen bei Eingeladenen und Organisation. Gut, dass sich die Solothurner Literaturtage der Kritik aussetzen, sich stets zu erneuern versuchen. Nichts an dem Festival ist vergeistigt, verknöchert oder in einer Hülle von Tradition eingeschweisst. Solange die Besucherzahlen beweisen, dass es die Solothurner Literaturtage geben muss, solange Leserinnen und Leser strömen und bei alledem das Wetter derart freundlich mitspielt, wird die in die Jahre gekommene Liebe überleben.

Über Höhepunkte, Highlights und Überraschungen berichte ich später!

Illustration © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Ursula Krechel «Geisterbahn», Jung und Jung

Ursula Krechel erzählt in ihrem vielstimmigen Epos aus verschiedensten Familiengeschichten während und nach dem NS-Regime. Angelpunkt ist die Stadt Trier, die Stadt, in der die Autorin geboren wurde. «Geisterbahn» ist wirklich Geisterbahn, den die Geister aus der Vergangenheit werden beschworen. Die einen treten ganz deutlich aus dem Damals hervor, die andern nur noch als Kontur.

Obwohl chronologisch erzählt, schildert Ursula Krechel die Erlebnisse, Verstrickungen, Leidenswege, Untergänge und Überlebenskämpfe ihrer Protagonisten nicht wie Nacherzählungen. «Geisterbahn» ist mit dem Instrumentarium einer Lyrikerin erzählt. Drängt sich bei vergleichbaren Unterfangen eine cineastische Umsetzung auf, spürt Ursula Krechel in ihrem Roman viel mehr dem fokussierten Blick nach. Es sind nicht die raumgreifenden Kamerafahrten durch die Zeit, sondern die Einsichten in die Innenwelten der Betroffenen.

Josef Dorn irrt durch Deutschland, zuerst durch eine Tausendjährige Ewigkeit, dann durch ein unendliches Nachkriegsdesaster. Josef Dorn ist der älteste Sohn einer Schaustellerfamilie, einer stolzen Sintifamilie, die im Vorkriegsdeutschland von Stadt zu Stadt zog, mit sich selbst und der Welt zufrieden. Bis dem Patriarchen Alfons Dorn bei einer Berliner Messe der Kauf einer neuen Autoscooterbahn verweigert wird: An Zigeuner verkauft der Händler nicht. Alfons und sein Ältester Josef finden den Weg zurück zu Familie nicht mehr. Die Katastrophe von Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung beginnt: Fünf Kinder der Dorns verlieren in Auschwitz ihr Leben, eine Tochter gerät in die Experimentenmühlen des KZ-Arztes Josef Mengele. Selbst dem im KZ geborenen Ignaz Dorn, der viel später im stillgelegten Trierer Bahnhof ein Restaurant eröffnet, wird seine Existenz von Neonazis demoliert und von der Staatsmacht gerügt, als er die Verantwortlichen mit Namen nennt.

«Geisterbahn» ist aber viel mehr als die Familiengeschichte der Dorns. Da ist der Polizistenvater, der im Roman mit Grossbuchstaben wie ein Geist immer wieder mit MEINVATER betitelt wird, eine Person, eine Stimme, die während und nach dem Krieg mit ungebrochenem Gehorsam Menschlichkeit verweigert. Oder den sich ewig anpassenden Dr. Neumeister, der nach dem Krieg Psychiater wird. Oder den mutigen Kommunisten Willi Torgau. Ursula Krechel verwebt Stimmen und Leben ineinander. So wie die Wirklichkeit es auch tut und Literatur und Erzählen allzuoft auseinander dividiert, als ob die Geschichte Ordnung schaffen würde.

«Geisterbahn» ist eine opulente Sinfonie von Stimmen, Bildern, Eindrücken, Begebenheiten, Wirklichkeiten. «Geisterbahn» überrascht und fesselt, auch wenn der Roman von mir als Leser einiges abverlangt und erst im zweiten Teil den grossen Zusammenhang offenbart, die Nähe zur erzählenden Stimme. «Geisterbahn» offenbart die Akribie der Recherche, die schiere Menge an Wissen, Einsichten und gewonnenen Zusammenhängen. Ursula Krechel ordnet und legt auseinander, besticht mit tiefgreifender Empathie. Und obwohl sie unverblümt schildert, verfällt sie nie dem Moralisieren.

«Geisterbahn» ist ein Monument in der Gegenwartsliteratur. Die Trilogie «Shanghai fern von wo», «Landgericht» (mit dem sie 2012 den Deutschen Buchpreis gewann) und «Geisterbahn» nicht bloss ein Eckpfeiler deutscher Vergangenheitsbewältigung, sondern Fixstern jener Art des Schreibens, die nicht nur Bilder vermittelt, sondern solche erzeugt. Bilder, die bleiben!

© Gunter Glücklich

Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück «Erika», das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays. Nebst vielen anderen Preisen gewann Ursula Krechel 2012 den Deutschen Buchpreis für ihren beim Verlag Jung und Jung erschienenen Roman «Landgericht».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

«Poesie – eine Spielart der Ketzerei» Ursula Krechel

Ursula Krechel, der am 16. Internationalen Lyrikfestival in Basel der eigentliche Eröffnungsabend zur Bühne wurde, zeigte, was sie ist; eine souveräne, stilvolle Grande Dame der Literatur, eine Dichterin, die sich nur schwer einordnen lässt, nicht einmal durch Deutungen eines Literaturprofessors. Eine Ikone, eine Lichtgestalt und doch stets nah an den «Dingen» und Menschen geblieben.

Bis zu ihrem Roman «Shanghai fern von wo», der aus einem Hörspiel entstand und sich zum ersten, grossen Verkaufserfolg der Autorin entwickelte, war Ursula Krechel einem eingeweihten Kreis bekannt als Lyrikerin, Theaterautorin und Essayisten. Der Roman von 2008 über Exilanten des NS-Regimes, die nach China flüchteten und im Shanghaier Ghetto überlebten, machte sie mit einem Mal einem viel breiteren Publikum zugänglich. So wie mir, der ich nun auch die Lyrik der Autorin zu lesen begann.

2012 folgte «Landgericht», ein Roman, eine Familiengeschichte um den jüdischen Richter Dr. Richard Kornitzer, der 1947 nach jahrelangem Exil in Havanna nach Deutschland zurückkehrt und in der Konfrontation mit Schrecken und Verlust im Nachkriegsdeutschland zerbricht. Im gleichen Jahr erhielt Ursula Krechel für diesen Roman den Deutschen Buchpreis 2012, ein Preis, der für einmal mehr als verdient war.

Ursula Krechel, die 2018 mit «Geisterbahn» den dritten Roman einer Trilogie veröffentlichte, ein Roman, den die Kritik mit Recht euphorisch beklatschte, war aber schon vor ihrem Wirken als Romanistin ein Eckpfeiler der deutschen Literatur. 1977 erschien ihr erster Lyrikband, damals noch bei Luchterhand, unter dem Titel «Nach Mainz!» über den sie schrieb: «Ich hatte mir eng begrenzte Experimentierfelder ausgesucht, vielleicht der Platte eines Tisches vergleichbar, und immer war im Persönlichen das Politische, in der schweifenden Form eine Festigkeit, der ich trauen lernte; in den Gedichten begriff ich, was ich in Begriffen nie begreifen wollte.»

Über die Perspektive

«Die Welt ist voller Unruhe, alles
drunter und drüber, und noch
weiss man nichts Gewisses!»
Öden von Horváth

Einige mächtige Männer
stehen am Horizont
verdecken die Sonne
und fragen:
Wo bleibt
eure Perspektive?

