Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper

Philipp Dorn ist Krimiautor. Und weil Arbeiten abgeschlossen sind und die Kasse aufgestockt, nimmt sich Philipp mit seinem neuen Joe Louis ein paar Tage Ferien in Italien. Nicht nur seinem Sehnsuchtsort, sondern auch jenem seiner Mutter, die er vor noch nicht langer Zeit zu Grabe tragen musste.

Mein erstes Auto kaufte ich für wenig Geld meiner Patentante ab, einen gelben Suzuki, den meine Gotte liebevoll Susi nannte und mir dann Sorgfalt ihrem Schützling gegenüber sehr ans Herz legte. Menschen, die ihrem Auto Namen geben, sind mir grundsätzlich suspekt. Ebenso solche, die aus Freude am Sound den Motor ihres Lieblings aufheulen lassen. Philipp Dorn hat sich mit einem neuen (Gebraucht-) Wagen belohnt, nachdem der alte, ein Jaguar, mit seinen Macken immer eigenwilliger wurde. Belohnt für ein abgeschlossenes Manuskript, belohnt mit einer Pause. Er fährt weg Richtung Süden, in eine Gegend in Italien, von der Philipp weiss, dass es in weiter Vergangenheit eine Liebe seiner Mutter gab, die er, der Sohn, mit einem Nein beendete.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05726-4

Damals lebten seine Eltern wohl noch unter dem gleichen Dach, er Pfarrer, sie Lehrerin, aber eine Affäre der Mutter hatte den Vater kalt werden lassen. Man spielte gegen Aussen das makellose Paar, und liess das eigene Zuhause zu einem stummen, frostigen Nebeneinander werden. Als Philipp vierzehn war, lud ihn seine Mutter auf ein Eis ein und fragte ihn, ob er mit ihr nach Italien siedeln würde. Ihrer Liebe zu einem amerikanischen Soldaten wegen. Philipp wollte nicht. Wollte nicht all seine Pläne sausen lassen, kein neues Leben beginnen, wo doch das hiesige erst so richtig in Schwung zu kommen schien. Die Mutter blieb. Der kalte Krieg zwischen den Eltern auch. 

Später unternahm Philipp mit seiner Mutter das eine und andere Mal Reisen nach Italien. Reisen, bei denen man sich noch immer nach seiner Mutter umdrehte und später nach ihm, weil man es löblich fand; ein Sohn mit seiner alten Mutter. Doch jetzt, Mutter schon länger tot, er von ihr zurückgelassen, vieles weggeräumt, Brigitte, deine langjährige Freundin verloren, ausgezogen aus der Wohnung, fährt Philipp weg, gen Süden. In einem Ferienhaus mit Pool will er Ordnung in sein Leben, seine Gedanken bringen, Platz schaffen für Neues. Bis er in einer schlaflosen Nacht ein Plätschern im Pool hört und beim Näherkommen eine Frau schwimmen sieht, nackt, Länge um Länge. Bis er sich von seinem Balkon aus zu erkennen gibt und man sich zu einem Glas Wein dort trifft. Bis aus den nächtlichen Treffen im Gezirpe der Zikaden lange Gespräche wachsen. Woher man kommt und wohin es gehen soll. Und Philipp spürt, dass das, was er glaubte, abgeschlossen zu haben, das Abenteuer einer Frau näherzukommen, mit einem Mal zu einem Gefühl wird, das ihn gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Wer ist die Frau, die ihm im Bademantel nachts gegenübersitzt, die ihm Geständnisse über die Lippen lockt, die ihn staunend machen? 

So wie Philipp mit seinem Auto durch die Toskana kurvt, so dreht er sich hinein in seine eigene und die Vergangenheit seiner Mutter. Philipps Nein damals, das Wissen, dass er mit jenem Nein das falsche Leben seiner Mutter um Jahre verlängerte, das abgewürgte Glück in Italien und die immerwährende Frage, was gewesen wäre wenn, treibt ihn um.

„Das Glück meiner Mutter“ liest sich leicht, ohne zu behaupten, der Roman wäre leichte Kost. Nur liegt Thommie Bayer nichts daran, dort zu dramatisieren, wo Risse tief genug sind. Philipp ist ein Normalo, seine Selbstzufriedenheit und Distanz zu seiner Welt manchmal fast unerträglich – so wie seine infantile Liebe zu seinem fahrenden Spielzeug. Aber man muss Protagonisten nicht lieben. Dafür die Art des Erzählens. Thommie Bayer hat seine ganz eigene. Ich mag sie sehr!

Interview 

Eine Reise nach Italien, eine Ferienwohnung in der Toskana, tiefroter Wein, warme Nächte und eine Frau, die nackt ihre Bahnen im Pool zieht. Eine Fahrt mit dem Auto gen Süden, unabhängig, beinah frei von Pflichten. Genug Geld im Rücken und den leisen Kitzel eines Geheimnisses aus der Vergangenheit. Du bedienst gleich einige Sehnsüchte. Erst recht jetzt in dieser queren Zeit. Philipp hat fast alles. Seine Mutter damals fast nichts mehr, nur einen Platz im falschen Leben. Ist das nicht genau der Spiegel der heutigen Zeit? Klagen noch und noch und man vergisst, wo man lebt?
Das kann man so sehen. Ich denke zwar beim Schreiben nicht über Allgemeines nach, aber es schleicht sich irgendwie von selbst mit ein. Und wenn ich meine eigenen Sehnsüchte spazierengehen lasse, finden die automatisch ihre Komplizen, die Leute, die dieselben Sehnsüchte haben. Und wenn ich mir die Romanfigur vorstelle, wird die automatisch zu einer, die von der heutigen Zeit geprägt ist.

Die Mutter damals fragte ihren Jungen, ob er bereit wäre, weit weg ein neues Leben mit ihr zu beginnen. Ein Nein machte für eine ganze Weile alles zu und liess das Leben der Mutter auch später nur noch durch einen Spalt am Grossen und Ganzen teilhaben. Zumindest ist das die interpretierte Schuld, die sich Philipp aufgeladen hat. Machen wir nicht ganze Leben kaputt durch hineininterpretierte Schuld?
Ganz bestimmt tun wir das. Aber zum Erwachsenwerden gehört das Übernehmen von Verantwortung, auch der für frühere Verfehlungen. Der Blick wird weiter, die Perspektiven ändern sich, und was für einen vierzehnjährigen Jungen ganz naheliegend und vollkommen verständlich war, wird für den fast fünfzigjährigen Mann zu etwas, das er bereut und gerne ungeschehen gemacht hätte.

Philipp lernt Livia kennen, eine junge Frau, die ihm schon beim ersten Treffen mit aller Selbstverständlichkeit das Innerste entlockt. Eine Begegnung, die wahrscheinlich nur im Dunkel der Nacht jenen Zauber entwickeln konnte. Was kann die Nacht, was der Tag nicht kann?
Vielleicht wirft uns die Nacht auf uns selbst zurück, vielleicht hat sie auch an sich schon einen Zauber, der auf manches abfärbt, was in ihr geschieht. Das Licht ist weitgehend weg, sodass alles, was wir noch sehen, sich in ganz anderer Weise zeigt, die Stille der Umgebung macht das Wenige, was wir hören bedeutender, und das Gefühl ganz alleine oder fast alleine wach zu sein während alle anderen schlafen, ist aufregend. Man fühlt sich wacher als wach.

Philipp war seiner Mutter sehr nah, obwohl er nicht erst nach ihrem Tod feststellen musste, dass sie sich nach seinem Nein damals nie mehr wirklich für sein Leben interessierte. Als wolle sie sich nie mehr die Finger an fremdem Leben verbrennen. Als wäre sie nur mehr auf sich selbst fokussiert. Aber hängt nicht genau dort der Fallstrick, wo man sein Leben von fremdem Leben allzu abhängig macht?
Ja. Genauso ist es. Aber wir leben mit anderen. Eremitage ist nicht die Lösung. Das nennt man Schicksal. Wenn man alt genug ist, Verantwortung zu übernehmen, ist man vielleicht auch alt genug, sich in die Verbindung mit anderen Menschen zu schicken. Und eine solche Verbindung lässt nun mal nicht jeden jederzeit frei.

In einem „alten Leben“ warst du Musiker. Vor deinem Roman steht das Zitat des Liedermachers Francesco De Gregori „È tutta stesa al sole, vecchio, questa vecchia storia.“ Wo treffen sich Literatur und Musik in deinem Leben?
Sind beide wohl ganz eng verzahnt. Das Poetische in Liedtexten, das musikalische in Literatur, die Anregung, die von beiden Künsten ausgeht, das Inspirierende und Bewegende darin. Sicher auch das Gefühl der gesteigerten Anwesenheit in den besten Momenten. Beides ist irgendwie immer da, ob ich nun gerade lese oder Musik höre, oder nicht.

Hat dein Auto in deiner Garage einen Namen?
Es heisst „Edelkatz“. Manchmal auch „Superschöner Edelkatz“.

Ein Buch und eine Musik, die dich nicht loslassen. Und warum?
Ein Buch fällt mir gerade nicht ein, aber ein Stück Musik, das sich immer wieder bei mir meldet ist „Broken Barricades“ von Procol Harum. Die leitende Klavierfigur übt noch immer diese Faszination auf mich aus wie beim ersten Mal als ich es hörte. Und das muss so etwa fünfzig Jahre her sein.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das innere Ausland».

Rezension von «Das innere Ausland» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Thommie Bayer

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser

Rolf Lapperts neuer Roman „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ kann einem erschlagen! Sein Roman ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies und den Lügen des Lebens. Erzählt mit weitem Horizont und der Magie eines Geschichtenzauberers!

Lesung mit Rolf Lappert am Donnerstag, den 3. Juni 2021, um 19:30 Uhr im Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 10 // CHF 8 Freunde des Bodmanhauses // CHF 5 ermässigt
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Rolf Lapperts Winnipeg liegt nicht in Kanada, sondern irgendwo in der BRD-Provinz, in Niedersachsen, weit weg von der nächsten Siedlung. Dort versucht sich eine Kommune, abgeschottet von der Aussenwelt, einen eigenen Weg durch das Leben zu bahnen. Bis Ämter und Behörden Wind davon bekommen, dass dort Kinder ohne Schule, ohne Kontakt zur Aussenwelt, fest eingebunden in den Tagesablauf der Selbstversorger zu „befreien“ sind. Die Erwachsenen werden festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt, die Kinder auseinandergerissen und in Pflegefamilien verteilt.

«Wir waren ein Wesen. Was einer dachte, wussten die anderen, was einer fühlte, empfanden wir alle.»

Rolf Lappert erzählt in „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ vier Leben; von Frida, Ringo, Leander und Linus, jenen vier Kindern, drei Jungs und einem Mädchen, die 1980 aus einer Landkommune behördlich befreit wurden. Damals vier Kinder, bis in die Gegenwart, in der sie sich längst verloren haben, nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Was damals die Presse über die Kindheit der vier Kinder schrieb, scheint in keiner Weise mit dem in Verbindung zu stehen, was die vier Kinder in die andere, neue Welt mittrugen. Damals ein Fressen für die Presse. Dabei war es ein Übergriff in das Leben der vier Kinder. Vielleicht sogar die Vertreibung aus dem Paradies.

„Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.“

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

In epischer Länge über fast 1000 Seiten breitet Rolf Lappert vier Leben aus wie jene Künstler, die in riesigen Hallen auf dem Boden eine Ordnung in das zu bringen versuchen, was das Leben anschwemmt. Selbst die vier Protagonisten versuchen Ordnung in ihr Leben zu bekommen, sei es durch einen Neuanfang mit anderem Namen, einer anderen Identität, sei es durch eine lange Suche nach sich selbst, einer Aufgabe, einem Sinn oder dem Wunsch, sich möglichst unsichtbar zu machen, sich zurückzuversetzen an den Ort, an dem man nur sich selbst zu sein brauchte, kein Imago.
Ich als Leser taumle durch diesen Kosmos, berührt, verwundert, überrascht, verunsichert. Selbst ich als Leser versuche zu ordnen, während Rolf Lappert ausbreitet und auslegt, Perspektiven ändert, Textsorten collagiert, in Zustände abtaucht und in langen Sätzen genussvoll mäandert.

„Sie wäre jetzt glücklich, sagte sie sich, wenn nur ihre Welt unentdeckt geblieben wäre, wenn niemand sie weggebracht und ins Leere geworfen hätte wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in den Fluss.“

Obwohl sich die vier nach ihrer Umplatzierung nie mehr treffen, bleiben sie einander verbunden, weil jene Jahre im Kampstedter Bruch, jenem Hof in Abgeschiedenheit, so etwas wie ein Nest war, Familie, auch wenn nicht nach amtlichem Muster. Sie taumeln durch eine Welt, die ihnen fremd bleibt, die nie das zu erzeugen schafft, was die vier gemeinsam in ihrer begrenzten Freiheit erlebten.

„Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind.“

„Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ ist ein grosses Vergnügen für all jene, die wie ich gerne in einem Stoff baden, denen ein Buch, das gefällt und zu einem innigen Begleiter wird, nach der Lektüre nicht einfach so weglegen, in ein Regal hineinschieben oder gleich dem Nachbarn ausleihen. Rolf Lappert gelingt es, ein Meer an Geschichten, Bildern, Dialogen, Ideen, Strängen und Personen auszubreiten. Er breitet eine Welt aus, stösst mich hinein. Zugegeben, die Wellen schwappen hoch, fast immer hoch, aber Literatur ist Konzentrat. 

„Die Welt ist schlecht, sagen sie, und wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu glauben.“

In den Roman eingeflochten sind Erinnerungen, das „Winnipeg Logbuch“, Erinnerungen aus der Sicht der Kinder, als sie noch zusammen in der Kommune lebten: Manchmal haben wir ein leeres Marmeladeglas dabei, damit tragen wir Ameisen von einem Haufen zu einem anderen. Dann beobachten wir, wie die Eindringlinge getötet werden. Zum einen eine Erinnerung, zum anderen eine Metapher für all die Geschehnisse, die man ihnen als Kinder androht und die ihnen in gewisser Weise auch geschehen. Der Roman ist ein Roman über das Fremdsein, über die Einsamkeit, der Einsamkeit, in die man die vier Kinder verbannt, die Einsamkeit, mit der jeder in seinem Leben als Individuum zu kämpfen hat.

Ein grosser Genuss bei der Lektüre seines Romans ist die Genauigkeit seines Schreibens, seine Lust des Beschreibens. Als wäre er ein Maler, der mit Pedanterie jeden einzelnen Farbpunkt setzt, immer mit dem Blick auf das Grosse, Ganze. Und doch ist dieses Beschreiben nicht Mittel zum Zweck, nicht bloss Kulisse. Ich bade im Filigranen Lapperts Sprache, Lappert Farben, dem verspielten Mikrokosmos, der seinen Roman nicht einfach dick, sondern mächtig macht.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor (Mannezimmer). Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter».

Verlagsinformationen zum Buch

«Das Wunder von Kalifornien» von Rolf Lappert auf Gegenzauber

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

 

Helga Schubert «Vom Aufstehen», dtv

Helga Schubert gewann 2020 mit Auszügen aus ihrem Buch „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. Für ein Buch, das mit seinem Erzählen selbst eine Hommage ist an die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, an ihr Buch „Das dreißigste Jahr“, das ebenfalls mit einer Betrachtung über das Aufstehen beginnt.

Schreiben ist immer Aufstehen. Und Helga Schubert ist in ganz besonderer Weise „aufgestanden“. „Vom Aufstehen“ ist weder Erzählband, auch wenn er erzählt, noch Roman. Ihr Buch ist ein Erinnerungsbuch, ein Gedankenbuch, manchmal erzählend, manchmal essayistisch. Helga Schubert richtet sich auf und schaut zurück. Zurück in die Vergangenheit, in ein aufgelöstes Land, in eine Familie, ihre Familie, bis in den ausgehenden 2. Weltkrieg, das Leben in der DDR, den Mauerbau, das Leben hinter oder vor der Mauer, auf die kleinen und grossen Dinge des Lebens.

Helga Schubert «Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-423-28278-9

Und nebenher ist die Geschichte Helga Schuberts selbst Geschichte, auch die Geschichte bis zur Preisverleihung, an der sie wegen Corona in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen nicht teilnehmen konnte. Man hatte sie 40 Jahre zuvor 1980 schon einmal nach Klagenfurt eingeladen. Damals verweigerte ihr ihr Land die Teilnahme am Wettlesen. Es gäbe keine „deutsche Literatur“, das „Unternehmen Bachmannpreis“ sei nur dazu da, um dieses Phänomen der deutschen Literatur voranzutreiben. Nichts desto trotz, noch vor der Wende sass Helga Schubert von 1987 bis 1990 dann in der Jury des Wettbewerbs. Und 2020, im Alter von 80 Jahren, 40 Jahre nach ihrer ersten Einladung wurde die Schriftstellerin von der Literaturkritikerin und Jurorin Insa Wilke nach Klagenfurt gebeten, wo sie als älteste Teilnehmerin des Wettbewerbs zur Siegerin erklärt wurde. Eine schöne Geschichte!

„Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“

Helga Schubert erzählt aus ihrem Leben, von der Hängematte in den Obstbäumen im Garten ihrer Grossmutter mit Streuselkuchen und Muckefuck, jenem Lebensgefühl, dass ihr nur ihre Grossmutter schenken konnte, niemals ihre Mutter, jenem Lebensgefühl, das sich nur in den langen Sommerferien bei ihrer Grossmutter freisetzen konnte. Über ihren Vater, der im Winter 1941 auf einem vereisten Arm der Wolga von einer Handgranate zerrissen wurde, jenen unbekannten Mann, von dem sich die Tochter ein Leben lang gerne in den Arm genommen gewünscht hat. Über das Ein- und Ausgesperrtsein hinter oder vor Mauern, den Mauern der DDR. Vom Mut, den Märchen Kindern und dem Kind im Erwachsenen schenken können. Von den Schubladisierungen einer DDR – und einer Schriftstellerin, die klar zu machen versucht, dass man sich sein Herkunftsland nicht wie einen Mantel aussucht.

„Nicht dorthin sehen, wo Sie nicht hin wollen, sondern dorthin, wo Sie hin wollen, in die Kurve sehen, nicht an den Rand.“

In ihrem Schreiben, dem Buch „Vom Aufstehen“, das sie in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ ursprünglich mit „Das achtzigste Jahre“ betiteln wollte, in dem sie immer wieder zu ihrer Grossmutter zurückkehrt, als wäre sie einer der wenigen Leuchttürme in ihrem Leben, erinnert in vielem an das grosse literarische Vorbild und bleibt doch eigenständig. So wie Herta Schubert erzählt, kann nur eine in die Jahre gekommene Schriftstellerin schreiben, jemand der weiss, dass viel mehr hinter ihr liegt als vor ihr. „Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Aus jedem Satz, jeder Geschichte leuchtet Demut und Dankbarkeit. Und immer wieder die Frage, wo das eigene Zuhause ist, nicht nur geographisch, sondern letztlich auch in ihrem Schreiben.

„Vom Aufstehen“ rührt!

Interview

„Ein Leben in Geschichten“ steht auf dem Buchumschlag. War das von Beginn weg der Plan zu diesem Buch? Oder entstand die Verwandtschaft zu Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ erst nach und nach?

Am Anfang und am meisten durchgearbeitet stand der Wettbewerbstext zum Bachmann-Wettbewerb. Ihn hätte ich gern „Das achtzigste Jahr“ genannt, als Huldigung an Ingeborg Bachmann. Denn die Idee zu dieser Lebensbilanzgeschichte kam ja erst nach der Einladung zum Wettbewerb. Normalerweise bewirbt man sich ja bei diesem Wettbewerb und wird nicht, wie ich von einem Jurymitglied, aufgefordert, sich zu bewerben. Von mir aus wäre ich doch gar nicht auf die Idee gekommen, als Achtzigjährige da mitzumachen.

Noch am Tag der Preisverleihung meldete sich bei mir die erfolgreichste Literaturagentin Deutschlands, Karin Graf, die ausschließlich Literaturpreisträger vertritt, und bot mir einen Vertrag an. Ich sollte ihr umgehend ein Buchmanuskript schicken, das ich aber gar nicht hatte. Sie bezog sich auf eine Interviewäusserung, dass ich sehr viele Erzählungen in der Schublade hätte, die ich regelmässig in unserer Gemäldegalerie bei den monatlichen Bilderwechseln vorgetragen hatte und die bei unserem kunstverständigen Publikum (oft bis zu 70 Personen) ein sehr wohlwollendes Echo fanden. Als ich diese Erzählungen von der Festplatte ausdruckte und alte Kopien zusammensuchte, stellte ich fest, dass sie in einem sinnhaften Zusammenhang standen, dass sich nichts wiederholte, dass sie alle in der Ichform geschrieben waren, dass sie in einen lebensgeschichtlichen Ablauf gebracht werden konnten. Ich schrieb einige Texte um, einige neu. Und ich konnte schon 8 Wochen nach dem Bachmannpreis das Manuskript an die Literaturagentur geben. Mehrere Verlage hatten sich schon deshalb bei ihr gemeldet, aber der dtv hatte die weitreichendsten Konditionen, denn sie wollten nach und nach alle früheren, vergriffenen Bücher auch wieder drucken.

Dann kam für ein paar Tage eine sehr intelligente junge Verlags-Lektorin extra aus München hier nach Nordwestmecklenburg, und ich fand noch passende Texte auf meiner Festplatte, die ich noch gar nicht ausgedruckt hatte. So war das Buch ein Puzzle, das aufging.  

Immer wieder tauchen ihre Grossmutter, ihre Mutter und ihr Vater auf. Ihr Vater, obwohl er der grosse Abwesende war, ihre Mutter, mit der sie noch immer hadern und ihre Grossmutter, die alles versinnbildlicht, was Mütterlichkeit und Geborgenheit bedeuten kann. Irgendwann schreiben Sie, das Schreiben sei ein Versuch der Ordnung. Künstlerische Auseinandersetzung als Versuch des Ordnens?

Ja, als Versuch der Einordnung. Mir ist klar, dass zur menschlichen Reife auch ein Einverständnis mit der eigenen Lebenssituation, mit dem vergangenen Leben und mit allen nichtgelebten Möglichkeiten gehört. Ein Ja sagen zu sich. Das Schreiben hilft mir beim genauen Betrachten, beim Weglassen, beim Verabschieden. Das ist eine Hilfe vor dem Überschwemmtwerden und vor der Traurigkeit. Es ist eine Ehrfurcht und eine Bewunderung der Ordnung Gottes.

„Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Klingt da Schmerz mit?

Manchmal Schmerz, aber nicht die Angst vor dem eigenen Lebensende, sondern die Angst vor dem Tod geliebter Menschen. „Noch leben alle, die wir leben“, endet eines der wunderbaren Gedichte von Friederike Mayröcker.

Aus dem ganzen Buch strahlt und spricht ein grosser Hunger. Nicht so sehr der Hunger nach Antworten, als jener nach Klarheit, nach Kontur, nach Bildern. Sie sind im vergangenen Jahr 80 geworden. Satt scheinen Sie noch lange nicht zu sein?

Ich bin überwach und sehr intensiv. Meine Fantasie ermöglicht mir alles. Das muss in Wirklichkeit gar nicht geschehen. Es ist alles Farbe und Wärme um mich.  

Das Bild auf dem Cover zu Ihrem Buch ist von einem ganz jungen polnischen Künstler. Igor Moritz. Das Bild passt perfekt zum Inhalt, zeigt jenen Moment vor dem Aufstehen, wo sich Gedanken- und Traumbilder mit dem Augenblick mischen. Gibt es diesen magischen Moment? Und lässt er sich im Alter besser auskosten?

Ich lebe meist in diesem Zustand. Menschen, die uns besuchen, wollen immer wieder kommen. Es hat mit dem Alter, glaube ich, nichts zu tun. Es hat bei mir damit zu tun, dass ich wohl kaum Filter habe, mich nur durch Totalrückzug schützen kann. Denn sobald ein Mensch in unserem Haus auftaucht, interessiere ich mich für sein Leben, sei es die Notärztin von nebenan, die mir von den glücklich Verstorbenen erzählt, die eine Operation ablehnten, oder der Bauer von gegenüber, bei dessen trächtiger Stute gerade ein Hirntumor festgestellt wurde und der vom Tierarzt gerade erfuhr, dass dieses Tier bei der Geburt seines Fohlens ganz sicher sterben wird. 

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

Beitragsbild © Renate von Mangoldt

Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag

Livs Leben gerät vollkommen aus dem Tritt. Das alte Leben versucht sie abzustossen, die Gegenwart zerbröselt und in der Zukunft droht das Chaos. Lea Caterina verblüfft in ihrem Debüt durch die Brutalität des Lebens und die feine Spur gekonnten Erzählens. Ein Roman, der bei der Lektüre zuweilen schmerzt, aber ebenso bezaubern kann.

Mit ihrer Vergangenheit verbindet sie nur noch wenig. Jene Olivia, die sie einmal war, ist nicht einmal mehr ein Bild, das sie zulassen möchte. Einzig die Mutter, die sie mehr oder weniger regelmässig in einer Klinik besucht, ist der letzte Rest Vergangenheit, den sie zulässt. Die Versprechen, die sie sich einst gaben: „Niemand wird dich je mehr lieben als ich. Versprich mir, dass du immer daran denken wirst.“ „Ich verspreche es.“ 

Liv hatte Familie. Eine Mutter, einen Vater, einen Bruder. Geblieben ist nur die Mutter. Als ihr Bruder starb, war Olivia vier. Monate später schlägt der Vater den Kofferraum zu und verschwindet aus den Leben seiner Frau und seiner Tochter. Was danach kommt, ist ein verschwörerischer Rest, der sich mit keiner Zelle an das Damals erinnern will. Und trotzdem schaffen es weder die Mutter noch die Tochter, dem Trauma der Vergangenheit zu entfliehen. Selbst Livs Beziehung zu Alex, die alles hätte, um zu dauern, selbst der Blumenladen ihrer Mutter, selbst Livs Wohnung, ihre Arbeit in einer Bar. Alles wackelt, nichts ist auf Fels gebaut. Und als sich Liv an einem Abend zu einem schnellen Abenteuer hinreissen lässt und Alex am Tag darauf den Laufpass gibt, weil sie spürt, dass in ihrem Leben nichts so ist, wie es sein sollte, bricht Liv auf. So wie ihr Leben aufbricht.

„Ich habe Angst, mich zu verlieren.“

Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-907238-08-0

Sie verlässt Alex, sie verlässt ihre Arbeit, sie verlässt die Stadt, in der sie zu leben versuchte, sie verlässt ihre Wohnung, die bloss ein Versuch war. Sie findet Asyl bei ihrer Tante Edie. Ein Zimmer in einem Haus, das einmal einen Hauch Zuhause bedeutete. Und einen Job in der Restaurantküche ihrer Tante. Aber die Gegenwart ihrer Tante ist nicht mehr jene, in der Liv einst ein Stück Daheim spürte. Im Haus wohnt auch Milo, Edies viel jüngerer Freund und Mitarbeiter in der Küche. Liv tut, was man ihr sagt, auch wenn alles am neuen Leben provisorisch ist. Liv weiss es, spürt es. Sie wird von allen Seiten damit konfrontiert, endlich diesen einen, ersten Schritt zu tun. Den Schritt, verstehen zu wollen, was sie wie einen übergrossen, eisernen Haken mit sich herumschleppt. Sich der Angst zu stellen, die Büchse der Pandora zu öffnen, zuzulassen, was an Zorn und Verzweiflung aus der verschlossenen Vergangenheit wirkt und sie nicht freilässt.

Es ist Steph, ein Barman aus ihrer Stadt, in der sie damals wohnte, der die Fragen stellt, die es braucht. Es ist George, ein alter Mann aus Edies Nachbarschaft, den sie schon kannte, als sie als Mädchen bei Edie wohnte, der ihr sein Auto verspricht, wenn sie mit ihm das eine und andere noch erledigt. Und eine ihr unbekannte Frau auf der Geburtstagsparty ihrer Tante, die ihr Sätze an den Kopf wirft, die wie ein Gegengift ihren Körper in Wallung bringen.

„Die blauen Scherben lagen auf dem Boden, als hätte jemand den Himmel zerschmettert.“

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ein starkes Debüt einer vielversprechenden Autorin. Ein Roman, der Zorn und Wut bis zur Selbstzerstörung offenbart. Ein Roman über die Macht dessen, was sich in tiefen Schichten verbirgt, was sich nicht zudecken, nicht löschen lässt. Ein Roman mit bestechenden Sätzen, Sätzen, die bleiben, die sich eingraben.

Interview

Vieles in der Geschichte dieser Familie bleibt skizzenhaft. Eben deshalb, weil vieles verschüttet, zugedeckt, verdrängt wurde. Sie legen den Fokus ihres Erzählens ganz auf Liv, die ihr Leben nur schwer in den Griff bekommt. Ist Verdrängung nicht notwendige Überlebensstrategie?
Bestimmt. Gerade wenn Themen eng verbunden sind mit uns nahestehenden Menschen ist das Verdrängen vielleicht ein notwendiges Übel, um einem Konflikt zu entgehen. Aber etwas zu verdrängen bedeutet ja auch immer, einen Teil von sich selbst zu leugnen. Auch Liv tut sich damit schwer. Im Roman spitzt sich die Lage entsprechend schnell zu.

Der Moment der Dämmerung kann ganz kurz sein. Man kann ihn verpassen. Liv verpasst in ihrem Leben so einiges. Und mit Sicherheit immer wieder den Moment, wo die Selbstzerfleischung, die Selbstzerstörung jene Gesten wegwischen, die ihr eigentlich helfen wollen. Selbstzerstörung ist nicht nur individueller Akt, sondern ein menschliches, ein gesellschaftliches, sogar ein politisches Phänomen. Sie lassen offen, ob sich Liv zu retten weiss. Sind wir zu retten?
Ja, Olivia verpasst vieles, denn ihr Leben ist wahnsinnig voll. Sie hat kaum Ruhe oder Zeit nachzudenken. Sie fürchtet die Stille und sucht den Lärm. Vielleicht lässt sich das tatsächlich ein wenig auf die Gesellschaft übertragen. Ich selbst ertappe mich jedenfalls oft dabei, wie ich dem Lärm verfalle, um die grösseren Fragen zu übertönen.
Selbstzerstörung genau wie Selbstverwirklichung sind definitiv Themen dieses Romans. Für mich geht es in dem Buch daher auch um das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Leben, um das Heraustreten aus dieser destruktiven Opferhaltung, in der auch Olivia zu Beginn festzustecken scheint.

Liv stürzt sich in einem Moment ins Chaos, der auch ihre Rettung hätte sein können. Sie ist mit Alex zusammen, der alles tut, um Ordnung in ihr Leben zu bringen. Sie hat Wohnung und Arbeit. Und sie hat Freunde. Und doch zieht sie die kalkulierte Katastrophe in ihren Bann. Warum ist Leben, das eigene Leben so schwer zu kontrollieren?
Ich weiss es nicht. Geht das überhaupt? Das Leben kontrollieren? Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist dieses vermeintlich «kontrollierte» Leben vielleicht sogar das, was einen auf Dauer den Verstand raubt. Zumindest ist das bei Olivia der Fall. Sie macht alles richtig mit Freund, Job, bemüht sich um das Verhältnis zu ihrer Mutter. Nur fühlt es sich nicht richtig an. Da wären wir wieder bei der Selbstzerstörung, die ihr zunächst unbewusst als einziger Ausweg erscheint. Kontrolle suggeriert ja auch, dass eine starke Kraft im Spiel ist, die eingedämmt werden muss. Oder eingesperrt. Die Frage müsste vielleicht eher lauten: Wieso fällt es uns so schwer, die Kontrolle aufzugeben?

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ihr erster Roman. Sind sie eine Schriftstellerin, die alleine an ihrem Manuskript brütet oder ist ihr Roman das Endergebnis ganz vieler Konfrontationen mit Menschen und Meinungen?
Ich brauche beides. Anfangs arbeite ich allein und zeige meine Projekte niemandem, bis sie genügend Substanz haben, um nicht bei der kleinsten Kritik auseinanderzufallen. Bei «Die Schnelligkeit der Dämmerung» habe ich danach mit einer Schreibgruppe zusammengearbeitet, wo wir uns intensiv über unsere Manuskripte ausgetauscht haben. Das war sehr wertvoll.

Irgend eine Szene, eine Idee muss der Anfang des Romans gewesen sein, der kleine Samen, auf dem der Baum gewachsen ist. Wo lag der Beginn?
Bei Olivia. Ich hatte ein klares Bild von ihr vor Augen und wollte wissen, was sie für ein Leben führt. Wie sie so geworden ist.

Jedem Kapitel geht ein Zitat voraus. Viel mehr als ein Titel oder eine Überschrift, sondern sprachliche Spotlichter. Wie kam es zu der Idee?
Freut mich, dass Ihnen das aufgefallen ist.
Es ist die Stimme der Mutter, die Olivia immer wieder hört. Für mich sind diese Zitate wie akustische Klänge, die einen in den Moment zurückholen. Das ist auch das, was die Mutter mit Olivia immer wieder macht. Sie zurückholen und festhalten.
Aber wie es zu dieser Idee kam, weiss ich nicht mehr.

Lea Catrina ist Autorin und Texterin. Sie hat Multimedia Production in Chur sowie Literarisches Schreiben in Zürich studiert. Zudem ist sie seit 2019 Mitglied des Literaturkollektivs «Jetzt». Catrina ist in Flims aufgewachsen, lebt heute in Zürich und verbringt einen Teil des Jahres in der San Francisco Bay Area.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Oceana Galmarini

Florian Wacker «Weiße Finsternis», Berlin Verlag

Florian Wacker zieht mich mit seinem neuen Roman „Weiße Finsternis“ in Schnee und Eis, auf eine lange, lebensgefährliche Reise durch den arktischen Winter, eine Reise um Leben und Tod, eine Reise weit über Grenzen hinaus.

1918 wurden Peter Tessem und Paul Knutsen, zwei junge norwegische Seefahrer, vom Polarforscher Roald Amundsen angewiesen, scheinbar unentbehrliche wissenschaftliche Aufzeichnungen und die Post durch einen arktischen Winter zu tragen. Amundsens Schiff, die Maud, war vom Eis eingeschlossen. Für Peter und Paul sollte es eine Reise ins Ungewisse, eine Reise in die unendliche Weite der arktischen Eis- und Schneewüste, eine Reise ins langsame Sterben werden.

Peter und Paul waren Freunde seit Kindertagen, beide in der norwegischen Hafenstadt Tromsø aufgewachsen, wo sie seit Kindesbeinen grosse und kleine Schiffe ins weisse Abenteuer wegsegeln sahen. Peter wurde Tischler, Paul Seemann. Zu den beiden Jungen gehörte Liv, in Kindertagen Kameradin, in der Jugend Freundin, später von beiden geliebt und umgarnt. Am liebsten hätten sie gemeinsam das Abenteuer gesucht. Aber weil sich Nachwuchs einstellte und Liv für ihre Familie einen sicheren Hafen wünschte, war es Peter, den sie heiratete, mit dem sie ein Haus in Tromsø bezog. Peter, Liv und die beiden Kinder. Und irgendwo Paul, die unruhige Seele, die sich nicht mit einem Leben ohne Bedeutung begnügen wollte. Auch das Meer blieb. Paul kam immer wieder zurück. Und als Roald Amundsen in Tromsø eine neue Crew für seine Forschung Richtung Nordpol suchte, schifften Peter und Paul mit ein, beide getrieben von der Hoffnung, im Schatten des grossen Forschers Ruhm, Ehre und eine sichere Zukunft zu erlangen.

Florian Wacker «Weiße Finsternis», Berlin Verlag, 2021, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-8270-1434-4

Zwei Jahre später, jedoch nicht im arktischen Winter, machte sich eine Gruppe Männer unterstützt durch Einheimische auf die Suche nach den Vermissten. Keine Suche, die auf Leben hoffte, auch wenn ein kleiner Rest Zweifel über deren sicheren Tod geblieben war. Aber eine Suche, die Antworten schaffen sollte und wohl nicht zuletzt ein Tribut des Gewissens den beiden jungen Männern gegenüber war. Man machte sich auf, hoffte auf Zeichen in Eis und Schnee, auf Zeugnisse, die in der weissen Einöde überdauern würden.

Florian Wacker will nachspüren, was es ist, dass Menschen an den Rand der Möglichkeiten und darüber hinaus nötigte. War es wirklich nur die Gier nach Ruhm und Ehre? Die Schlachtfelder des grossen Krieges schluckten die Massen ebenso wie Arbeit, Mühsal und Armut. Paul war schon als Kind vom Entdeckerhunger getrieben und Peter, eigentlich viel ruhiger und besonnener, stets mitgerissen. Dieses Mal würde es der eisige Norden sein, später dann die weissen Flecken auf der Karte Südamerikas. Oder war es einfach die Lust aufzubrechen aus dem Nest Tromsø, dem Einerlei, dem Vorbestimmten?

Aber Florian Wacker geht es nicht bloss um das Nacherzählen einer Geschichte, von der man bis heute vieles nur spekulieren kann. Die beiden jungen Männer waren Freunde, brachen gemeinsam zur Reise auf, liessen ihr Leben aber an verschiednen Orten im Eis. Was geschah zischen den beiden ungleichen jungen Männern? Was trug sich zu, als immer aussichtsloser wurde, was eine Heldentat hätte werden sollen? Und wie muss es Liv ergangen sein, die zurückblieb, die irgendwann aufgegeben hatte zu warten und von Tromsø wegzog, weil es dort kein Leben gab für eine Zurückgelassene. Was bleibt von Freundschaft, wenn man durch die Ketten von Pflichten und Mutterschaft zum Bleiben gezwungen wird? Die Geschichte einer Frau, die sich ihr Leben nicht einfach diktieren lassen wollte!
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien hinter der weissen Finsternis eine Verheissung zu liegen. Eine Verheissung, der viele Menschen ungenannt ihr Leben opferten.

Es wurde mir kalt bei der Lektüre. Florian Wacker ist ein Meister der Atmosphäre!

Interview:

Indirekt stellen Sie mit ihrem Roman die Frage, was Männer wie Roald Amundsen, Robert Falcon Scott oder Ernest Shackleton bewegte, sich mit Mannschaft und Material Gefahren auszusetzen, die aus der Sicht eines Menschen in unserem Jahrtausend halsbrecherisch, tödlich sein mussten. Warum zieht es Menschen auf Mond und Mars obwohl es unwahrscheinlich ist, dass der Nutzen für die Menschheit den finanziellen und menschlichen Aufwendungen entspricht?

Ich glaube, dass Menschen immer nach neuen Herausforderungen suchen, nach neuen Zielen und danach, Grenzen weiter zu verschieben; die Entdeckung Amerikas, die Erkundungen der Pole, die Expedition in die Regenwälder, und als Krönung sicher die Landung auf dem Mond: Menschen suchen die Extreme, die Ausweitung des Bekannten, weil sie neugierig, erfinderisch, kreativ – und auch zutiefst egoistisch sind. Es ging ja auch immer darum, der Erste zu sein, ein Wettrennen zu bestreiten und sich am Ende den Siegeskranz umzuhängen; diesem Ziel wurde alles untergeordnet, und es sind immer nur einzelne Namen, die dann herausstechen – Amundsen, Nansen usw. Die vielen Unbekannten, die diese Wettrennen z.T. mit ihrem Leben bezahlten, von denen spricht heute kaum noch jemand. Auch deshalb erzähle ich in meinem Roman die Geschichte zweier Unbekannter, um den Blick auf sie zu lenken, weg von den strahlenden Helden. Durch sie, diese meist Namenlosen, wurden die Expeditionen und daraus gewonnenen Erkenntnisse erst möglich.

Männer wollten entdecken, machten sich auf über Grenzen, über Bekanntes hinaus. Frauen blieben zuhause, im Hintergrund, die Erwartenden, die Geduldigen. Ist „Eroberung“ männliches Prinzip oder verfängt man sich mit der Frage allein in den Schlingen gefährlicher Argumentationen?

Dieses Prinzip ist historisch gewachsen, ich würde es heute nicht mehr gelten lassen. Früher waren die Verhältnisse so, dass Männer hinaus in die Welt gingen (Arbeit, Reisen usw.) und Frauen zuhause bei den Kindern und Alten blieben. Das wurde nur sehr langsam durchbrochen. Frauen erkämpften sich gegen grosse Widerstände nach und nach ihre Rechte (Wahlrecht usw.), aber das Bild der „sorgenden“ Frau trägt sich bis heute durch, was man gerade während der Pandemie gut beobachten kann, wo es meistens Frauen sind, die zuhause den Laden am Laufen halten, also Sorgearbeit leisten, und dazu noch einer Erwerbsarbeit nachgehen. Das Prinzip männlicher „Eroberung“ halte ich heute für einen Anachronismus, für längst überholt. In meinem Roman beginnt sich Liv auch gegen dieses Prinzip zu wehren, sie will nicht warten, nicht die Rolle spielen, die man ihr zuschreibt. 

Konde, ein Nganasane, ein Polarmann sagt: „Die Leute aus dem Westen und Süden. Sie haben keine Ahnung von den Rentieren, sie können nicht jagen und wissen auch mit der Kälte nichts anzufangen. Aber sie kommen trotzdem und beschweren sich und schimpfen über das Eis, und dann sterben sie. So ist es immer.“ Waren Ignoranz und Arroganz nicht schon bei der Franklin-Expedition 60 Jahre zuvor auf der Suche nach einer Nordwestpassage die Ursache des Scheiterns?

Ja, Ignoranz und Arroganz waren sicher verantwortlich für das Scheitern grosser Expeditionen, wo mit immensem Materialaufwand versucht wurde, ein Ziel gegen alle Widerstände zu erreichen; so ähnlich wie ein trotziges Kind, das mit dem Kopf durch die Wand will. Man hielt sich für überlegen und die Inuit für einfältige Wilde. Tausende sind auf den Schiffen jämmerlich umgekommen, verhungert, erfroren, an Skorbut gestorben. Erst Nansen und Amundsen begannen, sich von den Einheimischen Verhaltensweisen abzuschauen, trugen entsprechende Kleidung, fuhren mit kleinen, wendigen Schiffen, nutzten Schlittenhunde. Aber auch sie waren nicht frei von Arroganz und einem Gefühl der Überlegenheit, sie traten in ihrem Eroberungsdrang nur etwas subtiler auf.

Sie schildern eine Freundschaft, die im Angesicht des Todes zu zerbrechen droht. Weil im Wahn durch Unterernährung, Entkräftung und Hoffnungslosigkeit alles aufbricht. Nicht zuletzt Eifersucht, Enttäuschung und Verdächtigung. Klar, Literatur labt sich an Extremen, selbst wenn Karl Ove Knausgård über die absolute Normalität schreibt. Ist Lesen die Gier nach fremdem Leben?

Ich denke schon, dass wir beim Lesen immer auch etwas vom Anderen, vom Gegenüber erfahren wollen. Da wird dann selbst das „Gewöhnliche“ wie bei Knausgård aufregend; ein gewisser Voyeurismus ist ja beim Lesen immer dabei; der Blick in fremde Leben, in Existenzen, die mit unseren auf den ersten Blick nichts gemein haben. Gute Literatur schafft dann beides: Den Blick auf das Gegenüber, der uns aber immer auch zu uns zurückführt.

„Weiße Finsternis“ spielt in der absoluten Kälte. Ihr Roman zuvor, „Stromland“ in schweisstreibender Hitze. Welches Verhältnis haben Sie zur Extreme? Ist Schreiben ein Zustand der Extreme?

Schreiben ist nur in seltenen Momenten ein Extrem im Sinne eines Rausches; es ist meist monoton, wenig aufregend, man arbeitet sich Tag um Tag durch den Text, schreibt, überarbeitet, schreibt wieder. Da ist viel Routine drin, strukturiertes Arbeiten. Aber klar, manchmal gibt es diese Situationen, in denen es einen plötzlich packt, in denen plötzlich alles stimmt, jedes Wort, jeder Satz und man wirklich in einen rauschähnlichen Zustand gerät. Meist hält der nicht lange, spätestens beim Überarbeiten ist dann Schluss damit. Aber trotzdem, es sind diese Momente, für die ich auch schreibe.

Welches Buch würden Sie unbedingt empfehlen und warum?

Die Romane von William Faulkner, die Texte sind überwältigend, anstrengend, dicht. Aktuell beeindruckt hat mich „Die Dame mit der bemalten Hand“ von Christine Wunnicke, ein schmaler, historischer Roman voller Witz und Poesie, grossartig!

©Melina Mörsdorf Photography

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, Studium der Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Mehrjährige Tätigkeit in der Kinder-und Jugendpsychiatrie, der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe. Er schreibt Prosa, Dramatik und Code und veröffentlicht Texte in FAS, Merian, Frankfurter Rundschau, Junge Welt, BELLA triste, Das Magazin u.a.
Für seine Arbeiten wurden er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Robert Gernhardt Preis, dem Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg, dem Limburg-Preis und dem „Feuergriffel“ für Kinder- und Jugendliteratur Mannheim.

Rezension von «Stromland» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Melina Mörsdorf Photography

Olivia Kuderewski «Lux», Voland & Quist

Lux musste weg. Musste ein altes Leben hinter sich lassen. Vielleicht neu beginnen, vielleicht eine Pause, vielleicht ein neues Paar Schienen, die Ordnung in einem aus den Fugen geratenen Leben bedeuten. Sie steigt aus und ein in New York auf einen Tripp gen Westen, der Sonne, dem Licht entgegen. Zumindest ist da ein kleines Fünkchen Hoffnung.

Zugegeben, wer sich an diesen Roman wagt, muss einiges einstecken. Olivia Kudereswski schrieb keine Unterhaltungsliteratur. „Lux“ ist wie das Leben der Protagonistin; ein dauerndes Hin-und-Her zwischen Rausch, Ernüchterung, Sehnsucht und Absturz. Olivia Kuderewski leuchtet mit grellem Licht in ein Leben, das taumelt, das die Spur verloren hat, das strauchelt und stolpert. „Lux“ ist ein Roman, der mich in ein Leben zieht, eine Umgebung, eine Welt, die trotz seiner Gegenwärtigkeit etwas Dystopisches birgt. Das, was wir an Sehnsuchtsbildern der USA, das, was wir als Projektionen einer jungen Existenz, eines jungen Lebens mit uns herumtragen, ist weit weg von der Realität, die Olivia Kuderewski in ihrem Debüt beschreibt.

Lux ist eine junge Frau. Sie macht eine Reise, eine Reise quer durch das Land, durch die Staaten, von Ost nach West. Mit wenig Gepäck und der Absicht, vieles aus ihrem alten Leben zurückzulassen. Sei es Charles, sei es ihre Familie, seien es die Antidepressiva oder die Diagnosen, mit denen man sie aus der Klinik entlassen hatte. Sie will ihrer „Glocke“ entfliehen, diesem Etwas, dass sie nicht aus ihren Fängen entlässt, das sie von allem anderen Leben trennt, dass sie für gewisse Zeiten ausknockt.

Olivia Kuderewski «Lux», Voland & Quist, 2021, 219 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-86391-279-6

Unterwegs lernt sie eine junge Frau kennen. Kat. Eine Ausgeflippte mit langem, leuchtend, weissem Haar. Eine Furie mit Schalenkoffer. Sie reisen zusammen, ohne je zusammen zu sein. Kat ist unnahbar, Lux schwer zu fassen. Je länger die Reise geht, desto mehr scheint die eine die andere zu brauchen, flimmert die Beziehung zwischen Hass und Anbetung, zwischen Unverständnis und Ergebenheit. Bis die beiden aus lauter Überdruss mit einem Spiel beginnen. Man stellt sich gegenseitig Aufgaben bis zur Selbstaufgabe, weit über die Schmerzgrenze hinaus. Nicht bloss die Reise, das Leben soll ein Tripp werden.

Das Buch erinnert mich an all jene, die sich durch körperliche Selbstverstümmelung besser spüren wollen, die den Schmerz brauchen, um sich ihrer Existenz sicher zu sein. „Lux“ schneidet ins Fleisch, ist ein Tripp in die Niederungen einer aus dem Kurs geratenen Selbstfindung. „Lux“ beschreibt, was wir nicht hören und nicht sehen wollen, ist eine Art menschliche Apokalypse. „Lux“ ist kein warmes Licht, viel mehr blaues Licht, das mich aufputscht, das Lux aufputscht, um in dunklen Phasen umso tiefer abzusacken.

„Lux“ ist eine Roadstory in einer dystopisch wirkenden Kulisse, durch ein kaputtes Land, vorbei an kaputten Menschen. Selbst dort, wo andere mit ihren Autos stehen bleiben und die Postkartenidylle fotografieren, ritzt es Lux an ihrer Haut, reissen die beiden Frauen an ihren Seelen. Und doch ist „Lux“ sprachlich ein Genuss. Von seltener Intensität und Nähe. Olivia Kuderewski schaut durch ein Brennglas, bis der Blick schmerzt. Die Autorin schreibt dort weiter, wo die meisten anderen aufhören.

Interview:

Warum die USA? Sind die Staaten als Kulisse kaputt genug? Oder weit weg genug?
Das hat mit den hartnäckigen Klischees von Freiheit zu tun, die hochkommen, wenn es um Roadtripps geht. Die gelten ja als Inbegriff von Befreiung und Lux will genau das erreichen – die Staaten sind ihre selbstgewählte Kulisse dafür. Der ultimative Roadtripp findet nun mal in den USA statt. An welchen besseren Ort könnte man sonst all seine Illusionen über Freiheit schleppen?

Sie wollen nicht einfach unterhalten, eine Geschichte mit Pointe erzählen. „Lux“ ist eine Berg- und Talfahrt mit eindeutigem Überhang Richtung „freier Fall“. Muss gute Literatur mehr wollen, als zu unterhalten?
Ich mag „freie Fall“-Bücher, wie Sie das nennen, also Texte, bei denen es auf irgendeine Art um ein Risiko geht. Mit denen sich jemand aus dem Fenster lehnt und die dann noch so gut gemacht sind, dass sie richtig treffen. Mir gefällt es, wenn jemand seine eigene Sprache und Handlung und eigene Figuren entwickelt. Ob das dann nur gut unterhält oder auch noch als „gute Literatur“ durchgeht, ist mir ziemlich egal.

Wo lag der Ursprung Ihres Romans, die erste Idee, der Kick, der die Geisterfahrt ins Rollen brachte?
Wahrscheinlich arbeiten sich die meisten Schreibenden an ihren Idolen ab, bei mir war das früher Kerouac. Aber der richtige Kick setzte ein, als ich irgendwann beim Schreiben den Gedanken hatte, dass ich meiner Hauptfigur ALLES wegnehmen will, was sie hat. Das spricht wohl für meinen schlechten Charakter.

Lux schafft es nicht, sich von ihrer „Glocke“ zu befreien. Ich kenne diese Glocke auch. Alle haben sie, wenn man ehrlich ist. Jene Glocke, die kleine Kinder noch nicht haben, die irgendwann zu wachsen beginnt und bei einigen zu einem Alp wird. Dieses Glockengefühl hat sich durch die Pandemie wohl bei vielen noch verstärkt. Eine Klimakrise der menschlichen Existenz? Eine Klimakrise, die ebenso viel Potenzial zur Katastrophe hat und global werden kann?
Sie fragen da wahrscheinlich nach so etwas wie Isolation und der Angst davor. Im Roman geht es Lux darum, aus dieser „Glocke“ auszubrechen und wieder Kontakt zur Welt aufzunehmen. Aber ob die Menschen mehr unter Einsamkeit leiden als früher und aus welchen Gründen, kann ich schlecht beantworten. Es ist ja immer grässlich, wenn man so empfindet, warum auch immer. Und wenn sich jetzt die halbe Welt wegen Corona einsam fühlt, dann ist das natürlich – neben allem, was die Pandemie auch noch anrichtet – eine Katastrophe.

Lux und Kat. Lux bedeutet Licht. Und wenn man im Wörterbuch unter Kat nachschaut, erscheint „aus den Blättern eines afrikanischen Baums gewonnenes Rauschgift“. Wie passend. Lux sucht ihr Licht. Und Kat wird ihr Gift? Zufall oder zu viel Interpretation?
Ha! Das wusste ich nicht, danke für den Hinweis. Das passt ja! Obwohl ich das mit dem afrikanischen Baum nicht so recht mit meinem Roman in Verbindung bringen kann. Mir ging es bei der Namensfindung auch, aber nicht ausschliesslich, um die Tiere mit dem Fell. Und dann gab es noch einen Haufen anderer Assoziationen dazu, Katalysator, Katastrophe, Katharsis, Katatonie, KitKat …

„Das einzige Mittel gegen Angst ist Mut“, steht in Ihrem Roman. Ein Leuchtturm?
Im Roman nimmt dieser Leitspruch ja eher ungesunde Züge an und wird als Gedanke in einem Moment geäussert, in dem die Protagonistin zugekokst ist – würde ich jetzt nicht zu meinem allgemeinen Lebensmotto machen! „Mut“ ist ja sehr deutungsoffen und kann auch fiese Resultate nach sich ziehen.

Welches Buch, welche Musik brannte sich in den vergangenen Monaten unauslöschlich in Sie hinein? Warum?
Wede Harer Guzo von Hailu Mergia/ Dahlak Band – meine Mitbewohnerin hört den Song rauf und runter und wir leben von der Wanddicke her quasi in Schuhkartons.
Und Ágota Kristófs „Das große Heft“ – selten so etwas Grausames und Rührendes gelesen. Zwei Jungen, Zwillinge, die in Kriegszeiten versuchen, sich vorsorglich physisch und psychisch selbst abzuhärten.

© Lisa-Marie Keck

Olivia Kuderewski, 1989 geboren, lebt in Berlin. „Lux“ ist ihr erster Roman. Sie hat vergleichende Literatur und Schreiben studiert, volontiert, bisher in wenigen Anthologien veröffentlicht und noch keinen Preis gewonnen.

Beitragsbild © Alain Barbero

Hans Platzgumer «Bogners Abgang», Zsolnay

Eine Kreuzung mitten in der Stadt, mitten in der Nacht. Ein Auto fährt einen Mann, der mit einem Mal aus dem Dunkel auftaucht, von der Strasse. Was nach einem Unfall aussieht, wird zur Tragödie. Wer trägt die Schuld für das, was passiert? Wer fällt das Urteil?

Andreas Bogner ist Künstler und lebt in Innsbruck, verheiratet und doch mehrheitlich allein in seiner grosszügigen Atelierklause über dem Gewusel der Stadt. Dass ihm der Erfolg als Künstler nicht an den Fersen klebt, erklärt sich Bogner zum einen an seinem fehlenden Existenzkampf, der Tatsache, dass er seinen Lebensunterhalt nicht erstreiten muss, weil ihm sein Vater Mittel genug hinterlassen hatte. Zum andern glaubt Bogner, dass man ihn nicht verstehen will, seine Kunst, seine Sprache, obwohl er sich aus seiner Sicht doch ziemlich deutlich von der regionalen Kunstszene absetzt. Gefüttert wird seine Ansicht durch Schreiberlinge wie den selbstherrlichen Kunstkritiker Kurt Niederer, der ihn immer wieder geflissentlich vorführt und ihn zu einem Exemplar oberflächlicher und selbstherrlicher Möchtegerngenies macht. Kein Wunder, dass es Andreas Bogner am wohlsten ist in seinem Atelier, wo er weder auf das Klingeln der Haustür noch auf die Anrufe seiner Frau reagiert. Dort in jenen vier Wänden ist der einzige Ort, an dem man ihm sein Leben, seine Existenz, sein Tun, seine Kraft, seinen Rausch nicht streitig macht.

Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem er während Stunden an einer Zeichnung arbeitet, einem Portrait einer Walter PPK 7,65 mm, einer Pistole aus dem Waffenschank seines Schwiegervaters, den er lange genug bearbeiten musste, bis dieser ihm widerwillig die Waffe für einige Tage im Atelier überliess. Bis er an diesem Abend per Zufall eine Sendung im Radio hörte, in der der Kunstkritiker Kurt Niederer, sein ganz persönlicher Scharfrichter, zum Todesstoss gegen ihn den Künstler ausholte. Bis er die Waffe entgegen allen Versprechungen seinem Schwiegervater gegenüber packte und sich in der angebrochenen Nacht auf der anderen Strassenseite von Niederer Stammlokal in Stellung brachte.

Hans Platzgumer «Bogners Abgang», Zsolnay, 2021, 134 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-552-07204-6

Nicola Pammer studiert in Innsbruck Deutsch auf Lehramt. Eigentlich kommt sie aus Bregenz und fühlt sich alles andere als wohl in der Stadt am Inn. Noch viel weniger in der lauten WG und dem winzig kleinen Zimmer, dass sie nur mit Stöpseln in den Ohren bewohnen kann. Wenn immer möglich fährt sie an den Wochenenden zurück in die Stadt am See, zu ihren Eltern, in das Leben, das sie ursprünglich dachte, hinter sich lassen zu können. Bis zu diesem einen Abend, als sie sich zu einer Party überreden lässt und das eine oder andere Glas zu viel trinkt. Als sie sich dann doch hinter das Steuer des Autos ihrer Mutter setzt und glaubt, es wäre eine gute Idee, die leeren Strassen, die kaputte Stadt hinter sich zu lassen. Bis ein Rumps durch den alten Ford Fiesta geht und sie im gleichen Moment weiss, dass sie jemanden angefahren hat, kurz das Auto stehen lässt, um dann doch wegzufahren, nicht auszusteigen, nicht zu helfen, nicht zu tun, was ihre Pflicht gewesen wäre. Sie fährt zu ihrer Mutter. Und weil sie die Schuld nicht allein auf ihren Schultern tragen kann, erzählt sie der Mutter, warum sie keine Ruhe mehr findet, warum sie es nicht mehr für sich behalten kann. Erst recht, als in den Nachrichten berichtet wird, dass ein bekannter Journalist und Kunstkritiker mitten in der Nacht angefahren wurde und am darauf folgenden Tag im Spital seinen Verletzungen erlag.

Hans Platzgumer verwebt Leben, die sich sonst nie ineinander verhakt hätten. Er lässt Leben eskalieren, Leben entgleisen. Platzgumer konfrontiert mich mit den kleinen und grossen Grausamkeiten des Lebens, der Willkür des Schicksals, den Tiefschlägen des Zufalls. Alles kippt in einem winzig kurzen Augenblick. Was vorher fest verankert und tief verwurzelt schien, ist mit einem Mal im freien Fall. „Bogners Abgang“ ist kein Krimi, auch wenn da eine Waffe knallt, auch wenn ein Verzweifelter in der Genueser Unterwelt kiloweise Trockeneis besorgt, wenn eine Mutter mit voller Absicht ihren Fiesta gegen die Wand fährt und den Wagen für einen Tausender an einen Autohändler vertickt, nur um ihre Tochter vor den Fängen der Justiz zu schützen. Hans Platzgumer zeigt, wie dünn das Eis ist, wie schmal der Grat, wie bröcklig das Fundament. Wie tief uns Eitelkeiten und Ängste hinabstossen können und wie schnell der freie Fall Fahrt aufnimmt.

Man fällt tief ins Buch!

Interview

Irrtümlicherweise, reflexartig begann ich den Brief mit der Anrede „Herr Bogner“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Platzgumer und Bogner nahe beieinander sind. Bogner ist ein introvertierter, von sich überzeugter Künstler und Einzelgänger. Ein Mann, in dessen Atelier alles seinen Platz hat, alles wohlgeordnet ist. Selbst in seinem Schaffen versucht er Ordnung herzustellen. Und dann wirft ihn das scheinbar vernichtende Urteil eines selbsternannten Kunstkenners aus der Bahn, vollends aus dem Gleichgewicht. Gibt es Kunst nur um seiner selbst Willen? Wer in der Kunst kann sich der Kritik entziehen? Nicht einmal die Kritik selbst.

Lustig, dass Sie mich fast als Bogner angeredet hätten. Ich bin froh, dass ich nicht er bin. Auch tauge ich nicht als Vorbild für diese Figur. Sie ist aber nahe an dem einen oder anderen bohémen Kollegen angesiedelt, den ich kenne. Diese Bogners da draussen haben es nicht leicht. Sie stellen ihr eigenes Schaffen über alles andere und werden von narzisstischen Empfindungen umgetrieben. Das daraus resultierende Achterbahnleben zwischen Kränkungen, Enttäuschungen und kurzen euphorischen Momenten ist schwer auszuhalten – vor allem für empfindsame Seelen, die sie bei aller Eitelkeit noch dazu sein müssen, um ihr Werk zu produzieren.

Kunst um ihrer selbst Willen ist nicht auszuhalten. Andererseits liebe ich eine Kompromisslosigkeit in der Kunst und fordere diese tatsächlich ein. Verschreibt sich ein Kunstschaffender wiederum voll und ganz, vollkommen nackt und ungeschützt seinem Werk, wird es schwer für ihn, mit Kritik vernünftig umzugehen. Er positioniert sich ja von vornherein schon jenseits der Vernunft. Gebeutelte und zerstörte Künstlerseelen entstehen daraus. Ich bin froh, für mich selbst die notwendige Distanz zum eigenen Werk gefunden zu haben. Das erspart mir viel Leid und Ärger. Dem Bogner bleibt nichts erspart.

Ist „Bogners Abgang“ Kritik an der Selbstgefälligkeit?

Das Buch zeigt jedenfalls, wohin ein egozentrisches Dasein führen kann und auch, wie leicht eine derartig veranlagte Person verletzt werden kann. Selbstherrlichkeit versucht fehlende Selbstsicherheit zu kompensieren. Wer diesen Dämon in sich nicht in den Griff bekommt, dessen Leben ist zu grossen Teilen eine Hölle. Kein errungener Erfolg kann jemals Erfolg genug sein. Narzissten sind niemals glückliche Menschen.

Nicola Pammer ist eine stille, stets rücksichtsvolle, junge Frau. Einmal über die Stränge geschlagen, wirft sie der Zufall völlig aus der Bahn. Da nützt auch der Beschützerinstinkt der Mutter nichts. Ist es symptomatisch, dass das Übel dort am heftigsten zuschlagen kann, wo eine reine Seele nicht damit rechnet?

Ich bezweifle, dass es reine Seelen gibt. Auch Nicola ist nicht unschuldig. Sie ist eine angenehmere Zeitgenossin als der Bogner, aber auch sie hat Abgründe. Das Schicksal schert sich meist nicht um die Gerechtigkeit. Nicht jeder bekommt, was er verdient. Doch bei allem Mitleid mit Nicola, Bogner zieht letztendlich keine bessere Karte. Ich persönlich würde lieber wie Nicola, nicht wie Bogner aus dieser Geschichte herausgehen.

Bogner wünscht sich mehr als die Wirklichkeit, die das Leben generiert. Selbst in seinem Wunsch, die Todeserfahrung zu illustrieren, muss sich Bogner der Banalität beugen. Ist Kunst der Kampf gegen die Banalität?

Kunst ist sicherlich Ausbruch aus der Banalität. Gerade in Coronazeiten, in denen wir mit viel weniger Kunsterlebnis auskommen müssen, merken wir das. Kunst stilisiert, überhöht, sie macht aus dem Natürlichen das Künstliche. Verlässt sie die rein unterhaltende Ebene, kann sie unsere Sichtweise auf Dinge verändern. Im besten Fall ist Kunst Zauberei. Sie kann uns den Boden unter den Füssen wegziehen. Sie kann uns uns selbst verlassen lassen. Sie kann Wahrheiten verdrehen, ausschmücken oder auch überhaupt erst erfahrbar machen. Somit trägt sie auch eine grosse Verantwortung in sich.

Nebst unzähligen Tonträgern, die Sie seit bald 35 Jahren komponieren, produzieren und einspielen, vielen Theater- und Hörspielarbeiten, einer Oper und Soundtracks ist Ihre Karriere als Schriftsteller die jüngste. Schwingt beim Schreiben immer ein Soundtrack mit? 

Nein. Ich schreibe immer im Trockenen, vollkommen unbeeinflusst von Musik. Ich steuere auch im Nachhinein gar nicht gern den Soundtrack zu meinen eigenen Texten bei (wie ich es zB. bei der Hörspielinszenierung von «Am Rand» gemacht habe). Geschriebene Sprache muss erstmal ohne Score auskommen können.

Sofern es aber zu Bogners Abgang einen Soundtrack gibt, ist dieser bereits mit einem der beiden vorangestellten Zitate gelegt.

Schwirrt Ihnen bei so viel offenen Baustellen nicht manchmal der Kopf?

Ja, vielleicht, aber wem schwirrt nicht oft der Kopf? Ich kann mich zu 100 Prozent in eine momentane Arbeit hineinfallen lassen. Wenn ich etwas mache, bin ich voll und ganz auf diese eine Sache konzentriert. Ich verschwinde in ihr. Erst wenn sie erledigt ist oder ich erschöpft pausieren muss, treten die anderen Dinge wieder zurück in mein Leben.

Was tut Hans Platzgumer, wenn er die Nase voll hat?

Meditieren. 2x täglich. Das hilft mir, die nötige Gelassenheit wiederzuerlangen.

Erzählen Sie von einem Buch, das Sie in jüngster Vergangenheit aus den Socken gehauen hat?

George Saunders «Lincoln im Bardo». So eine Idee möchte ich einmal haben – und die Fähigkeit, sie so umzusetzen. Ein Jahrhundertbuch.

© Alex Eizinger

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, hat mit seinem Diplom der Wiener Musikhochschule in der Tasche in vielen Teilen der Welt gelebt und mit vielzähligen Projekten seit 1987 auf sich aufmerksam gemacht. Nach dutzenden Alben auf internationalen Labels und weltweiten Auftritten verlagerte er seit den 00er Jahren den Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens hin zur literarischen Arbeit. Seit seinem Debütroman 2005 sind zehn Bücher erschienen.
In den 90ern wurde Hans Platzgumer für einen Grammy nominiert, 2016 für den deutschen Buchpreis.

Rezension von «Am Rand» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Bellet

Ruth Loosli «Mojas Stimmen», Caracol

Wenn eine Familie auseinanderzubrechen droht. Ruth Looslis Debüt beschreibt den schmalen Grat zwischen Selbstzerstörung und Verzweiflung all jenem gegenüber, das einem aus der Hand genommen wird. Die Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter, die sich wie ein Doppelgestirn aus der Gravitation des Normalen entfernt.

Moja schien das Leben im Griff zu haben, machte Matura, ging in einem Zwischenjahr auf Reisen und begann danach ein Studium, das sie wohl abbrach aber nichts desto trotz einen sicheren Stand als Pflegehelferin in einem Heim fand. Dass sie mit dreizehn ihren Vater durch einen Unfall verlor, ihre Mutter damals eine Auszeit nehmen musste und Moja bei Nachbarn unterbrachte, dass sich Moja damals mit Canabis zu trösten begann, schien alles überwunden. Bis es Moja eines Morgens nicht mehr schaffte, ihre Wohnung zu verlassen. Bis sie sich krank schreiben liess. Bis sie sämtliche Kontakte sausen liess, bis auf jene zu ihrer Mutter Paula und ihrem Bruder Jonas.

Ruth Loosli «Mojas Stimmen», Caracol, 2021, 224 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-907296-05-9

Paula und ihre Tochter Moja wohnen in der gleichen Stadt. Was anfänglich wie eine Krise aussieht, etwas, aus dem man sich selbst am Schopf herausziehen kann, etwas, das wie eine lang andauernde Dürre irgendwann vorbei sein muss, schiebt sich immer mehr in eine Sphäre, die sich jedem Zugriff, jeder Beeinflussung, jeder Hilfe verweigert. So schwer es für die 25jährige Moja wird, sich in ihrem Leben zurechtzufinden, eine Ordnung zu finden, Halt und Struktur, so schwer ist es für ihre Mutter Paula, die nicht akzeptieren will und kann, dass ein Problem sich jeder Lösung entzieht, dass man nicht in die Hände spucken und die Sache angehen kann, dass man akzeptieren soll, was aus der Distanz unweigerlich an einem Abgrund zu stehen scheint, unmittelbar vor der Vervielfachung einer schwelenden Katastrophe.

Moja hört Stimmen, verschiedene Stimmen. Stimmen, die viel mehr zu zählen scheinen als ihre eigene und die ihrer Mutter. Stimmen, die Moja immer mehr von der Welt abkoppeln, in denen sie sich verliert. Moja schliesst sich in ihrem Zuhause ein. Selbst die Kontakte zu ihrer Mutter und ihrem Bruder, die die einzigen geblieben sind, denen sie sich phasenweise öffnen kann, unterbindet sie immer öfters. Sie zahlt keine Rechnungen mehr, die Versicherungen verweigern weitere Unterstützung, der Kühlschrank bleibt leer, Kleider bleiben in der Wohnung liegen und Anrufe und Mitteilungen auf dem Mobilphone unbeantwortet. Nur die Glimmstängel scheinen die einzige Form von Wärme zu sein, die sie zulässt, die ihre Leere wärmen.

Irgendwann wird die Not so gross, dass der einzige Ausweg darin besteht, Moja in eine staatliche Institution einzuweisen, der sie sich aber nur widerwillig ergibt und letztlich nur eine Verschnaufpause für die gebeutelte Mutter bedeutet. Ein kleiner Funken Hoffnung, eine Spur Perspektive, auch wenn sich Paulas Tochter jeder Annäherung durch das Pflegepersonal verschliesst, ausgerechnet sie, die doch auch einmal als Pflegende in einem Heim arbeitete.

Ruth Loosli leuchtet auf beeindruckende Weise hinein in eine Welt, die von der Diagnose Schizophrenie dominiert wird, von der Einsicht, dass nicht klar ist, was zum Ausbruch einer solchen Krankheit führt und wie der Weg aus dem Labyrinth dieser Krankheit zu finden ist. Wie einem als Mutter die Hände gebunden sind, wie sehr man versucht ist, die Fehler bei sich selbst zu suchen. Wie diese Krankheit alles dominiert und einem aus der gewohnten Umlaufbahn zu katapultieren droht. Wie die Sehnsucht nach Nähe und der Wunsch doch nur helfen zu wollen, alles in ein klebriges Loch stösst, aus dem weder Tochter noch Mutter aus eigener Kraft herausfinden.

„Mojas Stimmen“ ist ein durchaus gewagter Roman über Themen, die durch zu viel Nähe und Emotionalität schnell abgleiten könnten. Aber Ruth Loosli gelingt es, sich schreibend in eine sprachliche Nähe zu bringen, die wohl viel Emotionalität zulässt, aber immer jenen erzählerischen Abstand wahrt, den es braucht, um den Erzählsog von aussen zu erzeugen. „Mojas Stimmen“ ist eine starke Stimme! Ein Stimme, die sich bis in die eingefügten Schreibbilder der Autorin manifestiert!

Interview

Auf dem Titelbild deines Romans steht eine Steinfigur am Ufer eines Bachs. Stein ist fest, der Untergrund ist fest. Und doch braucht es nur einen Schups von aussen und alles zerfällt. Von allein richtet sich die Figur niemals mehr auf. Beginnt nicht genau dort die Krux vieler Krankheiten der Psyche?
Vielleicht müsste man sich aber auch fragen, ob der vermeintlich feste Untergrund nicht vielleicht doch Risse hat, ob die feste Schicht zu dünn ist, um längerfristig zu tragen. Dasselbe bei der Figur: Jeder Stein für sich ist zwar fest, aber dort, wo die Steine aufeinandergestellt werden, zittert man unwillkürlich ein bisschen. Nichts hält sie aufeinander als ein sorgfältig geprüftes Gleichgewicht, das jederzeit – von einem leichten Beben – einem stärkeren Wind, gestört werden kann. Tatsächlich wird sich die Figur, einmal zerfallen, nicht mehr von alleine aufrichten. Ob das Bild dann aber für die Krankheiten der Psyche zu verwenden ist? Würde man die psychischen Krankheiten vermehrt als «seelische Krise» bezeichnen, wäre im Wort «Crisis» auch der «Wendepunkt» zu erkennen. Und darin vielleicht die berühmte «Chance» – aber tatsächlich braucht es manchmal Jahre, um wieder neuen Boden zu finden oder ein Leben geht zu Ende, weil eine Krise, ein schwankender Boden nicht auszuhalten ist.

Paula will ihrer Tochter bloss helfen. Etwas, was man als Mutter oder Vater meistens noch kann, wenn die Kinder noch zuhause in der Verantwortung der Eltern stehen. Ein Wunsch, der unmöglich und selbstzerstörerisch werden kann, wenn die Kinder erwachsen, selbstbestimmt (oder auch fremdbestimmt) sind. Kann Mutter – oder Vaterliebe zerstören?
Persönlich würde ich das eher verneinen. Aber aus Fallbeispielen, aus Filmen und auch aus der Literatur wissen wir, dass elterliche Liebe zerstörerische Züge haben kann. Dann aber zerstört der betroffene Elternteil in der Regel auch sich selbst, in letzter Konsequenz.

Alles in unserem Leben muss funktionieren. Paula ist kurz vor 60. Sie muss funktionieren. Moja ist 25, hat eine Wohnung, einen Job. Sie muss funktionieren. Jonas, Mojas älterer Bruder, funktioniert. Bis alles zu kippen droht. Ist Schreiben der Versuch, eine Ordnung in das drohende Chaos des Lebens zu bringen?
Ja, ich finde jede schöpferische Tätigkeit trägt diesen Versuch, Ordnung zu schaffen in sich. Das kann auch bedeuten, eine Wand neu zu streichen, ein Bild zu malen, zu singen, ein Gartenbeet bepflanzen. Mein Schreiben hat auf jeden Fall damit zu tun, die Übersicht über mein Leben behalten zu wollen. Einige Dinge und Begebenheiten zu verstehen, zumindest im Rückblick. Denn Schreiben ist immer auch Nachdenken über sich selbst, häufig im Spiegel der anderen, der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch in meinen Gedichten ist dieses Verstehen und Ordnen wollen bestimmt erkennbar.

Eine typisch mütterliche Reaktion auf Lebenskrisen der Kinder ist die Suche nach eigenen Versäumnissen, nach Fehlern in der Erziehung, dem eigenen Versagen. Man mache als Vater oder Mutter täglich 10 Fehler meint eine Studie. Leiden wir unter einer fehlgeleiteten Fehlerkultur?
Das kann man sicher so sehen. Ich bin selber auch so erzogen worden und aufgewachsen. Fehler gab es zuhauf, Lob und Anerkennung selten. Es braucht eine Balance von Beidem. Grundsätzlich ist eine wertschätzende Haltung, die Fehler akzeptiert, analysiert, aber nicht hervorhebt, eine wahre Förderung von Lebendigkeit und einem gesunden Vertrauen in sich und das Leben. Deshalb ist die Begleitung von Kindern so wichtig. Aber auch eine verzeihende Haltung sich selbst gegenüber, wenn man erwachsen ist und vielleicht selber auch erwachsene Kinder hat, die ihren eigenen Weg finden müssen.

„Ich bin sprachlos. Ich kann es nicht fassen“, sagt Paula, als eine Nachbarin von ihrem Schicksal erzählt. Ist das der Unterschied zur Literatur, die nie sprachlos wird? Literatur ist Aufbruch.
Wird Literatur nie sprachlos? Du meinst, nur weil der Literatur die Sprache als Material zur Verfügung steht, kann sie gar nicht sprachlos werden? Ein interessanter Gedanke. Dass Literatur Aufbruch bedeuten kann, dem stimme ich gerne und ohne Widerrede zu. 

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen. 2019 veröffentlichte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur».

Lyrik von Ruth Loosli auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin 

Beitragsbild © Vanessa Püntener

David Weber «Schwarzlicht», Knapp

Der Schweizer Autor David Weber legt seinen dritten Roman «Im Schwarzlicht» vor, in dem es um Abgründe in der Kunst und der Liebe geht. Der Philosoph Spinoza spielt darin eine wichtige Rolle. Der Autor erklärt die Hintergründe dazu.

«Malen ist befreiender.»
von Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Im ersten Roman «Kral» dreht sich eine Liebesgeschichte um die Raumplanung Schweiz, im «Reduit» zerbröselt ein Beziehungsgeflecht an einem Geschäftsmodell mit Überlebensbunkern und im Roman «Im Schwarzlicht» betreten Sie die Welt der Raubkunst umrankt mit einer zerstörerischen Liebe. Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was ist denn als erstes da, die Kulisse einer Liebe oder der gesellschaftliche Aspekt?

David Weber: Im Falle dieses Romans war beides gleichzeitig da. Andys zerstörerische Liebe und der zerstörerische Sog eines Kunstwerks, dem Ludmilla verfällt.

Das klingt nach einem persönlichen Moment als initialem Auslöser…

Richtig. Es begann mit einem Zufall, ähnlich wie ihn Andy Heim, der Hauptprotagonist, erlebt. In einem menschenleeren Atelier traf ich auf ein Bild, das mich faszinierte. Davor lag ein Ausstellungskatalog mit dem Porträt einer Frau. Ich nahm an, dass es die Künstlerin sein müsse. Diese zwei Dinge haben eine Gedankenspirale ausgelöst. Am nächsten Tag wusste ich, dass ich über eine verrückte Liebe und ein magisches Gemälde schreiben würde.

«Im Schwarzlicht» beginnt mit einem Prolog à la James Bond mit einer Auktion die mit Kopfschütteln über den gebotenen Betrag endet. Wann beginnen Sie mit der Dramaturgie, wenn die Geschichte schon steht, oder…?

Der Roman hat Züge eines Thrillers. Da muss der Plot stimmen, der kann nicht erst während des Schreibens entstehen. Aber ich lasse mich immer wieder überraschen. Anfang und Schluss des Buches waren so nicht geplant. Die Story würde auch ohne funktionieren, aber das Ende wäre zu abschließend gewesen. Jetzt verweist der Prolog auf den Schluss, so entsteht eine Art Bilderrahmen, zwischen dem sich die Geschichte entfaltet.

Die Figur Andy Heim verliert sich, das eigene familiäre Leben zerstörend, in das Charisma der Künstlerin Ludmila Borodin. Wird zum Geliebten, deren Muse ja Sklave. Ein gendergerechter Umkehrschub als Hommage der weiblichen Musen in der Kunstgeschichte?

David Weber «Im Schwarzlicht», Knapp Verlag, 2021, 390 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-76-0

So habe ich das nicht gesehen, aber man kann selbstverständlich aus der Besonderheit, dass Andy zum männlichen Aktmodell wurde, diesen Schluss ziehen. Tatsächlich sind es vor allem weibliche Musen, die Geschichte geschrieben haben. Vermutlich, weil die Kunstgeschichte bis Ende des 20. Jahrhunderts von Männern dominiert wurde. Mir ging es darum, Ludmilla als starke, skrupellose Persönlichkeit zu zeigen, die sich nimmt, auf was sie Lust hat. Insofern sind die üblichen Geschlechterrollen vertauscht.

Was ganz anderes, Sie rhythmisieren Ihren Erzählstil, in dem Sie bei Dialogen auf Anführungs- und Schlusszeichen verzichten und auch den Umbruch des Layouts entsprechend so gestalten, dass pro Zeile manchmal nur ein Wort steht. Wie kam es dazu?

Es hat mit Abstraktion und Rhythmus zu tun. Der Fluss wird besser und der Text beginnt zu atmen. Der Satzbau ist natürlich auch ein Mittel, um Spannung zu erzeugen.

Interessant sind die gewählten Namen Ihrer Figuren. Die Künstlerin, die mit ihrer Verführungskunst und krimineller Energie zur Falle der Hauptfigur wird, heißt Ludmilla Borodin. Die russische Geschichte ist voll mit diesem Namen, von Komponisten, Banker über Fußballer oder Revolutionären.

Ich habe den Namen beim russischen Komponisten Alexander Borodin geliehen. Der Name musste klingen und zweifelsfrei russisch tönen. Dafür gibt es eine Bewandtnis, die erst gegen Ende der Geschichte aufgelöst wird.

Auch in diesem Roman spielen Sie das Spiel zwischen kleinbürgerlicher Provinz und große weite Welt, wie Toggenburg und Russland, was einen leichten ironischen Unterton erklingen lässt. Absicht?

Es sind die Gegensätze, die Spannung erzeugen. Wie das Glarner Hinterland und Nizza, beides Stationen von Andys Odyssee. Andy und Ludmilla sind gegensätzliche Persönlichkeiten, auch die Welten, in denen sich die beiden Hauprotagonisten bewegen, könnten nicht unterschiedlicher sein.

Durch diese ganze Geschichte führt der berühmte rote Faden durch den Philosophen Spinoza (1632 – 1677), was ein Grund mit für die Lektüre Ihres Romans spricht. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu diesem Denker beschreiben?

Ich habe mich erst mit Spinoza befasst, als ich für die Figur Andy Heim ein Thema für seine Masterarbeit suchte. Es musste ein Philosoph sein, der ihn überforderte. Mit Spinoza wollte er sich etwas beweisen, aber die «Ethik» verweigerte sich ihm. Erst als er sich dem zweiten bis fünften Teil dieses epochalen Werks zuwandte, erschlossen sich ihm die Lehrsätze. Die Lehre über die Affekte wurde völlig unerwartet zu einem Spiegel seiner Gefühle.

Mit anderen Worten, Sie haben sich mit dem Philosophen zu beschäftigen begonnen, als Sie wussten, dass Ihre Romanfigur über ein Werk Spinozas eine Masterarbeit schreiben wollte?

Kann man so sagen. Für den Roman musste ich mich mit diesem sperrigen Denker auseinandersetzen. Ich habe Philosophiestudenten und einen Philosophen interviewt und wurde tatsächlich gefragt, ob ich eine Masterarbeit über Spinoza schreiben würde.

Ohne zu viel zu verraten, darf erwähnt werden, dass in Ihrem Roman die malende Kunst nicht nur den Kunsthandel antreibt, sondern einen therapeutischen Effekt ausübt. Wie sehen Sie das mit dem Schreiben?

Ich denke, Schreiben eignet sich nicht in dem Mass wie Malen als therapeutisches Medium. Natürlich gibt es Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihr Ego mit Schreiben therapieren, aber dann ist die Peinlichkeit nicht weit. Beim bildnerischen Gestalten kann man sich mehr von der eigenen Person lösen. Insofern wirkt Malen befreiender.

Inspirationen generieren neue Objekte. Wie ist es in der Literatur? Bei der Lektüre erinnert man sich an den Roman «Athena» von John Banville, in dem sich ein Gutachter ebenfalls in eine Frau verliebt und sich deshalb im Kunstraub verheddert. Wie wichtig ist für Sie literarische Inspiration?

Natürlich gibt es die literarische Inspiration, ich lese viel, aber John Banville kenne ich nicht. Ich werde «Athena» nachholen. Ansporn, einen Thriller zu schreiben, war «Ruhelos» von William Boyd. Im Hinterkopf war das Werk vorhanden, als ich erste Skizzen zu «Im Schwarzlicht» entwarf. Thematisch ist es völlig anders gelagert, aber die Hauptrolle spielt ebenfalls eine starke Frau. 

«Nichts ist da, aus dessen Natur nicht eine Wirkung erfolgte» laut Spinoza. Welche Wirkung würden Sie sich für Ihre Leserinnen und Leser wünschen?

In erster Linie sollen sie sich gut unterhalten, sie sollen überrascht werden, das Buch verschlingen. Erste Feedbacks zeigen, dass Leserinnen und Leser Anteil an Andy Schicksal nehmen, das ist natürlich erfreulich.

Die Lektüre kann Boden locker machen…

Es gibt auch einige Geschichten in der Geschichte, die neugierig machen und Lust auf mehr wecken. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Gemälde, eine Ikone der Kunstgeschichte. Die Legenden, die sich um dieses Mysterium ranken, kann der Leser gerne weiterverfolgen.

David Weber wurde 1952 in Zug geboren, studierte Architektur und befasst sich seit seiner Jugend mit Musik und Literatur. Er lebt und schreibt in Zug und Caccior (Bergell, Graubünden). Im Schwarzlicht ist sein dritter Roman. Bereits erschienen sind Kral (2018) und Reduit (2019).

Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin

Vaterbücher haben Konjunktur. Christian Futscher hat eines geschrieben, das herausleuchtet, das einem beglückt, ohne verklären zu wollen. Weit mehr als eine Sammlung vergnüglicher Anekdoten, sondern eine Liebeserklärung an den Eigenwillen eines Sonderlings!

Als mein eigener Vater starb und mir klar wurde, dass es bei einer Beerdigung nicht reichen konnte, ein paar Daten und Ereignisse chronologisch aufzuzählen, wurde auch klar, wie viel mit dem Tod mitgerissen wird, wie viel Leben, wie viel Geschichte und Geschichten, wie viel Begegnung. Geschichten, die ins Vergessen abtauchen. Geschichten, die man nur lebendig halten kann, wenn sie immer wieder erzählt werden oder jemand die Kraft hat, sie aufzuschreiben.

Christian Futscher hatte die Kraft. Aber seine Sammlung von Vatergeschichten ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch eines Zurückgelassenen. Jener Vater, den Christian Futscher in seinem Buch beschreibt, ist ein Sonderling. Einer der in den warmen Monaten kellnerte und es in den kälteren der Frau überliess, morgens zur Arbeit zu gehen. Ein Mann, der das Leben von einer anderen Seite abzurollen versuchte, das Faultier zu seinem Lieblingstier machte und seinem Jungen sagen konnte, es täte ihm leid, kein ernsthafter Vater zu sein, kein Fels in der Brandung, dass er keine Geschwister habe, die Wohnung nicht hell sei, man kein Auto besitze. Ein Mann, der sich selbst in düsteren Augenblicken einen Dummkopf, Jammerlappen, Kasperl nennt. Sein Vater war ein Sonderling, einer der mit Papierröllchen und Gummi andere in der Stadt abschiessen konnte, der auf Bäume kletterte und zu zwitschern begann, der es morgens nicht aus dem Bett schaffte und nachdem ihn seine Frau gebeten hatte, doch wenigsten die welken Blumen in der Vase bis am Abend zu entsorgen, bloss die Blüten kappte und meinte, die Stängel sind noch schön gewesen. Einer, der Fremdwörter ganz sinnfrei benutzen konnte, absichtlich falsch, der seine Frau anfangs noch zur Weissglut, später in die Resignation stiess.

Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin, 2021, 112 Seiten CHF 30.90, ISBN 978-3-7076-0728-4

„Mein Vater, der Vogel“ ist weit mehr als ein Erinnerungsbuch, ein paar lustige Geschichten, die an einen Sonderling erinnern sollen. Es ist ein Buch über einen „komischen Vogel“, der nicht nur von seiner Umgebung als solcher wahrgenommen wird, für den sich manchmal sogar der eigene Sohn schämt. Ein Buch über einen Vater, einen Sohn und eine Mutter, eine Familie, die mit dem Auszug des Sohnes auseinanderbricht. Über einen Mann, der sich nicht um Konventionen kümmert, in einer Zeit, in der meine eigenen Eltern stets um das äussere Erscheinungsbild als Familie bedacht waren. Über einen Mann, der nicht wird, was wir erwachsen nennen, der das Kind in sich leben lässt, dessen Flügel aber dann doch irgendwann fluguntauglich werden.

Ich habe lange nicht mehr so herzhaft gelacht bei der Lektüre eines Buches. Und doch mischte sich ins Lachen eine leise Trauer darüber, dass der Vater in diesem Buch letztlich am Schluss vom Himmel fiel, dass sich der Mensch selbst seiner Freiheiten beraubt und man Lebenslust manchmal mit dem Leben bezahlt. Der Vater in „Mein Vater, der Vogel“ war ein Lebenskünstler. Etwas, was der Autor selbst in seinem eigenwilligen Schreiben ausleben kann.

Wenn es eine Lektüre gibt, mit der man sich bezaubern lassen kann, dann „Mein Vater, der Vogel“!

Interview

Als Sohn ist einem ein Vater durchaus manchmal peinlich. Und weil sich ihr Vater doch des öfteren als schräger Vögel präsentierte, waren die Peinlichkeiten auch öfter. Aus den Geschichten spricht Wehmut. Vielleicht auch ein bisschen Schmerz, ihn nicht besser verstanden zu haben?

Mein Vater ist 1982 von einem Tag auf den anderen an einem Herzinfarkt gestorben, er war erst 52 Jahre alt. Ich war damals 22. Mein Vater war ganz und gar kein schräger Vogel, sondern ein mit beiden Beinen auf dem Boden stehender Mann, der einen Beruf hatte, der mir ein Rätsel war. In der Schule sollten wir den Beruf unseres Vaters nennen, ich musste zuhause nachfragen, um dann sagen zu können: Handelskammerangestellter. Mein Vater war auch jahrelang Vizebürgermeister der Stadt Feldkirch, ein Mann der ÖVP, der aber im Gegensatz zu vielen anderen in der Partei den Wiener Parteiobmann Erhard Busek, der oft als „bunter Vogel“ bezeichnet wurde, sehr schätzte. 

Ich habe meinem Vater viel vorgeworfen, besonders schlimm nach seinem plötzlichen Tod war für mich, dass da auch ein Gefühl der Erleichterung war. Ich habe meinen Vater in vielem nicht verstanden, und es war für mich unmöglich, ruhig mit ihm zu reden. Ein paar Wochen nach seinem Tod war ich mit einem Freund eine Woche in Paris. An einem Abend, ich weiss nicht, wie wir darauf kamen, machten wir ein Rollenspiel: Mein Freund spielte meinen Vater, ich den zornigen jungen Mann, der ich auch war. Mein Freund schlüpfte so gut in seine Rolle, dass ich auf diesem Umweg ein längst überfälliges Gespräch mit meinem Vater führte, in dem ich ihm alles sagen konnte. Das Gespräch, das zwischendurch auch sehr emotional war, dauerte mehrere Stunden lang. Kurze Zeit später war ich dann zum ersten Mal fähig, um meinen Vater zu weinen. Bis dahin hatte ich noch keine einzige Träne vergossen, war ich innerlich kalt und erstarrt gewesen.

Peinlichkeiten. Mein Vater war eine imponierende respektable Persönlichkeit. Es beeindruckte mich schwer, als ich ihn einmal bei einer Rathaussitzung durch die geschlossenen Türen des Rathaussaales lautstark schimpfen hörte. Ein anderes Mal war er an unserer Schule als Politiker eingeladen, hielt vor der ganzen Schule eine Rede und beantwortete anschliessend Fragen. Ich war stolz auf meinen Vater. Ein peinliches Erlebnis, an das ich mich erinnere (ich habe in einem Buch darüber geschrieben): Freunde und ich sahen ihn aus einiger Entfernung, wie er auf der Terrasse unseres Hauses stand und mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, als habe er den Verstand verloren. Meine Freunde lachten, ich schämte mich, obwohl ich natürlich wusste, was er tat: Er dirigierte zu der Musik, die im Wohnzimmer lief, die wir aber auf die Entfernung nicht hören konnten. Hätte ich den Satz von Gerhard Fritsch damals schon gekannt, hätte ich meinen Freunden sagen können: „Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für Wahnsinnige.“ 

Noch etwas, das mir zu Peinlichkeiten, bzw. zu Fehlern einfällt: Ich las bei einer Psychologin, dass gute Eltern 40 Fehler pro Tag machen. Als ich, inzwischen selber Vater, das zu meinem damals ca. 10-jährigen Sohn sagte, meinte er: „40 okay, aber du machst 400!“  

«Mein Vater, der Vogel» auf dem 54. Literaturblatt

Steigen Sie auch auf Bäume? Haben Sie Flügel?

Ich steige zwar nicht auf Bäume (lange her, dass ich das tat), schreibe aber immer wieder davon. Ob das etwas mit dem Affentheater zu tun hat, das ich zeitweise im Kopf habe, es also mehr mit Affen zu tun hat, als mit Vögeln? Das könnte sein. Dagegen spricht, dass Affen kaum in meiner Literatur vorkommen, Vögel jedoch sehr häufig, und zwar von Anfang an. Mein erstes Buch heisst „was mir die adler erzählt“ (visuelle Poesie, getippt auf meiner guten alten mechanischen Schreibmaschine, einer ADLER), weitere Bücher heissen: „Schau, der kleine Vogel!“ und „Dr. Vogel oder Ach was!“, und dann gibt es noch ein Kinderbuch mit dem Titel: „Ich habe keinen Fogel“.  

Während meiner Jugend hatte ich immer wieder Träume, in denen ich versuchte zu fliegen, was aber nie klappte. Irgendwann so Mitte 20 gelang es plötzlich, ich konnte mich aus jeder Gefahr in die Lüfte retten, flog auch zum Spass … Es war immer ein erhebendes Gefühl, wenn mir im Traum einfiel, dass es jederzeit möglich war, zu fliegen. Sehr intensive, beglückende, befreiende Flugerlebnisse!

Jede Generation arbeitet sich an ihren Vätern ab, vorgestern, gestern wie heute. Väterbücher haben Dauerhochkonjunktur. Warum? Und warum schaffen Sie es, daraus keinen Kampf, sondern zumindest für mich Leser, ein Vergnügen zu machen?

Ich denke, das ist einfach zu beantworten: Fast alle Menschen haben Väter, die ihnen nahe sind, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen, mit denen sie Schönes und anderes erleben, die sie prägen, von denen sie etwas mitbekommen, denen sie ähnlich sind. Um Urs Widmer in dem Zusammenhang zu zitieren: „Die Geschichten aller sind immer die besten Geschichten.“ 

Ich habe längere Zeit Material für mein Vater-Buch gesammelt, hatte irgendwann eine Fülle von Geschichten, Episoden, Szenen, wusste aber lange nicht, was ich damit machen sollte, wie ich das Ganze stimmig unter einen Hut bringen könnte. Dann zog mein Sohn aus, ein guter Freund, der ein grosses Alkoholproblem hatte, starb überraschend, mir fiel ein tragikomisches Buch von Jean-Louis Fournier in die Hände: «Er hat nie jemanden umgebracht: mein Papa». Fournier schreibt darin  über seinen Vater, der Alkoholiker war und mit 43 gestorben ist, als der Autor 15 war. Urwitzige, aber natürlich auch urtraurige Geschichten. Ein zweites autobiografisches Buch von Fournier heisst «Wo fahren wir hin, Papa?» Darin schreibt er über seine zwei geistig und körperlich schwer behinderten Söhne, die er beide überlebt hat. Der erste Sohn starb mit 15 … Fournier ist laut Klappentext «Schriftsteller und Humorist».

Dann hatte ich irgendwann die Idee, neben den zum Grossteil lustigen Geschichten und Streichen des Vaters die Geschichte einer Ehe und einer Krankheit anzudeuten, eine hintergründige Ebene einzubauen, einen Bogen zu spannen, so dem Ganzen mehr Tiefgang zu verleihen. So in etwa. 

Ihr Buch ist mehr als ein Vaterbuch. Es ist auch das Buch einer Familie, eine Ehe, die nach dem Auszug des Sohnes endgültig zerbricht. Auch das Buch einer Frau, die ihren Mann nicht „halten“ kann. Ein Buch über einen Menschen, der nicht den Konventionen entspricht. Sind Sie Schriftsteller geworden, weil man als Künstler am leichtesten tun kann, was ihr Vater eigentlich auch tat?

Mein Vater war sehr kunstinteressiert, wäre am liebsten Musiker geworden, z.B. Dirigent (vom leidenschaftlichen Herumfuchteln auf der Terrasse habe ich schon erzählt), aber er musste damals ein kurzes Studium wählen, ausserdem eines, das ein rasches und sicheres Einkommen garantierte, also Jus (sein Vater war mit 46 gestorben, da war mein Vater 16, sein Bruder ist mit 12 gestorben, da war er 11) … Als Schriftsteller kann man alles werden, was man will, und wenn es nur auf dem Papier ist. Jetzt könnte ich noch zwei schöne Zitate bringen, lasse es aber bleiben. Nur so viel: Das eine ist von Franz Hohler, darin geht es darum, die Tür zum Kinderzimmer offen zu lassen, das andere ist von Kurt Vonnegut, in dem es darum geht, dass wir auf Erden sind, „to fart around“.   

Gibt es Fragen, die Sie Ihrem Vater versäumt haben zu stellen? Welche?

Was hast du als Handelskammerangestellter den ganzen Tag gearbeitet? Wie war dein Vater, über den ich leider so gut wie gar nichts weiss? Ist dein Vater wirklich manchmal im Hauseingang gelegen und hat seinen Rausch ausgeschlafen, weil ihn deine Mutter nicht in die Wohnung liess? Wie war das für dich, als dein Vater starb? Wie war es, als dein Bruder starb? Der soll sehr begabt gewesen sein, stimmt das? Wie war das für dich neben dem „Wunderknaben“? Darf ich die gezählten 92 Briefe lesen, die du als junger Mann deiner späteren Frau/meiner Mutter geschrieben hast? Wo sind die Briefe hingekommen? – Die letzte Frage muss ich meiner Mutter stellen.  

Welches Buch hat Sie in den letzten Monaten nicht losgelassen? Und warum?

Neben dem Ulysses von James Joyce, den ich zum ersten Mal bis zum Ende gelesen habe, weil ich für die sogenannte Joyce-Passage in Feldkirch eine „Joyce-Installation“ entwickelt habe (ein Comic, in dem übrigens auch ein Vogel zu sehen ist, der ähnlich aussieht wie der auf dem Cover meines Vater-Buches!), die noch bis April zu sehen sein wird, war es ein Buch, das mir ein Freund empfohlen hat: Die Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel. Nach der Lektüre habe ich dem Freund in einer E-Mail Folgendes geschrieben: „honetter rainer, ‚die insel felsenburg’ von schnabel […] was für eine lustige sprache, ich meine ergötzliche! voritzo admiriere ich diese eigenmündliche sprache sehr, die mich ungemein divertiert, die vermögend ist, das einwurzelnde melancholische wesen aus meinem gehirne zu vertreiben. derowegen nahm ich allhier und allda doch immer zuflucht zu den büchern! zum glück ist mir bis jetzt die erschreckliche zerscheiterung eines schiffes erspart geblieben, nunmehro möge mein schicksal auch weiterhin kontinuieren mich höflich zu traktieren … 
2500 druckseiten waren es bei schnabel, sein huber [Florian Huber, mein Lektor bei Czernin, der meinen ‚Vogel’ ordentlich gestutzt hat] hiess tieck, allerdings kürzte tieck das werk erst ca. 100 jahre nach schnabels tod zusammen, meine huber tat es schon zu meinen lebzeiten … was mich jetzt auch noch interessieren würde, sind schnabels bücher ‚Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Cavalier’ und ‚Der aus dem Mond gefallene und nachhero zur Sonne des Glücks gestiegene Printz’. hast du die zwei gelesen? soll ich auch? schnabel hat ja barbier gelernt, arbeitete auch als solcher. bitte zeitreise, ich will den herrn kennenlernen!“   

… und übrigens: Der Drochl Verlag, der Bücher von Christian Futscher herausgibt, pflegt eine ganz besondere Reihe: Handgebundene Schmuckstücke in einem Schuber in Kleinstauflage für «Feinschmecker». So wie «Nidri. Urlaub total» von Christian Futscher (Hier der Link)!

Christian Futscher, geboren 1960 in Feldkirch, Studium der Germanistik, lebt seit 1986 in Wien, wo er u. a. Pächter eines Stadtheurigen war. 1998 erfolglose Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, dafür 2006 Publikumspreis bei der «Nacht der schlechten Texte» in Villach. 2008 Gewinner des Dresdner Lyrikpreises. 2014 österr.-ungarisches Austauschstipendium. Seit 2010 Verfasser von Schulhausromanen mit Schulklassen. 2015 Aufenthaltsstipendium in Schloss Wartholz und 2016 in Winterthur.

Beitragsbild © Magdalena Tuertscher