„Blutbuch“ von Kim de l‘Horizon gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022 #SchweizerBuchpreis 22/11

Laudatio zu Kim de l’Horizon «Blutbuch» (DuMont Buchverlag) von Sieglinde Geisel, Jurymitglied

Kim de l’Horizons Debüt «Blutbuch» ist ein Chamäleon von einem Roman. Es ist die Coming of Age-Geschichte eines Menschen, der sich geschlechtlich nicht definieren will und zugleich eine Sozialstudie über die Gesellschaft, die das nicht akzeptiert. Es ist ein Buch über die Kindheit und eine Suche nach den Vorfahrinnen. Es ist ein Buch, das sämtliche Diskurse der Political Correctness verarbeitet, von der Diversität der Geschlechter über den Rassismus bis zu Klassenunterschieden – und das doch kein non-binärer Thesenroman ist.

«Blutbuch» feiert die Sprache als ein Medium des Erfindens und Ausprobierens, er bedient sich aller Register des Sprechens. So wird im Berner Dialekt aus der «Mutter» eine «Meer» und aus der «Grossmutter» eine «Grossmeer», und auf einmal ahnen wir ein Meer, in dem wir untergehen könnten.

In jedem der fünf Kapitel spricht eine andere Stimme. Wir lesen konzentrierte Kindheitsprosa («Grossmeers Hände … packen meine Kinderarme (…) und streicheln sie unbarmherzig») und poetisch aufgeladene Einsichten («Die Kindheit fühlt sich an wie ein toter Hase an einem Feldwegrand, der langsam von Ameisen, Fliegen, Bakterien und Pilzen zersetzt wird.»). Wir lesen sozialkritische Analysen (über «den Rassismus, den mensch uns mit dem Schnuller eingetrichtert hat und der nicht einfach aufhört zu wirken, auch wenn wir uns gegen ihn entscheiden»), und dann wieder werden wir von rhapsodisch verwilderten Sexszenen an die Grenze des Zumutbaren katapultiert. Wir lesen Stammbaum-Einträge der Vorfahrinnen, die die «Meer» in ihre Schreibmaschine getippt hat, Frauenporträts, die den viele Jahrhunderte umfassenden Echoraum der Unterdrückung öffnen. Auch die «Meer» selbst hat ihr Studium dem Kind geopfert, das nun dieses Buch schreibt und ihr eine dialektgefärbte, bisweilen um Formulierungen ringende Stimme verleiht. Das letzte Kapitel schliesslich ist auf Englisch geschrieben: Die in die Dem‹enz versinkende Grossmeer soll diese Briefe nicht lesen können, denn was der Ich-Erzähler ausdrücken möchte, kann er ihr nicht sagen. «I am still scared of you, Grandma, scared of what you will do when you read all of this.»
Ein sprachlich überbordender Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen – auch so könnte man dieses vielgestaltige Buch benennen. Zusammenfassen kann man es nicht, es strebt in alle Richtungen. «This naughty text, der einfach nicht straight sein will, der sich einfach ständig unter meinen schlecht lackierten Nägeln wegdreht wegquengelt wegqueert.» Der Ich-Erzähler reflektiert sich ständig selbst: «Vielleicht ist es das, was ‹Autofiktion› bedeutet: mit eigenem Tempo, eigenem Fokus und eigenem Modus durch die Wirklichkeit zu fahren.» In der Tat begegnen wir hier einer Sprache, die beschleunigt, abbremst, ausbricht, nach innen horcht, ausschert, dann wieder überraschend die Spur hält – zwischen all diesen Stühlen, auf die der Autor sich nicht setzen will.

Mit diesem Debüt hat Kim de l’Horizon der literarischen Sprache der Schweiz einen neuen Kosmos eröffnet. Ich gratuliere Kim de l’Horizon im Namen der Jury zur Nominierung für den Schweizer Buchpreis.

Illustration © Charlotte Walder