Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/04

Lieber Bär

Ein Schriftsteller schrieb mir, die Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2023 würde BuchhändlerInnen wohl keine Freude machen. Keine Bestseller, keine grossen Namen, die in aller Munde sind, so wie Martin Suter oder Lukas Bärfuss. Das kann ich nur schwer beurteilen, da ich mich derart tief in der Szene bewege, dass ich längst nicht mehr beurteilen kann, wer es in den Mainstream schafft, was zum Verkaufshit wird. Du hast den norwegischen Grossmeister Jon Fosse erwähnt. Jon Fosse ist ein Fixstern am Literaturhimmel und trotzdem kennt ihn fast niemand, zumindest hierzulande. Sicher findet man seine Bücher kaum in einem Bookshop am Flughafen oder in den Regalen mit den Bestsellern. Aber Verkaufszahlen sind kein Qualitätsmerkmal.

Keine Ahnung ob Lukas Bärfuss oder Martin Suter enttäuscht darüber sind, dass sie nicht auf der Liste der Nominierten zu finden sind. Ich kenne sehr wohl SchriftstellerInnen, die einen schwelenden Schmerz mit sich herumtragen, dass sie noch nie auf dieser Liste erschienen. Aber vielleicht ist das gar nicht die Intension einer Jury, die im Auftrag des Schweizer Buchhandels und Verlagsverbands nach dem „besten Buch“ sucht. Dafür gibt es ganz andere Preise, deren PreisträgerInnenlisten viel schwergewichtiger sind, als die des noch jungen Schweizer Buchpreises.

Aber, um auf die nominierten Bücher zurückzukommen, da ist doch kein Buch auf der Liste der Nominierten, über das man die Stirne runzeln oder gar den Kopf schütteln müsste. „Sich lichtende Nebel“ ist ein philosophisch durchsetztes Sprachkunstwerk, „Mr. Goebbels Jazzband“ ein Sprache gewordenes Musikabenteuer, „Bild ohne Mädchen“ ein tiefgründiger Tauchgang in menschliche Abgründe, „Glitsch“ ein waghalsiges Experiment zwischen Alptraum und fellinischer Fantasie und „Der graue Peter“ eine Sprachperle mit dunklem Glanz.

Du arbeitest an einem Tag in der Woche in einer Buchhandlung. Ist der Schweizer Buchpreis ein laues Lüftchen oder wie stark bläst der Wind? Auch wenn Du in die nähere Vergangenheit schaust.

Liebgruss
Gallus

Schweizer-Buchpreis-Rezension von «Der graue Peter» von Matthias Zschokke erscheint am 24. September!

Lieber Gallus

Ich arbeite in einer kleinen Buchhandlung, und mein Bärenfell wird durch die Nominierten zum Schweizer Buchpreis nicht durcheinandergewirbelt. Der Wind weht aus Erfahrung der letzten Jahre eher lau. Immerhin erwarte ich dieses Jahr eine stärkere Brise, da mich alle fünf Nominierten ansprechen und ich alle fünf Bücher lesen werde (vier davon bereits mit Genuss!). 2022 war die Situation anders, weniger harmonisch.

Sofort mitnehmend und sehr berührend war für mich aktuell «Der graue Peter» von Matthias Zschokke, dies nach der Lektüre von Jon Fosse «Der andere Name», was sich erstaunlich gut angefügt hat. Die Erzählung der Erlebnisse des Mannes  mit dem fehlenden Empfindungschromosom hat in mir tiefe Emotionen und nachhaltige Gedanken ausgelöst. Ein Stern, der auch stark leuchtet am Literaturhimmel. 

Ganz anders «Glitsch» von Adam Schwarz, einem mir bisher unbekannten Erzähltalent. Wenn der Protagonist auf der Suche nach seiner Freundin immer tiefer in das arktische Kreuzfahrtsschiff hinuntersteigt, erleben wir eine hochspannende, tiefgründige Liebesgeschichte und die irrwitzige Absurdität einer Schifffahrtgemeinschaft in einer wunderbar frischen Sprache.

2022 hat Kim de l`Horizon mit seinem Blutbuch mich durch Lektüre und dann die Auszeichnung stark durchgeschüttelt. Ist der Doppelpreis in Anbetracht der anderen, auch nicht nominierten Bücher gerechtfertigt? Auch bei uns wurde das Buch gut verkauft. Von den übrigen Nominierten konnte nur Thomas Hürlimann diesem Preisträger bezüglich Verkauf die Stange halten. Damals wie heute werfen Preise für mich Fragen auf: Welche Bücher sind lesenswert? Was zeichnet gute Literatur aus? Welche AutorInnen sprechen mich an? Welche kann ich wem empfehlen? Eine kleine Buchhandlung braucht natürlich auch Bestseller, um überleben zu können. Neben dem Inhalt sind auch die Ausstattung und besonders das Cover meines Erachtens für den Verkauf wichtig. Das haptische Moment spielt gerade bei den Büchern eine grosse Rolle. 

Trotzdem finden literarisch wertvolle Bücher oft keinen Weg zu einer Leserin, einem Leser. Auch Lyrik ist bezüglich Verkauf bei uns ein Stiefkind. Hat es schon einmal einen Schweizer Buchpreis für einen Gedichtsband gegeben? Immerhin waren bei der Preisträgerin Martina Clavadetscher die «Knochenlieder» dabei.

Die Orientierung unter den unzähligen Neuerscheinungen ist für mich als Senior-Bär im Buchladen ebenso schwierig wie Honig zu finden im Winter. Ich liebe «leise» Autorinnen und Autoren, beispielsweise aus der Schweiz: Lukas Maisel, Anna Ospelt, Leta Semadeni und Urs Faes, um nur einige wenige zu nennen. Bei der Wahl hilft mir dein wunderbar gestaltetes und inhaltlich unschlagbares »literaturblatt» neben den Literaturartikeln in den Medien. Entscheidend sind auch immer wieder persönliche Begegnungen anlässlich von Lesungen und Literaturfestivals.

NB: Neben der Schweizer Literatur interessieren mich seit Jahren Autorinnen und Autoren aus dem Osten, beispielsweise aus der Ukraine, aus Russland, Bulgarien und Rumänien. Darüber vielleicht ein andermal.

Liebe Grüsse

Bär 

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Die erste Einsendungen, die mit einer Mail oder über «Kontakt» einen Kommentar (mit Erlaubnis, diesen zu veröffentlichen!) zu «Der graue Peter» von Matthias Zschokke einsendet, bekommt von mir ein signiertes Exemplar des Romans per Post zugesandt. Allerdings brauche ich dafür eine Postanschrift!
Gallus Frei

 

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/03

Lieber Bär

Nun sind die 5 Namen da. Keine DebütantInnen, keine Experimente, fünf klingende Namen, fünf ganz unterschiedliche Stoffe. Gibt es ein Buch, dass Du bereits gelesen hast? Was ist dir nach der Lektüre geblieben?

Im Gespräch mit AutorInnen wundern mich zwei Dinge. Zum einen der Umstand, dass es nicht wenige gibt, die ihrem Verlag verbieten, ihre Bücher einzusenden, weil sie nicht wollen, dass ihr Buch Teil eines „Wettbewerbs“ wird. Und zum anderen, dass es Verlage und VerlegerInnen gibt, die es schlicht versäumen, ihre Bücher, die zu einer Teilnahme berechtigt wären, bei der entsprechenden Stelle anzumelden. Ein Versäumnis, das ich ganz und gar nicht nachvollziehen kann, selbst dann nicht, wenn die Chancen auf den Preis verschwindend klein sind.

Noch zum Thema „Wettbewerb“; Auch das Wettlesen um den Bachmannpreis jedes Jahr im Sommer spaltet die Geister. Ich gebe dem Argument recht, dass man Texte nur ganz begrenzt miteinander vergleichen kann, sehr oft gar nicht. Aber man kann die Wirkung eines Textes vergleichen, wenn auch hier nichts Messbares resultieren kann und es keine wirklich objektiven Kriterien geben kann. Texte berühren, klammern sich fest, stossen mich ab, reissen mich mit, lösen etwas aus, begeistern mich, bleiben wie ein Geist über Jahre oder gar Jahrzehnte neben mir, öffnen Türen oder lassen mich den Kopf schütteln.

Liebe Grüsse
Gallus

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Lieber Gallus,

Ich habe «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller und «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller gelesen, beides meines Erachtens eindrückliche Texte. Alle nominierten Namen versprechen wunderbare eigenständige Literatur, da bin ich mit Dir einverstanden.
Geblieben ist mir bei «Sich lichtende Nebel», wie mit faszinierenden Genauigkeit der Sprache die Grenzen und Unschärfen unseres Erkennens und Denkens erfasst wird. Zutiefst menschliche Verhalten (Trauer und Einsamkeit) spiegelt sich in analytischem Forschen, ermöglicht, dass Neues in die Welt kommt.
In «Bild ohne Mädchen» wird ohne Wut und Anklage in beeindruckend eigenständiger Sprache ein Kindsmissbrauch erzählt. Das in berührenden Bildern geschilderte Grauen und das Versagen der Erwachsenen wird erst im Verlauf in vollem Ausmass ersichtlich.
Beides sehr kluge, gelungene Werke!

Zum Thema Wettbewerb: Das, was Du betreff AutorInnen und Verlage geschrieben hast, war mir nicht so bekannt, wundert mich aber auch. Ebenso ist für mich die Wirkung eines Textes ausschlaggebend. Diese ist natürlich abhängig von der Sprache und vom Inhalt, auch von der Aktualität. Allgemein wirkt sich auch aus, wo und wie ich mich als Leser befinde (Jugend, Alter, Trauer, Neugier, Beruf, Offenheit ect)
Die diesjährige Shortlist ist deutlich ausgewogener als 2022, aber nicht weniger spannend.

Gerade habe ich die ersten zwei Teile (das erste Buch der Trilogie) der Heptalogie von Jon Fosse «Der andere Name» gelesen, ein besonderer Lesegenuss von biblischer Gewalt und Intensität, sehr eigenwillig, hypnotisierend. 475 Seiten ohne Punkt! Nun bin ich bereit für schweizer Literatur.

Herzliche Grüsse

Bär

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Ich lernte den Bären am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad kennen, an der literarischen Wanderung, die jeweils als Einstimmung organisiert wird. So trifft man sich Jahr für Jahr. Und weil man zusammen geht, entstehen Gespräche, die einen über Bücher und ihre ErschafferInnen, die anderen über Gott und die Welt – wobei in Büchern doch über nichts anderes geschrieben wird als über Gott und die Welt.

Schweizer Buchpreis 2023: Die 5 sind da! #SchweizerBuchpreis 23/02

Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.

Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.

Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln.
Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!

 

«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller
Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard
Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.

Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.

«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will.
Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm.
Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. 

«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz
Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive.
Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun?
«Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin. 

«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke
Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde.
Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».

19. November 11 Uhr: Preisverleihung Schweizer Buchpreis 2023
Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Zur feierlichen Preisverleihung 2023 im Foyer des Theater Basel sind Sie herzlich eingeladen. Der Eintritt ist gratis, Tickets können Sie ab Mitte Oktober über die Webseite des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel beziehen.

Illustrationen © leale.ch

literaturblatt.ch begleitet den Schweizer Buchpreis 2023, #SchweizerBuchpreis 23/01

Jedes Jahr im November wird im Theater Basel der Schweizer Buchpreis für das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren überreicht. Am 13. September gibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband die fünf Nominierten bekannt.

Letztes Jahr war es Kim de l’Horizon mit seinem Debüt «Blutbuch», einem Roman, der die Jury durch seine Sprache, seine Erzählweise aber auch durch seine Offen- und Direktheit überzeugte: «Der Text lässt Erzählkonventionen hinter sich und erzählt auf verblüffend eigenwillige Art eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Gender- und Klassendebatten.» Eine Entscheidung, die nicht zuletzt deshalb zu Diskussionen führte, weil bei den Nominierten mit Thomas Hürlimann und seinem Roman «Der rote Diamant» ein Grosser der deutschsprachigen Literatur stand, der es, gemessen an seinem Werk, sehr wohl verdient hätte, für diesen Roman mit einem grossen, publikumswirksamen Preis ausgezeichnet zu werden.

Nachdem Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch» im vergangenen November mit dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde, schlugen die Wellen regelrecht über dem jungen Autor zusammen. Sinnbildlich dafür die unendlich lange Schlange bei den letzten Solothurner Literaturtagen, als der grösste Saal des Festivals übervoll wurde, weil sowohl Buch wie Autor in aller Munde waren. Der Roman «Blutbuch» verkaufte sich schon vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises ausgezeichnet. Kim de l’Horizon gewann mit seinem Buch im gleichen Jahr auch schon den Deutschen Buchpreis, ein Doppelerfolg, der erst Melinda Nadj Abonji 2010 mit dem Roman «Tauben fliegen auf» verbuchen konnte. Mit den beiden Preisen schlugen die Verkaufszahlen, zumindest für Schweizer Verhältnisse, durch die Decke.

Literaturpreise gibt es viele. Es gibt zwei Kategorien; jene, die ein Buch alleine auszeichnen und jene, die das Werk einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers auszeichnen. Preise sind wichtig, denn sie schenken nicht nur Aufmerksamkeit, sondern ermöglichen mit der Preissumme eine gewisse Zeit des Schreibens ohne wirtschaftliche Sorgen. Aber Preise sind letztlich immer der Entscheidung einer Jury unterworfen, die Vorlieben und Präferenzen unmöglich blockieren kann. Und sehe ich die Listen der Preise gewisser Autorinnen und Autoren durch, kann ich mich nicht gegen den Eindruck wehren, dass gewisse Preise weitere Preise regelrecht provozieren.

Nun denn. Der Schweizer Buchpreis prämiert das beste «Schweizer» Buch. Eine heere Absicht, der niemals und in keiner Weise entsprochen werden kann. Das eine Buch, das man im November auf den Sockel hieven wird, ist jenes Buch, das den Konsens in der Jury traf, das den Bedürfnissen des Schweizer Buchhandels in Sachen Qualität, Lesbarkeit und Verkäuflichkeit am meisten dient. 
Im vergangenen Jahr war mit «Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel ein äusserst spannendes Buch unter den fünf Nominierten. Ein Buch, dass durch seine Radikalität, seine Eigenwilligkeit und Sprachkunst überzeugte. Aber das Buch war und ist keines, das man der alt gewordenen Mutter unter den Christbaum legt. Nicht mal meine Söhne hätten es gelesen. Nicht weil sie Anspruchsvolles grundsätzlich verschmähen. Aber die meisten lesen doch, weil sie unterhalten werden wollen.

Am 13. September werden wieder fünf nominierte Bücher präsentiert. Ganz viele Bücher, die es wert gewesen wären, werden fehlen, wie immer, jedes Jahr. Ganz viele Verlage und noch mehr Autorinnen und Autoren werden sich die Augen reiben. Die einen, weil sie nie und nimmer damit gerechnet hätten bei den fünf Nominierten zu sein, die anderen, weil ihre Namen schlicht fehlen auf der kurzen Liste. Und ein paar wenige werden gar beleidigt sein, weil man sie (wieder) nicht berücksichtigte.
Auch bei den Lesenden wird es viele geben, die die Nase rümpfen oder verkünden, die Liste ginge sang- und klanglos an ihnen vorbei.

Ob dem so ist oder nicht, es werden fünf spannende Bücher sein mit fünf spannenden Namen und Geschichten dahinter. Ich freue mich darauf, auch wenn es eigentlich unmöglich ist, fünf Bücher in einem Wettbewerb ohne transparente Kriterien gegeneinander antreten zu lassen.

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„Blutbuch“ von Kim de l‘Horizon gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022 #SchweizerBuchpreis 22/11

Laudatio zu Kim de l’Horizon «Blutbuch» (DuMont Buchverlag) von Sieglinde Geisel, Jurymitglied

Kim de l’Horizons Debüt «Blutbuch» ist ein Chamäleon von einem Roman. Es ist die Coming of Age-Geschichte eines Menschen, der sich geschlechtlich nicht definieren will und zugleich eine Sozialstudie über die Gesellschaft, die das nicht akzeptiert. Es ist ein Buch über die Kindheit und eine Suche nach den Vorfahrinnen. Es ist ein Buch, das sämtliche Diskurse der Political Correctness verarbeitet, von der Diversität der Geschlechter über den Rassismus bis zu Klassenunterschieden – und das doch kein non-binärer Thesenroman ist.

«Blutbuch» feiert die Sprache als ein Medium des Erfindens und Ausprobierens, er bedient sich aller Register des Sprechens. So wird im Berner Dialekt aus der «Mutter» eine «Meer» und aus der «Grossmutter» eine «Grossmeer», und auf einmal ahnen wir ein Meer, in dem wir untergehen könnten.

