Willy Vlautin «Ein feiner Typ», Berlin Verlag

Horace, ein «Halbblut», dessen Mutter nichts von ihm wissen wollte, lebt zusammen mit dem alt gewordenen Schafzüchterpaar Reese in den Bergen von Nevada. Obwohl die Reeses nichts lieber täten, als dem fleissigen jungen Mann ihre Farm zu übergeben, obwohl alles auf dem stillen Fleck nach der starken Hand des Jungen Mannes ruft, zieht es diesen in die Stadt. Er will Champion werden.

Willy Vlautin erzählt ganz im Stile der Grossen. Wie John Steinbeck, der in seinen Romanen immer wieder Geschichten um die kleinen Farmer erzählte. Willy Vlautin tut dies unaufgeregt, ohne Geschwätzigkeit, keine Geschichten, sondern einmal mehr jenen des grossen American Dream. Horace will Boxer werden, glaubt fest an seine Bestimmung, die nur daran scheitern kann, es nicht getan zu haben, den Moment versäumt zu haben, auch wenn er weiss, dass er kein Kind des Glücks war, denn weder Vater noch Mutter haben sich um ihn gekümmert.

Mr. und Mrs. Reese züchten seit Jahrzehnten in der kargen Landschaft Nevadas Schafe. Und weil weder die beiden Töchter noch der Sohn das kleinste Interesse zeigten, dereinst die Farm zu übernehmen, der wie vielen anderen in der Gegend wegen fehlender Nachfolge der unweigerliche Niedergang droht, setzt das alternde Ehepaar ganz auf den Ziehsohn. Horace hat nicht nur gute Hände für die Arbeit und die Tiere, sondern ist auch sonst die Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit in Person. Er lebt in einem Trailer, den er peinlich sauber hält und ist mit Tieren genauso fürsorglich wie mit Menschen, selbst dann, wenn sie nichts von dem Respekt zurückgeben.

Aber Horace hat einen Traum. Er will beweisen, dass mehr in ihm steckt, als ein Schafhirt in den Bergen Nevadas, dass er nicht bloss das Resultat einer Katastrophe ist, dass er mit Einsatz und Entschlossenheit ein Champion werden kann, ein Boxchampion. Er steigt in einen Bus und fährt los, obwohl er weiss, dass die Gesundheit von Mr. und Mrs. Reese nicht zum besten steht. Obwohl er weiss, dass es für die beiden zu spät sein könnte, wenn er erfolgreich zurückkehren wird.

Aber die Reise in die Stadt wird trotz Talent, Gutmütigkeit, Entschlossenheit und ganzem Einsatz zu einem Desaster, an dem Horace zu zerbrechen droht. Die Welt draussen, die Menschen in der Stadt funktionieren nicht so, wie sie es tun sollten, dass Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit nicht auf der Strecke bleibt. Horace scheitert an der Verlogenheit und Verkommenheit derer, die in ihm eine Geldquelle sehen. «Ein feiner Typ» genügt nicht in den Stadt- und Menschenwüsten der amerikanischen Gegenwart. Wer den American Dream realisieren will, muss nach den Spielregeln der Zeit kämpfen. Und diese sind innerhalb des Ringes genau die gleichen wie ausserhalb; nur der Stärkere gewinnt. Horace zerbricht. Er zerbricht an der Welt, aber auch an der eigenen Schwäche, der eigenen Lüge, der Unfähigkeit, das zu tun, wonach der Moment ruft, im Bus der Schwangeren mit ihrem Kind zu helfen, die nicht auftaucht, als der Bus mitten im Nirgendwo nach einem Stop weiterfahren soll, dem Mädchen, das ihn liebt, aber in ihrer Not ihrer Liebe nicht folgen kann.

Und auf der anderen Seite Mr. Reese, für den Horace wie ein Sohn ist, der alle Hoffnungen auf den jungen Mann setzt, der weiss, dass seine Tage als Schafzüchter gezählt sind, der keinen mehr findet, der die harte Arbeit in den Bergen mit ihm teilt. «Ein feiner Typ» ist die Geschichte von Freundschaft, von tiefer Verbundenheit, die sich mit dem Traum der Selbstverwirklichung streitet. Man ahnt vom ersten Kapitel weg, dass ein Drama droht. Man sieht tief in die Seele eines geschundenen Landes, einer Gesellschaft von Verlierern, sei es auf dem Land, aber noch viel mehr in den Städten, hinter glitzernden Fassaden, hohlen Versprechungen und den Verlockungen des grossen Geldes. «Ein feiner Typ» ist meisterhaft erzählt, liest sich mit ungeheurem Zug und lässt einem tief blicken.

© Lee Posey

Willy Vlautin (geboren 1967) ist ein amerikanischer Autor, Musiker und Songschreiber. Von 1994 bis 2016 war er Leadsänger, Gitarrist und Songschreiber der Rockband Richmond Fontaine aus Portland, Oregon. Zurzeit ist er Mitglied der Band The Delines. In Reno, Nevada geboren und aufgewachsen hat er seit Mitte der Neunziger Jahre elf Alben mit Richmond Fontaine und seit 2014 drei Alben mit The Delines aufgenommen. Vlautin hat fünf Romane geschrieben: «Motel Life», «Northline», «Lean on Pete», «Die Freien» und «Ein feiner Typ».

Der Übersetzer Nikolaus Hansen (1951), geboren in Hamburg, war Verleger u. a. von Rohner & Bernhard, Rowohlt, marebuchverlag und Arche/Atrium. Er ist Autor, Mitveranstalter des Harbour Front Literaturfestival in Hamburg und Übersetzer, u. a. von Joseph Conrad, Robert Stone, William Kotzwinkle, Deborah Eisenberg, Wallace Shawn, James Salter, Kamila Shamsie und Edward St Aubyn.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau