«Das beste Buch gibt es nicht.» Dorothee Elmiger ist Trägerin des Schweizer Buchpreises 2025 #SchweizerBuchpreis 25/09

Wenig überraschend, aber dafür überzeugend, steht Dorothee Elmiger im Blitzlicht auf der Bühne zum Schweizer Buchpreis. Für einmal werden sich alle Kommentare einig sein. Der Preis ist verdient!

Sie habe sich sehr lange geweigert, zu erzählen.
Das sind erstaunliche Worte einer Schriftstellerin.

Vielleicht denken Sie, ich rede jetzt von jener Schriftstellerin, die in dem Roman Die Holländerinnen in einer Poetikvorlesung von ihrem Scheitern im Erzählen spricht.

Ja, auch diese fiktive Schriftstellerin misstraut der Sprache. Aber genauso tut es Dorothee Elmiger. Sie ist es, die das Erzählen nach eigenen Aussagen verweigert habe. Aber Dorothee Elmiger wäre kaum Schriftstellerin, wenn sich das Erzählen nicht doch aufgedrängt hätte.

In Die Holländerinnen schickt sie eine zusammengewürfelte Theatergruppe, angeführt von einem exzentrischen Theatermacher, in den mittelamerikanischen Urwald. Die Truppe folgt den Spuren zweier verschollener Studentinnen. Doch hier wird kein Kriminalfall gelöst. Stattdessen erlebt die Reisegruppe, wie im Dickicht des Dschungels jeder rote Faden ausfranst und abreist und wie das vertraute Erzählen unmöglich wird.

Nicht erzählen können – ein Horror-Szenario, nicht nur in der Literatur. «Der Horror liege naturgemäss ausserhalb der Sprache», heisst es im Roman. Es grenzt also an Verzweiflung, dass sich die Theatergruppe grauenerregende Geschichten erzählt, um den Schrecken zu bannen. Es sind Geschichten ohne Pointen und ohne Erkenntnis von verendenden Ziegen, einem brutal gebändigten Pferd oder verschwundenen Menschen. Dorothee Elmiger umkreist die Gewalt, zu der unsere Gesellschaft fähig ist und sie beschwört das Unheimliche, das sich jeder Darstellung entzieht.

Zurück bleibt das beklemmende Gefühl, dass die Bedrohung lauert. Es ist ein Gefühl, das für unsere Gegenwart steht. Somit gelingt Dorothee Elmiger das Meisterstück, mit Sprache, die Wirklichkeit spürbar zu machen, indem sie «nicht» aufzeigt und «nicht» erzählt.

Das muss man sich als Schriftstellerin erst einmal trauen.

Auch mutig in der Gegenwartsliteratur: der Konjunktiv I. In der indirekten Rede schildert eine Erzählinstanz, wie die Schriftstellerin darüber spricht, was jemand gesagt habe, was anderen widerfahren sei. Was in der Theorie verschachtelt klingt, erzeugt beim Lesen einen Rausch.
Und: der Konjunktiv öffnet Assoziations-Räume – ganz ähnlich den Nachtaufnahmen zweier verschollener Frauen: Wie haben sich die Dinge tatsächlich zugetragen? Könnte alles ganz anders gewesen sein? Mit der Möglichkeitsform tastet sich die Autorin an die Grenzen dessen, was Sprache fassen kann.

Zu Hilfe kommen herbeizitierte Wegbegleiter: Adorno und Horkheimer, Benjamin und Bernhard, Herzog und Coppola. Dorothee Elmiger tritt klug und mit einer Spur Ironie in Verbindung mit dem Kanon. Aber ist ihr Roman deshalb nur Lektüre für Fachleute aus Germanistik, Soziologie und Filmwissenschaft?

Nein. Denn ob mit oder ohne Rückgriff auf intellektuelle Traditionen ist dieser Roman vor allem eines: extrem spannend. Die Holländerinnen zu lesen, ist ein sinnliches Erlebnis. Die «Furcht», die «atmosphärische Störung» und das «Gefühl, es sei etwas aus dem Lot geraten» spüren wir Leserinnen und Leser körperlich.

Über Die Holländerinnen wurde in den letzten Monaten viel gesagt und viel geschrieben. Vor allem lobendes. Es hiess aber auch, in diesem Roman stecke wenig Zuversicht. Dem möchte ich widersprechen: Dorothee Elmiger durchbricht das runde, schlüssige Erzählen. Damit schafft sie Grund zur Hoffnung, dass wir der Wirklichkeit näherkommen, wenn wir das Geschichtenerzählen hinterfragen, neudenken und weiterentwickeln.

Liebe Dorothee Elmiger, ich gratuliere Ihnen im Namen der ganzen Jury herzlich zum Schweizer Buchpreis.
Tim Felchlin, November 2025

Illustrationen Lea Le / literaturblatt.ch

Wer gewinnt den Schweiter Buchpreis 2025? #SchweizerBuchpreis 25/08

Vielleicht verfolgen sie die Verleihung der Buchpreise in unseren Nachbarländern. Mein Fazit: Die GewinnerInnen feiern ihr Buch und den Preis als einen Lohn, als Bestätigung, als Schubkraft zum Weiterschreiben. Die NichtgewinnerInnen buchen ihren «Trostpreis»allzuoft ab als Zeichen reinen Kommerzes.

In einem kurzen Interview mit Marlene Streeruwitz im Zusammenhang mit der diesjährigen Verleihung des Österreichischen Buchpreises, bei dem sie mit ihrem Roman «Auflösungen» eben nicht mit dem Österreichischen Buchpreis beehrt wurde, meinte die Schriftstellerin (sinngemäss) schmallippig: Das ist kein Literaturpreis, sondern ein Kommerzpreis, ein Verkaufspreis. Gewonnen hat der 1968 in Bulgarien geborene und 1990 nach Österreich geflohene Dimitré Diner mit seinem über 1000 Seiten schweren Opus Magnum «Zeit der Mutigen».

Die immer gleiche ungute Situation nach der Verleihung des Buchpreises: Fünf Autorinnen und Autoren sitzen in der ersten Reihe und nach Bekanntgabe der Preisträgerin, des Preisträgers blitzen die Kameras nur noch in ein einziges Gesicht. Den «Verschmähten» wird mit Bedauern auf die Schulter geklopft. Man steht noch eine Weile verloren neben den vielen Stuhlreihen, während auf oder neben der Bühne das grosse Feiern schon begonnen hat, Mikrofone erste Reaktionen auffangen und sich eine Traube um die Glücklichen bildet.

Stimmt, getragen wird der Preis auch vom SBVV, dem Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband, einem Dienstleister der Buchbranche, einer Institution, die in erster Linie an optimalen Verkaufszahlen interessiert ist. Aber diesen Preis auf reinen Kommerz zu reduzieren, ist nicht richtig, denn die Jury ist unabhängig, besetzt ausschliesslich von KennerInnen der hiesigen Literatur, von Fachleuten, die an Literatur interessiert sind, auch wenn ihre Entscheide, wie alle Juryentscheide, niemals von allen nachvollziehbar sind.

Klickt man sich auf der Webseite des Schweizer Fernsehens auf die letzten Umfragen zum Schweizer Buchpreis, findet man eine Resultate, die überraschen:

vom 13. November 2025

Ich bin überzeugt, das Dorothee Elmiger den Schweizer Buchpreis entgegennehmen wird. Ihr Buch hat alles; Tiefe, Gewicht, Geheimnis, eine ganz eigene Sprache und Stoff genug, um stundenlang darüber nachzudenken oder zu diskutieren. Nicht dass der Roman von Jonas Lüscher das alles nicht auch hätte. Aber sein Roman ist verschlüsselter. Er wolle nicht unterhalten, erklärte Jonas Lüscher. Auch der Roman von Meral Kureyshi. Aber ihr Roman bleibt kleinräumiger, zarter.

Eine grosse Überraschung bei dieser Umfrage ist der Roman von Melara Mvogdobo «Die Grossmütter». Und doch ist die Umfrage keine Überraschung. Das Voting ist eine Manifestation der Sympathie. Zu gleichen Teilen der Autorin, wie ihrem Buch gegenüber. Melara Mvogdobo gibt zwei Frauen eine Stimme, die nur durch viel Kraft nicht stumm bleiben oder stumm gemacht wurden. «Die Grossmütter» ist eindeutig, unmissverständlich, direkt und messerscharf.

mehr zum Schweizer Buchpreis

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

 

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser #SchweizerBuchpreis 25/07

Es gibt sie, die Autor*innen, die sich trauen, die nicht den üblichen Erzählkonventionen entlangschreiben, die nicht in erster Linie unterhalten wollen, sondern Leser*innen und Lesegewohnheiten aufbrechen. Neben Jonas Lüscher und Christian Kracht glänzt Dorothee Elmiger mit ihrer Expedition in menschliche Tiefen.

Es gibt Schreibende, die mich nicht wegen ihrer Geschichten faszinieren, sondern wegen ihrer Bilder, ihrer Sprache, ihrer Wucht, ihrem Sperren gegen das Konventionelle. Bei Dorothee Elmiger fasziniert alles; die Geschichte, die sich immer wieder spiegelt, die nicht nur inhaltlich an Filme von Werner Herzog erinnert, sondern auch in der Intensität ihrer Bilder. Dann die Sprache, das Mäandern in Satzkaskaden, von denen ich mir kaum vorstellen kann, wie und in welcher Intensität sie geschrieben werden mussten. Das Buch liest sich phasenweise so, als hätte Dorothee Elmiger die Fähigkeit, in einem unendlich langen Atem Satz an Satz aneinanderzureihen, abzusinken in die Tiefen einer Szenerie, weit hinauf oder tief hinunter. Als hätte sie tief eingeatmet und in einem Guss geschrieben, wofür anderen niemals die Luft reichen würde. Sie spielt mit der Sprache, die Sprache spielt mit ihr. Klar will Dorothee eine Geschichte erzählen. Aber es ist die Geschichte einer Frau, die sich verloren hatte, die Geschichte des Sich-Verlierens. Die Geschichte einer Frau, die in der Kulisse, in den Bildern absinkt, die ihr Leben fast verloren hätte.

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28298-8

Die Frau erzählt die Geschichte auf der Bühne, hinter einem Mikrophon, vor Zuhörer*innen, einem ganzen Saal. Sie erzählt von einem Anruf eines Theatermachers, der sie zu einem ganz besonderen Projekt eingeladen hat, ihr den Auftrag gegeben hatte, das Geschehen, das Gesprochene, das Herausgefundene aufzuschreiben, festzuhalten, zu protokollieren. Ein Theaterprojekt mit dem Titel „Die Holländerinnen“. Der Theatermacher, der weitab im Urwald, zwischen den Wendekreisen am Meer, wie damals Werner Herzog mit Klaus Kinski „Fitzgeraldo“ oder „Aguirre der Zorn Gottes“, ein Theaterprojekt realisieren will, lädt eine ganze Truppe von Menschen in die Abgeschiedenheit ein, einen „Fall“ nachzuspielen, jenen der Holländerinnen. Man sammelt sich und macht sich gemeinsam auf, wobei niemand eine wirkliche Ahnung davon zu haben scheint, wo das Abenteuer hingehen soll, auch der Theatermacher selbst nicht. Man will eine Geschichte entstehen lassen. Man werde sich im Laufe der Arbeit verdoppeln, ja vervielfachen, es würden, im besten Falle, andere, verschüttete Teile ihrer selbst zum Vorschein kommen.

Sie selbst, die auf der Bühne steht und erzählt, von ihrem Manuskript liest, hatte die Aufgabe, als Protokollantin eine Mitschrift dieser Tage anzufertigen, eine Mitschrift, die im Grunde alles enthalte, ALLES, in Grossbuchstaben… Eine Aufgabe, die ihr in diesen seltsamen Tagen weit ab aller Zivilisation alles abverlangt, in der jede Begegnung, selbst ein ausrangierter Kühlschrank, den man an einer Halde entsorgte, eine Kaskade von Erinnerungen und Assoziationen auslöst. Geschichten, die andere, die Mitreisenden erzählen, Geschichten, die sie sich selbst erzählt. Auf den Spuren jener Frauen aus der holländischen Stadt Leiden, die damals auf ihrer Reise ohne Ende am selben Ort wie sie vor Ort gewesen waren, einer Reise auf den Spuren einer anderen Reise. Als hätte sich die mittelalterlichen Erzählungen „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer in eine undurchsichtige Gegenwart transformiert.

Was in diesem seltsamen, geheimnisvollen, rätselhaften Roman so bestechend ist, ist die Sprache, Dorothee Elmigers Kunst, sich einem Sprachrausch hinzugeben, der sich aller Schreib- und Erzählstrategie verweigert. Dorothee Elmigers Buch wabert an den Grenzen von Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Es riecht nach der Feuchte des Urwaldes, schildert eine Gruppe loser miteinender verbundener Menschen, die dem Theatermacher in fast messianischem Gehorsam folgen. Man lauscht den kryptischen Äusserungen dieses Mannes, staunt darüber, wozu Menschen bereit sind, wenn sie der Überzeugung sind, an etwas Aussergewöhnlichen, Besonderen teilhaben zu können.

Wer plottgesteuert liest, wird von Dorothee Elmigers neustem Husarenstück enttäuscht sein. „Die Holländerinnen“ ist weder Strand- noch Einschlaflektüre. Ihr Buch setzt sich fest, nistet sich ein. Ihr üppiger Sound macht trunken. Wären Elmigers Sprachbilder Gemälde, dann erinnern sie an jene von Anselm Kiefer. Auch wenn Dorothee Elmiger bereits Trägerin des Deutschen Buchpreises 2025 ist, ist «Die Holländerinnen» für mich ein grosser Favorit um den Schweizer Buchpreis 2025! Auch wenn das Buch nicht für ein Publikum geschrieben ist, dass sich bloss wegtragen und unterhalten lassen will. Dieser Roman ist ein Diamant, der in den verschiedensten Farben funkelt!

Dorothee Elmiger, geboren 1985 in der Schweiz, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in New York. Ihre Bücher «Einladung an die Waghalsigen» (2010), «Schlafgänger» (2014) und «Aus der Zuckerfabrik» (2020) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für die Bühne adaptiert und vielfach ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Jonas Lüscher „Verzauberte Vorbestimmung“, Hanser #SchweizerBuchpreis 25/04

Die Lektüre des neuen Romans von Jonas Lüscher entlässt mich mit sehr gemischten Gefühlen. So wie ich vieles im Roman nicht einordnen kann, so kann ich nicht einmal den Titel „Verzauberte Vorbestimmung“ einordnen. Aber vielleicht ist genau das Prinzip „Einordnungsversuch“ der Schlüssel zu Jonas Lüschers Roman. 

Lieber Bär

Jonas Lüscher schrammte während der Covid-Pandemie knapp am Tod vorbei. Er ist ein Gezeichneter. Ich begegnete ihm nach seiner Krankkeit in Leukerbad am dortigen Literaturfestival, wo er Auszüge aus einem Manuskript las. Als wir uns auf der Strasse begegneten, miteinander sprachen, traf ich einen ganz anderen Jonas Lüscher wie vor der Pandemie; verletzlich, dünnhäutig, vorsichtig. Damals auf der Intensivstation stand eine ganze Batterie von Maschinen um das Bett des Schriftstellers, der währnd bestimmter Phasen schon glaubte, in den Prozess des Sterbens übergegangen zu sein. Das beschreibt Jonas Lüscher in seinem Roman, wenn auch erstaunlich zurückhaltend. Er war ganz und gar abhängig von Maschinen, die lebenswichtige Körperfunktionen übernahmen. Es muss eine ganz eigene Erfahrung sein, dass man sein physisches Dasein Geräten übergeben muss, dass man in Phasen maximaler Empfindsamkeit zu einem eigentlichen „Cyborg“ wird, unfreiwillig.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist  ein Konglomerat aus verschiedensten Handlungssträngen und Personen, Handlungssträngen, die sich überschneiden und solchen, die sich wieder verlieren. Personen, die über Dutzende von Seiten zentral erscheinen, dann aber nie mehr auftauchen. Einzige Konstanten in dem Buch sind der suchende Erzähler und der Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Filmemacher Peter Weiss, der sich mit seinem Spätwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ ein literarisches Denkmal setzte. Eine Figur in Lüschers Roman, die in ganz unterschiedlichen Zuständen und Erzählebenen auftaucht. Wie Lüscher selbst ein ewig Suchender, seine Kunst ein einziger Versuch des Einordnens. Eine andere Konstante in Lüschers Roman ist die Auseinandersetzung mit Technik, mit Maschinen, sei das die Maschinerie der modernen Kriegsführung, jene der Industrialisierung, der Medizin bis in die Architektur des Grossenwahns, wenn der Erzähler im Ägypten der Zukunft zwischen der perfekten Retorte und dem Realen, Vergessenen pendelt.

Jonas Lüscher «Verzauberte Vorbestimmung», Hanser, 2025, 352 Seiten, CHF, ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28304-6

Das Buch beginnt mit Knall und Rauch. Ich erinnere mich an einen Kinobesuch zusammen mit meiner Frau vor vielen Jahren. Ich überredete sie zum Film „Der mit dem Wolf tanzt“, ein Streifen, der mit einem minutenlangen Schlachtgemetzel beginnt. Ich musste meine Frau während Minuten trösten, zurückhalten, beschwichtigen und besänftigen, damit die dem Kino nicht entfloh.  Genauso ging es ihr mit «Verzauberte Vorbestimmung» (Übrigens ein Titel, der angesichts des Romananfangs arg strapaziert!). Jonas Lüscher beschreibt die Erlebnisse eines algerischen Soldaten während des ersten Weltkriegs in den Schützengräben gegen die Deutschen. Den ersten strategischen Giftgasangriff, das Herannahen eine beinah fluoreszierenden Wolke, in der alles grausam erstickt, Menschen mit schrecklich verzerrten Fratzen tot zusammenbrechen. Eine apokalyptische Szenerie, die eigenartig fesselt und ebenso abschreckt. Aber wer sich an die Fersen dieses algerischen Soldaten heftet, verliert ihn wieder, obwohl er Jahre später in Paris zum Postboten geworden ist. Ein Erzählstrang, der wie viele andere aus dem Meer der Möglichkeiten auftaucht und wieder versinkt. So wie die Geschichte eines anderen Postboten, des Franzosen Joseph Ferdinand Cheval, der zwischen 1879 und 1922 an seinem „Palais idéal“ baute, aus gesammelten Steinen, auf einem Grundstück weitab, einem Monument, das Künstler wie Max Ernst und Pablo Picasso faszinierte und bis heute viele Touristen lockt. Oder sie Geschichte von Ned Ludd im tschechischen Varnsdorf, einem Ort der aufblühenden Textilindustrie. Ein Aufstand der Arbeiter, einer Frauenrevolte, einem Fabrikgrossbrand. Eine Geschichte, die Lüscher in ganz eigener Sprache, beinah märchenhaft erzählt. Eine Geschichte, bei der es aber weder um das Personal noch um die Geschichte selbst geht.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine literarische Auseinandersetzung. Sprachgewandt, plottabgewandt. Lüscher will weder unterhalten noch betäuben. Er nimmt mich mit in seine Odyssee, in ein Labyrinth, von dem nicht einmal er selbst das Ziel, die Mitte gefunden hat. Ein literarischer Stoffknäuel mit vielen Anfängen und Enden, ein Flickenteppich aus Fragmenten, Zuständen und Erzählebenen, der von mir alles abfordert, viel mehr, als ich bei fast allen Autorinnen und Autoren zulassen würde. Jonas Lüscher schreibt mit der Membran eines Überempfindlichen, eines Hochsensiblen, eines Verwundeten, Gezeichneten. 

Ich tat mich schwer mit der Lektüre, obwohl es immer wieder lange Passagen der Beglückung gab, nicht zuletzt dank seiner Sprachkunst. Ich werde Zeuge dieser Hypersensibilität. Und wenn ich die Lektüre zu einer solchen Zeugenschaft machen kann, dann lese ich mit grösstem Interesse und unsäglichem Staunen.

Liebe Grüsse

Gallus


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Lieber Gallus

Ich habe bisher keinen Roman von Jonas Lüscher gelesen, aber schätze seine klugen Gespräche über unsere Gesellschaft und deren Zukunft in verschiedenen Medien.  So interessierte ich mich sehr für seinen neuen Roman. Wegen einer vernichtenden Kritik in einer Innerschweizer Zeitung vor der ersten Lesung in der Schweiz war ich verunsichert, ob ich dieses Werk lesen soll, habe dann aber das Buch trotzdem gekauft. Wie reich wurde ich belohnt! Hilfreich war die Lektüre seiner Poetik-Vorlesungen von 2019 «In die Erzählung flüchten», wo das «Oszillieren zwischen mathematisch messbarer Wissenschaft und erzählender Literatur, zwischen Aufklärung und Romantik» ausführlich besprochen wird. 

Obwohl die Lektüre von «Verzauberte Vorbestimmung» anspruchsvoll ist, habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Dass sich vieles nicht einordnen lässt, gefällt mir als Ausdruck der Herausforderungen und Ambivalenz des Menschen im Umgang mit Maschinen. Das in fünf Teile gegliederte Werk zeigt mehrere Erzählstränge, die abbrechen, wieder auftauchen und inkonstant durch die verschiedenen Abschnitte führen. Auch die Zeitebenen wechseln oft ohne Übergang, beginnen im Ersten Weltkrieg und enden in der Nach-Putin Ära. Die Auswirkungen der Macht der Technik und des Geldes auf die Menschen bestimmen in vielfältiger Weise den Text. Zum Beispiel die Veränderung des Ertrags der Arbeit an neuen Webstühlen in der Fabrik im Vergleich zu der an der Heimarbeit:
Sein Staunen über die Zahlen, die sich da untereinander reihten, Beträge, die ihm vor kurzem noch fantastisch erschienen waren, fand kein Ende. Es war ihm, als täten sich ganz neue Möglichkeiten, eine Ahnung eines anderen Lebens, vor ihm auf, und mit diesem weiten Horizont, der aber bei genauerer Betrachtung nur aus dem Wort «mehr» bestand, einem Begriff, den er nicht in der Lage war, mit konkreten Vorstellungen zu füllen, kam die Gier in sein Leben.

Mehrere Kapitel werden durch Peter Weiss, Maler, Autor, Filmer, der als Alter Ego auftritt, miteinander vernetzt. Sein frühes Gemälde «Die Maschinen greifen die Menschen an» stellt bildhaft die Ambivalenz des Verhältnisses Mensch- Maschine dar. Mit Peter Weiss besuchen wir auch den «Palais Idéal» vom Briefträger Cheval in Hauterives und die Weber im tschechischen Varnsdorf.

In den letzten zwei Kapiteln befinden wir uns im futuristischen Ägypten mit Cyborgs, Mensch-Maschinen, und Androiden, umgeben vom grössenwahnsinnigen architektonischen Gebilde New Kairo, herausgestampft aus der Wüste, absurd und eklektisch mit einem geplanten 1000 Meter hohen Wohn-Obelisken. Vor einem Jahr war ich in Ägypten auf den Spuren der Pharaonen und deren Grabstätten, 4000 Jahre alt und noch in besten Farben leuchtend, daneben Kairo und Alessandria als verkommene Moloche voll Lärm, Armut und Müll neben hochglanzpolierten Inseln für die Touristen. Aus dem Flugzeug konnte ich damals einen Blick auf die New Administrative Capital werfen. Mich beschäftigten und belasteten diese Gegensätze sehr. Literarisch drückt Jonas Lüscher dies so aus:

Für einen Moment war ich in der Lage gewesen, die pittoreske und exotische Seite dieser mir fremden Landschaft und dieser mir fremden Menschen mit ihren mir fremden Leben zu sehen, aber bald war es nur noch die Armut, manchmal sogar die schiere Not, die sich mir aufdrängte, und die neue Stadt in der Wüste, durch die ich mich noch keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte fahren lassen, erschien mir grotesk weit weg, und doch war es dasselbe Land, unbegreiflicher noch, dieselbe Regierung, die für beides verantwortlich war, und so unbegreiflich mir dies in jenem Moment schien, so einfach zu verstehen war der ökonomische Mechanismus, der die beiden Realitäten miteinander verband, die sechzig Milliarden, die sich der Feldmarschall aus China  und den Golfstaaten geliehen hatte, um seinen Traum zu bauen, und der sinkende Wert des ägyptischen Pfunds, der das Elend der Menschen, die ich vor dem Fenster an mir vorbeiziehen sah, Tag für Tag vergrösserte und ein Entrinnen unwahrscheinlicher machte.

Das zentrale Thema, das Überleben seiner schweren Covid Erkrankung im wochenlangem Koma auf der Intensivstation dank neuester Technik kommt, nach kurzem Anklingen am Anfang des Buches, erst im letzten Teil zur Sprache: Ein «Gespräch» zwischen einem Taxifahrer ohne Englischkenntnisse und dem Protagonisten ohne Arabischkenntnisse mittels Google-Translater führt zum Nachdenken über die Technik-Skepsis des Autors, der als wahrer Cyborg seine Covid Erkrankung nur dank der Herz-Lungen-Maschine überleben konnte. Diese Erfahrung prägte sich tief ein, Personen die im Koma wie in einem Traum vorhanden waren, werden nach dem Aufwachen wie Verstorbene vermisst. 

Dieser in seiner Struktur und in seiner Sprache einzigartige Roman umfasst die Zeitspanne von 1914 bis in die Zukunft, wo Cyborgs, also Mensch-Maschinen, ans Weltwissen angeschlossen sind. Die Beziehung von Menschen und Maschinen, deren grossartige Möglichkeiten, aber auch deren potenzielle Gefahren, zieht als roter Faden durch dieses Buch. Es endet mit hoffnungsvollem Ausblick.

Die Anregungen und die Auseinandersetzung mit diesem Buch werden mich noch lange begleiten. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser!

Herzlich 

Bär

Jonas Lüscher wurde 1976 in der Schweiz geboren, er lebt in München. Seine Novelle Frühling der Barbaren war ein Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Lüschers Roman «Kraft» gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt ausserdem u.a. den Hans-Fallada-Preis, den Prix Franz Hessel und den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich. Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Echte Perlen? #SchweizerBuchpreis 25/01

Schweizer Buchpreis 2025 – das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer:innen oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autori:nnen. Ist das möglich? Kann das eine Jury bestimmen? Gibt es das eine, beste Buch? Was sind die Kriterien für das beste Buch?

Ich bin mir sicher, dass die Jury mit Tim Felchlin, Literaturredaktor und Kulturjournalist, Martina Läubli, Kulturjournalistin, Simone Nuber, Master of Science, Isabelle Vonlanthen, stellvertretende Leiterin des Literaturhauses Zürich und Manuela Waeber, freie Lektorin alles daran setzen, die Nominierungen und die Wahl zum Schweizer Buchpreises möglichst objektiv aussehen zu lassen, würden doch deutliche Fehlentscheidungen die Glaubwürdigkeit eines solchen Prädikats „bestes Buch“ noch mehr in Frage stellen. Aber das beste Buch gibt es nicht. Die Frage scheitert an mehreren Punkten. Auch wenn es Leute aus dem Literaturbetrieb gibt, die der Überzeugung sind, dass es unauslöschliche Kriterien für gute Literatur gibt. Gute Literatur zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, tiefgründige Wahrheiten über die menschliche Erfahrung zu vermitteln, starke emotionale Reaktionen hervorzurufen und die Zeit zu überdauern. Sie zeichnet sich durch gut entwickelte Charaktere, fesselnde Handlungen und eine reiche, nuancierte Sprache aus. Aber wer bestimmt, was tiefgründig ist? Ist es nicht so, dass emotionale Reaktionen ganz unterschiedlich ausfallen können, nicht nur in der Kunst. Was ist „nuancierte“ Sprache? Wülstig mit Sicherheit nicht. Schon gar nicht sichtbar durch die Anzahl von Adjektiven.

Vielleicht muss ich ganz persönlich auf die Frage antworten, was gute Literatur zumindest für mich sein kann: Sie muss mich fesseln. Sie muss mich überraschen. Sie muss mich in irgend einer Form provozieren. Sie muss in mir einen Nachhall erzeugen, muss sich in mir festhaken. Der Sound muss musikalisch sein. Ich soll bewegt werden… Ich könnte die Liste noch weiterführen, ohne je den Anspruch zu haben, eine solche Liste habe Allgemeingültigkeit. Robert Walser wurde wie Franz Kafka zu Lebzeiten nur von wenigen beachtet und geschätzt, am wenigsten vom Buchmarkt. Oder umgekehrt; Kennen sie John Knittel? Der Schweizer Schriftsteller war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, starb 1970. Heute kennt ihn kaum mehr jemand. Vergessen. Kennen sie Ruth Blum? Die Schaffhauserin starb 1975. Ich kaufte alle ihre Bücher in Antiquariaten und war hell begeistert. Vergessen. Noch so eine lange Liste.

Das beste Buch! Warum ist unter den Nominierten nicht „Sommerschatten“ von Urs Faes? Oder „Walzer für niemand“ von Sophie Hunger? Oder „Sechzehn Monate“ von Fabia Andina? Hört die Schweiz an den Sprachgrenzen auf?Schweizer Buchpreis? Oder „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger? Warum nicht einmal Lyrik in der Liste der Nominierten? Weil man der Lyrik kein Scheinwerferlicht zutraut? Weil sich damit keine Verkaufszahlen generieren? (Hut ab vor allen Verlagen, die sich noch immer tapfer trauen, Lyrik zu drucken!) Die Liste jener Bücher, die es auch verdient hätten, wird mit der Intensität des Lesens nicht kürzer. Auch das Unverständnis über diese Versäumnisse. Zudem muss man wissen, dass sich etliche Grössen der hiesigen Literatur durch ihre Verlage gar nicht mehr zur Wahl stellen wollen.

Immerhin stehen für einmal keine Debüts in der Liste. Wie soll ein Debüt eine Chance haben neben einem Buch eines literarischen Schwergewichts? Und Schwergewichte sind in der Liste der Nominierten sehr wohl vertreten: Mit Sicherheit die erst 40jährige Dorothee Elmiger, die mit ihrem Roman „Die Holländerinnen“ auch in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht. Und zweifelsohne Jonas Lüscher. Meral Kureyshi schaffte es mit ihrem Debüt „Elefanten im Garten“ vor 10 Jahren auf die Liste der Nominierten und gilt seither als wichtige Stimme der CH-Literatur. Von Melara Mvogdobo las ich vor ein paar Jahren ihr Debüt „Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden“ und konnte mich nicht wirklich begeistern lassen, genauso wie vom Debüt „Anton will bleiben“ von Nelio Biedermann. Dass ihre Folgeromane von ganz anderer Qualität sind, darüber lässt sich streiten, zumal „Lásár“ in einer Weise gehypt wurde und wird, die jede Verhältnismässigkeit vermissen lässt.

Meine Meinung war ziemlich schnell gemacht.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser

Es gibt sie, die Autor*innen, die sich trauen, die nicht den üblichen Erzählkonventionen entlangschreiben, die nicht in erster Linie unterhalten wollen, sondern Leser*innen und Lesegewohnheiten aufbrechen. Neben Jonas Lüscher und Christian Kracht glänzt Dorothee Elmiger mit ihrer Expedition in menschliche Tiefen.

Es gibt Schreibende, die mich nicht wegen ihrer Geschichten faszinieren, sondern wegen ihrer Bilder, ihrer Sprache, ihrer Wucht, ihrem Sperren gegen das Konventionelle. Bei Dorothee Elmiger fasziniert alles; die Geschichte, die sich immer wieder spiegelt, die nicht nur inhaltlich an Filme von Werner Herzog erinnert, sondern auch in der Intensität ihrer Bilder. Dann die Sprache, das Mäandern in Satzkaskaden, von denen ich mir kaum vorstellen kann, wie und in welcher Intensität sie geschrieben werden mussten. Das Buch liest sich phasenweise so, als hätte Dorothee Elmiger die Fähigkeit, in einem unendlich langen Atem Satz an Satz aneinanderzureihen, abzusinken in die Tiefen einer Szenerie, weit hinauf oder tief hinunter. Als hätte sie tief eingeatmet und in einem Guss geschrieben, wofür anderen niemals die Luft reichen würde. Sie spielt mit der Sprache, die Sprache spielt mit ihr. Klar will Dorothee eine Geschichte erzählen. Aber es ist die Geschichte einer Frau, die sich verloren hatte, die Geschichte des Sich-Verlierens. Die Geschichte einer Frau, die in der Kulisse, in den Bildern absinkt, die ihr Leben fast verloren hätte.

Dorothee Elmiger «Die Holländerinnen», Hanser, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-28298-8

Die Frau erzählt die Geschichte auf der Bühne, hinter einem Mikrophon, vor Zuhörer*innen, einem ganzen Saal. Sie erzählt von einem Anruf eines Theatermachers, der sie zu einem ganz besonderen Projekt eingeladen hat, ihr den Auftrag gegeben hatte, das Geschehen, das Gesprochene, das Herausgefundene aufzuschreiben, festzuhalten, zu protokollieren. Ein Theaterprojekt mit dem Titel „Die Holländerinnen“. Der Theatermacher, der weitab im Urwald, zwischen den Wendekreisen am Meer, wie damals Werner Herzog mit Klaus Kinski „Fitzgeraldo“ oder „Aguirre der Zorn Gottes“, ein Theaterprojekt realisieren will, lädt eine ganze Truppe von Menschen in die Abgeschiedenheit ein, einen „Fall“ nachzuspielen, jenen der Holländerinnen. Man sammelt sich und macht sich gemeinsam auf, wobei niemand eine wirkliche Ahnung davon zu haben scheint, wo das Abenteuer hingehen soll, auch der Theatermacher selbst nicht. Man will eine Geschichte entstehen lassen. Man werde sich im Laufe der Arbeit verdoppeln, ja vervielfachen, es würden, im besten Falle, andere, verschüttete Teile ihrer selbst zum Vorschein kommen.

Sie selbst, die auf der Bühne steht und erzählt, von ihrem Manuskript liest, hatte die Aufgabe, als Protokollantin eine Mitschrift dieser Tage anzufertigen, eine Mitschrift, die im Grunde alles enthalte, ALLES, in Grossbuchstaben… Eine Aufgabe, die ihr in diesen seltsamen Tagen weit ab aller Zivilisation alles abverlangt, in der jede Begegnung, selbst ein ausrangierter Kühlschrank, den man an einer Halde entsorgte, eine Kaskade von Erinnerungen und Assoziationen auslöst. Geschichten, die andere, die Mitreisenden erzählen, Geschichten, die sie sich selbst erzählt. Auf den Spuren jener Frauen aus der holländischen Stadt Leiden, die damals auf ihrer Reise ohne Ende am selben Ort wie sie vor Ort gewesen waren, einer Reise auf den Spuren einer anderen Reise. Als hätte sich die mittelalterlichen Erzählungen „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer in eine undurchsichtige Gegenwart transformiert.

Was in diesem seltsamen, geheimnisvollen, rätselhaften Roman so bestechend ist, ist die Sprache, Dorothee Elmigers Kunst, sich einem Sprachrausch hinzugeben, der sich aller Schreib- und Erzählstrategie verweigert. Dorothee Elmigers Buch wabert an den Grenzen von Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Es riecht nach der Feuchte des Urwaldes, schildert eine Gruppe loser miteinender verbundener Menschen, die dem Theatermacher in fast messianischem Gehorsam folgen. Man lauscht den kryptischen Äusserungen dieses Mannes, staunt darüber, wozu Menschen bereit sind, wenn sie der Überzeugung sind, an etwas Aussergewöhnlichen, Besonderen teilhaben zu können.

Wer plottgesteuert liest, wird von Dorothee Elmigers neustem Husarenstück enttäuscht sein. „Die Holländerinnen“ ist weder Strand- noch Einschlaflektüre. Ihr Buch setzt sich fest, nistet sich ein. Ihr üppiger Sound macht trunken. Wären Elmigers Sprachbilder Gemälde, dann erinnern sie an jene von Anselm Kiefer.

Dorothee Elmiger, geboren 1985 in der Schweiz, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in New York. Ihre Bücher «Einladung an die Waghalsigen» (2010), «Schlafgänger» (2014) und «Aus der Zuckerfabrik» (2020) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für die Bühne adaptiert und vielfach ausgezeichnet.

Gewinnerin des Deutschen Buchpreis 2025

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Georg Gatsas

Yasmina Reza «Die Rückseite des Lebens», Hanser

Yasmina Reza ist eine der bedeutendsten französischen Autorinnen der Gegenwart, spätestens seit ihren Theaterstücken „Kunst“ oder „Gott des Gemetzels“. Rezas Kunst ist mit Sicherheit die Dramaturgie. Aber in ihrem neuesten Buch mit dem Titel „Die Rückseite des Lebens“ kann man sich ganz und gar in die Sprache der Schriftstellerin verlieben, die klare Gestalt ihrer Sätze.

„Die Rückseite des Lebens“ ist keine Sammlung von Erzählungen. Es sind auch keine Betrachtungen. In den über fünfzig mehrheitlich sehr kurzen Texten mäandert Yasmina Reza zwischen Tagebucheinträgen einer Beobachterin und literarischen Kurzreportagen. Über längere Zeit besuchte die Schriftstellerin immer wieder Gerichtsprozesse, solche von Promenenten wie jenen gegen den ehemaligen französischen Präsidenten Sarkosy, aber auch solche, bei denen jene Verbrechen verhandelt werden, die es nie wegen der Personen, aber sehr wohl wegen der Art des Verbrechens in den Fokus der Öffentlichkeit schaffen. „Die Rückseite des Lebens“ ist aber nicht einfach eine Sammlung menschlicher Abgründe. Immer wieder sind ganz kleine Beobachtungen eingefügt, Momente der Freude, Begegnungen mit Bekannten und Freunden. Normalitäten, die im Kontrast mit den Ungeheuerlichkeiten, die vor Gericht verhandelt werden, in ein ganz eigenes Licht getaucht sind.

Was die Autorin an all diesen Gerichtsfällen, diesen Schicksalen, der Nähe zum Bösen interessiert, mag unterschiedliche Gründe haben. Die Sehnsucht der meisten Menschen nach Harmonie, Sonnenuntergängen, Kitsch und romantischen Gefühlen steht in krassem Widerspruch zu einer Autorin, die sich genau dorthin begibt, wo die Staatsgewalt mit den Mitteln der Justiz dem entgegentritt, was sich auf der Rückseite des Lebens zu befinden scheint. Aber was die Rückseite ausmacht, ist eine Frage des Standpunkts, der Perspektive. Dort, in den Gerichten, vor den Richtern, werden Leben ausgerollt, die kippten, die zur Gefahr für Leib und Leben wurden. Leben, die durch Fehlentscheidungen aus der Bahn liefen, aber auch Leben, die gar nie eine Chance hatten, auf die „Vorderseite“, die Sonnenseite des Lebens zu treten.

Yasmina Reza «Die Rückseite des Lebens», Hanser, 2025, aus dem Französischen von Claudia Hamm, 200 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-446-28275-9

Vielleicht sind diese literarischen Kurzreportagen, die sich nur skizzenhaft um Vollständigkeit bemühen, einen Eindruck, nie genug Zeit, um wirklich in die Untiefen menschlicher Existenzen abzutauchen, genau jene Welt, aus der Yasmina Reza sonst ihre Romane, Theaterstücke und Drehbücher schreibt. Diese Spanne zwischen scheinbarer Normalität, dem kleinen Glück bis hin zu blutgetränkten Abgründen. Als wäre dieses Buch eine literarische Bilder-, Fotoausstellung. Wer die Texte liest und sich auf das Gelesene einlässt, macht sich unweigerlich die Geschichten, die inneren Bilder selbst.

Wenn Yasmina Reza im Gerichtssaal sitzt, ist das, was sie schreibt weder Erklärungsversuch noch Sozialstudie. Yasmina Reza zeichnet literarische Miniaturen. Was den besonderen Reiz dieser Kontraste ausmacht; Reza schildert mit vollendeter Sprache das Kleine, Traurige, Abgründige, Schmerzhafte. All das, was ich als Betrachter unweigerlich mit dem Maximum an Emotionen verbinde. Nicht das Yasmina Reza ohne Empathie schreiben würde, ganz im Gegenteil. Aber sie entzieht sich jedem Urteil, jeder Erklärung. Alles, was sie schreibt, bleibt in der Sprache, in der gekonnten Schilderung all dieser Szenen, jenen im Gericht und jenen, die den Ursprung der Verhandlungen ausmachen.

Fragen wie; Was bringt ein Leben zum Kippen? Wann ist ein Leben verloren? Warum können wir nicht aufhalten, was unweigerlich auf den Abgrund zusteuert? Warum vergiftet eine Mutter ihre Kinder mit Insulin? Warum wird die Tochter von Einwanderern zur rasenden Rassistin?, interessieren die Autorin ganz offensichtlich. Aber Yasmina Reza überlässt mich beim Lesen mit den Antworten mir selbst – mit Absicht.

Manchmal sind es auch rührende Miniaturen. Wenn sie vom letzten Besuch beim grossen Schriftsteller Imre Kertész und seiner Frau erzählt, kurz vor seinem Tod. Begegnungen, die von der Verbundenheit zweier Herzen erzählen. Oder vom Schauspieler Bruno Ganz, mit dem sie öfters zusammenarbeitete, der in seinen letzten Jahren in Venedig lebte, den sie manchmal «zufällig» in den Gassen der Lagunenstadt traf. „Geschichten“ wie Tagebuchblätter, getragen von Liebe, Respekt und der Sehnsucht nach Nähe.

Yasmina Reza, 1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020, dem Premio Malaparte 2021, dem Prix de l’Académie de Berlin 2022 und dem Prix Mondial Cino del Duca 2024 ausgezeichnet. Das Theaterstück «Der Gott des Gemetzels» wurde 2011 sehr erfolgreich von Roman Polanski verfilmt, hochkarätig besetzt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly.

Claudia Hamm ist Autorin, Theatermacherin und Übersetzerin von u.a. Emmanuel Carrère, Édouard Levé, Mathias Énard, Nathalie Quintane, Joseph Ponthus und Joseph Andras. Sie ist Herausgeberin des Akzente-Doppelhefts Automatensprache (Hanser, 2024).

Beitragsbild © Carole Bellaiche

Monika Helfer «Der Bücherfreund», illustriert von Kat Menschik, Hanser

So wie es für jede Autorin, jeden Autor aus dem Hause Suhrkamp eine Adelung ist, wenn in der Insel-Bücherei ein Kleinod erscheint, so passiert mittlerweile ähnliches, wenn man in Zusammenarbeit mit der Illustratorin Kat Menschik ein Buch herausgeben kann.

Nicht nur dass Kat Menschik die erfolreichste Illustratorin im deutschen Sprachraum und damit Aufmerksamkeit garantiert ist. Die Künstlerin versteht es wie kaum eine andere, einen Text zum Glänzen zu bringen. Dabei ist Illustration eine ungenügende Kategorie, denn die Illustrationen Kat Menschiks bebildern nicht bloss das Geschriebene, die Geschichte. Kat Menschiks Bilder sind eine eigene „Tonspur“, eine überaus sinnliche Spur, die aus einem Text auf Papier ein Gesamtkunstwerk macht, ein Kunstwerk mit optischem Wiedererkennungswert. Die Bilder reissen auf und geben mir aber trotzdem so viel Freiraum in meiner eigenen Vorstellungskraft, dass sie mich weder einengen noch zudecken. Ihre Illustrationen tauchen etwas ein, hüllen in ein Licht, versinnlichen.

Monika Helfer «Der Bücherfreund», Hanser, illustriert von Kat Menschik, 80 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28273-5

Und wenn es dann die Schriftstellerin Monika Helfer ist, die sich mit ihrer biographischen Trilogie „Bagage“-„Vati“-„Löwenherz“ ins Bewusstsein vieler Lesender geschrieben hat und nun mit einem Büchlein „Der Bücherfreund“ zusammen mit Kat Menschik auf den Büchertischen auftaucht – ein sicherer Wert. Ein Buch, das mit Sicherheit meine Unterstützung nicht benötigt. Aber weil Monika Helfer mit diesem Text mein eigens Dasein, mein Leben und meine Leidenschaft ganz besonders zum Mitschwingen bringt, ist eine Reaktion auf diese Nachmittagslektüre an einem verhangenen Sonntag Nachmittag unausweichlich.

Mein Vater war ein Bücherfreund. Ein blasser Mann, der das Wetter mied und Tag und Nacht über seinen Büchern sass. Das heisst, wenn er Zeit hatte, und Zeit hatte er viel. Er liebte seine Bücher mehr als die Menschen, denn sie konnten ihm Böses antun. Die Bücher niemals und nie.

Was bedeuten Bücher für sie? Was macht ein Buch zu einem guten Buch? Was würden sie tun, wäre die Existenz ihrer eigenen Bibliothek bedroht? Beschäftigen sie sich damit, was dereinst mit ihrer Bibliothek passiert, wenn ihr Leben ein Ende gefunden hat? 

Als meine Kinder noch klein waren, meine Bücherregale zu ihrem Dasein gehörten, fragte mich einmal einer meine damals noch kleinen Söhne, was mit meinen Büchern passieren würde, wenn ich nicht mehr leben werde. Kinder fragen ganz direkt. Damals stammelte ich, ich hätte keine Ahnung. „Die nehme ich dann alle in meine Wohnung“, meinte der Kleine. Mittlerweile weiss ich sehr gut, dass meine Bücher zur Last werden, wenn ich es nicht zu Lebenszeiten schaffe, sie verträglich zu dezimieren. Aber wie kann ich mich schmerzfrei von ihnen trennen? Meine Bücher sind ein Teil von mir, selbst dann, wenn ich genau weiss, dass ich sie zum allergrössten Teil kein weiteres Mal lesen werde. Aber meine Bibliothek ist meine Spur durch mein Leben. Ein Leben weit über meinen eigenen Horizont hinaus. Ich bin ein Bücherfreund. Und sie?

Der Vater in Monika Helfers Erzählung „Der Bücherfreund“ war es auch, mit Haut und Haar, ein Leben lang. Ein Umstand, der die Erzählerin geprägt hat. Monika Helfer erzählt die Geschichte eines Abenteuers, denn die Bibliothek dieses Mannes war bedroht. Er hätte sie auflösen müssen. Sie war nicht nur von Krankheit und Sterben innerhalb der Familie bedroht, sondern auch von historischen, politischen Begebenheiten. Der Mann sah sich gezwungen, die Hundertschaften an Büchern an einem sicheren Ort zu verstecken, sie wegzubringen. Aber wie versteckt man eine Bibliothek vor ihrem sicheren Verlust? So, dass man sie dereinst wieder zurückholen kann. Monika Helfers Erzählung ist die Geschichte eines Mannes, der alles zu verlieren droht, seine Bibliothek, seine Familie, seine Arbeit.

Für etwas mehr Geld gibt es eine auf 235 Exemplare limitierte Edition des «Bücherfreunds» mit einem von Kat Menschik signierten und nummerierten Siebdruck, einer Original-Illustration im Format 10,3 cm x 16,9 cm.

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. 

Kat Menschik, geboren 1968 in Luckenwalde, ist freie Illustratorin. Zuletzt veröffentlichte sie in der Reihe Illustrierte Lieblingsbücher, eine der schönsten Buchreihen der Welt. Zahlreiche von ihr ausgestattete Bücher wurden prämiert.

Beitragsbild © Minitta Kandlbauer

Svenja Flasspöhler «Streiten», Hanser – Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Streit ist nicht schlecht. Streit braucht es, auch den in der Liebe, in der Ehe. Und mit Sicherheit in der Gesellschaft und in der Politik. Aber dass zwischen Gegnern und Feinden ein grosser Unterschied besteht, dass Streit unter Feinden selbst dann zum Krieg wird, wenn man ihn vordergründig nur mit Worten austrägt – davon schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler leidenschaftlich und sehr persönlich.

Streitet man in Diktaturen? Wird im Kreml gestritten? Wohl kaum. Lager und Gefängnisse füllen sich schnell mit jenen, die sich dem Disput stellen. Navalny wird man so schnell nicht vergessen. Streitet man mit Trump? Stellt sich ihm in seinem engsten Kreis jemand entgegen? Traut sich dort jemand? Oder werden alle, die nur Anzeichen einer Widerrede zeigen, wegspediert, versenkt und geächtet? Wahrscheinlich ist es ein Gradmesser einer funktionierenden Demokratie, ob man den Streit aushält. Aber wo hört Streit auf? Wo beginnt verbale Vernichtungsstrategie? Die Gräben in der Politik zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv, zwischen den politischen Polen werden immer gehässiger. ExponentInnen sind immer weniger in der Lage, sich wirklich um die Probleme der Menschen zu kümmern, als um den strategischen Schlagabtausch der Streitenden, die sich stets profilieren müssen, um bei ihren Wählerinnen und Wählern nicht in Ungnade zu fallen.

Ein Streit ist nie harmlos. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.

Die Coronajahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass wir die Fähigkeit der respektvollen Auseinandersetzung zu verlieren drohen. Wie schnell wird man abgestempelt und diffamiert, ins Offside gedrängt, in eine Ecke, aus der man, einmal in einen medialen Shitstorm geraten, nicht mehr oder nur mehr schwer herausfindet. Gräben ziehen sich zwischen Freundschaften, bis in Familien. Man schweigt lieber, als sich zu streiten. Sind wir zu zimperlich geworden oder leiden wir an Harmoniesucht, die angesichts der allseitigen Bedrohungen verständlich wird?

Damit ein Streit nicht eskaliert und die Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssem die Bindungskräfte grösser sein als der Vernichtungsdrang.

Svenja Flaßpöhler «Streiten», Hanser, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28004-5

In patriarchalen Strukturen, in Ehen nach alten Mustern, galt der Streit als Schieflage. Unterwerfung schloss Widerrede aus. Anpassung war das Mass jeder funktionierenden „Partnerschaft“ zwischen Chef und Untergebenen. Nicht unähnlich einer Diktatur. Man scheut(e) den Streit. Er ist Gift. Das mag heute in vielen echten Partnerschaften ganz anders sein. Man spricht von Streitkultur. Aber dass es für solche Auseinandersetzungen Raum bräuchte, nicht zuletzt Regeln, die von Streitenden akzeptiert werden, davon ist zumindest in der Politik wenig zu spüren. Wenn es in der Schweiz immer mehr Gemeindeführungsgremien gibt, die im ausufernden Grabenkrieg handlungsunfähig werden, ist das symptomatisch und bedenklich genug.

In der Feindschaft wird dem Anderen das Existenzrecht abgesprochen.

Im Sport akzeptieren wir Regeln, SchiedsrichterInnen, weil Gegner in aller Regel keine Feinde sind. Unterlegene geben sich am Schluss die Hand, Schwinger putzen sich gegenseitig das Sägemehl von den Schultern, man gratuliert dem Sieger. Im Sport scheint zu funktionieren, was in der Politik immer schwieriger wird, in totalitären, diktatorischen Stukturen unmöglich. Gegner werden zu Feinden, die nicht nur zu besiegen sind, sondern zu vernichten. Das Vokabular solcher Brandreden ist unmissverständlich und orieniert sich schamlos am Vorbild ehemaliger Verbrecher an der Menschlichkeit.

Es steht Wille gegen Wille wie in einem Krieg, mit dem Unterschied, dass eine Niederlage akzepiert werden kann.

Svenja Flasspöhlers Buch „Streiten“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Fähigkeit, die mehr und mehr an die Ränder gedrängt wird, sei es in Parlamenten, in Wahlkämpfen oder in Talkshows, bei denen es nicht mehr um Argumente geht, sondern darum, die Gegner zu vernichten. Krieg. Svenja Flasspöhler hat in ihrem Leben genug Erfahrungen gesammelt. Sei es im öffentlich rechtlichen Rundfunk, in Talkshows, an Buchmessen, selbst in Gesprächen mit Menschen, von denen sie glaubte, sie wären ihr gut gesinnt, bis hin in eine Kindheit, als Tochter sich streitender Eltern und drohender Eskalationen. „Steiten“ ist der Versuch einer Einordnung, einer Besinnung.


Philip Kovce im Gespräch mit Svenja Flasspöhler am Montag, 18. November 2024 im Unternehmen Mitte in Basel

Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins sowie Gründerin und Co-Geschäftsführerin des neuen Berliner Philosophie-Festivals Philo.live!. Zuletzt erschienen von ihr u. a. «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren» und «Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit». Für «Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe» erhielt sie den Arthur-Koestler-Preis. Svenja Flasspöhler lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Wegseite der Autorin

Beitragsbild © Johanna Ruebel

«Jeder ist des andern Bedrohung.» Über Jonas Lüschers Roman «Verzauberte Vorbestimmung», Hanser (18)

Lieber Bär

Die Lektüre des neuen Romans von Jonas Lüscher entlässt mich mit sehr gemischten Gefühlen. So wie ich vieles im Roman nicht einordnen kann, so kann ich nicht einmal den Titel „Verzauberte Vorbestimmung“ einordnen. Aber vielleicht ist genau das Prinzip „Einordnungsversuch“ der Schlüssel zu Jonas Lüschers Roman. 

Jonas Lüscher schrammte während der Covid-Pandemie knapp am Tod vorbei. Er ist ein Gezeichneter. Ich begegnete ihm nach seiner Krankkeit in Leukerbad am dortigen Literaturfestival, wo er Auszüge aus einem Manuskript las. Als wir uns auf der Strasse begegneten, miteinander sprachen, traf ich einen ganz anderen Jonas Lüscher wie vor der Pandemie; verletzlich, dünnhäutig, vorsichtig. Damals auf der Intensivstation stand eine ganze Batterie von Maschinen um das Bett des Schriftstellers, der währnd bestimmter Phasen schon glaubte, in den Prozess des Sterbens übergegangen zu sein. Das beschreibt Jonas Lüscher in seinem Roman, wenn auch erstaunlich zurückhaltend. Er war ganz und gar abhängig von Maschinen, die lebenswichtige Körperfunktionen übernahmen. Es muss eine ganz eigene Erfahrung sein, dass man sein physisches Dasein Geräten übergeben muss, dass man in Phasen maximaler Empfindsamkeit zu einem eigentlichen „Cyborg“ wird, unfreiwillig.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist  ein Konglomerat aus verschiedensten Handlungssträngen und Personen, Handlungssträngen, die sich überschneiden und solchen, die sich wieder verlieren. Personen, die über Dutzende von Seiten zentral erscheinen, dann aber nie mehr auftauchen. Einzige Konstanten in dem Buch sind der suchende Erzähler und der Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Filmemacher Peter Weiss, der sich mit seinem Spätwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ ein literarisches Denkmal setzte. Eine Figur in Lüschers Roman, die in ganz unterschiedlichen Zuständen und Erzählebenen auftaucht. Wie Lüscher selbst ein ewig Suchender, seine Kunst ein einziger Versuch des Einordnens. Eine andere Konstante in Lüschers Roman ist die Auseinandersetzung mit Technik, mit Maschinen, sei das die Maschinerie der modernen Kriegsführung, jene der Industrialisierung, der Medizin bis in die Architektur des Grossenwahns, wenn der Erzähler im Ägypten der Zukunft zwischen der perfekten Retorte und dem Realen, Vergessenen pendelt.

New Adminstrative Capital mitten in der Wüste © Jonas Lüscher

Das Buch beginnt mit Knall und Rauch. Ich erinnere mich an einen Kinobesuch zusammen mit meiner Frau vor vielen Jahren. Ich überredete sie zum Film „Der mit dem Wolf tanzt“, ein Streifen, der mit einem minutenlangen Schlachtgemetzel beginnt. Ich musste meine Frau während Minuten trösten, zurückhalten, beschwichtigen und besänftigen, damit die dem Kino nicht entfloh.  Genauso ging es ihr mit «Verzauberte Vorbestimmung» (Übrigens ein Titel, der angesichts des Romananfangs arg strapaziert!). Jonas Lüscher beschreibt die Erlebnisse eines algerischen Soldaten während des ersten Weltkriegs in den Schützengräben gegen die Deutschen. Den ersten strategischen Giftgasangriff, das Herannahen eine beinah fluoreszierenden Wolke, in der alles grausam erstickt, Menschen mit schrecklich verzerrten Fratzen tot zusammenbrechen. Eine apokalyptische Szenerie, die eigenartig fesselt und ebenso abschreckt. Aber wer sich an die Fersen dieses algerischen Soldaten heftet, verliert ihn wieder, obwohl er Jahre später in Paris zum Postboten geworden ist. Ein Erzählstrang, der wie viele andere aus dem Meer der Möglichkeiten auftaucht und wieder versinkt. So wie die Geschichte eines anderen Postboten, des Franzosen Joseph Ferdinand Cheval, der zwischen 1879 und 1922 an seinem „Palais idéal“ baute, aus gesammelten Steinen, auf einem Grundstück weitab, einem Monument, das Künstler wie Max Ernst und Pablo Picasso faszinierte und bis heute viele Touristen lockt. Oder sie Geschichte von Ned Ludd im tschechischen Varnsdorf, einem Ort der aufblühenden Textilindustrie. Ein Aufstand der Arbeiter, einer Frauenrevolte, einem Fabrikgrossbrand. Eine Geschichte, die Lüscher in ganz eigener Sprache, beinah märchenhaft erzählt. Eine Geschichte, bei der es aber weder um das Personal noch um die Geschichte selbst geht.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine literarische Auseinandersetzung. Sprachgewandt, plottabgewandt. Lüscher will weder unterhalten noch betäuben. Er nimmt mich mit in seine Odyssee, in ein Labyrinth, von dem nicht einmal er selbst das Ziel, die Mitte gefunden hat. Ein literarischer Stoffknäuel mit vielen Anfängen und Enden, ein Flickenteppich aus Fragmenten, Zuständen und Erzählebenen, der von mir alles abfordert, viel mehr, als ich bei fast allen Autorinnen und Autoren zulassen würde. Jonas Lüscher schreibt mit der Membran eines Überempfindlichen, eines Hochsensiblen, eines Verwundeten, Gezeichneten. 

Ich tat mich schwer mit der Lektüre, obwohl es immer wieder lange Passagen der Beglückung gab, nicht zuletzt dank seiner Sprachkunst. Ich werde Zeuge dieser Hypersensibilität. Und wenn ich die Lektüre zu einer solchen Zeugenschaft machen kann, dann lese ich mit grösstem Interesse und unsäglichem Staunen.

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Lieber Gallus

Ich habe bisher keinen Roman von Jonas Lüscher gelesen, aber schätze seine klugen Gespräche über unsere Gesellschaft und deren Zukunft in verschiedenen Medien.  So interessierte ich mich sehr für seinen neuen Roman. Wegen einer vernichtenden Kritik in einer Innerschweizer Zeitung vor der ersten Lesung in der Schweiz war ich verunsichert, ob ich dieses Werk lesen soll, habe dann aber das Buch trotzdem gekauft. Wie reich wurde ich belohnt! Hilfreich war die Lektüre seiner Poetik-Vorlesungen von 2019 «In die Erzählung flüchten», wo das «Oszillieren zwischen mathematisch messbarer Wissenschaft und erzählender Literatur, zwischen Aufklärung und Romantik» ausführlich besprochen wird. 

Obwohl die Lektüre von «Verzauberte Vorbestimmung» anspruchsvoll ist, habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Dass sich vieles nicht einordnen lässt, gefällt mir als Ausdruck der Herausforderungen und Ambivalenz des Menschen im Umgang mit Maschinen. Das in fünf Teile gegliederte Werk zeigt mehrere Erzählstränge, die abbrechen, wieder auftauchen und inkonstant durch die verschiedenen Abschnitte führen. Auch die Zeitebenen wechseln oft ohne Übergang, beginnen im Ersten Weltkrieg und enden in der Nach-Putin Ära. Die Auswirkungen der Macht der Technik und des Geldes auf die Menschen bestimmen in vielfältiger Weise den Text. Zum Beispiel die Veränderung des Ertrags der Arbeit an neuen Webstühlen in der Fabrik im Vergleich zu der an der Heimarbeit:
Sein Staunen über die Zahlen, die sich da untereinander reihten, Beträge, die ihm vor kurzem noch fantastisch erschienen waren, fand kein Ende. Es war ihm, als täten sich ganz neue Möglichkeiten, eine Ahnung eines anderen Lebens, vor ihm auf, und mit diesem weiten Horizont, der aber bei genauerer Betrachtung nur aus dem Wort «mehr» bestand, einem Begriff, den er nicht in der Lage war, mit konkreten Vorstellungen zu füllen, kam die Gier in sein Leben.

Mehrere Kapitel werden durch Peter Weiss, Maler, Autor, Filmer, der als Alter Ego auftritt, miteinander vernetzt. Sein frühes Gemälde «Die Maschinen greifen die Menschen an» stellt bildhaft die Ambivalenz des Verhältnisses Mensch- Maschine dar. Mit Peter Weiss besuchen wir auch den «Palais Idéal» vom Briefträger Cheval in Hauterives und die Weber im tschechischen Varnsdorf.

Hauterives © Jonas Lüscher

In den letzten zwei Kapiteln befinden wir uns im futuristischen Ägypten mit Cyborgs, Mensch-Maschinen, und Androiden, umgeben vom grössenwahnsinnigen architektonischen Gebilde New Kairo, herausgestampft aus der Wüste, absurd und eklektisch mit einem geplanten 1000 Meter hohen Wohn-Obelisken. Vor einem Jahr war ich in Ägypten auf den Spuren der Pharaonen und deren Grabstätten, 4000 Jahre alt und noch in besten Farben leuchtend, daneben Kairo und Alessandria als verkommene Moloche voll Lärm, Armut und Müll neben hochglanzpolierten Inseln für die Touristen. Aus dem Flugzeug konnte ich damals einen Blick auf die New Administrative Capital werfen. Mich beschäftigten und belasteten diese Gegensätze sehr. Literarisch drückt Jonas Lüscher dies so aus:

Für einen Moment war ich in der Lage gewesen, die pittoreske und exotische Seite dieser mir fremden Landschaft und dieser mir fremden Menschen mit ihren mir fremden Leben zu sehen, aber bald war es nur noch die Armut, manchmal sogar die schiere Not, die sich mir aufdrängte, und die neue Stadt in der Wüste, durch die ich mich noch keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte fahren lassen, erschien mir grotesk weit weg, und doch war es dasselbe Land, unbegreiflicher noch, dieselbe Regierung, die für beides verantwortlich war, und so unbegreiflich mir dies in jenem Moment schien, so einfach zu verstehen war der ökonomische Mechanismus, der die beiden Realitäten miteinander verband, die sechzig Milliarden, die sich der Feldmarschall aus China  und den Golfstaaten geliehen hatte, um seinen Traum zu bauen, und der sinkende Wert des ägyptischen Pfunds, der das Elend der Menschen, die ich vor dem Fenster an mir vorbeiziehen sah, Tag für Tag vergrösserte und ein Entrinnen unwahrscheinlicher machte.

Das zentrale Thema, das Überleben seiner schweren Covid Erkrankung im wochenlangem Koma auf der Intensivstation dank neuester Technik kommt, nach kurzem Anklingen am Anfang des Buches, erst im letzten Teil zur Sprache: Ein «Gespräch» zwischen einem Taxifahrer ohne Englischkenntnisse und dem Protagonisten ohne Arabischkenntnisse mittels Google-Translater führt zum Nachdenken über die Technik-Skepsis des Autors, der als wahrer Cyborg seine Covid Erkrankung nur dank der Herz-Lungen-Maschine überleben konnte. Diese Erfahrung prägte sich tief ein, Personen die im Koma wie in einem Traum vorhanden waren, werden nach dem Aufwachen wie Verstorbene vermisst. 

Dieser in seiner Struktur und in seiner Sprache einzigartige Roman umfasst die Zeitspanne von 1914 bis in die Zukunft, wo Cyborgs, also Mensch-Maschinen, ans Weltwissen angeschlossen sind. Die Beziehung von Menschen und Maschinen, deren grossartige Möglichkeiten, aber auch deren potenzielle Gefahren, zieht als roter Faden durch dieses Buch. Es endet mit hoffnungsvollem Ausblick.

Die Anregungen und die Auseinandersetzung mit diesem Buch werden mich noch lange begleiten. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser!

Herzlich 

Bär

Jonas Lüscher wurde 1976 in der Schweiz geboren, er lebt in München. Seine Novelle Frühling der Barbaren war ein Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Lüschers Roman «Kraft» gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt ausserdem u.a. den Hans-Fallada-Preis, den Prix Franz Hessel und den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich. Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Herzlichen Dank an Jonas Lüscher für die Recherchefotos.

 

Beitragsbild © Hassiepen