Yasmina Reza ist eine der bedeutendsten französischen Autorinnen der Gegenwart, spätestens seit ihren Theaterstücken „Kunst“ oder „Gott des Gemetzels“. Rezas Kunst ist mit Sicherheit die Dramaturgie. Aber in ihrem neuesten Buch mit dem Titel „Die Rückseite des Lebens“ kann man sich ganz und gar in die Sprache der Schriftstellerin verlieben, die klare Gestalt ihrer Sätze.
„Die Rückseite des Lebens“ ist keine Sammlung von Erzählungen. Es sind auch keine Betrachtungen. In den über fünfzig mehrheitlich sehr kurzen Texten mäandert Yasmina Reza zwischen Tagebucheinträgen einer Beobachterin und literarischen Kurzreportagen. Über längere Zeit besuchte die Schriftstellerin immer wieder Gerichtsprozesse, solche von Promenenten wie jenen gegen den ehemaligen französischen Präsidenten Sarkosy, aber auch solche, bei denen jene Verbrechen verhandelt werden, die es nie wegen der Personen, aber sehr wohl wegen der Art des Verbrechens in den Fokus der Öffentlichkeit schaffen. „Die Rückseite des Lebens“ ist aber nicht einfach eine Sammlung menschlicher Abgründe. Immer wieder sind ganz kleine Beobachtungen eingefügt, Momente der Freude, Begegnungen mit Bekannten und Freunden. Normalitäten, die im Kontrast mit den Ungeheuerlichkeiten, die vor Gericht verhandelt werden, in ein ganz eigenes Licht getaucht sind.
Was die Autorin an all diesen Gerichtsfällen, diesen Schicksalen, der Nähe zum Bösen interessiert, mag unterschiedliche Gründe haben. Die Sehnsucht der meisten Menschen nach Harmonie, Sonnenuntergängen, Kitsch und romantischen Gefühlen steht in krassem Widerspruch zu einer Autorin, die sich genau dorthin begibt, wo die Staatsgewalt mit den Mitteln der Justiz dem entgegentritt, was sich auf der Rückseite des Lebens zu befinden scheint. Aber was die Rückseite ausmacht, ist eine Frage des Standpunkts, der Perspektive. Dort, in den Gerichten, vor den Richtern, werden Leben ausgerollt, die kippten, die zur Gefahr für Leib und Leben wurden. Leben, die durch Fehlentscheidungen aus der Bahn liefen, aber auch Leben, die gar nie eine Chance hatten, auf die „Vorderseite“, die Sonnenseite des Lebens zu treten.
Yasmina Reza «Die Rückseite des Lebens», Hanser, 2025, aus dem Französischen von Claudia Hamm, 200 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-446-28275-9
Vielleicht sind diese literarischen Kurzreportagen, die sich nur skizzenhaft um Vollständigkeit bemühen, einen Eindruck, nie genug Zeit, um wirklich in die Untiefen menschlicher Existenzen abzutauchen, genau jene Welt, aus der Yasmina Reza sonst ihre Romane, Theaterstücke und Drehbücher schreibt. Diese Spanne zwischen scheinbarer Normalität, dem kleinen Glück bis hin zu blutgetränkten Abgründen. Als wäre dieses Buch eine literarische Bilder-, Fotoausstellung. Wer die Texte liest und sich auf das Gelesene einlässt, macht sich unweigerlich die Geschichten, die inneren Bilder selbst.
Wenn Yasmina Reza im Gerichtssaal sitzt, ist das, was sie schreibt weder Erklärungsversuch noch Sozialstudie. Yasmina Reza zeichnet literarische Miniaturen. Was den besonderen Reiz dieser Kontraste ausmacht; Reza schildert mit vollendeter Sprache das Kleine, Traurige, Abgründige, Schmerzhafte. All das, was ich als Betrachter unweigerlich mit dem Maximum an Emotionen verbinde. Nicht das Yasmina Reza ohne Empathie schreiben würde, ganz im Gegenteil. Aber sie entzieht sich jedem Urteil, jeder Erklärung. Alles, was sie schreibt, bleibt in der Sprache, in der gekonnten Schilderung all dieser Szenen, jenen im Gericht und jenen, die den Ursprung der Verhandlungen ausmachen.
Fragen wie; Was bringt ein Leben zum Kippen? Wann ist ein Leben verloren? Warum können wir nicht aufhalten, was unweigerlich auf den Abgrund zusteuert? Warum vergiftet eine Mutter ihre Kinder mit Insulin? Warum wird die Tochter von Einwanderern zur rasenden Rassistin?, interessieren die Autorin ganz offensichtlich. Aber Yasmina Reza überlässt mich beim Lesen mit den Antworten mir selbst – mit Absicht.
Manchmal sind es auch rührende Miniaturen. Wenn sie vom letzten Besuch beim grossen Schriftsteller Imre Kertész und seiner Frau erzählt, kurz vor seinem Tod. Begegnungen, die von der Verbundenheit zweier Herzen erzählen. Oder vom Schauspieler Bruno Ganz, mit dem sie öfters zusammenarbeitete, der in seinen letzten Jahren in Venedig lebte, den sie manchmal «zufällig» in den Gassen der Lagunenstadt traf. „Geschichten“ wie Tagebuchblätter, getragen von Liebe, Respekt und der Sehnsucht nach Nähe.
Yasmina Reza, 1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020, dem Premio Malaparte 2021, dem Prix de l’Académie de Berlin 2022 und dem Prix Mondial Cino del Duca 2024 ausgezeichnet. Das Theaterstück «Der Gott des Gemetzels» wurde 2011 sehr erfolgreich von Roman Polanski verfilmt, hochkarätig besetzt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly.
Claudia Hamm ist Autorin, Theatermacherin und Übersetzerin von u.a. Emmanuel Carrère, Édouard Levé, Mathias Énard, Nathalie Quintane, Joseph Ponthus und Joseph Andras. Sie ist Herausgeberin des Akzente-Doppelhefts Automatensprache (Hanser, 2024).
So wie es für jede Autorin, jeden Autor aus dem Hause Suhrkamp eine Adelung ist, wenn in der Insel-Bücherei ein Kleinod erscheint, so passiert mittlerweile ähnliches, wenn man in Zusammenarbeit mit der Illustratorin Kat Menschik ein Buch herausgeben kann.
Nicht nur dass Kat Menschik die erfolreichste Illustratorin im deutschen Sprachraum und damit Aufmerksamkeit garantiert ist. Die Künstlerin versteht es wie kaum eine andere, einen Text zum Glänzen zu bringen. Dabei ist Illustration eine ungenügende Kategorie, denn die Illustrationen Kat Menschiks bebildern nicht bloss das Geschriebene, die Geschichte. Kat Menschiks Bilder sind eine eigene „Tonspur“, eine überaus sinnliche Spur, die aus einem Text auf Papier ein Gesamtkunstwerk macht, ein Kunstwerk mit optischem Wiedererkennungswert. Die Bilder reissen auf und geben mir aber trotzdem so viel Freiraum in meiner eigenen Vorstellungskraft, dass sie mich weder einengen noch zudecken. Ihre Illustrationen tauchen etwas ein, hüllen in ein Licht, versinnlichen.
Monika Helfer «Der Bücherfreund», Hanser, illustriert von Kat Menschik, 80 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28273-5
Und wenn es dann die Schriftstellerin Monika Helfer ist, die sich mit ihrer biographischen Trilogie „Bagage“-„Vati“-„Löwenherz“ ins Bewusstsein vieler Lesender geschrieben hat und nun mit einem Büchlein „Der Bücherfreund“ zusammen mit Kat Menschik auf den Büchertischen auftaucht – ein sicherer Wert. Ein Buch, das mit Sicherheit meine Unterstützung nicht benötigt. Aber weil Monika Helfer mit diesem Text mein eigens Dasein, mein Leben und meine Leidenschaft ganz besonders zum Mitschwingen bringt, ist eine Reaktion auf diese Nachmittagslektüre an einem verhangenen Sonntag Nachmittag unausweichlich.
Mein Vater war ein Bücherfreund. Ein blasser Mann, der das Wetter mied und Tag und Nacht über seinen Büchern sass. Das heisst, wenn er Zeit hatte, und Zeit hatte er viel. Er liebte seine Bücher mehr als die Menschen, denn sie konnten ihm Böses antun. Die Bücher niemals und nie.
Was bedeuten Bücher für sie? Was macht ein Buch zu einem guten Buch? Was würden sie tun, wäre die Existenz ihrer eigenen Bibliothek bedroht? Beschäftigen sie sich damit, was dereinst mit ihrer Bibliothek passiert, wenn ihr Leben ein Ende gefunden hat?
Als meine Kinder noch klein waren, meine Bücherregale zu ihrem Dasein gehörten, fragte mich einmal einer meine damals noch kleinen Söhne, was mit meinen Büchern passieren würde, wenn ich nicht mehr leben werde. Kinder fragen ganz direkt. Damals stammelte ich, ich hätte keine Ahnung. „Die nehme ich dann alle in meine Wohnung“, meinte der Kleine. Mittlerweile weiss ich sehr gut, dass meine Bücher zur Last werden, wenn ich es nicht zu Lebenszeiten schaffe, sie verträglich zu dezimieren. Aber wie kann ich mich schmerzfrei von ihnen trennen? Meine Bücher sind ein Teil von mir, selbst dann, wenn ich genau weiss, dass ich sie zum allergrössten Teil kein weiteres Mal lesen werde. Aber meine Bibliothek ist meine Spur durch mein Leben. Ein Leben weit über meinen eigenen Horizont hinaus. Ich bin ein Bücherfreund. Und sie?
Der Vater in Monika Helfers Erzählung „Der Bücherfreund“ war es auch, mit Haut und Haar, ein Leben lang. Ein Umstand, der die Erzählerin geprägt hat. Monika Helfer erzählt die Geschichte eines Abenteuers, denn die Bibliothek dieses Mannes war bedroht. Er hätte sie auflösen müssen. Sie war nicht nur von Krankheit und Sterben innerhalb der Familie bedroht, sondern auch von historischen, politischen Begebenheiten. Der Mann sah sich gezwungen, die Hundertschaften an Büchern an einem sicheren Ort zu verstecken, sie wegzubringen. Aber wie versteckt man eine Bibliothek vor ihrem sicheren Verlust? So, dass man sie dereinst wieder zurückholen kann. Monika Helfers Erzählung ist die Geschichte eines Mannes, der alles zu verlieren droht, seine Bibliothek, seine Familie, seine Arbeit.
Für etwas mehr Geld gibt es eine auf 235 Exemplare limitierte Edition des «Bücherfreunds» mit einem von Kat Menschik signierten und nummerierten Siebdruck, einer Original-Illustration im Format 10,3 cm x 16,9 cm.
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet.
Kat Menschik, geboren 1968 in Luckenwalde, ist freie Illustratorin. Zuletzt veröffentlichte sie in der Reihe Illustrierte Lieblingsbücher, eine der schönsten Buchreihen der Welt. Zahlreiche von ihr ausgestattete Bücher wurden prämiert.
Streit ist nicht schlecht. Streit braucht es, auch den in der Liebe, in der Ehe. Und mit Sicherheit in der Gesellschaft und in der Politik. Aber dass zwischen Gegnern und Feinden ein grosser Unterschied besteht, dass Streit unter Feinden selbst dann zum Krieg wird, wenn man ihn vordergründig nur mit Worten austrägt – davon schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler leidenschaftlich und sehr persönlich.
Streitet man in Diktaturen? Wird im Kreml gestritten? Wohl kaum. Lager und Gefängnisse füllen sich schnell mit jenen, die sich dem Disput stellen. Navalny wird man so schnell nicht vergessen. Streitet man mit Trump? Stellt sich ihm in seinem engsten Kreis jemand entgegen? Traut sich dort jemand? Oder werden alle, die nur Anzeichen einer Widerrede zeigen, wegspediert, versenkt und geächtet? Wahrscheinlich ist es ein Gradmesser einer funktionierenden Demokratie, ob man den Streit aushält. Aber wo hört Streit auf? Wo beginnt verbale Vernichtungsstrategie? Die Gräben in der Politik zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv, zwischen den politischen Polen werden immer gehässiger. ExponentInnen sind immer weniger in der Lage, sich wirklich um die Probleme der Menschen zu kümmern, als um den strategischen Schlagabtausch der Streitenden, die sich stets profilieren müssen, um bei ihren Wählerinnen und Wählern nicht in Ungnade zu fallen.
Ein Streit ist nie harmlos. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.
Die Coronajahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass wir die Fähigkeit der respektvollen Auseinandersetzung zu verlieren drohen. Wie schnell wird man abgestempelt und diffamiert, ins Offside gedrängt, in eine Ecke, aus der man, einmal in einen medialen Shitstorm geraten, nicht mehr oder nur mehr schwer herausfindet. Gräben ziehen sich zwischen Freundschaften, bis in Familien. Man schweigt lieber, als sich zu streiten. Sind wir zu zimperlich geworden oder leiden wir an Harmoniesucht, die angesichts der allseitigen Bedrohungen verständlich wird?
Damit ein Streit nicht eskaliert und die Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssem die Bindungskräfte grösser sein als der Vernichtungsdrang.
Svenja Flaßpöhler «Streiten», Hanser, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28004-5
In patriarchalen Strukturen, in Ehen nach alten Mustern, galt der Streit als Schieflage. Unterwerfung schloss Widerrede aus. Anpassung war das Mass jeder funktionierenden „Partnerschaft“ zwischen Chef und Untergebenen. Nicht unähnlich einerDiktatur. Man scheut(e) den Streit. Er ist Gift. Das mag heute in vielen echten Partnerschaften ganz anders sein. Man spricht von Streitkultur. Aber dass es für solche Auseinandersetzungen Raum bräuchte, nicht zuletzt Regeln, die von Streitenden akzeptiert werden, davon ist zumindest in der Politik wenig zu spüren. Wenn es in der Schweiz immer mehr Gemeindeführungsgremien gibt, die im ausufernden Grabenkrieg handlungsunfähig werden, ist das symptomatisch und bedenklich genug.
In der Feindschaft wird dem Anderen das Existenzrecht abgesprochen.
