«Das Linksliegenlassen der Welt ist eine anspruchsvolle Sache» (11)

Lieber Gallus

Erstmals habe ich ein Buch von Arno Geiger gelesen und bin nachhaltig berührt. «Reise nach Laredo» nehme ich immer wieder vom Büchergestell.

Karl hat als König abgedankt, sich in ein Kloster zurückgezogen. Sein hässlicher, stinkender nackter Körper wird ins Bad gehoben, so beginnt dieser Roman. Krank und fiebrig erlebt er dann eine Traumwelt bis zu seinem Tod, wo er sagen kann: Jetzt, Herr, komme ich.

Doch es ist kein historischer Roman, die Fragen, die auf dieser Reise auftauchen, sollte sich jeder von uns stellen, es geht um uns! Das macht das Buch so aktuell. Es geht um das Wesen des Menschseins.

Arno Geiger «Reise nach Laredo», Hanser, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28118-9

Karl erlebt in den Stunden, Tagen bis Laredo erstmals echte Freundschaft und kurze glückliche Momente. Er trinkt, tanzt und fragt sich Beginne ich jetzt zu leben? Was bedeutet das für das Vorher? Die Reise auf einem Pferd durch eine karge, bergige, heisse Gegend wird zu einer schmerzhaften, aber auch versöhnenden Reise zu sich selbst. Die Begegnung mit jungen Leuten und das Trinken im Wirtshaus spiegelt Verpasstes im Leben von Karl, er muss loslassen und gewinnt. Einzigartig die Sterbeszene am Meer: Das war’s.

Was die Mönche in den Händen halten, ist grausam wirklich, ein toter Körper, ein vollständig nebensächliches Ding, in dem alles gestorben ist, auch das Leid, das diesen Körper so zugerichtet hat.

Geschrieben in einer kühlen Sprache, voller realistischer Bilder, teilweise etwas überzeichnet. Die karge baumlose Hügellandschaft im Hintergrund ergibt eine archaische, biblische Atmosphäre. Ein Buch, das auf packende Weise zum Nachdenken anregt.

Ich bin gespannt, was du zu diesem Buch zu sagen hast.
Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Ich besuchte eine Lesung von Arno Geiger in St. Gallen. Er las und erzählte viel von sich. So wie er in diesem «historischen» Roman von sich erzählt. Arno Geiger ist studierter Historiker. Er weiss sehr genau, dass er die Geschichte von Kaiser Karl V nicht einfach «erfinden» kann. Aber Geiger interessiert sich als Schriftsteller nicht für die Geschichte jenes Kaisers (1500 – 1558), der Herrscher über ein Weltreich war. Historiker würden über seinen Werdegang, seine Intrigen, sein politisches Kalkül, seine Kriege berichten. Arno Geiger interessiert sich nur für die beiden Jahre nach seiner Abdankung, nicht für die Zeit mit der Krone, sondern jene ohne. Über einen Mann, so alt wie Arno Geiger selbst, von Macht und zügellosem Leben zerfressen zum Privatmann wird. Mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen, mit Fragen, die zeitgemässer nicht sein können: Wer bin ich? Was will ich sein? Ein Mann, der sich selbst begegnen will und sehr wohl spürt, dass diese Begegnung nicht ohne ein Gegenüber stattfinden kann.

Eine harte Mission, sich selbst zu begegnen. Mit dem Tod seiner Frau, Königin Isabella, war Karl 38 und trug danach nur noch Schwarz. Unter dem schwarzen Mantel ein Mann von Gicht und Malariaschüben zerfressen. Als Herrscher eines Weltreiches ging es nie um ihn selbst. Karl freundet sich mit seinem elfjährigen Pagen Geronimo an, einem Kind, das nur das Jetzt kennt und ungefiltert zu sprechen wagt. Sie türmen aus dem abgeschiedenen Kloster mit Ross und Maultier Richtung Norden an Spaniens Küste, in die kleine Hafenstadt Laredo. Ein Tripp durch die Wirren der Zeit, ein Tripp, bei dem sich Karl immer wieder in den Begegnungen mit dem menschlichen Elend gespiegelt sieht.

Er habe wenig recherchiert (eine Aussage eines Historikers, die man wahrscheinlich relativieren muss). Aber er brauche einen festen Boden, auf dem er seine inneren Bilder wachsen lassen könne. Es sei auch ein Buch über sich selbst, über das Altern, das Wirken der Selbstreflexion, über das Wissen darum, dass Geist, Körper und Seele nur als Einheit verstanden werden können. Karl weiss, dass er in einem Zwischenreich existiert, nicht mehr der Herrscher, aber auch noch nicht gestorben, einem Fegefeuer mit der Hoffnung auf Läuterung und Erlösung.

Wer den Zenit seines Lebens erreicht hat, weiss, dass es vieles gibt, was nicht mehr zu korrigieren ist. Wer mit Krankheit und langsamem Sterben zu kämpfen hat, hofft unweigerlich auf eine Form der Erlösung. Schon deshalb ein wichtiges und zur Selbstreflexion animierendes Buch. Unbedingt lesenswert.

Liebe Grüsse

Gallus

Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, studierte Literaturwissenschaft und lebt in Wolfurt und Wien. Er ist Schriftsteller und Videotechniker bei den Sommerfestspielen Bregenz. 1997 erschien sein Debütroman «Kleine Schule des Karussellfahrens». 1998 wurde ihm der New Yorker Abraham Woursell Award verliehen. Für seinen Roman «Es geht uns gut» erhielt er 2005 den Deutschen Buchpreis.

Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser

Herta Müller wird wie eine Königin in den mit viel Marmor ausstaffierten Raum im ehrwürdigen Hauptgebäude der Uni Zürich geleitet. Ein krasser Gegensatz für eine Frau, die vor ihrer Vertreibung aus Rumänien ganz unten war, verraten und einsam, von einem kollektiven Verleumdungs- und Lügenapparat systematisch in die Enge getrieben.

