Helwig Brunner «Gummibärchenkampagne», Droschl

Sie lieben die Kurzgeschichten von Franz Hohler, den skurrilen Witz von Monty Python und die sprachliche Raffinesse derer, die Dinge durch das Wort lebendig werden lassen, von denen man sonst gar nichts weiss? Was bei Droschl als schmuckes Buch von Helwig Brunner so unscheinbar daherkommt, ist grosse Kunst!

«An manchen Tagen begleitet mich die fehlende Poesie wie ein Hund, der keinen Schwanz zum Wedeln hat.»

Was unter dem Titel „Gummibärchenkampagne“ und „Minutennovellen“ fast niedlich daherkommt, hats in sich. Wer die Titel der 109 Miniaturen durchliest, weiss schnell, dass es um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens und darüber hinaus geht: Romantik, Laufbahn, Gelassenheit, Anfang, Gerechtigkeit, Erinnerung, Gottesbeweis, Teufelskreis, Apokalypse… Aber schon die Titel der anderen Gegenseite: Socke, Vogerl, Puppengehirn, Spiel, Gewicht… zeigen, dass es dem Autor doch nicht darum geht, die Welt zu erklären. Aber vielleicht die Dinge dazwischen, darüber und darunter. Das, was sonst im Schatten verborgen bleibt, was ausgeblendet wird, was unserem sinngebenden Blick entgeht. 

Idee
Den ganzen Tag schon begleitete Helmut das Hochgefühl, über eine Idee zu verfügen, die sein weiteres Leben zum ungleich Besseren wenden würde. Yes, I can!, rief etwas in ihm in grösster Zuversicht. Zwar konnte er nicht genau sagen, worum es bei der Idee ging, denn sie lag nicht offen vor ihm, sondern noch irgendwo im Verborgenen; nur der Zipfel eines Schattens von ihr, oder war es der Schatten eines Zipfels, fiel in sein Gesichtsfeld. So viel nur meinte Helmut zu wissen, dass sie etwas mit Erfolg zu tun hatte, mit Geld und schliesslich unfehlbar mit Glück. Er würde sich ihr, wenn sie sich erst ganz zeigte, nur zuzuwenden und nach ihr zu greifen brauchen, um ihrer für immer habhaft zu werden. So sicher war er sich seiner Sache, dass er sich Zeit liess und gelassener als sonst seinem Tagesgeschäft nachging, auf das er künftig ohnedies nicht mehr angewiesen sein würde. Helmut hätte nicht sagen können, woher sein Hochgefühl gekommen war; auch wohin es gegen Abend unbemerkt verschwand, wusste er nicht. Die Gelassenheit aber blieb ihm, ganz so, als hätte die Idee ihr Werk bereits getan.
 

Helwig Brunner „Gummibärchenkampagne“, Droschl, 2020; 144 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-99059-049-2

Helwig Brunner interessiert sich nicht für das Glatte, Glänzende, Auffällige, für Oberflächen. Nicht einmal für das Originelle, Einmalige, sondern für das absolut Normale, das Normalbetrachtern durch die Lappen geht, das nicht auffällt und hängen bleibt, selbst wenn ich es sehe und höre. Er rahmt und grenzt mit seiner Sprache ein, manchmal ein Bild, manchmal einen Moment, manchmal ein Gefühl, einen Gedanken. Bilder, die an Quint Buchholz oder René Magritte, an das Schräge in Roman Signers bildender Kunst, das absolut Normale übersteigert. Texte, leicht verschoben, kindlich verspielt, unsäglich witzig und klug. Scharf beobachtend, als sähe Helwig Brunner das Einerlei des Lebens durch ein Okular, ein Brennglas, bis selbst das Nebensächliche zu funkeln und manchmal zu brennen beginnt.

Trotz
Die Haltbarkeitsdauer der Marillenmarmelade würde, so stand es auf dem Deckel, am zehnten September des kommenden Jahres um sechzehn Uhr zwei enden. Charlotte vermutete spontan einen Fall von Scheingenauigkeit. Bestimmt legte irgendeine von weltfremden Bürokraten ausgeheckte europäische Norm fest, dass die Angabe des Verfallsdatums auf Marmeladegläsern minutengenau zu erfolgen hatte. Was aber, wenn zum Wohle des Konsumenten umfangreiche mikrobiologische Testreihen durchgeführt worden waren, die eine derart genaue Prognose tatsächlich zuliessen? Charlotte wollte niemandem Unrecht tun, auch nicht den Institutionen der Europäischen Union. Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und das Glas bis zum angegebenen Termin ungeöffnet aufzubewahren. Möglicherweise würde am zehnten September um sechzehn Uhr zwei ein explosionsartiges Schimmelpilzwachstum einsetzen und die Marmelade binnen Sekunden grün überziehen. Anderenfalls würde Charlotte, Europa zum Trotz, um sechzehn Uhr drei eine Biskuitroulade damit füllen.

Geschichten, die zuweilen verunsichern, weil ich als Leser glaube, die Pointe versäumt zu haben, die mich zwingen, ein zweites Mal mit Lesen anzusetzen, weil ich den Witz in der falschen Ecke vermute. Geschichten, die mich nicht aufs Glatteis führen, nicht mit mir spielen, die sich aber durchaus einen Spass mit mir erlauben. Geschichten von der menschlichen Spezies, der Krone der Schöpfung, die ihre Eigenarten allen anderen Lebewesen gegenüber in die Sonne stellt, aber offenbaren, wie linkisch, kompliziert und widersprüchlich sie ist.

Zufriedenheit
Seine Frau, so Leopold grimmig nickend, wolle sich von ihm scheiden lassen; sie begründe dies damit, dass sie unzufrieden sei mit seiner ständigen Unzufriedenheit. Er hingegen halte ihre unausrottbare Zufriedenheit, die sie immer dann an den Tag lege, wenn sie nicht gerade mit seiner Unzufriedenheit unzufrieden sei, für den einzigen in Betracht kommenden Scheidungsgrund; Zufriedenheit nämlich sei letztlich nichts anderes als die Resignation vor dem Erträglichen und als solche unverzeihlich.

Helwig Brunners Minutennovellen, angelegt an seinen Erfinder, den ungarischen Schriftsteller Istvan Örkeny, der zwischen 1944 und 1968 fast vierhundert solcher Minutentexte schrieb. Texte, die wohl schnell gelesen sind, aber zäh hängen bleiben, die man immer wieder lesen will, die einem wie ein Ohrwurm verfolgen, die man vorlesen und teilen will. Für eine Minute geschrieben, aber nie und nimmer in einer Minute geschrieben; kunstvoll komponiert, mehrschichtig, mit Fallgruben, scharfen Kanten und Spiegeln überall.

© Anett Keszthelyi Brunner

Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).

(literaturblatt.ch dankt Autor und Verlag für die ausdrückliche Genehmigung, die drei Texte ‹Idee›, ‹Trotz› und ‹Zufriedenheit› in den Bericht einfügen zu dürfen!)

Webseite des Autors

Beitragsbild © Anett Keszthelyi Brunner

Michael Köhlmeier «Die Nacht der Diplomaten», Svato Verlag

Schon erstaunlich. Seit über 40 Jahren wirkt der Buchkünstler Svato Zapletal in seinem Atelier, seinem Verlag in Hamburg. Dort entsteht Buchkunst für ein Publikum, dass das Buch selbst als Kunstwerk betrachtet, dem ein Buch nicht bloss Informationsträger ist, sondern Kunstobjekt selbst, Schmuck, Materie gewordenes Resultat von Leidenschaft, Meisterschaft und Liebe zu Wort, Bild und Papier.

Michael Köhlmeier, mehr als Schriftsteller, sondern König in Sachen Märchen, Sagen und Fabeln, hat in Zusammenarbeit mit dem Buchgestalter und Künstler Svato Zapletal eine Buchperle für Auge, Hand und Seele geschaffen.

Seit Erfindung der Buchdruckerkunst waren Illustrationen fester Bestandteil der Buchkunst. Selbst vor hundert Jahren blühte das illustrierte Buch. Und zwar nicht einfach in Form einer Bebilderung, sondern als Kontrapunkt, Ergänzung, Gegenüberstellung. Die Gestaltung eines Buches beschränkte sich nicht bloss auf den Satz, die Wahl des Papiers und die werbetechnisch optimale Ummantelung durch einen «Schutzumschlag». Text, Schrift, Illustration, Gestaltung bis hin zum Format, der Bindeart – alles vereinte sich im Buch.
Dass Bücher heute oft nur noch Textträger sind und weder Auge noch Hände zu schmeicheln wissen, ist dem Zwang der Wirtschaftlichkeit geschuldet. Umso mehr erstaunen mich Einzelkämpfer wie Svato Zapletal (Svato Verlag), Christian Ewald (Katzengraben Presse) oder Christa und Toni Kurz (Edition Thurnhof), die mit ihren Büchern, Publikationen und Papierkunstwerken in Kleinstauflagen Werke schaffen, die sich gegen Schnelllebigkeit, Verbrauch und Konsum wehren. Es ist ein Versuch gegen die Vergänglich- und Beliebigkeit, gegen Massenware und Masslosigkeit.

Nach Jahren, in denen sich für Svato Zapletal fast ausschliesslich klassische DichterInnen anerboten, sind es in der Gegenwart immer häufiger Namen, die auch aus zeitgenössischer Literatur den Text bieten: Doris Dörrie, Hans Magnus Enzensberger, Cees Nooteboom.
Neustes Werk aus dem Svato Verlag ist «Die Nacht der Diplomaten» von Michael Köhlmeier. Ein österreichischer Autor, der sich nicht erst seit dem Rechtsrutsch im eigenen Land pointiert zu Wort meldet. Ein Autor, der sich nicht scheut, zu gesellschaftlichen oder politischen Themen Stellung zu beziehen.

Wie wählen Sie Ihre Texte aus?
Man könnte es einfach ausdrücken: Nach Vorlieben. Am Anfang waren es Expressionistische Dichter – da fühlte ich eine Verwandtschaft. Und natürlich, jetzt immer mehr, die moderne Prosa – etwas riskant, da das etwaige Publikum mitziehen muss; das Ganze ist ja schliesslich eine kostspielige Sache, es wird zwar in einer kleinen Auflage hergestellt, aber dennoch ist es eine Auflage.

Wie gehen Sie bei der Umsetzung vor?
Lesen, lesen, lesen, immer wieder, dann zwei Wochen Pause und dann die Schrift festlegen, das ungefähre Format, dann fange ich an zu skizzieren. Das nimmt oft eine Richtung an, die überhaupt nicht verwirklicht wird. (Für dieses Buch waren es an die siebzig Skizzen, aber es waren mal auch einhundertsiebzig, bis ich wusste, was ich machen werde. Hand in Hand damit wird irgendeine „Dramaturgie“ des Buches gemacht. Da ist der Satz des Textes mit eingeschlossen. Und dann geht es an das Schneiden der Platten – meist benutze ich die Technik der „verlorenen Form“, die ist zwar etwas riskanter, aber man braucht nicht so viel Material (es sind bei den Bildern ca. 80 Druckvorgänge). Und das ist, inklusive des Druckens, mehr oder weniger Fleissarbeit.

Gibt es Rückmeldungen von Kunden?
Selten lässt sich jemand auf eine Gestaltungsdiskussion ein, es sind eher Kollegen – oder meine Frau – bei denen es eine produktive Kritik gibt. Ohne mir auf die Schulter zu klopfen, sind die Kunden oft ziemlich begeistert, da sie ja auch wiederholt kaufen; die anderen schweigen weise…

Michael Köhlmeier erzählt in «Die Nacht der Diplomaten» von einem Gespräch zwischen Henry Kissinger, damals Sonderbeauftragter für Fragen der nationalen Sicherheit in der Regierung der USA, und Tschou En-lai, Ministerpräsident der Volksrepublik China, um den Besuch von US-Präsident Nixon bei Chinas Staatsoberhaupt Mao Tse-tung vorzubereiten. Im Laufe eines immer freundlicher werdenden Gesprächs stellte Tschou En-lai jene Frage, die alle anderen Fragen übertraf: «Halten sich die Vereinigten Staaten von Amerika die Option offen, über dem Gebiet der Volksrepublik China eine Atombombe abzuwerfen?» Eine Frage, die Kissinger mit einem Ja zu einer Drohung gemacht hätte und mit einem Nein zu einem Versprechen. Also erzählte der gefuchste amerikanische Diplomat eine Geschichte. Die Geschichte eines in die Tiefe gestürzten, verwundeten Löwen.

Keine platte Geschichte, eine Geschichte, die glauben macht, es gäbe auf einfache Fragen einfache Antworten. Eine Geschichte, die einem vor Augen führt wie Macht und Politik funktioniert. Eine Geschichte, die Haken schlägt und zeigt, wie wirkliche Diplomatie funktioniert. Grossartig erzählt, grossartig illustriert, grossartig umgesetzt!

Michael Köhlmeier, geboren 1949, wuchs in Hohenems/Vorarlberg auf, wo er auch heute lebt. Für sein Werk wurde der österreichische Bestsellerautor unter anderem mit dem Manes-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Grimmelshausen-Preis ausgezeichnet.

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