Im Sport akzeptieren wir Regeln, SchiedsrichterInnen, weil Gegner in aller Regel keine Feinde sind. Unterlegene geben sich am Schluss die Hand, Schwinger putzen sich gegenseitig das Sägemehl von den Schultern, man gratuliert dem Sieger. Im Sport scheint zu funktionieren, was in der Politik immer schwieriger wird, in totalitären, diktatorischen Stukturen unmöglich. Gegner werden zu Feinden, die nicht nur zu besiegen sind, sondern zu vernichten. Das Vokabular solcher Brandreden ist unmissverständlich und orieniert sich schamlos am Vorbild ehemaliger Verbrecher an der Menschlichkeit.
Es steht Wille gegen Wille wie in einem Krieg, mit dem Unterschied, dass eine Niederlage akzepiert werden kann.
Svenja Flasspöhlers Buch „Streiten“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Fähigkeit, die mehr und mehr an die Ränder gedrängt wird, sei es in Parlamenten, in Wahlkämpfen oder in Talkshows, bei denen es nicht mehr um Argumente geht, sondern darum, die Gegner zu vernichten. Krieg. Svenja Flasspöhler hat in ihrem Leben genug Erfahrungen gesammelt. Sei es im öffentlich rechtlichen Rundfunk, in Talkshows, an Buchmessen, selbst in Gesprächen mit Menschen, von denen sie glaubte, sie wären ihr gut gesinnt, bis hin in eine Kindheit, als Tochter sich streitender Eltern und drohender Eskalationen. „Steiten“ ist der Versuch einer Einordnung, einer Besinnung.
Philip Kovce im Gespräch mit Svenja Flasspöhler am Montag, 18. November 2024 im Unternehmen Mitte in Basel
Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins sowie Gründerin und Co-Geschäftsführerin des neuen Berliner Philosophie-Festivals Philo.live!. Zuletzt erschienen von ihr u. a. «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren» und «Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit». Für «Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe» erhielt sie den Arthur-Koestler-Preis. Svenja Flasspöhler lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Die Lektüre des neuen Romans von Jonas Lüscher entlässt mich mit sehr gemischten Gefühlen. So wie ich vieles im Roman nicht einordnen kann, so kann ich nicht einmal den Titel „Verzauberte Vorbestimmung“ einordnen. Aber vielleicht ist genau das Prinzip „Einordnungsversuch“ der Schlüssel zu Jonas Lüschers Roman.
Jonas Lüscher schrammte während der Covid-Pandemie knapp am Tod vorbei. Er ist ein Gezeichneter. Ich begegnete ihm nach seiner Krankkeit in Leukerbad am dortigen Literaturfestival, wo er Auszüge aus einem Manuskript las. Als wir uns auf der Strasse begegneten, miteinander sprachen, traf ich einen ganz anderen Jonas Lüscher wie vor der Pandemie; verletzlich, dünnhäutig, vorsichtig. Damals auf der Intensivstation stand eine ganze Batterie von Maschinen um das Bett des Schriftstellers, der währnd bestimmter Phasen schon glaubte, in den Prozess des Sterbens übergegangen zu sein. Das beschreibt Jonas Lüscher in seinem Roman, wenn auch erstaunlich zurückhaltend. Er war ganz und gar abhängig von Maschinen, die lebenswichtige Körperfunktionen übernahmen. Es muss eine ganz eigene Erfahrung sein, dass man sein physisches Dasein Geräten übergeben muss, dass man in Phasen maximaler Empfindsamkeit zu einem eigentlichen „Cyborg“ wird, unfreiwillig.
„Verzauberte Vorbestimmung“ istein Konglomerat aus verschiedensten Handlungssträngen und Personen, Handlungssträngen, die sich überschneiden und solchen, die sich wieder verlieren. Personen, die über Dutzende von Seiten zentral erscheinen, dann aber nie mehr auftauchen. Einzige Konstanten in dem Buch sind der suchende Erzähler und der Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Filmemacher Peter Weiss, der sich mit seinem Spätwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ ein literarisches Denkmal setzte. Eine Figur in Lüschers Roman, die in ganz unterschiedlichen Zuständen und Erzählebenen auftaucht. Wie Lüscher selbst ein ewig Suchender, seine Kunst ein einziger Versuch des Einordnens. Eine andere Konstante in Lüschers Roman ist die Auseinandersetzung mit Technik, mit Maschinen, sei das die Maschinerie der modernen Kriegsführung, jene der Industrialisierung, der Medizin bis in die Architektur des Grossenwahns, wenn der Erzähler im Ägypten der Zukunft zwischen der perfekten Retorte und dem Realen, Vergessenen pendelt.
Das Buch beginnt mit Knall und Rauch. Ich erinnere mich an einen Kinobesuch zusammen mit meiner Frau vor vielen Jahren. Ich überredete sie zum Film „Der mit dem Wolf tanzt“, ein Streifen, der mit einem minutenlangen Schlachtgemetzel beginnt. Ich musste meine Frau während Minuten trösten, zurückhalten, beschwichtigen und besänftigen, damit die dem Kino nicht entfloh. Genauso ging es ihr mit «Verzauberte Vorbestimmung» (Übrigens ein Titel, der angesichts des Romananfangs arg strapaziert!). Jonas Lüscher beschreibt die Erlebnisse eines algerischen Soldaten während des ersten Weltkriegs in den Schützengräben gegen die Deutschen. Den ersten strategischen Giftgasangriff, das Herannahen eine beinah fluoreszierenden Wolke, in der alles grausam erstickt, Menschen mit schrecklich verzerrten Fratzen tot zusammenbrechen. Eine apokalyptische Szenerie, die eigenartig fesselt und ebenso abschreckt. Aber wer sich an die Fersen dieses algerischen Soldaten heftet, verliert ihn wieder, obwohl er Jahre später in Paris zum Postboten geworden ist. Ein Erzählstrang, der wie viele andere aus dem Meer der Möglichkeiten auftaucht und wieder versinkt. So wie die Geschichte eines anderen Postboten, des Franzosen Joseph Ferdinand Cheval, der zwischen 1879 und 1922 an seinem „Palais idéal“ baute, aus gesammelten Steinen, auf einem Grundstück weitab, einem Monument, das Künstler wie Max Ernst und Pablo Picasso faszinierte und bis heute viele Touristen lockt. Oder sie Geschichte von Ned Ludd im tschechischen Varnsdorf, einem Ort der aufblühenden Textilindustrie. Ein Aufstand der Arbeiter, einer Frauenrevolte, einem Fabrikgrossbrand. Eine Geschichte, die Lüscher in ganz eigener Sprache, beinah märchenhaft erzählt. Eine Geschichte, bei der es aber weder um das Personal noch um die Geschichte selbst geht.
„Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine literarische Auseinandersetzung. Sprachgewandt, plottabgewandt. Lüscher will weder unterhalten noch betäuben. Er nimmt mich mit in seine Odyssee, in ein Labyrinth, von dem nicht einmal er selbst das Ziel, die Mitte gefunden hat. Ein literarischer Stoffknäuel mit vielen Anfängen und Enden, ein Flickenteppich aus Fragmenten, Zuständen und Erzählebenen, der von mir alles abfordert, viel mehr, als ich bei fast allen Autorinnen und Autoren zulassen würde. Jonas Lüscher schreibt mit der Membran eines Überempfindlichen, eines Hochsensiblen, eines Verwundeten, Gezeichneten.
Ich tat mich schwer mit der Lektüre, obwohl es immer wieder lange Passagen der Beglückung gab, nicht zuletzt dank seiner Sprachkunst. Ich werde Zeuge dieser Hypersensibilität. Und wenn ich die Lektüre zu einer solchen Zeugenschaft machen kann, dann lese ich mit grösstem Interesse und unsäglichem Staunen.
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Lieber Gallus
Ich habe bisher keinen Roman von Jonas Lüscher gelesen, aber schätze seine klugen Gespräche über unsere Gesellschaft und deren Zukunft in verschiedenen Medien.So interessierte ich mich sehr für seinen neuen Roman. Wegen einer vernichtenden Kritik in einer Innerschweizer Zeitung vor der ersten Lesung in der Schweiz war ich verunsichert, ob ich dieses Werk lesen soll, habe dann aber das Buch trotzdem gekauft. Wie reich wurde ich belohnt! Hilfreich war die Lektüre seiner Poetik-Vorlesungen von 2019 «In die Erzählung flüchten», wo das «Oszillieren zwischen mathematisch messbarer Wissenschaft und erzählender Literatur, zwischen Aufklärung und Romantik» ausführlich besprochen wird.
Obwohl die Lektüre von «Verzauberte Vorbestimmung» anspruchsvoll ist, habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Dass sich vieles nicht einordnen lässt, gefällt mir als Ausdruck der Herausforderungen und Ambivalenz des Menschen im Umgang mit Maschinen. Das in fünf Teile gegliederte Werk zeigt mehrere Erzählstränge, die abbrechen, wieder auftauchen und inkonstant durch die verschiedenen Abschnitte führen. Auch die Zeitebenen wechseln oft ohne Übergang, beginnen im Ersten Weltkrieg und enden in der Nach-Putin Ära. Die Auswirkungen der Macht der Technik und des Geldes auf die Menschen bestimmen in vielfältiger Weise den Text. Zum Beispiel die Veränderung des Ertrags der Arbeit an neuen Webstühlen in der Fabrik im Vergleich zu der an der Heimarbeit: Sein Staunen über die Zahlen, die sich da untereinander reihten, Beträge, die ihm vor kurzem noch fantastisch erschienen waren, fand kein Ende. Es war ihm, als täten sich ganz neue Möglichkeiten, eine Ahnung eines anderen Lebens, vor ihm auf, und mit diesem weiten Horizont, der aber bei genauerer Betrachtung nur aus dem Wort «mehr» bestand, einem Begriff, den er nicht in der Lage war, mit konkreten Vorstellungen zu füllen, kam die Gier in sein Leben.
Mehrere Kapitel werden durch Peter Weiss, Maler, Autor, Filmer, der als Alter Ego auftritt, miteinander vernetzt. Sein frühes Gemälde «Die Maschinen greifen die Menschen an» stellt bildhaft die Ambivalenz des Verhältnisses Mensch- Maschine dar. Mit Peter Weiss besuchen wir auch den «Palais Idéal» vom Briefträger Cheval in Hauterives und die Weber im tschechischen Varnsdorf.
In den letzten zwei Kapiteln befinden wir uns im futuristischen Ägypten mit Cyborgs, Mensch-Maschinen, und Androiden, umgeben vom grössenwahnsinnigen architektonischen Gebilde New Kairo, herausgestampft aus der Wüste, absurd und eklektisch mit einem geplanten 1000 Meter hohen Wohn-Obelisken. Vor einem Jahr war ich in Ägypten auf den Spuren der Pharaonen und deren Grabstätten, 4000 Jahre alt und noch in besten Farben leuchtend, daneben Kairo und Alessandria als verkommene Moloche voll Lärm, Armut und Müll neben hochglanzpolierten Inseln für die Touristen. Aus dem Flugzeug konnte ich damals einen Blick auf die New Administrative Capital werfen. Mich beschäftigten und belasteten diese Gegensätze sehr. Literarisch drückt Jonas Lüscher dies so aus:
Für einen Moment war ich in der Lage gewesen, die pittoreske und exotische Seite dieser mir fremden Landschaft und dieser mir fremden Menschen mit ihren mir fremden Leben zu sehen, aber bald war es nur noch die Armut, manchmal sogar die schiere Not, die sich mir aufdrängte, und die neue Stadt in der Wüste, durch die ich mich noch keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte fahren lassen, erschien mir grotesk weit weg, und doch war es dasselbe Land, unbegreiflicher noch, dieselbe Regierung, die für beides verantwortlich war, und so unbegreiflich mir dies in jenem Moment schien, so einfach zu verstehen war der ökonomische Mechanismus, der die beiden Realitäten miteinander verband, die sechzig Milliarden, die sich der Feldmarschall aus Chinaund den Golfstaaten geliehen hatte, um seinen Traum zu bauen, und der sinkende Wert des ägyptischen Pfunds, der das Elend der Menschen, die ich vor dem Fenster an mir vorbeiziehen sah, Tag für Tag vergrösserte und ein Entrinnen unwahrscheinlicher machte.
Das zentrale Thema, das Überleben seiner schweren Covid Erkrankung im wochenlangem Koma auf der Intensivstation dank neuester Technik kommt, nach kurzem Anklingen am Anfang des Buches, erst im letzten Teil zur Sprache: Ein «Gespräch» zwischen einem Taxifahrer ohne Englischkenntnisse und dem Protagonisten ohne Arabischkenntnisse mittels Google-Translater führt zum Nachdenken über die Technik-Skepsis des Autors, der als wahrer Cyborg seine Covid Erkrankung nur dank der Herz-Lungen-Maschine überleben konnte. Diese Erfahrung prägte sich tief ein, Personen die im Koma wie in einem Traum vorhanden waren, werden nach dem Aufwachen wie Verstorbene vermisst.
Dieser in seiner Struktur und in seiner Sprache einzigartige Roman umfasst die Zeitspanne von 1914 bis in die Zukunft, wo Cyborgs, also Mensch-Maschinen, ans Weltwissen angeschlossen sind. Die Beziehung von Menschen und Maschinen, deren grossartige Möglichkeiten, aber auch deren potenzielle Gefahren, zieht als roter Faden durch dieses Buch. Es endet mit hoffnungsvollem Ausblick.
Die Anregungen und die Auseinandersetzung mit diesem Buch werden mich noch lange begleiten. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser!
Herzlich
Bär
Jonas Lüscher wurde 1976 in der Schweiz geboren, er lebt in München. Seine Novelle Frühling der Barbaren war ein Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Lüschers Roman «Kraft» gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt ausserdem u.a. den Hans-Fallada-Preis, den Prix Franz Hessel und den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich. Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Herzlichen Dank an Jonas Lüscher für die Recherchefotos.