In jedem der fünf Kapitel spricht eine andere Stimme. Wir lesen konzentrierte Kindheitsprosa («Grossmeers Hände … packen meine Kinderarme (…) und streicheln sie unbarmherzig») und poetisch aufgeladene Einsichten («Die Kindheit fühlt sich an wie ein toter Hase an einem Feldwegrand, der langsam von Ameisen, Fliegen, Bakterien und Pilzen zersetzt wird.»). Wir lesen sozialkritische Analysen (über «den Rassismus, den mensch uns mit dem Schnuller eingetrichtert hat und der nicht einfach aufhört zu wirken, auch wenn wir uns gegen ihn entscheiden»), und dann wieder werden wir von rhapsodisch verwilderten Sexszenen an die Grenze des Zumutbaren katapultiert. Wir lesen Stammbaum-Einträge der Vorfahrinnen, die die «Meer» in ihre Schreibmaschine getippt hat, Frauenporträts, die den viele Jahrhunderte umfassenden Echoraum der Unterdrückung öffnen. Auch die «Meer» selbst hat ihr Studium dem Kind geopfert, das nun dieses Buch schreibt und ihr eine dialektgefärbte, bisweilen um Formulierungen ringende Stimme verleiht. Das letzte Kapitel schliesslich ist auf Englisch geschrieben: Die in die Dem‹enz versinkende Grossmeer soll diese Briefe nicht lesen können, denn was der Ich-Erzähler ausdrücken möchte, kann er ihr nicht sagen. «I am still scared of you, Grandma, scared of what you will do when you read all of this.»
Ein sprachlich überbordender Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen – auch so könnte man dieses vielgestaltige Buch benennen. Zusammenfassen kann man es nicht, es strebt in alle Richtungen. «This naughty text, der einfach nicht straight sein will, der sich einfach ständig unter meinen schlecht lackierten Nägeln wegdreht wegquengelt wegqueert.» Der Ich-Erzähler reflektiert sich ständig selbst: «Vielleicht ist es das, was ‹Autofiktion› bedeutet: mit eigenem Tempo, eigenem Fokus und eigenem Modus durch die Wirklichkeit zu fahren.» In der Tat begegnen wir hier einer Sprache, die beschleunigt, abbremst, ausbricht, nach innen horcht, ausschert, dann wieder überraschend die Spur hält – zwischen all diesen Stühlen, auf die der Autor sich nicht setzen will.

Mit diesem Debüt hat Kim de l’Horizon der literarischen Sprache der Schweiz einen neuen Kosmos eröffnet. Ich gratuliere Kim de l’Horizon im Namen der Jury zur Nominierung für den Schweizer Buchpreis.

Illustration © Charlotte Walder

Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022? #SchweizerBuchpreis 22/10

Am Sonntag, den 20. November, kurz vor Mittag, ist es soweit; die Preisträgerin oder Preisträger des Schweizer Buchpreises 2022 wird im Theater Basel bekanntgegeben. Kameras, Blitzlichter, Blumensträusse, Enttäuschung da, Freude dort.

Ich gebe Alex Capus recht, Schreiben ist keine Olympische Disziplin. Schreiben ist Kunst. Und Kunst lässt sich höchstens mit Verkaufszahlen vergleichen, was aber nichts mit der Kunst selber zu tun hat, höchstens mit der Fähigkeit anderer oder jener, sich dementsprechend zu verkaufen. Ich gebe Alex Capus auch recht, dass AutorInnen nicht zu Zirkuspferden degradiert werden dürfen und sollen, die vorgeführt werden; ein Leitpferd mit hübschem Kopfschmuck und vier Begleitpferden, die das eine einrahmen. Dass es bei der Preisverleihung einen solchen Moment gibt, der nie ohne eine kleiner oder grösser werdende Peinlichkeit auskommt, streite ich auch gar nicht ab.

Aber bei einem Buchpreis wird auch nicht das wirklich beste Buch des Jahres ausgezeichnet. Wie sollte ein solches auch bestimmt werden. Schon die Frage, ob es ein solches überhaupt gibt, kann zumindest ich mit einem unmissverständlichen Nein beantworten. Das beste Buch? Da liest eine fünfköpfige Jury das, was von den Verlagen eingesandt wird. Sie lesen und geben dem einen Buch mehr Gewicht als den anderen, bis fünf Bücher nach einer Ausscheidung zurückbleiben. Aus der Politik wissen wir, dass am Schluss eines Prozesses der Kompromiss, der grösstmögliche gemeinsame Nenner präsentiert wird. Das ist auch hier so, auch wenn sich die diesjährige Jury sehr mutig gezeigt hat und alles andere als eine „Einheitssuppe“ präsentierte.

Thomas Hürlimann, Kim de l’Horizon, Lioba Happel, Simon Froehling und Thomas Röthlisberger


Das beste Buch des Jahres? Es ist wohl eher so, dass sich eine Jury auf ein Buch einigen konnte, auf das man einen extragrossen Scheinwerfer richten will. Der Schweizer Buchpreis ist vom Schweizerischen BuchhändlerInnenverein organisiert und mitfinanziert. Verkaufstechnische Überlegungen stehen im Vordergrund. Der Buchpreis ist eine PR-Aktion. Wie viel Bedeutung man diesem Preis zugestehen will, sei jedem selbst überlassen.

Viele Künstler, SchriftstellerInnen leben nicht allein vom Verkauf ihrer Kunst, ihrer Bücher. In der Schweiz mag es ein Dutzend AutorInnen geben, die das schaffen. Es braucht Lesungen, Stipendien, Förderbeiträge – und Preise. Preise generieren Aufmerksamkeit. Zu hoffen ist, dass alle Nominierten von solcher Aufmerksamkeit profitieren, auch Kim de l’Horizon, der in den letzten Monaten peinlich viel Unsinn über sich ergehen lassen musste.

Ich glaube, dass sich die Bücher von Thomas Hürlimann und Kim de l’Horizon in der Pole-Position die Nase vorn haben. Die Jury wird in jedem Fall mit der Bekanntgabe des Schweizer Buchpreises ein Statement abgeben. Sei es ein Statement für Tradition oder eines für Aufbruch. Grosse Preise, auch wenn der Schweizer Buchpreis im Ausland nur mässig wahrgenommen wird, sind immer Statement. Selbst die Vergabe des diesjährigen Nobelpreises für Literatur an die französische Altmeisterin Annie Ernaux kann als Statement verstanden werden. Mit «Das Ereignis» schrieb sie einen Roman über (oder gegen) staatlich kriminalisierte Abtreibung. Über die infernalische Einsamkeit einer jungen Frau im Kampf für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Wenn man sieht, was in den USA oder auch in europäischen Ländern geschieht, ist diese Wahl mit Sicherheit auch ein Stück weit Signal.

Mein Siegerbuch ist «Blutbuch» von Kim de l’Horizon. Sollte Kim de l’Horizon am Schluss der Preisvergabe nicht im Blitzlichtregen auf der Bühne stehen wird, ist Kim de l’Horizons Buch mein Buch.
Weil es sich traut, weil es mutig ist.
Weil es dermassen vielschichtig, verflochten und klug ist.
Weil es mich ohne Arroganz zu lehren weiss.
Weil es mich überrascht und aus den Socken haut.
Weil Kim de l’Horizon sprachlich derart viele Register ziehen kann.
Weil die Diskussionen über dieses Buch und aus diesem Buch nicht enden werden.
Weil mich die Tatsache, dass «Blutbuch» ein Debütroman ist, verblüfft.

Und die anderen vier Bücher? Mein Kompliment an die Jury, denn die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat es in sich. Fünf literarische Würfe, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Bücher, deren Lektüre sich lohnt, die es mir aber, weil sie mehr als blosse Unterhaltung sein wollen, nicht immer leicht machten.

«Blutbuch» von Kim de l’Horizon
«Der Rote Diamant» von Thomas Hürlimann
«Steine zählen» von Thomas Röthlisberger
«Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel 
«Dürrst» von Simon Froehling

Gallus Frei

Illustrationen © leafrei.com

Buchgeflüster 2 #SchweizerBuchpreis 22/9

Hier flüstern Manuela Hofstätter von lesefieber.ch und ich über Bücher, die Nominierten, den Schweizer Buchpreis 2022 und überhaupt … 

Liebe Manu

Dein Optimismus ehrt Dich. Vielleicht hat meine Ernüchterung damit zu tun, dass das Lesen, die Lektüre für mich weit mehr als Unterhaltung und Zeitvertreib ist. Ich messe ein Buch nicht an seiner Zersteuungswirkung. Ganz im Gegenteil. Ich messe ein Buch an dem, was es in mir auslöst; an Gedanken, Reflexion, Resonanz, Emotion, Konzentration.

In meinem Brotberuf bin ich in der Bildung tätig. Dort ist die Versuchung gross, Bücher bloss als Stoffträger einzubinden. Selbst Literatur wird degradiert zu fremd gewordener Auseinandersetzung, einem Frage-Antwortspiel, blutleer und seelenlos. Jüngeren Kindern muss das Buch gegen all die anderen „Unterhaltungen“ standhalten. Dabei ist Literatur ein Tor zu Dimensionen, die einem sonst verschlossen bleiben. Literatur ist Türöffner. Und manchmal reisst der Himmel auf und Sprache leuchtet durch mich hindurch, löst ein Schaudern aus.

Ich bin mir alles andere als sicher, ob der Schweizer Buchpreis jenes Buch auszeichnen wird, dessen Tiefenwirkung am grössten ist. Das ist auch gar nicht die Aufgabe dieses Preises. Der Preis will Aufmerksamkeit. Das ist alles. Ehrenhaft, dass die Jury „Pommfritz“ von Lioba Happel in die Endausscheidung aufgenommen hat. Aber „Pommfritz“ ist pure Auseinandersetzung. Keine Nachttischchen-, keine Strand- und schon gar keine Unterhaltungslektüre. Bücher wie „Pommfritz“ in der Shortlist sollen wohl der Ernsthaftigkeit dieses Preises dienen. Ob ich „Pommfritz“ weiterempfehlen würde? Nur mit einem Beipackzettel, der vor unerwarteten Nebenwirkungen (, die durchaus schwindlig machen können!) warnt – aber nicht zum Abtauchen – höchstens zum Aufschrecken. „Pommfritz“ ist kein Lesefutter, sondern Medizin.

Liebgruss
Gallus

 

Lieber Gallus,

ich habe dir so lange nicht geantwortet, weil ich deine Zeilen setzen lassen musste. Sie erzeugten im ersten Moment Groll in mir, Groll, der an meiner Berufsehre als Buchhändlerin entflammte und auch gegenüber dem Berufsstand der Lehrer. Literatur an den Schulen; ich ärgere mich zuweilen, wenn ich merke, wie an Schulen jedes Jahr erneut derselbe, meiner Meinung nach schon an Schwachsinn grenzende, gleiche «Klassiker» gelesen wird oder eben eher der Schülerschaft angetan wird. Da bin ich mir sicher, das wirkt nicht lesefördernd, öffnet kein Tor zur Literatur. Das richtet viel mehr Schaden an, denn nach dieser Lektüre ist klar, Lesen, Literatur ist nichts für die junge Generation. Zum grossen Glück gibt es aber doch Lehrkräfte, die da anders unterwegs sind und es verstehen, eine Klassenlektüre zu wählen, welche überzeugt. Den grossen Anspruch, welchen du da nennst, den erwarte ich da noch gar nicht, den sehe ich erst auf der gymnasialen Stufe. Aber die Freude am Lesen wecken, aufzeigen, dass ein Buch so vieles bewegen kann, helfen kann, anregen kann zum Nachdenken, neue Wege eröffnen … das funktioniert, ich habe es schon mehrmals erleben dürfen und appelliere an die Mündigkeit der Leserschaft, egal welchen Alters.

Das beginnt ja bereits beim Bilderbuch. Was mir gefällt, was ich kunstvoll und toll finde, gar noch eine wertvolle pädagogische Botschaft übermittelt sehe, das gefällt der vierjährigen Lilli allermeistens nicht die Bohne. Wenn die Patentante ein Jugendbuch für ihr Patenkind auswählt, geht es oft schief, das Buch bleibt ungelesen, was die Käuferin des Buches nicht erfahren wird. Als Buchhändlerin liebe ich an meinem Beruf am allermeisten; diese Fähigkeit zu erlernen, jeden Tag aufs Neue mein Gegenüber wahrzunehmen, nur dann kann ich versuchen, eine Buchempfehlung zu machen. Die Mündigkeit der Leserschaft ist für mich unantastbar, von daher rührte auch mein anfänglicher Groll deinen Zeilen gegenüber, denn die Überheblichkeit ist der Tod jeglicher Buchempfehlung.
Ich las als allererste Werke in meinem Dasein Comics, das galt damals als Schund oder dein schönes Wort, Stoffträger. Es ist und bleibt für mich weitaus mehr als das. Comics sind und waren immer schon ein höchst wertvoller Einstieg ins Lesen, hin zum Buch, zur Literatur.

Nun, ich schweife ab. Der Schweizer Buchpreis hat also die Aufgabe, Aufmerksamkeit für diese fünf nominierten Werke zu schaffen. Hier zweifle ich nun an, ob das erreicht wird. Hat schon jemals ein Verlag ein Buch verlegt, für welches er sich keine Aufmerksamkeit wünschte? Welchen Werken versucht man nun mit dem Schweizer Buchpreis diese Aufmerksamkeit zu verschaffen? Was möchte man damit erreichen? Ist der Schweizer Buchpreis der Leseförderung zuträglich? Hilft dieser Preis den Buchverkauf der nominierten Werke anzukurbeln?
Lieber hochgeschätzter Gallus, ich bin sehr gespannt, ob du dich diesen schlichten Fragen stellen magst. Ich danke dir für unseren Austausch, möge er noch ein paar Menschen erreichen, oder auch nicht, mir bereitet er jedenfalls Freude und Auseinandersetzung.

Herzlich grüsst dich

Manu

Simon Froehling «Dürrst», bilgerverlag #SchweizerBuchpreis 22/8

„Dürrst“ ist eine gnadenlose Achterbahnfahrt eines aufstrebenden Künstlers zwischen euphorischen Höhenflügen, ekstatischer Arbeit und trostloser Abstürze in die Tiefen psychischer Abgründe. Alles an diesem Leben ist Auseinandersetzung. Auch die Lektüre dieses Romans!

Je nach Lebenssituation ist der Blick in eine andere Richtung gerichtet. Bei den einen zurück, bei den andern in die Zukunft. Dürrsts Blick geht nur nach vorne, auch wenn es sich nur schwer erschliesst, was sich im Nebel der Zukunft abzeichnet. Was Vergangenheit ist und war, stösst er ab, wie die Eidechse ihren Schwanz. Was nachwächst, ist nur mehr rudimentär und hilft gerade noch so, um im Tempo des Lebens das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein Elternhaus, das nicht verstehen will, Mutter und Vater, die an die Macht des Geldes glauben, jene Macht, die sie selber stets auf der Welle des Erfolg reiten liess. Dürrst weiss, dass er nicht nach dem Rhythmus seiner Eltern tickt, dass er anders ist, dass sein Schwulsein keine Laune der Natur ist, dass sich sein Wunsch, als Künstler etwas erschaffen zu wollen, genauso wenig einer Laune der Natur zuordnen lässt. Dass sein Leben sich nicht nach Kompromissen richten soll. Dass alles Risiko ist.

Simon Froehling «Dürrst», Bilger, 266 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03762-100-4

Dürrst ist nicht zu fassen. Auch für seine Freunde nicht, seinen Freund. Ein permanent unter Druck stehendes Leben, dass sich kaum zwischen seinen Extremen einpendeln lässt. Einmal wird er als zukünftiger Star von seiner Galeristin gefeiert, ein andermal lässt er sich freiwillig von einem Mantel an Medikamenten zudecken, weil es die einzige Möglichkeit ist, zur Ruhe zu kommen. Manchmal bricht er aus, manchmal bricht er ein.

Einmal wirbelt er wie ein Derwisch durch die wilden Parties der Stadt, verliert sich im Arbeitswahn, in den Ideen zu seiner Kunst. Ein andermal sackt er ab in die Untiefen menschlichen Verlorenseins, vegetiert, ergibt sich der Maschinerie, die hinter verschlossenen Kliniktüren das Zepter in die Hand nimmt.

Eigentlich will Dürrst nur leben, will sein, was er ist, was er in hellen Zeiten seines Lebens als treibende Kraft in sich spürt. Aber weil sein Leben zu einer permanenten Demonstration gegen alles Biedere und „Bünzlihafte“ wird, ist alles Kampf. Ein Kampf der Abnützung, des Anrennens, des Verschleisses. Ich möchte Dürrst beim Lesen an der Hand nehmen, möchte ihn drosseln, weil ich die drohenden Katastrophen erahne.

Simon Froehlings zweiter Roman nach „Lange Nächte Tag“ ist eine buchgewordene Performance, der Schrei einer Generation, die alle Muster ablegen will, die nicht bereit ist, sich all jenen Zwängen zu beugen, die die Generationen zuvor als Selbstverständlichkeit hinnahmen. Aber vielleicht ist „Dürrst“ auch das Manifest einer Generation, die angesichts der Fülle an Eingebrocktem einfach nur die Nase voll hat.