Wir sagen:
Je nachdem
wo man steht
sieht man
auf den Champs Elysées
einen Dame mit Hündchen
einen rotledernen Stiefel
den Absatz eines Stiefels
oder den Dreck daran.
Je nachdem wie man blickt
sieht man auch
Bäume von weitem.
Betrachtet
die mächtigen Äste.
Der Ast einer Kastanie
erschlug hier einen Dichter.

Geht uns aus der Sonne
dann reden wir weiter
über unsere Perspektiven.

(aus «Nach Mainz!» Gedichte. Darmstadt 1977. Ebenso in «Die da» Ausgewählte Gedichte, Jung und Jung, 2013)

 

Seither sind ein gutes Dutzend weitere Gedichtbände erschienen, reihte sich Preis an Preis. Dichtung um die Frage: Was ist Nähe? Was ist Distanz? Wo liegt der Zugang zur Welt? Unerträglich sei ihr die Distanzlosigkeit. Um zu erkennen, brauche es Distanz. Daher wohl auch ihr Bedürfnis, in Essays über das Schreiben und Dichten, die Begegnung mit Welt nachzudenken. Ursula Krechels Gedichte sind ein Nachspüren eingefangener Gedanken, Sätze, die sie nie loslassen, Einsichten aus dem eigenen Lesen. Lesen als Welterfahrung, ein Heranarbeiten an Innenwelten, aus dem wiederum Lyrik, Text entsteht.

«Stimmen aus dem harten Kern» (2005) ist ein Gedichtband, der sich mit expressiver Männlichkeit beschäftigt; mit Kriegern, Soldaten, einem kollektiven «Wir», das damals, als der Band erschien, mit dem Krieg im Irak verzahnt war. Bilder in Sprache. Bilder, die Fotographien niemals zu erzählen vermögen. Dabei mehr als deutlich die Kritik, was koloniale Macht angerichtet hat und noch immer anrichtet. Ursula Krechel nimmt kein Blatt vor den Mund. «Ich habe Angst, ich verstehe nicht wirklich.»
Sie verführt, analysiert, sie beschreibt und singt. Sie spielt, mal mit Anspielungen, mal mit Verspieltheit.

Wie sehr Ursula Krechel dabei die Form wichtig ist, lässt sich in «Stimmen aus dem harten Kern» errechnen: Alles dreht sich um die Zahl 12: 12 mal 12 mal 12 Verse.

Simulation Heimkehrumkehr

1

Wo früher die kugelsichere Weste ummantelte, klebt nun
Die Creditcard in der Brusttasche des verschwitzten Hemdes

Dazwischen ein Langstreckenflug und eine sanfte Landung
Wir sind Heldendarsteller, verabschiedet, schlüpfen in Anzüge

Von Bankangestellten. Summen, die früher die Toten zählten
Sind an Zinssätze gekoppelt, Kids lümmeln mit Plastikpistolen

Stellungskrieg des Normalen; Hausbaukredite im freien Fall
Rasende Kopfschmerzen nachts, wir träumen von Rinderherden

Mit Stricken aneinandergefesselte Tiere, die wir für Feinde hielten
Niedergemetzelt im Irrtum, sie griffen uns an, wie wir ihnen contra

Wenn Aias schrie am Morgen ai, ai, als wäre sein Name ein Schmerz
Sind wir Aias, Mörder: schuldig und ruhiggestellt durch Tranquilizer.

(aus «Stimmen aus dem harten Kern» Jung und Jung, 2005)

 

Die Lücke, die Notwendigkeit auszusparen, so wie der Dialog in den Romanen der Autorin fast durchwegs ausgespart wird, braucht die Lyrikerin Ursula Krechel Sparsamkeit, die Lücke, die Auslassung das Weglassen. Ursula Krechel ist Dichterin, Verdichtern im eigentlichen Sinne. Aus dem All(es) der Sprache, dem Empfinden von Unendlichkeit bis zur Konzentration in einem Vers ist ihr Schreiben ein permanentes Suchen auf vielen Ebenen. Ursula Krechel filtert aus der Unendlichkeit sprachliche (Bau-)Prinzipien. Ihre Gedichte brechen auf.

Eintauchen!

Ursula Krechel, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück «Erika», das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays.

Ich danke dem Verlag Jung und Jung für die Erlaubnis, zwei Gedichte der Autorin in den Text einzufügen.

Beitragsbild © Gunter Glücklich

Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert; Florjan Lipuš

Der Grosse Österreichische Staatspreis ging 2018 an den Schriftsteller Florjan Lipuš. Vor einem Jahr besuchte ich den Schriftsteller in seinem Haus in Südkärnten und begegnete einem bescheidenen Schriftsteller, der in aller Stille für die Sprache, für die Literatur, gegen das Vergessen, gegen seinen Alptraum ankämpft. Unweit von seinem Haus las Florjan Lipuš im slowenischen Kulturverein Trat in Sittersdorf.

Männer mit schwarzen Anzügen und farbigen Krawatten eröffneten die feierliche Lesung im Kulturzentrum der kleinen südkärntner Ortschaft Sittersdorf. Damit ehrte Sittersdorf jenen Schriftsteller zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises, ausgerechnet jene Gemeinde, an die Florjan Lipuš nach einem unseeligen Streit seine Ehrenbürgerschaft zurückgegeben hatte.

Jene Gemeinde, deren Gemeinderäte in der ersten Reihe sassen, stimmte 2017 gegen zweisprachige Ortsschilder, deutsch und slowenisch. Jenem Gemeinderat gab Florjan Lipuš nach dieser Verweigerung einer «offenen Zweisprachigkeit» die vor mehr als 20 Jahren verliehene Ehrenbürgerschaft zurück. Florjan Lipuš, der zwar slowenisch spricht und schreibt, aber weit über den slowenischen Sprachraum geschätzt und verehrt wird, weiss, was Ausschluss und Verweigerung von Vielfalt in Kärntens Geschichte ausrichtete. Der Ortstafelstreit in Südkärnten ist ein unleidiges Kapitel in einem seit Generationen schwelenden Sprachenstreit in Südkärnten. In diesem Streit steckt ein tief verwurzeltes Misstrauen der jeweils anderen «Volksgruppe» gegenüber, über Generationen nicht zuletzt von der Politik geschürt, durch Weltkriege bis tief in die Seelen der Landschaft gebrannt, geschossen und eingeschnitten.

Schon vor zwei Jahren war Florjan Lipuš für den Grossen Österreichischen Staatspreis vorgeschlagen, bekam ihn aber nicht. Die Begründung damals: Florjan Lipuš schreibe nicht auf Deutsch. Das sorgte international für Kritik, nicht nur in der Literaturszene. Slowenisch ist eine von mehreren Sprachen in Österreich, eine Diskussion darüber sollte gar nicht erst geführt werden müssen, so der Tenor damals.

So zart die Person des 81jährigen, so kräftig das Schreiben und die Texte des Autors, so unverrückbar und stur die Fronten des Stellvertreterkrieges in den Tälern Südkärntens. So sehr die Geschichten, Romane und Erzählungen des grossen Schriftstellers um Vergebung ringen, mit der Vergangenheit kämpfen, sich in tiefen Verletzlichkeit ereifern, so schwer tut sich die Heimat des Dichters mit seiner Zweisprachigkeit. Ausgerechnet dieses kleine Zeichen, mit dem Vielfalt und Offenheit demonstriert werden könnte, wächst sich im kleinen Dorf südlich der Drau zu einem K(r)ampf aus.

Florjan Lipuš ist die Bescheidenheit in Person. Aber eine Bescheidenheit, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die sich einmischt. Mit dem Grossen Österreichischen Staatspreis ist zu hoffen, dass dem Dichter die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird und dass all die Werke, die in Deutsch nicht mehr erhältlich sind, wieder verlegt und gelesen werden.

Wären Ortsschilder-, Sprachen- und Ehrenbürgerstreit nicht Tatsachen, wären sie perfekter Stoff für einen Roman über die oberflächliche Idylle einer wunderschönen Landschaft, freundliche Leute und ein Dorf, über dem die Kirche thront, ein Idyll, dass sich Wirklichkeit und Tatsache entgegenstellt. Wenn es früher die Angst vor Vereinnahmung war, so hat sich heute die Angst nur minimal verlagert, die Angst vor «Kulturverlust» der sarazzinisch, feindlichen Übernahme, der global intellektuellen Verladung, geistiger «Verwüstung». Der Sprachenstreit ist ein Stellvertreterstreit.

Der Saal in Sittersdorf war voll. Ich sass in der hintersten Reihe. Die Texte der Musik waren slowenisch, die Texte, die Florjan Lipuš las, slowenisch. Das einzige, was ich an diesem Abend verstand, waren die übertrieben lauten Lacher und die Klingeltöne in den Taschen der Alten. Ich verstand kein Wort. Macht nichts. Ich verstehe Florjan Lipuš auch sonst. Ich war da, weil ich dem Autor die Ehre erweisen wollte, weil da ein Grosser las!

Auszug aus der Begründung des Kunstsenats des Grossen Österreichischen Staatspreises: «Florjan Lipuš, der 1937 als Sohn einer Magd in Lobnig oberhalb von Bad Eisenkappel/Zelezna kapla geboren wurde, ist ein Kärntner Schriftsteller slowenischer Sprache, der bereits 1981 mit seinem von Peter Handke und Helga Mracnikar ins Deutsche übersetzten Roman «Der Zögling Tjaž» in der internationalen Literaturwelt großes Aufsehen erregt hat. Im «Zögling Tjaž» ist sein gesamtes erzählerisches Opus thematisch angelegt, das er in zahlreichen Romanen und Erzählungen weiterentwickelt und entfaltet hat. Lipuš behandelt in seiner Literatur den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die Vertreibung und Ermordung der Kärntner Slowenen, die Geringschätzung der slowenischen Minderheit durch die Mehrheitsbevölkerung, aber auch die Rettung der schwindenden Welt slowenischer Wörter und Wendungen als Grundlage einer neuen selbstbewussten Identität.»

Rezension von «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Marko Lipus

Florjan Lipuš „Seelenruhig“, Jung und Jung

Florjan Lipuš ist Stilist. „Seelenruhig“ ist kein Roman, keine Erzählung und auch kein Essay. Aber Sprachkunst, solche, die man nicht so einfach in sich hineingiessen kann. Es sind Sprachbilder, um die ich mich bemühen musste, die sich nicht so einfach erschlossen. Und doch betört mich das schmale Büchlein, bettet mich ein in eine dicke Wolke aus Fabulierfreude, rätselhaften Innenansichten und der Gewissheit, dass Sprache viel mehr erzeugen kann, als blosse Wiedergabe.

In Florjan Lipuš Seele ist keine Ruhe. Und doch passt der Titel. Der grosse Kärntner begegnet den verstorbenen Seelen; seiner Mutter, seinem Vater, seiner Grossmutter. Er streift durch die Landschaft seiner Heimat, vorbei an Orten, an denen scheinbar nur noch wenig erinnert an das, was einmal unauslöschlich schien. An die Orte seiner Kindheit. Den Stein, nicht weit vom kleinen Hof seiner Eltern, auf dem sein Vater während der Arbeit auf dem Feld ausruhte. Ein Stein, der heute mitten in einem Wald Wanderer dazu einlädt, eine Rast einzulegen. Ein Stück Wald, in dem nichts mehr an den einstigen Hof, sein einstiges Zuhause erinnert. Das vergessen sein wird, wenn er, Florjan Lipuš einmal nicht mehr sein wird.

“Ein Schriftsteller, der sein ganzes Leben an ein und demselben einzigen Text schreibt.“

Florjan Lipuš schreibt gegen das schwere Erbe seiner eigenen Lebensgeschichte an. Nicht nur dass man ihm als kleiner Junge seine Mutter durch Denunziation, Folter und Mord nahm. Da lastet auch ein stummer Vater, der ihm durch sein beharrliches Schweigen nicht nur seine Fragen, sondern auch seine Antworten vorenthielt. Antworten, nach denen Lipuš auch nach 80 Jahren noch sucht. Immer und immer wieder, mit jedem seiner Bücher, und in diesem mit ganz besonderer Perspektive. Ein Buch voller Fragen an den Vater, an seine Geschichte, an in den Tod gezerrte Geheimnisse.

“Sie wusste um den Albtraum, der früher auf ihm gelastet hatte und den sie mit vereinten Kräften vertrieben hatten, eigentlich war sie es, die an die Stelle des Albs ihre Liebkosungen und ihren Liebesüberschwang eingesetzt hatte.“

“Seelenruhig“ ist ein Buch über seine Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die schon in seinen frühen Jahren, fühlbar, spürbar und sichtbar wird. Ein Blitzen um und über ihm. Eine feinstoffliche Wahrnehmung. Er beschreibt sie so bildhaft, spürt seinen Empfindungen nach, dass er mich mitnimmt, mich während des Lesens glauben macht, diesen ganz nah zu kommen. Auch wenn es sich im Nachhinein nur als Sehnsucht erweist, es dem Autor in dieser Weise gleichtun zu können.

“Wenn wir uns der Sprache bedienen, enthüllen wir mit ihr unseren Kern, geben wir unsere Charakterfestigkeit kund, kehren wir das Innerste nach aussen.“

Ich bewundere Florjan Lipuš für seinen Mut. Einen Mut, den er selbst wohl gar nicht als solchen erkennen würde. Er tut, was er kann. Und das kann er mit jedem seiner Bücher unverwechselbarer. Wie da einer schreibt, über Leidenschaft, Lust und Zorn. In einer Art, die mich zweifeln lässt, ob ich selbst schon zu taub, zu blind, zu einfältig bin, oder das Vergessen schon alles schluckte. Zorn dann, wenn sein ambivalentes Verhältnis zur Kirche hervortritt. Die Sehnsucht nach Entschleunigung, wenn ihn eine Kirche mit Ruhe umschliesst. Und die unverhohlene Kritik über eine Kirche, die zur Selbstreflexion unfähig ist. Eine machtversessene Kirche, darüber wie sehr sie knechtet und alles andere als an der Mündigkeit ihrer Seelen interessiert ist. In diesen Passagen des Buches ist keine Altersmilde zu spüren. Sein Text geisselt und schimpft.

Zugegeben, die „Erzählung“ verlangt einem einiges ab. Aber Florjan Lipuš belohnt mich mit einer Tiefe, von der es in der aktuellen Literatur dergleichen nicht viele gibt.

Florjan Lipuš veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Petrarca-Preis 2011 und den Franz-Nabl-Preis 2013.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Florjan Lipuš „Ich schreibe, um mich selbst zu retten.“

Über dem Kärntner Jauntal direkt am Waldrand über der 200Seelen-Ortschaft Sele/Sielach wohnen Maria und Florjan Lipuš. Florjan Lipuš ist einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller der Gegenwart. Ich besuchte den 80jährigen zusammen mit meiner Frau und staunte über die Zartheit dieses grossen Schriftstellers.

2012 erschien bei Suhrkamp eine Neuauflage des 2003 auf slowenisch erschienenen Romans „Boštjans Flug“ mit einem Nachwort von Peter Handke. Nicht erst damals war mir Florjan Lipuš ein Begriff. Aber seitdem nehme ich mir bei jedem Besuch im Geburtsort meiner Frau nicht weit von dem des Schriftstellers vor, diesen zu besuchen. Aber Florjan Lipuš ist in keinem Telefonverzeichnis zu finden, keine Adresse, im Netz bloss wage Angaben zu seinem Wohnort. Das soll wohl so sein. Florjan Lipuš liebt nichts mehr als die Stille. Also klingelten wir an der Haustür einer Familie Lipuš, an einer Tür zu einem Haus mit grossem Garten. So wie mir mein Schwager, der nicht weit von dem Haus Felder bewirtschaftet, riet. Meine Frau mit einer Tasche, ich mit einem Bündel Bücher unter dem Arm. Kein Wunder war die Frau, die uns öffnete misstrauisch. Ich an ihrer Stelle hätte Zeugen Jehowas vermutet.

Florjan Lipuš, ein grosser, stiller Schreiber, Dichter und Denker, der nirgendwo sonst leben könnte als an diesem ruhigen Ort zwischen Karawanken und Drautal. Jenem Gebiet, das wegen seiner Zweisprachigkeit Deutsch/Slowenisch wie kaum eine andere Gegend in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert zwischen die Fronten geriet. 1937 kam Florjan Lipuš dort zur Welt, ein Kärntner Slowene. „Kärnten ist das einzige Land in Europa, das sich vor einer Sprache fürchtet.“

Florjan Lipuš schrieb Romane und Erzählungen. Sein erster Roman „Der Zögling Tjaž“ (Zmote dijaka Tjaža, 1972) wurde 1981 übersetzt von Helga Mračnikar und Peter Handke, mit dem er gemeinsam ein kirchliches Gymnasium besuchte. Alle Texte Florjan Lipuš drehen sich um seine Heimat, ohne dass er ein Heimatschriftsteller geworden wäre. Niemand schreibt schärfer als er über ein Land „am Arsch der Welt“, im Würgegriff von Zwängen und Normen. Es sind Bilder seiner Kindheit und Jugend, die ihn noch immer drangsalieren, die Verschleppung und den Mord an seiner Mutter 1943 durch die Gestapo, das Zürückgelassensein, die Lieblosigkeit. Lipuš, Sohn einer Magd und eines Knechts misstraut den Menschen, misstraut sich selbst, seinem Glück und erst recht dem Leben als „Künstler“. Seit mehr als 50 Jahren schreibt der Dichter in der Abgeschiedenheit seines Zuhauses mit Bleistift. Lipuš, der nichts so sehr verabscheut wie Oberflächlichkeit. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde; ich schreibe um gelesen zu werden. Ich schreibe, um mich selbst zu retten. Florjan Lipuš, dessen Mutter im KZ Ravensbrück umgebracht wurde, weil man ihr durch eine hinterhältige Falle unterstellen konnte, mit Partisanen zu sympathisieren, dessen Vater bei der Wehrmacht war und der nach dem Tod seiner Mutter allein mit seinem kleinen Bruder im Haus zurückblieb, schreibt gegen das Trauma seiner Kindheit. Er kämpft gegen das Vergessen, das Vergessen von Geschichte. Er schreibt gegen den Schmerz, gegen das Vergessen unter dem tonnenschweren Gewicht einer Jahrhundertkatastrophe. Lesen Sie „Boštjans Flug“ in der wunderschonen Ausgabe aus dem Suhrkamp Verlag, übersetzt von Johann Strutz! Die Zartheit in seiner Person spiegelt sich in der Zartheit seiner Bilder und Sprache.

Auf literaturblatt.ch erscheint bald eine Besprechung zu seinem bei Jung und Jung erschienen Roman «Seelenruhig».

Monika Helfer «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!», Jung und Jung Verlag

Manchmal schmerzt Lektüre. Liegt es an der Sprache, lege ich das Buch weg. Liegt es an der Geschichte, dann kann Lesen zu einer Berg- und Talfahrt werden, zuweilen zu einem Höllentripp. Monika Helfers Protagonisten in ihrem neuen Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» sind keine Helden. Nicht einmal das Mädchen Vev, das eigentlich Genoveva heisst, das einem schon im ersten Kapitel unsäglich leid tut und mich unsicher werden lässt, ob ich mir die Geschichte ein Buch lang antun soll. Aber dieser Roman birgt so viel Kraft, so viel feinsinnige Empathie, so viel lupengenaue Beobachtung, dass ich das Buch schon aus Respekt nicht weglege.

Auf den ersten Seiten fährt Vev mit Sonja, ihrer aufgekratzten und zugedröhnten Mutter U-Bahn. Vev war bei ihrem Vater Milan und seiner neuen Frau Nati mit ihren beiden Töchtern. Sonja tut alles, um ihrer Tochter Vev wehzutun, sie vor allen anderen, die in der U-Bahrn mitfahren, blosszustellen, ihrer Tochter verbal an die Gurgel zu gehen. Schon im ersten Kapitel eine Szenerie, die über die Schmerzgrenze hinausgeht. Vevs Mutter Sonja ist bei ihrem Neuen untergekommen, nachdem sie ihre Wohnung verloren hatte, einem Grossen, der sich „The Dude“ nennt, die Dinge energisch in die Hand zu nehmen scheint und Sonjas Leben retten will. In eine Wohnung, in der im Schlafzimmer auf dem Boden ein paar Besoffene am Morgen nicht mehr wissen, wie sie dahin gekommen sind. Sonja ist noch jung, noch schön. Das weiss sie. Und „The Dude“ gross, stark und grosszügig. Nur Vev weiss nicht, wie und ob sie ihre Mutter lieben soll und kann.

Genauso wie ihren Vater Milan, der auch mit seiner neuen Familie nichts auf die Reihe bringt. Schon gar nicht, dass er sich endlich von seiner schnödenden Mutter abnabelt, die ihm immer noch jeden Monat einen weissen Umschlag mit Geld übergibt, obwohl sie kaum etwas an Milans neuer Familie goutieren kann. Milan weiss; Arbeit ist Scheisse, arbeiten tun die anderen. Milans Neue heisst Nati, eine Krankenschwester, Milans Retterin, «ihr eigener Diktator». Und Maja, die ältere von Natis Töchtern, Vevs neue Halbschwester, eine, die allzu gerne in Vevs angerissenem Leben bohrt.

Vev ist alleine, nirgends zuhause, hin- und hergerissen zwischen kaputten Welten. Sie durchschaut das Spiel der Erwachsenen, lernt durchzustehen, auszuhalten, wegzuhören. 

Es gibt aber sehr wohl Gründe, sich dem schmalen aber schweren Roman Monika Helfers auszusetzen. Zum einen ist da die Sprache, der klare Blick, sind es die prägnanten, oft kurzen Sätze. Monika Helfer schlüpft nicht in die verschiedenen Perspektiven, sondern erzählt mit zarter Distanz und einem sicheren Gespür für Dialoge und die Konzentration auf Höhe- und Tiefpunkte. Sie rührt nie im sentimentalen Topf, bleibt trocken, ohne spröde zu sein und verstärkt dadurch bei mir das Gefühl von Nähe und Unmittelbarkeit. 

Monika Helfer beschreibt Szenerien eines aus den Fugen geratenen Lebens, Szenen, die nichts künstlich zuspitzen und doch dramatisieren.

Zum andern spricht aus der Art und Weise, wie Monika Helfer erzählt, viel Respekt all jenen gegenüber, die verdammt sind, in diesen Welten leben zu müssen. Monika Helfer schlägt kein Kapital aus kaputten Existenzen, um eine gute Story erzählen zu können.

«Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» ist wie im Titel des Romans unmissverständlich die Aufforderung hinzuschauen, wo man sonst gerne wegschauen würde.

© Stefan Kresser / Deuticke Verlag

Monika Helfer wurde 1947 in Au (Bregenzerwald) geboren und lebt als Schriftstellerin in Hohenems, Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, u.a. «Bevor ich schlafen kann» (2010) und «Die Bar im Freien» (2012). Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, u.a. dem Robert-Musil-Stipendium 1996, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1997 und dem Johann-Beer-Literaturpreis 2012.

Titelfoto: Sandra Kottonau