„Adventures of Huckleberry Finn“ von Mark Twain erschien vor 150 Jahren und zählt zu den Schlüsselwerken US-amerikanischer Literatur. Während Twain die Abenteuer aus der Sicht von Huck Finn erzählt, traut sich Percival Everett, selbst schwarzer Amerikaner, die Geschichte aus der Sicht des Sklaven Jim zu schildern. Ein Roman, der bis ins Mark geht!
Es gibt Geschichten, die ins kollektive Bewusstsein rutschen, so wie die immer und immer wieder erzählte Geschichte vom noch jugendlichen Huckleberry Finn und dem gejagten Sklaven Jim. Sei es in mehr oder minder gelungenen Verfilmungen oder in immer neu edierten Ausgaben (Die letzte, die ich mir kaufte, war die von Tatjana Hauptmann wunderbar illustriert, bei Diogenes 2002 erschienen). Aber gerade jene von 2002 liest sich wie ein lustig, rasantes Abenteuer, bei dem der eigentliche Schrecken jener Zeit nur nebelhaft in Erscheinung tritt, auch wenn die eine oder andere Szene blutig untermalt ist. Ohne den Roman von Mark Twain zu schmälern, bleibt die Sicht auf Rassisimus eine weisse, selbst dann, wenn Twain die Ungerechtigkeit unmissverständlich schildert. Diese Erzählweise zementiert ein westliches Empfinden, jenes der Zuschauenden, nicht direkt Betroffenen. Aber Percival Everett ist ganz direkt betroffen; vom zukunftslosen Schicksal eines Gejagten, von zu Unrecht beschuldigten Sklaven, von der Unumstösslichkeit einer kollektiven Schuldzuweisung, von grenzenloser Arroganz, von einem Land, das Rassismus bis in die Gegenwart nicht abzuschütteln weiss und nicht zuletzt von einer amerikanischen Geschichte, in der Menschenverachtung zum politischen Programm werden kann.
Jim ist mit seiner Familie Sklave in einem kleinen Dorf am Mississippi. Obwohl seiner Herrin Miss Watson „treu“ ergeben, bekommt er mit, wie beschlossen wird, ihn nach New Orleans zu verkaufen, ihn allein, ohne seine Frau und seine Tochter. Jim flieht auf eine kleine Insel auf dem Mississippi, wo er Huck trifft, den er schon ein Leben lang kennt, der sich wie Jim auf der Insel zu verstecken versucht. Huck fürchtet sich vor seinem prügelnden Vater so sehr, dass er um sein Leben bangt. Und als Jim genau jenen Mann, vor dem sich Huck so sehr fürchtet, nach einem Unwetter in den Überresten eines fortgespülten Hauses findet, werden aus den beiden Fluchtgefährten; Jim, weil man ihm den Tod von Hucks Vater in die Schuhe schieben will und das zusammen mit seiner Flucht für den Strick reicht und Huck, weil ihm Jim verschweigt, dass die Leiche in jenen Trümmern, die seines Vaters ist, ein Verschweigen, dass Gründe hat, die Jim ganz nah an den Jungen binden. Es ist aber auch der naive Blick des Jungen, die Beteuerungen seiner Freundschaft, die Jim schmeicheln, er, der aus weisser Sicht nie mehr als ein dummes Arbeitstier war.
Percival Everett «James», Hanser, 2024, aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, 336 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27948-3
Die beiden schustern sich ein Floss zusammen und lassen sich gen Süden auf dem Mississippi treiben, eigentlich in die gänzlich falsche Richtung, immer weiter weg vom Norden, in dem die Sklaverei längst als unrechtens erklärt wurde. Sie hangeln sich von Krise zu Krise, von einer zur nächsten Katastrophe, verlieren sich immer wieder, um sich aber auch immer wieder glücklich wiederzufinden, wachsen zu viel mehr als einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, als Jim Huck von seiner Herkunft erzählt.
Was die Besonderheit dieses Romans ausmacht, ist aber viel mehr als die Erzählperspektive. Everett lässt den Sklaven Jim erzählen. Jim kann lesen und schreiben, hat sich das selbst beigebracht, sass in all den Jahren im Dienst von Mrs. Watson und Richter Thatcher immer wieder in dessen Bibliothek und „lieh“ sich das eine oder andere Buch aus, auch das eine oder andere Mal einen Voltaire. Überhaupt haben sich die Schwarzen in Everetts Roman eine Art Geheimsprache zuglegt, die sie immer dann verwenden, wenn sie mit den Weissen zu sprechen gezwungen sind oder wenn sie wissen, dass man ihnen zuhört. Eine Sprache, die nicht nur ihre Einfachheit, ihre gespielte Dummheit untermalt, sondern die Herrenrasse glauben lassen soll, es drohe keine Gefahr von den willenlosen Arbeitstieren. Huck ist der Naive. Er spürt zwar sehr gut, dass die Welt, in der er lebt, nicht so ist, wie sie aus seiner Sicht sein sollte. Aber er weiss sich nur schwer zu helfen, sucht nach Erklärungen. Auch im seltsamen Gehabe seines schwarzen Freundes, der immer wieder einmal in seinen Träumen ganz anders laut mit sich selber spricht.
Im Hintergrund des Romans beginnt der US-amerikanische Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden. Ein Krieg für oder gegen die Sklaverei. Ein Krieg, der Huck fasziniert und Jim seltsam kalt lässt, weil er ein Leben lang seine Rolle als Sklave verinnerlichte und die Geschichte, die er mit einem Bleistiftstummel in ein Buch schreibt, nur ganz zaghaft zu einer Befreiungsgeschichte wird und erst mit dem letzten Satz im Roman zu einer solchen wird. „James“ ist bei weitem nicht einfach eine nacherzählte Geschichte. „James“ ist amerikanische Geschichte, die schonungslos erzählt, was Mark Twain vor 150 Jahren in seiner Welt nicht konnte.
Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreissig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award in Literature der American Academy of Arts and Letters, dem Windham Campbell Prize und dem PEN/Jean Stein Book Award.
Nikolaus Stingl, 1952 geboren, übersetzte u. a. William H. Gass, Ben Lerner, Thomas Pynchon, Colson Whitehead und Emma Cline und wurde mit mehreren wichtigen Übersetzerpreisen ausgezeichnet.
Erstmals habe ich ein Buch von Arno Geiger gelesen und bin nachhaltig berührt. «Reise nach Laredo» nehme ich immer wieder vom Büchergestell.
Karl hat als König abgedankt, sich in ein Kloster zurückgezogen. Sein hässlicher, stinkender nackter Körper wird ins Bad gehoben, so beginnt dieser Roman. Krank und fiebrig erlebt er dann eine Traumwelt bis zu seinem Tod, wo er sagen kann: Jetzt, Herr, komme ich.
Doch es ist kein historischer Roman, die Fragen, die auf dieser Reise auftauchen, sollte sich jeder von uns stellen, es geht um uns! Das macht das Buch so aktuell. Es geht um das Wesen des Menschseins.
Arno Geiger «Reise nach Laredo», Hanser, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28118-9
Karl erlebt in den Stunden, Tagen bis Laredo erstmals echte Freundschaft und kurze glückliche Momente. Er trinkt, tanzt und fragt sich Beginne ich jetzt zu leben? Was bedeutet das für das Vorher? Die Reise auf einem Pferd durch eine karge, bergige, heisse Gegend wird zu einer schmerzhaften, aber auch versöhnenden Reise zu sich selbst. Die Begegnung mit jungen Leuten und das Trinken im Wirtshaus spiegelt Verpasstes im Leben von Karl, er muss loslassen und gewinnt. Einzigartig die Sterbeszene am Meer: Das war’s.
Was die Mönche in den Händen halten, ist grausam wirklich, ein toter Körper, ein vollständig nebensächliches Ding, in dem alles gestorben ist, auch das Leid, das diesen Körper so zugerichtet hat.
Geschrieben in einer kühlen Sprache, voller realistischer Bilder, teilweise etwas überzeichnet. Die karge baumlose Hügellandschaft im Hintergrund ergibt eine archaische, biblische Atmosphäre. Ein Buch, das auf packende Weise zum Nachdenken anregt.
Ich bin gespannt, was du zu diesem Buch zu sagen hast. Herzlich
Bär
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Lieber Bär
Ich besuchte eine Lesung von Arno Geiger in St. Gallen. Er las und erzählte viel von sich. So wie er in diesem «historischen» Roman von sich erzählt. Arno Geiger ist studierter Historiker. Er weiss sehr genau, dass er die Geschichte von Kaiser Karl V nicht einfach «erfinden» kann. Aber Geiger interessiert sich als Schriftsteller nicht für die Geschichte jenes Kaisers (1500 – 1558), der Herrscher über ein Weltreich war. Historiker würden über seinen Werdegang, seine Intrigen, sein politisches Kalkül, seine Kriege berichten. Arno Geiger interessiert sich nur für die beiden Jahre nach seiner Abdankung, nicht für die Zeit mit der Krone, sondern jene ohne. Über einen Mann, so alt wie Arno Geiger selbst, von Macht und zügellosem Leben zerfressen zum Privatmann wird. Mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen, mit Fragen, die zeitgemässer nicht sein können: Wer bin ich? Was will ich sein? Ein Mann, der sich selbst begegnen will und sehr wohl spürt, dass diese Begegnung nicht ohne ein Gegenüber stattfinden kann.
Eine harte Mission, sich selbst zu begegnen. Mit dem Tod seiner Frau, Königin Isabella, war Karl 38 und trug danach nur noch Schwarz. Unter dem schwarzen Mantel ein Mann von Gicht und Malariaschüben zerfressen. Als Herrscher eines Weltreiches ging es nie um ihn selbst. Karl freundet sich mit seinem elfjährigen Pagen Geronimo an, einem Kind, das nur das Jetzt kennt und ungefiltert zu sprechen wagt. Sie türmen aus dem abgeschiedenen Kloster mit Ross und Maultier Richtung Norden an Spaniens Küste, in die kleine Hafenstadt Laredo. Ein Tripp durch die Wirren der Zeit, ein Tripp, bei dem sich Karl immer wieder in den Begegnungen mit dem menschlichen Elend gespiegelt sieht.
Er habe wenig recherchiert (eine Aussage eines Historikers, die man wahrscheinlich relativieren muss). Aber er brauche einen festen Boden, auf dem er seine inneren Bilder wachsen lassen könne. Es sei auch ein Buch über sich selbst, über das Altern, das Wirken der Selbstreflexion, über das Wissen darum, dass Geist, Körper und Seele nur als Einheit verstanden werden können. Karl weiss, dass er in einem Zwischenreich existiert, nicht mehr der Herrscher, aber auch noch nicht gestorben, einem Fegefeuer mit der Hoffnung auf Läuterung und Erlösung.
Wer den Zenit seines Lebens erreicht hat, weiss, dass es vieles gibt, was nicht mehr zu korrigieren ist. Wer mit Krankheit und langsamem Sterben zu kämpfen hat, hofft unweigerlich auf eine Form der Erlösung. Schon deshalb ein wichtiges und zur Selbstreflexion animierendes Buch. Unbedingt lesenswert.
Liebe Grüsse
Gallus
Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, studierte Literaturwissenschaft und lebt in Wolfurt und Wien. Er ist Schriftsteller und Videotechniker bei den Sommerfestspielen Bregenz. 1997 erschien sein Debütroman «Kleine Schule des Karussellfahrens». 1998 wurde ihm der New Yorker Abraham Woursell Award verliehen. Für seinen Roman «Es geht uns gut» erhielt er 2005 den Deutschen Buchpreis.
Herta Müller wird wie eine Königin in den mit viel Marmor ausstaffierten Raum im ehrwürdigen Hauptgebäude der Uni Zürich geleitet. Ein krasser Gegensatz für eine Frau, die vor ihrer Vertreibung aus Rumänien ganz unten war, verraten und einsam, von einem kollektiven Verleumdungs- und Lügenapparat systematisch in die Enge getrieben.
Wird man verfolgt und mit dem Tod bedroht, wenn man «gestorben werden kann», wird man sich bewusst, dass das Leben ein Geschenk ist, sagte Herta Müller im Gespräch über ihr neustes Buch «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», organisiert durch das Zentrum für literarische Gegenwart Zürich. Leben wird subversiv, weil das Leben selbst in Frage gestellt wird. In einem totalitären Staat, in jedem totalitären Staat wird bewusstes Leben zu einem politischen Leben. Und so trägt jede Frage, die Herta Müller in ihren Büchern oder in Gesprächen zu beantworten versucht, eine starke politische Komponente. Leben wird automatisch zu einem politischen Leben, das sich permanent gegen den Wall an Verboten stemmen muss. Man kann verweigern und ausblenden, bis man dann doch irgendwann konfrontiert wird und sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss. «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist eine Sammlung von Essays und Reden, die zusammen mit dem titelgebenden «Monolog» zur niedergeschriebenen Auseinandersetzung mit staatlich inszenierter Unterdrückung werden, dem immer wiederkehrenden Thema der Autorin.
Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27848-6
Herta Müller, Verfolgte, Bestrafte und Drangsalierte wurde schon vor ihrer Flucht nach Deutschland eine Einsame, eine Ausgeschlossene, eine von Lügen und Neid Eingeschlossene. Unvorstellbar, dass die Frau, die auch über ein Jahrzehnt nach ihrem Nobelpreis Säle füllt, einst ihren Arbeitsplatz als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik wegen Verleumdung und strategischen Verdächtigungen räumen und diesen ins Treppenhaus der Firma verlegen musste, um ihre Arbeit nicht ganz zu verlieren. Totalitäre Systeme, ob Rumänien damals oder all die totalitären Staaten heute, bedienen sich stets der Lüge, der Fälschung, der Verdrehung. Man wird effizient zum Einzelnen gemacht, Lüge wird zum System. Die Behauptung, sie sei Staatsfeindin, Schwarzmarkthändlerin und prostituiere sich, wird Mittel zum Zweck. Gelogenes und Erfundenes wird Teil eines Unrechtssystems. Fatal ist, dass damit selbst die Wahrheit Schatten bekommt. Man ist sich nie sicher, ob man auf Wahrheit oder Lüge trifft. Und diese permanente Verunsicherung erzeugt Angst.
Verfolgung wurde in den Jahren in Rumänien zu einem dauernden Kampf, den die Autorin immer in Isolation und Angst abdrängte, umgeben von Opportunisten, besonders schmerzhaft dann, wenn selbst die Familie, die Eltern zum langen Arm des Staates wurden.
«Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist ein Buch, das Beklommenheit auslöst, eine Beklommenheit, von der sich die Autorin nicht lösen will und kann, eine Beklommenheit, die angesichts der globalen Probleme noch vertieft. Verfolgung, grassierender Antisemitismus, offensichtlicher Opportunismus und Rassismus schlagen Wellen wie noch nie, erzeugen ein gefährliches, mehr und mehr explosives Gemisch mit unabsehbaren Folgen. Herta Müller macht Bilder von Unsäglichem, ohne Klischee, ohne Angegriffenheit. Seltsam genug, dass sich nicht nur die Literatur der Sprache bedient, auch die Politik, selbst die Diktatur. Darum ist Sprache stets Politik, Literatur Stellungnahme. Im Gespäch beschwört Herta Müller, dass gerade deshalb viel mehr über Literatur diskutiert werden müsste. Man ist verpflichtet, sich selbst zu erzählen, mündig zu werden. Ein Prozess, der nie zu Ende sein kann, für den die Nobelpreisträgerin noch immer schreibt und lebt.
Wenn ich schreibe, muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was mich von innen bedrängt. Ein Zustand, der die Angst stets miteinschliesst. Schreiben ist der Drang, sich nicht verlieren zu wollen, ein Kampf gegen die Hässlichkeiten.
Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis.
Wie fragil die Welt eines Vierzehnjährigen ist, wie leicht sie kippen kann und wie sehr Bindungen in dieser Zeit lebensentscheidend sind, davon erzählt Michael Köhlmeier in seinem Buch, das vielfach überrascht.
Frank lebt mit seiner Mutter ein gut eingerichetes Leben in Wien. Seine Mutter ist Schneiderin an der Wiener Volksoper, seit Frank grösser ist, auch einmal abends zur Arbeit weg, manchmal auch noch länger, weil sie das Danach mit der Truppe so mag und weil sie nicht fürchten muss, Frank würde darunter leiden. Sie sind gut eingespielt. Jeden Mittwoch kocht Frank. Nicht weil er muss, sondern weil er das Kochen mag. Und weil Mutter ihn dafür lobt. Sie loben sich gegenseitig. Keine der problematischen Beziehungen. Mehr Probleme hat Frank in der Schule.
Aber ein tatsächliches Problem taucht ganz am Ende der langen Ferien auf. Man informiert Frank und seine Mutter, dass Franks Grossvater nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Und bis für diesen ein eigenes Zuhause gefunden werden kann, quartiert man ihn bei seiner Tochter, seinem Enkel ein. Frank weiss von seinem Grossvater. Als er noch klein war, hatte man ihn noch zu Besuchen im Gefängnis mitgenommen. Aber der Grossvater war immer im Gefängnis, bis zu dem Tag, als er sich in der Küche bei ihm und seiner Mutter einnistet und wieder nur sitzt, wartet, raucht und Nachrichten aus seinem kleinen Radio hört.
Michael Köhlmeier «Frankie», Hanser, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27618-5
Eine kleine Welt bricht aus den Fugen. Da hilft auch das „Frankie“ nicht, mit dem der plötzlich anwesende Grossvater den Schlüssel zu seinem Enkel sucht. So sehr der Grossvater zuvor nur eine stille Ahnung war, wird er mit einem Mal zu einem tatsächlich anwesenden Geist, der alles durchsetzt. Frank ist gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Verunsichert darum, weil sich dieser Mann in seinem Leben festkrallt, die Mutter verängstigt und ihre Leben auf den Kopf stellt. Fasziniert, weil da einer so ganz anders zu ticken scheint, als der Rest der Welt.
Das Erstaunliche an dem Roman ist, dass er sich nicht um die Gründe schert, warum der alte Mann, der nicht Opa genannt werden will, von dem Frank erst jetzt seinen Vornamen erfährt, insgesamt mehr als ein Viertel Jahrhundert in Gefängnissen sass, was die Gründe waren für seine letzten 18 Jahre Haft. Michael Köhlmeier interessiert sich für das, was zwischen dem Alten und dem Jungen passiert. Man sucht sich seine Eltern und Grosseltern nicht aus. Familien sind Schicksalsgemeinschaften, denen man in Wahrheit nicht entfliehen kann. Es sind zwei Gestirne, die umeinander kreisen.
Michael Köhlmeier erzählt aus der Perspektive des Vierzehnjährigen, von einem, der glaubt, das Leben doch schon recht gut im Griff zu haben, auch wenn sich sein kleines Glück in Tat und Wahrheit bloss in der kleinen Wohnung zusammen mit seiner Mutter abspielt. Da taucht einer auf, der sich nicht um Regeln kümmert, einer, der nichts mehr zu verlieren hat, aber vielleicht jemanden, der ein Stück von ihm weiterträgt. So wie Frank ganz am Anfang seiner Selbstständigkeit steht, so ahne ich als Leser, dass dieser alte Mann an seinem Ende steht, keine Lust mehr verspürt, sich durch irgendetwas oder irgendjemanden einsperren, eingrenzen, fesseln zu lassen.
Michael Köhlmeier konstruiert eine Geschichte, in der ich mit angehaltenem Atem zusehen muss, wie Frank im Strudel der Geschehnisse aus seiner empfänglichen Jugend in einen Sturm hineingerissen wird, in dem er sich selbst zu verlieren droht. „Frankie“ ist ein Roman, der viel mehr Fragen hinterlässt, als erzählte Antworten gibt. Das ist als Leser oder Leserin auszuhalten und führt vor, dass dieser Roman trotz seines jugendlichen Sounds alles andere als ein Jugendroman ist. Überhaupt gelingt es Michael Köhlmeier erstaunlich gut, den Ton eines etwas altklugen Jungen zu treffen, der sich in der Schwerelosigkeit der Adoleszenz zu orientieren versucht.
Fesselnd und vielfach überraschend!
Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Er hat Romane, Gedichte und Kinderbücher veröffentlicht. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis. Seit 1981 ist Michael Köhlmeier verheiratet mit der Schriftstellerin Monika Helfer.
Wer sich zu feiner, kleinräumiger aber nie beengter, emotionaler aber nie rührseliger Literatur hingezogen fühlt, liebt die Bücher von Monika Helfer. Die Intensität ihrer Literatur wird nicht nur sichtbar an der Menge und Qualität ihrer Auszeichnungen, sondern daran, dass Monika Helfer seit mehr als einem halben Jahrhundert Bücher veröffentlicht, Bücher, die im Laufe der Zeit immer mehr Aufmerksamkeit gewannen und Monika Helfer zu einem oft eingeladenen Gast an Veranstaltungen erst recht mit ihrer Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ machte.
Monika Helfer lebt zusammen mit ihrem Mann Michael Köhlmeier im vorarlbergischen Hohenems eine symbiotische Lebens- und Schreibgemeinschaft in einem mit Efeu bewachsenen Haus, in dem alles der Familie, den Erinnerungen und dem Schreiben gewidmet ist. Monika Helfer und Michael Köhlmeier, beide beim gleichen Verlag, werden auch vom gleichen Lektor betreut, leben dort das Leben von zwei von Sprache Beseelten.