Wird man verfolgt und mit dem Tod bedroht, wenn man «gestorben werden kann», wird man sich bewusst, dass das Leben ein Geschenk ist, sagte Herta Müller im Gespräch über ihr neustes Buch «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», organisiert durch das Zentrum für literarische Gegenwart Zürich. Leben wird subversiv, weil das Leben selbst in Frage gestellt wird. In einem totalitären Staat, in jedem totalitären Staat wird bewusstes Leben zu einem politischen Leben. Und so trägt jede Frage, die Herta Müller in ihren Büchern oder in Gesprächen zu beantworten versucht, eine starke politische Komponente. Leben wird automatisch zu einem politischen Leben, das sich permanent gegen den Wall an Verboten stemmen muss. Man kann verweigern und ausblenden, bis man dann doch irgendwann konfrontiert wird und sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss. «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist eine Sammlung von Essays und Reden, die zusammen mit dem titelgebenden «Monolog» zur niedergeschriebenen Auseinandersetzung mit staatlich inszenierter Unterdrückung werden, dem immer wiederkehrenden Thema der Autorin.

Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27848-6

Herta Müller, Verfolgte, Bestrafte und Drangsalierte wurde schon vor ihrer Flucht nach Deutschland eine Einsame, eine Ausgeschlossene, eine von Lügen und Neid Eingeschlossene. Unvorstellbar, dass die Frau, die auch über ein Jahrzehnt nach ihrem Nobelpreis Säle füllt, einst ihren Arbeitsplatz als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik wegen Verleumdung und strategischen Verdächtigungen räumen und diesen ins Treppenhaus der Firma verlegen musste, um ihre Arbeit nicht ganz zu verlieren. Totalitäre Systeme, ob Rumänien damals oder all die totalitären Staaten heute, bedienen sich stets der Lüge, der Fälschung, der Verdrehung. Man wird effizient zum Einzelnen gemacht, Lüge wird zum System. Die Behauptung, sie sei Staatsfeindin, Schwarzmarkthändlerin und prostituiere sich, wird Mittel zum Zweck. Gelogenes und Erfundenes wird Teil eines Unrechtssystems. Fatal ist, dass damit selbst die Wahrheit Schatten bekommt. Man ist sich nie sicher, ob man auf Wahrheit oder Lüge trifft. Und diese permanente Verunsicherung erzeugt Angst.

Verfolgung wurde in den Jahren in Rumänien zu einem dauernden Kampf, den die Autorin immer in Isolation und Angst abdrängte, umgeben von Opportunisten, besonders schmerzhaft dann, wenn selbst die Familie, die Eltern zum langen Arm des Staates wurden.

«Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist ein Buch, das Beklommenheit auslöst, eine Beklommenheit, von der sich die Autorin nicht lösen will und kann, eine Beklommenheit, die angesichts der globalen Probleme noch vertieft. Verfolgung, grassierender Antisemitismus, offensichtlicher Opportunismus und Rassismus schlagen Wellen wie noch nie, erzeugen ein gefährliches, mehr und mehr explosives Gemisch mit unabsehbaren Folgen. Herta Müller macht Bilder von Unsäglichem, ohne Klischee, ohne Angegriffenheit. Seltsam genug, dass sich nicht nur die Literatur der Sprache bedient, auch die Politik, selbst die Diktatur. Darum ist Sprache stets Politik, Literatur Stellungnahme. Im Gespäch beschwört Herta Müller, dass gerade deshalb viel mehr über Literatur diskutiert werden müsste. Man ist verpflichtet, sich selbst zu erzählen, mündig zu werden. Ein Prozess, der nie zu Ende sein kann, für den die Nobelpreisträgerin noch immer schreibt und lebt.

Wenn ich schreibe, muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was mich von innen bedrängt. Ein Zustand, der die Angst stets miteinschliesst. Schreiben ist der Drang, sich nicht verlieren zu wollen, ein Kampf gegen die Hässlichkeiten.

Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis.

Rezension zu «Die Lüge ist ein Klettertier«
Rezension zu «Der Beamte sagte«

Beitragsbild © Gallus Frei (anlässlich einer Lesung der Autorin an der Uni Zürich, November 2023)

(Das war der 1498. Beitrag auf literaturblatt.ch.)

Michael Köhlmeier «Frankie», Hanser

Wie fragil die Welt eines Vierzehnjährigen ist, wie leicht sie kippen kann und wie sehr Bindungen in dieser Zeit lebensentscheidend sind, davon erzählt Michael Köhlmeier in seinem Buch, das vielfach überrascht.

Frank lebt mit seiner Mutter ein gut eingerichetes Leben in Wien. Seine Mutter ist Schneiderin an der Wiener Volksoper, seit Frank grösser ist, auch einmal abends zur Arbeit weg, manchmal auch noch länger, weil sie das Danach mit der Truppe so mag und weil sie nicht fürchten muss, Frank würde darunter leiden. Sie sind gut eingespielt. Jeden Mittwoch kocht Frank. Nicht weil er muss, sondern weil er das Kochen mag. Und weil Mutter ihn dafür lobt. Sie loben sich gegenseitig. Keine der problematischen Beziehungen. Mehr Probleme hat Frank in der Schule.

Aber ein tatsächliches Problem taucht ganz am Ende der langen Ferien auf. Man informiert Frank und seine Mutter, dass Franks Grossvater nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Und bis für diesen ein eigenes Zuhause gefunden werden kann, quartiert man ihn bei seiner Tochter, seinem Enkel ein. Frank weiss von seinem Grossvater. Als er noch klein war, hatte man ihn noch zu Besuchen im Gefängnis mitgenommen. Aber der Grossvater war immer im Gefängnis, bis zu dem Tag, als er sich in der Küche bei ihm und seiner Mutter einnistet und wieder nur sitzt, wartet, raucht und Nachrichten aus seinem kleinen Radio hört.

Michael Köhlmeier «Frankie», Hanser, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27618-5

Eine kleine Welt bricht aus den Fugen. Da hilft auch das „Frankie“ nicht, mit dem der plötzlich anwesende Grossvater den Schlüssel zu seinem Enkel sucht. So sehr der Grossvater zuvor nur eine stille Ahnung war, wird er mit einem Mal zu einem tatsächlich anwesenden Geist, der alles durchsetzt. Frank ist gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Verunsichert darum, weil sich dieser Mann in seinem Leben festkrallt, die Mutter verängstigt und ihre Leben auf den Kopf stellt. Fasziniert, weil da einer so ganz anders zu ticken scheint, als der Rest der Welt.

Das Erstaunliche an dem Roman ist, dass er sich nicht um die Gründe schert, warum der alte Mann, der nicht Opa genannt werden will, von dem Frank erst jetzt seinen Vornamen erfährt, insgesamt mehr als ein Viertel Jahrhundert in Gefängnissen sass, was die Gründe waren für seine letzten 18 Jahre Haft. Michael Köhlmeier interessiert sich für das, was zwischen dem Alten und dem Jungen passiert. Man sucht sich seine Eltern und Grosseltern nicht aus. Familien sind Schicksalsgemeinschaften, denen man in Wahrheit nicht entfliehen kann. Es sind zwei Gestirne, die umeinander kreisen. 

Michael Köhlmeier erzählt aus der Perspektive des Vierzehnjährigen, von einem, der glaubt, das Leben doch schon recht gut im Griff zu haben, auch wenn sich sein kleines Glück in Tat und Wahrheit bloss in der kleinen Wohnung zusammen mit seiner Mutter abspielt. Da taucht einer auf, der sich nicht um Regeln kümmert, einer, der nichts mehr zu verlieren hat, aber vielleicht jemanden, der ein Stück von ihm weiterträgt. So wie Frank ganz am Anfang seiner Selbstständigkeit steht, so ahne ich als Leser, dass dieser alte Mann an seinem Ende steht, keine Lust mehr verspürt, sich durch irgendetwas oder irgendjemanden einsperren, eingrenzen, fesseln zu lassen. 

Michael Köhlmeier konstruiert eine Geschichte, in der ich mit angehaltenem Atem zusehen muss, wie Frank im Strudel der Geschehnisse aus seiner empfänglichen Jugend in einen Sturm hineingerissen wird, in dem er sich selbst zu verlieren droht. „Frankie“ ist ein Roman, der viel mehr Fragen hinterlässt, als erzählte Antworten gibt. Das ist als Leser oder Leserin auszuhalten und führt vor, dass dieser Roman trotz seines jugendlichen Sounds alles andere als ein Jugendroman ist. Überhaupt gelingt es Michael Köhlmeier erstaunlich gut, den Ton eines etwas altklugen Jungen zu treffen, der sich in der Schwerelosigkeit der Adoleszenz zu orientieren versucht.

Fesselnd und vielfach überraschend!

Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Er hat Romane, Gedichte und Kinderbücher veröffentlicht. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis. Seit 1981 ist Michael Köhlmeier verheiratet mit der Schriftstellerin Monika Helfer.

Weitere Rezensionen zu Michael Köhlmeiers Bücher auf literaturblatt.ch: «Die Nacht der Diplomaten»,  «Umblättern und andere Obsessionen», «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle»

Beitragsbild © Peter-Andreas Hassiepen

«Die Jungfrau» – über eine lebenslange Freundschaft zweier ungleicher Frauen

eine Lesung in der Buchhandlung Bodan

Wer sich zu feiner, kleinräumiger aber nie beengter, emotionaler aber nie rührseliger Literatur hingezogen fühlt, liebt die Bücher von Monika Helfer. Die Intensität ihrer Literatur wird nicht nur sichtbar an der Menge und Qualität ihrer Auszeichnungen, sondern daran, dass Monika Helfer seit mehr als einem halben Jahrhundert Bücher veröffentlicht, Bücher, die im Laufe der Zeit immer mehr Aufmerksamkeit gewannen und Monika Helfer zu einem oft eingeladenen Gast an Veranstaltungen erst recht mit ihrer Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ machte.

Monika Helfer lebt zusammen mit ihrem Mann Michael Köhlmeier im vorarlbergischen Hohenems eine symbiotische Lebens- und Schreibgemeinschaft in einem mit Efeu bewachsenen Haus, in dem alles der Familie, den Erinnerungen und dem Schreiben gewidmet ist. Monika Helfer und Michael Köhlmeier, beide beim gleichen Verlag, werden auch vom gleichen Lektor betreut, leben dort das Leben von zwei von Sprache Beseelten.

Monika Helfers neuer, eben erschienener Roman „Die Jungfrau“ ist erneut ein Buch, das ganz tief mit dem Leben der Autorin verwoben ist, so wie die letzten drei Romane, so wie wahrscheinlich alle ihre Roman. Und doch setzt sich „Die Jungfrau“ von der vorangegangenen Trilogie ab. Nicht thematisch, aber in der Art des Erzählens.
Zum einen macht Monika Helfer im Roman immer wieder Schritte hinaus und hinein. Da sind die Momente, wo sich die Autorin über den Prozess des Schreibens äussert, Stellen, in denen sich die Perspektive verändert, zum andern blitzen Dialoge mit ihrem Mann Michael auf, Auseinandersetzungen, die bezeugen, dass die Auseinandersetzung über das Schreiben, ob mit sich selbst oder dem Lebenspartner, sehr emotional werden kann. Stellen, die dem Buch einen speziellen, beinahe dokumentarischen Einschlag geben.

Zentral in diesem Buch ist aber die Geschichte einer Freundschaft, der Freundschaft zwischen Moni und Gloria. Sie beide wachsen im Vorarlbergischen auf, Monika in einem kleinbürgerlichen Haushalt, in einer von Arbeit und Strebsamkeit geprägten Familie, Gloria in einer Villa zusammen mit ihrer Mutter, einer Frau, die sich mit aller Selbstverständlichkeit in ihrem Luxus bewegt, auch wenn die beiden in diesem grossen Hauses nur drei Zimmer mit Leben füllten.
Die Freundschaft zwischen Moni und Gloria ist geprägt von maximaler Nähe und Distanz. So wie Moni schon bald spürt, dass sie Schriftstellerin werden will, soll das Leben ihrer Freundin ein glamouröses werden, programmatisch für ihren Namen. Gloria will die Welt als Schauspielerin erobern. Das Zeug dazu hat sie, auch wenn ihr Leben immer wieder in Abgründe abtaucht.

An Monikas 70, Geburtstag erhält Moni einen Brief von Gloria, nicht selbst geschrieben, aber eine deutliche Aufforderung, sie doch bitte zu besuchen, bevor sie sterbe.

Ich danke der Autorin für die Offenheit auch über die Lesung hinaus, dem Team der Bodan-Buchhandlung in Kreuzlingen für die gelungene Organisiation und kulinarischen Beigaben und Claudia Ruckstuhl für die Ermöglichung einer solchen Begegnung.

Rezension zu «Die Jungfrau» auf literaturblatt.ch

Monika Helfer «Die Jungfrau», Hanser

Monika Helfer liest
in der Bodan Buchhandlung Kreuzlingen.

Freundschaften kommen und gehen. Aber die eine oder andere bleibt, manchmal ein ganzes Leben, wenn auch mit Pausen, jahrzehntelangen Pausen. Monika ist Schriftstellerin geworden, erfolgreich, verheiratet mit Michael, Mutter von vier Kindern. Gloria ist wie sie alt geworden. Und eines Tages schreibt eine Nichte Glorias einen Brief und bittet Monika „noch einmal mit ihr in Verbindung zu treten, bevor sie sterbe.“

Sie hatten sich schon als Kinder in der Schule gefunden. Gloria war für die schüchterne Monika ein Leuchtfeuer, eine „die meine Einbildungskraft entzündete“. Während Monika aus einfachen Verhältnissen kommt, wächst Gloria in einem grossen Haus allein mit ihrer Mutter auf. Einer Mutter, die nicht zu arbeiten braucht, in einem Haus, in dem die beiden Bewohnerinnen nur drei Zimmer bewohnen, in einem Garten, der verwildert und wie alles an Haus und Bewohnerinnen in Geheimnissen getaucht ist.

Monika Helfer «Die Jungfrau», Hanser, 2023, 152 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-27789-2

Zwischen den beiden Mädchen wächst eine Freundschaft, pendelnd von maximaler Nähe bis Distanz. Gloria ist für Monika nicht nur in Kindertagen schwer einzuschätzen. Ob als Kind oder Frau; Gloria lebt im Gegensatz zu Monika in einer Welt, die sich ständig den Realitäten zu entziehen versucht. Gloria, die permanent die Gravitation aushebeln will, der mit ihrem Aussehen und ihrer Ausstrahlung alles zu Füssen liegen scheint. Sie will Schauspielerin werden und schafft es auch tatsächlich, die Aufnahmeprüfung am Max Reinhardt Seminar in Wien zu bestehen. Noch mehr. Einer der Professoren ist derart von Gloria fasziniert, dass dieser ihr eine Wohnung einrichtet und Gloria ist dreist genug, eine Einladung ins Haus, an den Familientisch des Professors anzunehmen. Aber Gloria bricht ab, so wie sie vieles abbricht. Sie kehrt zurück ins grosse Haus ihrer Mutter und bleibt. Bis sie sich im Alter gar nicht mehr so sehr von der gescheiterten Figur ihrer Mutter unterscheidet.

So wie das Leben der erzählenden Monika in geordneten Bahnen seinen Lauf nimmt, so sehr fehlt dem Leben ihrer Freundin Gloria eine Spur. Gloria, eigentlich ein ganzes Leben für den grossen Auf- und Ausbruch bereit, ist schon mit ihrer Herkunft in dauerndem Hadern, denn wer ihr Vater ist, bleibt ein langes Geheimnis, bis Gloria, schon im reifen Alter, ihre Freundin bittet, ihrem Vater gemeinsam mit ihr einen Besuch im Pflegeheim abzustatten. Aber dort trifft sie einen dementen Mann, einen Schatten einer Existenz, der dann aber doch, nachdem die beiden für ihn ein Heinolied singen mit Daumen und Zeigerfinger ein Zeichen gibt, als wolle er die beiden Frauen abschiessen. Nicht der erste Versuch von Gloria, Monika zu ihrer Verbündeten zu machen. Eine Verbündete gegen ihren Schmerz, der wie eine Glocke über Glorias Leben steht, eine Glocke, die Gloria nie werden liess, was sie hätte werden wollen; eine Mutter, eine Geliebte, eine Ehefrau, eine Erfolgreiche, eine Souveräne.

Der Roman „Die Jungfrau“ überrascht nach der Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ gleich vielfach. Monika Helfer spielt mit ihrer Erzählperspektive, erzählt von sich in der dritten Person, vom Ehemann Michael (Köhlmeier), der ihr Erzählen, ihr Schreiben begleitet, von Dialogen zwischen den beiden Schreibenden, Dialogen, die viel Intimes offenbaren. Sie erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die zwei Leben verbindet, deren Umlaufbahnen sich immer wieder kreuzen, deren Zentrifugalkräfte aber auch zu maximaler Distanz führen. Ein Buch über Lügen und Geheimnisse, über Träume und bittere Realitäten. „Die Jungfrau“ ist ein junges Buch, alles andere als konventionell erzählt, erfrischend mutig und erstaunlich persönlich!

Monika Helfer liest und diskutiert am 15. September in der Bodan-Buchhandlung Kreuzlingen um 19.30 Uhr. Moderation: Gallus Frei Anmeldung ist erwünscht!

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).

Lesung mit Monika Helfer und ihrem neuen Roman «Die Jungfrau» in der Bodan-Buchhandlung Kreuzlingen

Freitag, 15. September 2023, Beginn 19.30 Uhr

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).