Simon Froehling macht es mir nicht einfach. Sein Roman ist keine Geschichte zur Erbauung, sondern der Schrei von Verlorenen. Auf dem Klappentext steht: „Froehling erzählt den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern stupender Schönheit.“ „Dürrst» ist nicht Selbstfindung, sondern das unendliche Suchen.

Simon Froehling wurde 1978 geboren, ist schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger und lebt in Zürich. Anfang der Nullerjahre machte er sich hauptsächlich als Lyriker und Dramatiker einen Namen – mit über einem Dutzend Theaterstücken und Hörspielen, die in der Schweiz, Deutschland und Österreich uraufgeführt oder gesendet wurden. Sein erster Roman «Lange Nächte Tag» erschien 2010 im Bilgerverlag. Für sein Werk wurde er mit diversen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Publikumspreis der St. Galler Autorentage, dem Dramatikerpreis der Schweizerischen Autorengesellschaft, einem Heinz-Weder-Anerkennungspreis für Lyrik und dem Network-Kulturpreis der schwulen Führungskräfte. Simon Froehling ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel/Bienne. Neben seiner Tätigkeit als freier Autor und Übersetzer arbeitet er am Tanzhaus Zürich als Dramaturg und Kommunikator.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont #SchweizerBuchpreis 22/7

„Blutbuch“ ist ein Buch über das Woher und Wohin. Die Stimme im Buch sucht nach ihrer Herkunft, schreibt Briefe an die Grossmutter, weil sie weiss, dass alle alle Generationen mit sich tragen, aus denen die eigene Existenz gewachsen ist. „Blutbuch“ ist die Suche nach den Säften, die das Leben ausmachen.

Die Erzählstimme definiert sich weder männlich noch weiblich, was sich non-binär nennt. Sie forscht in einer Zeit, in der Vergangenheit, als es ausschliesslich das Weibliche und Männliche gab und sich alles dieser Zweiteilung zu unterwerfen hatte, mit allen Konsequenzen. Wenn die Erzählstimme in den Schichten des eigenen Daseins wühlt, wenn sie schwärmt, leidet, schreit, erklärt und forscht, vermeidet sie jede Zuordnung, schreibt „jemensch“ statt jemand, was zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist, den Lesefluss aber kaum hemmt und für Kim de l’Horizon eine der unausweichlichen Konsequenzen einer nicht nur für das Schreiben getroffenen Entscheidung ist.

«Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.»

„Blutbuch“ ist die Zwiesprache mit der Grossmutter, mit seiner Grossmeer, einer alt gewordenen Frau, die zu verstummen droht, die in ihrer Demenz ihre Geschichte Stück für Stück verliert, die er nicht mehr fragen kann, deren Antworten versiegen. Mit einer Frau, die untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden ist, die in ihr grosses Vergessen Stücke seiner eigenen Geschichte mit in diese eine nicht zu korrigierende Leere reisst.

„Blutbuch“ ist die Suche nach der eigenen Herkunft, ein erschriebener Stammbaum. Kim de l’Horizon kostet in diesem Buch vom Blut seiner Familie, schmeckt das Verborgene, Vergessene, Verschwiegene. Jene Blutbuche im Hof ist Sinnbild für das Buch, das jede Familie schreibt, die Geschichten, von denen man sich emanzipieren kann oder die einem auf ewig im Griff behalten, nicht loslassen, ketten.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont, 2022, 336 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-8321-8208-3

Die Grossmutter des Erzählenden, die Grossmeer, ist Kim näher als die Mutter, seine – ihre Meer, von der Kim sich sein ganzes Leben lang seltsam distanziert fühlt, mit der Kim nicht redet, schon gar nicht über das Anderssein, dieses „Es“, das immer aussen vor bleibt. „Blutbuch“ ist die Liebeserklärung an eine Grossmutter, das Nachspüren an eine Nähe, die der Erzähler zur Mutter nie hatte. „Blutbuch“ ist sanfte Berührung, leises Streicheln, aber auch verzweifeltes Schreien, grelle Demonstration.
„Blutbuch“ ist die Erkundung eines Körpers, einer Selbstverständlichkeit für viele, einer schmerzhaften Konfrontation für Kim. Kim spürt sich dann, wenn der Schmerz am grössten ist. In „Blutbuch“ steckt der Kampf ebenso wie der Versuch einer permanenten Versöhnung. Warum bin ich so, wie ich bin? „Blutbuch“ ist der Literatur gewordene Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, dem eigenen Sein eine Gestalt zu geben, Kraft dort zu finden, wo andere sich der Verzweiflung ergeben. Kim de L’Horzon gibt dem Suchen eine Sprache.

«Ich wollte dir meine konstante Angst vor meinem Körper erzählen: Mit dem schrecklichen Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut.»

Ich las „Blutbuch“ mit angehaltenem Atem. Der Roman ist keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass einem Bilder bis in Träume begleiten, ist gross. Kim de l’Horizons Debüt ist ein vielstimmiges Konvolut, sich aus den Zwängen einer Gesellschaft zu befreien, die alles und jedes in Schubladen pressen muss, die all dem keinen Platz lässt, was Normen widerspricht. „Blutbuch“ liest sich wie ein Drehbuch zu einem langen Akt der Befreiung. Erstaunlich, wie viel Reife in diesem Buch liegt, wie viel Sprachkunst, wie viel Mut und Kompromisslosigkeit.

Weniger erstaunlich, dass sowohl der Deutsche wie der Schweizer Buchpreis das Buch in die Shortlist, in die Endausscheidung aufgenommen haben, weil das Buch all das zur Sprache bringt, was in der aufgeladenen Atmosphäre unserer Gesellschaft wabert. Aber „Blutbuch“ ist keine Unterhaltung. Dieses Buch will Auseinandersetzung. Wer sich als Lesende dieser Auseinandersetzung stellt, wird belohnt. „Blutbuch“ ist eine Wucht.

Kim de l’Horizon gewann mit seinem Roman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis 2022. Hier die Kurzfassung der Jurybegründung:
«Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Grossmutter, die „Grossmeer“ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt.
Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern liess.»

Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debüt «Blutbuch» versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Heute hat Kim aber genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. «Blutbuch» wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.

Lioba Happel «Pommfritz aus der Hölle», edition pudelundpinscher #SchweizerBuchpreis 22/6

Pommfritz heisst eigentlich Pomelius Fridericus. Wer heisst schon so. Der Name allein wäre Strafe genug. Und Pommfritz sitzt tatsächlich zur Strafe im Gefängnis. Wegen Mordes an seiner Mutter, wegen Kanibalismus. Von einer Hölle in die nächste geraten.

Das Buch sperrte sich mir lange. Nicht nur weil es sich einhändig kaum lesen lässt, nicht der Anzahl Seiten wegen, nicht weil das Buch in der Sitte des Verlags als Paperback den Weg zu LeserInnen versucht, sondern weil Lioba Happel nichts tut, um eine „schöne“ Geschichte zu erzählen. Das soll keine Kritik sein. Ich liebe Bücher, denen ich mich stellen muss, die mich herausfordern, die provozieren. Lioba Happels Roman ist nicht nur der Erklärungsversuch eines Mannes, der es schon lange aufgegeben hat, aus der Hölle zu entkommen, sondern sprachlich wie eine „Eiserne Jungfrau“, die sich während der Lektüre immer unbarmherziger in meine Gedankenwelt einsticht und Male hinterlässt.

Pommfritz sitzt im Knast und schreibt Briefe an seinen Vater. An einen Vater, von dem er nicht viel weiss, der aus seinem Leben entschwand, den er in den Briefen mit „Vatter“ anspricht, als ob in diesem Wort schon das Geräusch einer Backpfeife zu hören wäre. Pommfritz sitzt im Knast, weil er an seinem dreissigsten Geburtstag mit einem Küchenmesser ins verfettete Herz seiner Mutter gestochen hatte, weil er, nachdem sie sich nach der Leichenstarre endlich erweichen liess, mit eben diesem Messer der toten Mutter eine Fingerkuppe abgeschnitten, gebraten und verspeist hatte. Er sitzt im Knast nach einem verkorksten Leben, in dem er sich eigentlich immer nach Nähe und Liebe sehnte, aber jene Liebe nie erhielt oder eben nehmen musste, was zu kriegen war: Kommandos, Schläge und den rauchen Wind einer Welt, in der man sich nehmen musste, weil man nichts geschenkt bekommt.

„Ich habe an die Mutter geglaubt, die für mich die Welt war. Uns siehe, die Welt war öde und leer.“

Lioba Happel «Pommfritz aus der Hölle» edition pudelundpinscher, 136 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-906061-25-2

Pommfritz kann sich erst mit dem von ihm inszenierten Tod seiner Mutter von einem Fleisch gewordenen Alptraum befreien. Seine Mutter, die wie ein riesiger Fleischberg in ihrer Wohnung liegt und nicht einmal mehr den Weg auf die Toilette schafft, sich eigentlich nur noch von Grillhühnchen ernährt, die ihr vor die Wohnung geliefert werden, reduzierte ihre Zuwendung einzig auf Kommandos, nachdem ihre Reichweite für Schläge mit den Jahren immer kleiner geworden war. Selbst als Junge muss sein Leben ein schwieriges gewesen sein. Die gut gemeinten Annäherungsversuche der Pitschbauer, seiner Lehrerin, die ihm gar einmal ein Buch von Arthur Rimbaud in die Hand gedrückt hatte, macht er mit seiner lustvollen Boshaftigkeit zunichte.

Das einzige Wesen, das Pommfritz in die Nähe kommt, das einzige, das bedingt Nähe zulässt aber ebenso viel Schmerz austeilt und einstecken muss, ist Lilly, Prügellilly, eine Hure, ebenso Verlorene wie Pomelius Fridericus selbst.

„Ich lernte mit dem Schlag den Sekundenmoment der Berührung herauszufiltern und spürte so was wie Vorfreude, wenn es hiess: Komm her!“

„Pommfritz aus der Hölle“ ist wie ein Sprache gewordenes Bild in der Art von Caravaggio. Es zeigt die dunkle Seite des Menschseins gnadenlos, konfrontiert unmittelbar. „Pommfritz aus der Hölle“ aber als Sozialstudie eines Monsters abzutun, ist nicht, was dieses Buch will. Lioba Happel badet sprachlich in der Welt eines Kaputten. Wäre „Pommfritz aus der Hölle“ ein Theater, würden die ersten ihre Plätze schon nach wenigen Minuten verlassen, weil das Spektakel so gar nicht erbauen will. „Pommfritz aus der Hölle“ will nicht gefallen. Sprache und Geschichte sind so unzugänglich wie ihr Personal, die Geschichte und Lioba Happels Art zu erzählen. Lektüre wird zu Arbeit.

Erstaunlich genug, dass die Jury dieses Buch in die Liste der Nominierten aufnahm. „Pommfritz aus der Hölle“ ist eine Stimme aus den Untiefen menschlicher Existenz. Ein Buch, das einem als Nachttischlektüre in Alpträume begleiten kann. Ein Buch, das einen Kloss im Bauch zurücklassen kann, sperrig, nur schwer verdaulich.

Lioba Happel, geboren 1957, war viele Jahre in Deutschland und der Schweiz im schulischen und sozialen Bereich tätig. Sie hat sowohl Lyrik wie Prosatexte veröffentlicht und erhielt diverse Auszeichnungen, zuletzt den Alice Salomon Poetik Preis 2021. Nach längeren Aufenthalten in England, Irland, Italien und Spanien wohnt sie heute in Berlin und Lausanne.

Illustrationen © leafrei.com