Monika Helfers neuer, eben erschienener Roman „Die Jungfrau“ ist erneut ein Buch, das ganz tief mit dem Leben der Autorin verwoben ist, so wie die letzten drei Romane, so wie wahrscheinlich alle ihre Roman. Und doch setzt sich „Die Jungfrau“ von der vorangegangenen Trilogie ab. Nicht thematisch, aber in der Art des Erzählens. Zum einen macht Monika Helfer im Roman immer wieder Schritte hinaus und hinein. Da sind die Momente, wo sich die Autorin über den Prozess des Schreibens äussert, Stellen, in denen sich die Perspektive verändert, zum andern blitzen Dialoge mit ihrem Mann Michael auf, Auseinandersetzungen, die bezeugen, dass die Auseinandersetzung über das Schreiben, ob mit sich selbst oder dem Lebenspartner, sehr emotional werden kann. Stellen, die dem Buch einen speziellen, beinahe dokumentarischen Einschlag geben.
Zentral in diesem Buch ist aber die Geschichte einer Freundschaft, der Freundschaft zwischen Moni und Gloria. Sie beide wachsen im Vorarlbergischen auf, Monika in einem kleinbürgerlichen Haushalt, in einer von Arbeit und Strebsamkeit geprägten Familie, Gloria in einer Villa zusammen mit ihrer Mutter, einer Frau, die sich mit aller Selbstverständlichkeit in ihrem Luxus bewegt, auch wenn die beiden in diesem grossen Hauses nur drei Zimmer mit Leben füllten. Die Freundschaft zwischen Moni und Gloria ist geprägt von maximaler Nähe und Distanz. So wie Moni schon bald spürt, dass sie Schriftstellerin werden will, soll das Leben ihrer Freundin ein glamouröses werden, programmatisch für ihren Namen. Gloria will die Welt als Schauspielerin erobern. Das Zeug dazu hat sie, auch wenn ihr Leben immer wieder in Abgründe abtaucht.
An Monikas 70, Geburtstag erhält Moni einen Brief von Gloria, nicht selbst geschrieben, aber eine deutliche Aufforderung, sie doch bitte zu besuchen, bevor sie sterbe.
Ich danke der Autorin für die Offenheit auch über die Lesung hinaus, dem Team der Bodan-Buchhandlung in Kreuzlingen für die gelungene Organisiation und kulinarischen Beigaben und Claudia Ruckstuhl für die Ermöglichung einer solchen Begegnung.
Monika Helfer liest in der Bodan Buchhandlung Kreuzlingen.
Freundschaften kommen und gehen. Aber die eine oder andere bleibt, manchmal ein ganzes Leben, wenn auch mit Pausen, jahrzehntelangen Pausen. Monika ist Schriftstellerin geworden, erfolgreich, verheiratet mit Michael, Mutter von vier Kindern. Gloria ist wie sie alt geworden. Und eines Tages schreibt eine Nichte Glorias einen Brief und bittet Monika „noch einmal mit ihr in Verbindung zu treten, bevor sie sterbe.“
Sie hatten sich schon als Kinder in der Schule gefunden. Gloria war für die schüchterne Monika ein Leuchtfeuer, eine „die meine Einbildungskraft entzündete“. Während Monika aus einfachen Verhältnissen kommt, wächst Gloria in einem grossen Haus allein mit ihrer Mutter auf. Einer Mutter, die nicht zu arbeiten braucht, in einem Haus, in dem die beiden Bewohnerinnen nur drei Zimmer bewohnen, in einem Garten, der verwildert und wie alles an Haus und Bewohnerinnen in Geheimnissen getaucht ist.
Monika Helfer «Die Jungfrau», Hanser, 2023, 152 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-27789-2
Zwischen den beiden Mädchen wächst eine Freundschaft, pendelnd von maximaler Nähe bis Distanz. Gloria ist für Monika nicht nur in Kindertagen schwer einzuschätzen. Ob als Kind oder Frau; Gloria lebt im Gegensatz zu Monika in einer Welt, die sich ständig den Realitäten zu entziehen versucht. Gloria, die permanent die Gravitation aushebeln will, der mit ihrem Aussehen und ihrer Ausstrahlung alles zu Füssen liegen scheint. Sie will Schauspielerin werden und schafft es auch tatsächlich, die Aufnahmeprüfung am Max Reinhardt Seminar in Wien zu bestehen. Noch mehr. Einer der Professoren ist derart von Gloria fasziniert, dass dieser ihr eine Wohnung einrichtet und Gloria ist dreist genug, eine Einladung ins Haus, an den Familientisch des Professors anzunehmen. Aber Gloria bricht ab, so wie sie vieles abbricht. Sie kehrt zurück ins grosse Haus ihrer Mutter und bleibt. Bis sie sich im Alter gar nicht mehr so sehr von der gescheiterten Figur ihrer Mutter unterscheidet.
So wie das Leben der erzählenden Monika in geordneten Bahnen seinen Lauf nimmt, so sehr fehlt dem Leben ihrer Freundin Gloria eine Spur. Gloria, eigentlich ein ganzes Leben für den grossen Auf- und Ausbruch bereit, ist schon mit ihrer Herkunft in dauerndem Hadern, denn wer ihr Vater ist, bleibt ein langes Geheimnis, bis Gloria, schon im reifen Alter, ihre Freundin bittet, ihrem Vater gemeinsam mit ihr einen Besuch im Pflegeheim abzustatten. Aber dort trifft sie einen dementen Mann, einen Schatten einer Existenz, der dann aber doch, nachdem die beiden für ihn ein Heinolied singen mit Daumen und Zeigerfinger ein Zeichen gibt, als wolle er die beiden Frauen abschiessen. Nicht der erste Versuch von Gloria, Monika zu ihrer Verbündeten zu machen. Eine Verbündete gegen ihren Schmerz, der wie eine Glocke über Glorias Leben steht, eine Glocke, die Gloria nie werden liess, was sie hätte werden wollen; eine Mutter, eine Geliebte, eine Ehefrau, eine Erfolgreiche, eine Souveräne.
Der Roman „Die Jungfrau“ überrascht nach der Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ gleich vielfach. Monika Helfer spielt mit ihrer Erzählperspektive, erzählt von sich in der dritten Person, vom Ehemann Michael (Köhlmeier), der ihr Erzählen, ihr Schreiben begleitet, von Dialogen zwischen den beiden Schreibenden, Dialogen, die viel Intimes offenbaren. Sie erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die zwei Leben verbindet, deren Umlaufbahnen sich immer wieder kreuzen, deren Zentrifugalkräfte aber auch zu maximaler Distanz führen. Ein Buch über Lügen und Geheimnisse, über Träume und bittere Realitäten. „Die Jungfrau“ ist ein junges Buch, alles andere als konventionell erzählt, erfrischend mutig und erstaunlich persönlich!
Monika Helfer liest und diskutiert am 15. September in der Bodan-Buchhandlung Kreuzlingen um 19.30 Uhr. Moderation: Gallus Frei Anmeldung ist erwünscht!
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).