„Die Jungfrau“ – Der neue Roman von Monika Helfer
Zwei Jugendfreundinnen – die eine reich, die andere arm. Nach einem halben Jahrhundert begegnen sie sich wieder. Gloria und Moni sind beste Jugendfreundinnen – die eine reich, die andere arm. Ein halbes Jahrhundert später begegnen sich die beiden Frauen wieder und Gloria beichtet ihr Lebensgeheimnis: Nie hat sie mit jemandem geschlafen. Früher kam Gloria immer gut an, war exzentrisch und schön, wollte Schauspielerin werden, war viel unter Menschen. Gloria und Moni wachsen auf im Mief der sechziger Jahre, sind konfrontiert mit Ehe, Enge und Gewalt. Wie wurden die beiden zu denen, die sie sind? Monika Helfer macht aus Lebenserinnerung grosse Literatur. Nach der Trilogie über ihre Familie und Herkunft ist „Die Jungfrau“ ein atemloser Roman über die jahrzehntelange Freundschaft zwischen zwei Frauen.

Lesung in der Buchhandlung Bodan, Kreuzlingen, Freitag, 15. September 2023, Beginn 19.30 Uhr, Moderation Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, mit anschliessendem Apéro

Beitragsbild © Minitta Kandlbauer

Raoul Schrott «Inventur des Sommers», Hanser

«das unüberbrückbare des Lebens in jedem moment in dem es sich vollzieht vervielfacht den sinn den man ihm geben kann» – Genau das kann Raoul Schrott mit seinem neusten Buch «Inventur des Sommers»; Er nimmt mich mit und setzt Spuren, die überraschen, faszinieren und Türen öffnen, die mir sonst verschlossen blieben.

Raoul Schrott ist ein literarischer Gigant. Kann sein, dass er diese Bezeichnung nicht mag und sie genau das suggeriert, was Raoul Schrott nicht will; Distanz. Ein Gigant nur schon deshalb, weil sich ein Regalbrett allein mit seinen Büchern durchbiegen würde. Ein Gigant deshalb, weil eine Verleihung des Georg-Büchner-Preises, der vielleicht grössten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, längst logische Konsequenz wäre und dem äussert breitgefächerten Werk des Dichters und Schriftstellers, Übersetzers und Essayisten gerecht werden würde.

Zudem hat Raoul Schrott etwas geschafft, was vielen oder den meisten Lyrikern vergönnt bleibt: Man kennt ihn. Man kennt ihn sogar vom Fernsehen, von Filmen und Sendungen wie dem SRF-Literaturclub. Man kennt seine Leidenschaft für das anspruchsvolle Buch, für das gute Gedicht. Und welcher Kritiker in dieser Runde hätte jemals derart euphorisch Lanzen für die Lyrik gebrochen, nie schulmeisterlich, obwohl er Lehrer und Dozent war und ist, nie elitär, obwohl durch sein Wissen eine ganze Enzyklopädie der Literatur mitzureden scheint, von den Griechen bis in die Neuzeit.

Ich lernte Raoul Schrott mit seinem ersten Roman kennen, mit dem er vor bald 30 Jahren das Bachmannpreislesen aufmischte, «Finis Terrae», eine phantastische Reise in eine erfundene Vergangenheit, die sich in der Wirklichkeit spiegelt. Ein Roman, der funkelt und von den Farben der Sprache lebt. Zweites Buch war «Hotels», tagebuchartige Aufzeichnungen in Gedichtform – zwei Bücher, die schon einmal zeigten, dass es für den Dichter und Schriftsteller weder in Themen, Form und Zugang Grenzen gibt.

TRAUREDE

der alte boden unter neuen schuhen verschwunden
wirst du dich aus der luft greifen
mit einem mal · unumwunden
eine zeitlang wirst du noch an den dingen streifen
doch vor lauter glück fühlt sich hernach alles anders an
der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
               dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
               schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen
sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst
sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen
solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst

oruro 19.11.17

 

platons sokrates erklärt, dass zwischen zwei formen des begehrens zu unterscheiden sei: ›himeros‹ als verlangen, das sich auf anwesendes richtet, und ›pothos‹ als jenes nach dem abwesenden – die leidenschaft für etwas, das gerade anderswo ist oder ganz fehlt. vorstellen lässt sich dieses abwesende als geisterhaftes ›phasma‹, ablesen an den von ihm hinterlassenen spuren und darstellen in form von ›kolossoi‹, unter denen man ursprünglich puppen verstand, wachs- oder tonfigürchen als lebensähnliche nachbildungen einer person.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben)


Raoul Schrott kommentiert, untermalt seine Gedichte mit Ergänzungen, Gedanken, Erklärungen, Reisenotaten, macht aus seinem Gedichtband eine Mischung zwischen Poesie und Essay. Wie immer lädt diese Form der Präsentation zum Verbleiben ein; Man möchte das Buch auf einem separaten Möbelstück offen liegen lassen, um immer wieder zu verweilen, um etwas in den Tag mitzunehmen.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers. Über das Abwesende», Hanser, 2023, 176 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27633-8

Raoul Schrott zeigt mit «Inventur des Sommers» seine grenzenlose Lust, sich mit Welt auseinanderzusetzen, auch wenn es die dunklen Seiten der Gegenwart sind. Wir wissen sehr wohl, dass da mehr ist, als was sichtbar ist. In der Literatur weiss man das schon lange, liest man doch auch zwischen den Zeilen. «Inventur des Sommers» ist eine Sprachreise ins Dazwischen. Im Intro zu seinem neusten Buch steht der Satz: „Denken braucht Distanz, um abstrahieren, sich von den Dingen, abziehen, entfernen und trennen zu können.“ Raoul Schrotts Distanz, aus der er schreibt, ist aber nie distanziert und unterkühlt. Raoul Schrott ist nicht nur ein Freund der Muse, wartet auch nicht, bis er gnädigst von ihr geküsst wird. Er reist ihr entgegen, reist ihr nach – mit Kopf, Herz und Hand. «Inventur des Sommers», ein Buch, das auch in den kommenden Sommer passen wird.

Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Raoul Schrott arbeitet zurzeit im Auftrag der Stiftung Kunst und Natur an einem umfangreichen Atlas der Sternenhimmel. 2023 wird er die Ernst-Jandl-Dozentur der Universität Wien innehaben.

Beitragsbild © Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen (Raoul Schrott bei seiner Lesung in der Kellerbühne)

Theresia Enzensberger «Auf See», Hanser

Was bewirken übersteigerte Selbstwahrnehmung, überdurchschnittliche Intelligenz gekoppelt mit Charisma und finanzieller Potenz? Wann kippen Utopien und werden zu selbstzerstörerischen Mechanismen, die nicht mehr zu stoppen sind? Theresia Enzensberger schrieb mit „Zur See“ einen Roman, der sich mit Grenzüberschreitungen und eben jenen Mechanismen beschäftigt, die Utopien in ein Fiasko verwandeln. Eine überaus geistreiche Dystopie, die hart an der Realität geschrieben ist.

Kaum jemand zweifelt daran, wie nahe die Menschheit an jenen Punkt gekommen ist, an dem das globale Gleichgewicht unkorrigierbar ins Unbekannte kippt. Auch wenn es solche gibt, die glauben machen wollen, dass alles bei weitem noch nicht so dramatisch sei und andere sich in ihrer Verzweiflung an Strassen und Gemälde kleben, weil es nach ihrer Ansicht der einzige Weg ist, die gewünschte Dramatik zu erzeugen. Dass es in genau solchem Klima nicht weiter verwunderlich ist, dass man mit scheinbar neuen, utopischen Ideen und Konzepten eine Alternative schaffen will zu all den Sachzwängen, aus denen man nicht aussteigen zu können glaubt, ist nicht weiter verwunderlich. Und so wie Theresia Enzensberger in ihrem Roman schildert auch kein Phänomen der Gegenwart.

„Auf See“ spielt in nicht allzu ferner Zukunft. Nicholas Verney, zuerst an der Philosophie gescheitert, um später Wirtschaftswissenschaften zu studieren, baut selbst zu Geld gekommen zusammen mit einer Investorengruppe vor der Nordseeküste eine künstliche Seestadt. Ein in sich geschlossenes Refugium, bewohnt von WissenschaftlerInnen und PionierInnen, das sich ausserhalb eines bestehenden Staatsgefüges auf gesellschaftliches und wirtschaftliches Neuland wagen soll. Eine Utopie, die schnell an den Mechanismen von Machterhaltung und sektenähnlichen Strukturen scheitert. Was zu Beginn scheinbar gut durchdacht magnetische Wirkung erzeugt, durchaus der Meeresbrandung trotzt, beginnt an den menschlichen und technischen Wirklichkeiten auseinanderzubrechen.

Theresia Enzensberger «Auf See», Hanser, 2022, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27397-9

Dort, auf jener künstlichen Insel, die sich aus Trotz immer mehr dem Aussen verschliesst, wächst Yada auf, irgendwann das einzige Kind auf und in der Seestadt, die einzige Tochter jenes Mannes, der wie ein Sektenguru die bröckelnden Strukturen des künstlichen Eilandes zusammenhalten versucht. Permanent überwacht und im Glauben gelassen, der Rest der Welt wäre längst im Chaos untergegangen, abgeschottet und im Überlebenskampf trainiert, von MitstreiterInnen ihres Vaters unterrichtet und optimiert, glaubt sie nicht nur den Warnungen ihres Vaters, sondern auch den Geschichten um eine kranke Mutter, einer zerstörten Familie.

Bis Yada, die bald volljährig wird und die Risse in der Seestadt immer klarer zu deuten versteht, von der künstlichen Insel flieht und sich auf die Suche nach ihrer Mutter macht. Yada findet eine Welt, die zwar kaputt ist, aber mitnichten dem entspricht, was ihr ihr Vater an Szenarien vorbetete. Sie muss feststellen, dass nichts jenem Bild entspricht, das man ihr während ihres ganzen Lebens an die rissig gewordenen Wände ihres immer kleiner werdenden künstlichen Kosmos projizierte. 

„Auf See“ erzählt auch die Geschichte von Helena, Yadas Mutter, die einst fasziniert vom charismatischen Nicholas Verney, mit der Geburt von Yada eine Familie gründete, aber im Plan ihres Mannes immer weniger Platz bekam, bis sie vor der Entscheidung stand, mit auf die Insel zu kommen oder im Kampf um das Sorgerecht für die Tochter einer juristischen Übermacht ausgesetzt zu sein. Helena verliert ihre Familie, ihre Tochter. Sie stürzt sich in ihre Kunst, die Malerei und wird durch ein Kunstprojekt ungewollt zu einer Lichtgestalt für Menschen, die nach Visionen dürsten.

Ob die Welt ihres Vaters auf der künstlichen Insel oder die Welt ihrer Mutter mitten in der Kunst – beides sind Projektionsflächen für Menschen, die in ihrer verzweifelten Suche nach alternativen Lebensentwürfen zu allem entschlossen sind. Die Gegenwart, in der immer mehr Menschen ums nackte Überleben kämpfen und andere in der gleichen Krise grosse Kasse machen, in der sich selbst in der ersten Welt das Leben immer mehr auf der Strasse abspielt und sich eine Upperclass hinter Mauern und Panzerglas verstecken muss und ihren Erfolg mit feierlicher Selbstzufiedenheit zelebriert, erscheint ein Roman wie der von Theresia Enzensberger alles andere als dystopisch oder realitätsfremd. Theresia Enzensberger, die die Erzählstränge ihrer ProtagonistInnen geschickt mit den Aufzeichnungen aus Helenas Archivs mischt; Recherchen über „utopische“ Lebensentwürfe, „alternative“ (Über-) Lebensstrukturen bis hin zu jenen Geschichten, die Sekten, wie jene der Scientologen, weltumspannend einflussreich und mächtig machten.

„Auf See“ ist unsäglich spannend und faszinierend klug geschrieben. Ein Roman, der unter die Haut fährt!

Theresia Enzensberger wurde 1986 geboren, sie lebt in Berlin. Sie studierte Film und Filmwissenschaft am Bard College in New York und schreibt als freie Autorin unter anderem für F.A.Z., F.A.S., Monopol, ZEIT Online und DIE ZEIT. 2014 gründete sie das BLOCK Magazin, das 2016 bei den Lead Awards als bestes Newcomer-Magazin prämiert wurde. Bei Hanser erschien 2017 ihr erster Roman «Blaupause», der mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet wurde, sowie zuletzt ihr zweiter Roman «Auf See» (2022).

Beitragsbild © Rosanna Graf

Alex Capus «Susanna», Hanser

Alex Capus ist längst eine Institution. Mag sein, dass ihn der Erfolg seiner Bücher bei den einen suspekt macht. Vielleicht ist es die scheinbare Leichtigkeit seines Erzählens, vielleicht die Tatsache, dass in seiner Sprache die Lust und nicht der Kampf die Töne bestimmen. 

„Susanna“ ist Alex Capus nicht über den Weg gelaufen. Sie wurde ihm zugetragen bei einem der regelmässigen Treffen mit seinem Freund Patrick Tschan, mit dem sich Capus regelmässig zu Pizza und Wein trifft. Bei einer Lesung in St. Gallen erzählte Capus, dass es immer wieder vorkomme, dass ihm Geschichten zugetragen werden, von denen andere überzeugt sind, es verstecke sich eine Perle in der Schale. Dieses eine Mal aber blieb eine solche Geschichte hängen. Die Geschichte einer Frau, die aus dem starren Gefüge einer pietistischen Frömmigkeit ausbrechen musste, die schon im 19. Jahrhundert ihr Leben in ihre eigenen Hände nahm, die stets jene kleine Lücke zur Freiheit offen lassen wollte, die es braucht, um an Selbstbestimmung zu glauben. Die Geschichte einer Frau, die sich den meisten Konventionen ihrer Gegenwart widersetzte und die bis an die Ränder der damals bekannten Welt getragen wurde, genau dorthin, wo staatlich institutionalisierte Unmenschlichkeit einem ganzen Volk die Freiheit entriss, bis zur Begegnung mit dem grossen Häuptling Sitting Bull.

Vor ein paar Jahren flimmerte mit „Die Frau, die vorausgeht“ ein Film über Leinwände und Bildschirme, der die Geschichte einer Catherine Weldon erzählte, die 1889 ins Dakota-Territorium reiste, um dort den Lakota-Häuptling Sitting Bull zu treffen und zu malen, ein Film in romantisch verklärter Hollywoodmanier, der mehr ausklammert, als dass er erzählt. So wie es Sitting Bull gab, der nach dem Sieg der Indianer 1876 am Little Bighorn in Indianershows wie ein wildes Tier in der westlichen Welt vorgeführt und 1890 feige umgebracht wurde, so gab es auch jene Frau – Catherine Weldon, die als Susanna Faesch 1844 in Basel geboren wurde. Susanna Faeschs Mutter, die wie ihre Tochter jenen Stachel der Freiheitsliebe stets in sich trug, entfloh mit der Tochter der Enge einer Stadt, einer Gesellschaft, einer Ehe und trat eine Reise ins Ungewisse, in jenes Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf der anderen Seite des Ozeans an. Dort heiratete sie erneut, begann eine leidlich erfolgreiche Karriere als Porträtmalerin, um wie Jahre zuvor ihre Mutter dereinst ihre Koffer zu packen, um erneut jene Reise ins Ungewisse anzutreten, zusammen mit ihrem Sohn und der Idee, dort im Westen des Kontinents jene Freiheit zu finden, nach der sie ein Leben lang suchte, für die sie sich ein Leben lang einsetzte.

Alex Capus «Susanna», Hanser, 2022, 288 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-446-27396-2

Zu Beginn des Romans wird uns von der fatalen Begegnung der kleinen Susanna mit dem Wilden Mann erzählt, einer Kultfigur, die in einem Basler Brauch vom Schiff ans Ufer springt, wilde Tänze aufführt und durch die Stadt zieht. Susanna gerät in den Griff des Wilden Mannes und wehrt sich, in dem sie durch die Maske des Mannes mit dem Finger in sein Auge sticht. Ganz am Schluss des Romans findet die stets Suchende Sitting Bull, die Verkörperung des Wilden Mannes, eine Begegnung, die das Herz der Malerin ein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.

Ein historischer Stoff, vielleicht sogar eine Korrektur jenes schmächtigen Films. Aber Alex Capus Intension war es nicht, historischen Stoff nachzuerzählen, schon gar nicht die Begegnung zwischen einer Basler Malerin und eines Sioux Häuptlings, der zur Ikone eines drangsalierten Volkes wurde. „Susanna“ ist ein vielschichtiges Porträt einer Frau und ihrer Zeit. Mit der Freiheit eines Schriftstellers hätte Alex Capus von der Härte eines pietistischen Elternhauses erzählen können, vom leidvollen Kampf einer Frau, die ihren Weg gehen will, von den Mühen einer Porträtmalerin in einem Amerika, das von den Wellen des Fortschritts und der Technisierung überspült wird, vom Freiheitsdrang einer Frau, die sich nicht beugen lassen will. All das schien Alex Capus nur nebensächlich zu interessieren. „Susanna“ ist das feinsinnige Porträt einer suchenden Frau in einer Zeit, in der Frauen auf beiden Seiten des Ozeans nur wenig Spielraum gegeben wurde.

Und „Susanna“ ist ein Fest des Erzählens. Vielleicht ist Alex Capus jüngster Roman einer seiner stärksten. Capus muss nichts mehr beweisen. Er kann es. Es ist schlicht ein Genuss, wenn er sich mit grossem sprachlichem Gestus in eine Szenerie hineingibt, wenn er Blicke offenbart, wenn durch sein Erzählen jene Weisheit spricht, die aus all den Begegnungen von Mensch zu Mensch, seien es auch jene in seiner Bar, die Vielfarbigkeit des Menschseins zeigen. Da wird eine Geschichte erzählt, eine gute Geschichte. Aber was mich viel mehr überzeugt, ist die Art seines Erzählens. Da schreibt einer, dem ein vielstimmiges Orchester zur Verfügung steht, dem ich mit Verzückung lausche, sei es nun im Stillen bei der Lektüre mit den cineastischen Bildern, die aufsteigen oder wenn der Schriftsteller in seiner unnachahmlichen Art hinter einem Stehtischchen steht und vor Publikum erzählt.

„Susanna“ ist Genuss pur.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, studierte in Basel Geschichte und Philosophie und lebt heute als freier Autor in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem viele weitere Bücher, Kurzgeschichten, Romane und Reportagen folgten. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller führt Alex Capus in Olten die Galicia-Bar, die längst zu einem überregionalen Kulturort wurde.

Beitragsbild © Beni Blaser

Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser

Eine Irrfahrt durch Minenfelder

Abbas Khider balanciert in seinem Roman «Der Erinnerungsfälscher» zwischen Fakt und Fiktion: Die Hauptfigur flieht aus dem Irak und weigert sich schlicht, sich zu erinnern.

Gastbeitrag von Elodie Kolb
Elodie Kolb studiert vergleichende Literaturwissenschaften im Master an der Uni Basel und arbeitet nebenbei als Redaktorin bei der «bz Basel». 

Was am Schluss des neuen Romans von Abbas Khider bleibt, ist ein grosses Misstrauen: Ein Misstrauen gegenüber allem, was die Hauptfigur in «Der Erinnerungsfälscher» erzählt. Denn der aus dem Irak geflüchtete Said Al-Wahid leidet nicht nur an einer Erinnerungsschwäche, sondern füllt die Lücken mit erfundenen Geschichten auf. 

Said sitzt an einem trüben Sommertag im ICE Richtung Berlin, als er vom nahenden Tod seiner kranken Mutter in Bagdad erfährt. Komm so schnell wie möglich her, drängt sein Bruder am Telefon. Statt also wie geplant zu Frau und Kind zurückzufahren, begibt sich Said auf eine Reise in den Osten. Auf Umwegen – direkte Flüge gibt es seit Ewigkeiten nicht mehr – landet er als einziger Economy-Passagier in Bagdad. 

Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser, 2022, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-27274-3

Eine Irrfahrt ist nicht nur die Reise in seine Heimat, sondern auch jene, die er durch sein Gedächtnis unternimmt. Es ist eine homerische Odyssee, wie mit dem Namen von Saids Sohn, Ilias, subtil angedeutet ist. Die Hinrichtung von Saids Vaters viele Jahre zuvor, die Flucht über Jordanien, Ägypten, Griechenland und schliesslich sein Alltag in Deutschland: Saids Erinnerungsfetzen an sein Leben sind wie Puzzleteile. Er weiss weder, welche wahr und welche erfunden sind, noch lassen sich die Fragmente zu einem Bild zusammensetzen.

Erst als er sich als Schriftsteller versucht und an seinem Gedächtnis scheitert, wird ihm seine Erinnerungsschwäche richtig bewusst. Der anstrengenden Arbeit sich zu erinnern, entgeht Said ganz bewusst: Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reissen. Viel angenehmer — und besser für das Storytelling — sind erfundene Geschichten. Und doch wird die Konfrontation durch die Reise nach Bagdad und das Wiedersehen mit der Familie unumgänglich. 

Das Unvermögen sich zu erinnern, spiegelt Abbas Khider an einzelnen Stellen mit aneinandergereihten Fragen: Hat Saids Mutter nur gearbeitet und nie Zeit gehabt, mit ihren Kindern zu spielen? Oder hat er die Antwort im Labyrinth seines Gedächtnisses verloren? Was den Roman vorantreibt, ist das Misstrauen gegenüber dem unzuverlässigen Erzähler: Welche der erzählten Geschichten über Saids Flucht sind wahr? Oder hat er diese gar gänzlich erfunden?

Weil er sich nicht erinnert, fehlt Said eine Identität: In Deutschland wird er zum Inländer auf Papier, im vom Krieg versehrten Bagdad spürte er die Fremde mächtiger als in den fernen Ländern. Diese Verzweiflung treibt Abbas Khider in der verkrampften Gewohnheit Saids auf die Spitze, immer seinen Reisepass bei sich zu tragen; auch im Supermarkt um die Ecke. 

Mit «Der Erinnerungsfälscher» bleibt Abbas Khider dem Genre der Migrationsliteratur treu und zeigt auf feinfühlige Art, was Krieg und Flucht mit einem Menschen machen können. Er reflektiert Rassismuserfahrungen in Deutschland subtil, teils ironisch: etwa, wenn Said denkt, er sei die Blumenvase in der NGO, ein bisschen Farbe zwischen den weiss gestrichenen Wänden. 

Sprachlich ist der Text ein Seiltanz zwischen Plattitüden und Pathos, der Khider nur teilweise gelingt: Mitunter rutscht er ab in Floskeln, wenn Said auf der Flucht die Städte wechselt, wie andere ihre Hemden. Oder wird pathetisch, wenn sich im Irak die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden drehen. 

Zwischen Floskeln und detailreichen Beobachtungen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion: Nicht nur die Reise Said Al-Wahids ist eine Irrfahrt, sondern auch der Roman. Eine Odyssee durch ein Leben, die zum Nachdenken über das eigene Erinnerungsvermögen anregt. Und was der Roman hinterlässt, ist die Erkenntnis, dass wir früher oder später alle auf die Minen unseres Lebens treten.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman «Der falsche Inder», es folgten die Romane «Die Orangen des Präsidenten» (2011) und «Brief in die Auberginenrepublik» (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Ausserdem war er im Jahre 2017 Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser erschienen von ihm «Ohrfeige», «Deutsch für alle» (Das endgültige Lehrbuch), und «Palast der Miserablen».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter-Andreas Hassiepen