Florian Wacker «Stromland», Berlin Verlag

Der Zwillingsbruder verschwindet. Die Schwester macht sich mit einem Bündel Briefen und ihrem Freund auf die Suche nach ihm. Eine Suche, bei der die Motive der Reise immer mehr ihre klaren Umrisse verlieren. Eine Reise in ein Land, das ebenso viel Sog entwickelt wie Verständnis verweigert. «Stromland» führt mich als Leser weit weg; eine Reise in die Tiefen des brasilianischen Urwalds und in jene menschlicher Abgründe.

«Stromland» ist eines jener Bücher, die niemals nur in stillen Stuben geschrieben wurden. Man spürt der Sprache, der Geschichte und den Konstruktion des Buches an, wie sehr sich Florian Wacker auf ein Abenteuer einliess. Nicht nur geographisch, denn Florian Wacker beschreibt derart bildhaft und sinnlich, dass einem die feuchte Hitze des Urwalds genauso an die Kehle springt wie die modrigen Dämpfe und die Schreie in pechschwarzen Nächten. Florian Wacker beschreibt einen Kontinent, der während mehrerer Jahrhunderte im Würgegriff von Eroberung, Gier, Anarchie und der Suche nach Glück war und ist. Ob im 18. Jahrhundert noch unter dem Banner der Kirche oder in der Gegenwart auf der Suche nach Gold – das, was ein stubenwarmer Europäer (so wie der Schreibende) unter Recht und Ordnung versteht, hat wenig mit dem zu tun, was im Dschungel von Natur, Kultur, Ethnien und der Suche nach dem «Paradies» aufeinanderprallt.

«Der Gedanke, Thomas zu finden, war wie ein Tischtennisball, der einen winzigen Riss hatte und der so jeden Schlag, jedes Aufsetzen zu etwas Zufälligem machte, trudelnde, kreisende Bewegungen, eine eiernde Flugbahn.»

Thomas fahrt im Filmtross von Werner Herzogs Filmequipe ins Amazonasgebiet. Nachdem der Regisseur Werner Herzog 1972 mit «Aguirre, der Zorn Gottes» schon einmal einen Film mit Klaus Kinski im Dschungel des Amazonas drehte, macht sich die Filmcrew zehn Jahre später noch einmal auf den Weg, um unter widrigsten Umständen, den mittlerweile zur Legende gewordenen Film «Fitzcarraldo» zu drehen. Thomas, schon als Jugendlicher vom Film mehr als fasziniert, macht sich auf eine Reise, viel weiter als bloss in einen Dschungel. So wie im Film «Fitzcarraldo» ein Abenteurer davon träumt, in der peruanischen Dschungelstadt Iquitos ein Opernhaus zu erbauen, so sehr träumt Thomas nicht bloss einen Film mitzureden, sondern von Distanz zu seinem steifen Elternhaus und Nähe zu neuen Lebensformen. in der Ferne zu finden. Er verspricht zwar seine Schwester Irina zurückzukehren, taucht aber in Deutschland nie mehr auf. Nach zwei Jahren Ungewissheit macht sich Irina mit ihrem Freund und dem Bündel Briefe ihres Bruders, Lebenszeichen, die mehr Geheimnisse offenbaren als klare Hinweise über sein Verbleiben, auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder.

«Ich weiss, dass Wahnsinn ein anderes Wort für Erkenntnis ist und dass wir überwältigt werden und us zu Tode fürchten vor dem, was wir sehen, hören und riechen.»

Zwillinge spüren mehr. Irina glaubt nicht an den Tod ihres Bruders. Entgegen alles Vernunft und aller Beschwörungen lässt sie nicht locker. Die Reise in den Urwald wird eine Reise in die Tiefen der menschlichen Abgründe, manchmal knapp am Tod vorbei, über die Grenzen von Ratio, in ein Land, das seit Jahrhunderten Traumland ist, Eldorado von Abenteurern, Schatz- und Glückssuchern.
Aber Florian Wacker rapportiert nicht einfach. Der Schriftsteller webt ein Netz, erzählt Familiengeschichten, Geschichten von Niederlagen und Siegen, vom Gegensatz der Kulturen, dem Aufeinanderprallen von Welten.
Seine Erzählweise ist in höchstem Masse sinnlich und durchwachsen von Bildern, die nur durch erlebte Recherchearbeit erzeugt werden können. Florian Wacker malt mit satten Farben, grosszügig und raumgreifend aufgetragen. Wer die Filme «Aguirre, der Zorn Gottes» und «Fitzcarraldo» von Werner Herzog kennt, erfährt bei der Lektüre, wie sehr jene Filme mit den Bildern aus Wackers Roman «Stromland» verwandt sind.

«Jesuiten, Dominikaner, Hidalgos, Glücksritter, Naturforscher, Geologen – sie alle waren dagewesen, hatten sich mit schwerem Gepäck durch den Wald gekämpft, waren gebissen und gestochen worden, hatten sich die Maria geholt, im Fieber gelegen, hatten fantasiert, nach der Mutter gerufen; sie hatten den Wald verflucht und waren doch seiner Schönheit erlegen, sie starben und wurden liegen gelassen.»

Ein vielschichtiges, spannendes, mitreissendes Buch.

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie der Erzählband «Albuquerque» (2014), der Jugendroman «Dahlenberger» (2015) und der Roman «Stromland» (2018). Zuletzt wurde er mit dem Limburg-Preis (2015), dem Mannheimer Stadtschreiberstipendium für Kinder- und Jugendliteratur (2017) und dem Harder Literatur-Förderpreis (2018) ausgezeichnet. Er lebt in Frankfurt am Main, wo er als Autor und Webentwickler arbeitet.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau