Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag

Livs Leben gerät vollkommen aus dem Tritt. Das alte Leben versucht sie abzustossen, die Gegenwart zerbröselt und in der Zukunft droht das Chaos. Lea Caterina verblüfft in ihrem Debüt durch die Brutalität des Lebens und die feine Spur gekonnten Erzählens. Ein Roman, der bei der Lektüre zuweilen schmerzt, aber ebenso bezaubern kann.

Mit ihrer Vergangenheit verbindet sie nur noch wenig. Jene Olivia, die sie einmal war, ist nicht einmal mehr ein Bild, das sie zulassen möchte. Einzig die Mutter, die sie mehr oder weniger regelmässig in einer Klinik besucht, ist der letzte Rest Vergangenheit, den sie zulässt. Die Versprechen, die sie sich einst gaben: „Niemand wird dich je mehr lieben als ich. Versprich mir, dass du immer daran denken wirst.“ „Ich verspreche es.“ 

Liv hatte Familie. Eine Mutter, einen Vater, einen Bruder. Geblieben ist nur die Mutter. Als ihr Bruder starb, war Olivia vier. Monate später schlägt der Vater den Kofferraum zu und verschwindet aus den Leben seiner Frau und seiner Tochter. Was danach kommt, ist ein verschwörerischer Rest, der sich mit keiner Zelle an das Damals erinnern will. Und trotzdem schaffen es weder die Mutter noch die Tochter, dem Trauma der Vergangenheit zu entfliehen. Selbst Livs Beziehung zu Alex, die alles hätte, um zu dauern, selbst der Blumenladen ihrer Mutter, selbst Livs Wohnung, ihre Arbeit in einer Bar. Alles wackelt, nichts ist auf Fels gebaut. Und als sich Liv an einem Abend zu einem schnellen Abenteuer hinreissen lässt und Alex am Tag darauf den Laufpass gibt, weil sie spürt, dass in ihrem Leben nichts so ist, wie es sein sollte, bricht Liv auf. So wie ihr Leben aufbricht.

„Ich habe Angst, mich zu verlieren.“

Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-907238-08-0

Sie verlässt Alex, sie verlässt ihre Arbeit, sie verlässt die Stadt, in der sie zu leben versuchte, sie verlässt ihre Wohnung, die bloss ein Versuch war. Sie findet Asyl bei ihrer Tante Edie. Ein Zimmer in einem Haus, das einmal einen Hauch Zuhause bedeutete. Und einen Job in der Restaurantküche ihrer Tante. Aber die Gegenwart ihrer Tante ist nicht mehr jene, in der Liv einst ein Stück Daheim spürte. Im Haus wohnt auch Milo, Edies viel jüngerer Freund und Mitarbeiter in der Küche. Liv tut, was man ihr sagt, auch wenn alles am neuen Leben provisorisch ist. Liv weiss es, spürt es. Sie wird von allen Seiten damit konfrontiert, endlich diesen einen, ersten Schritt zu tun. Den Schritt, verstehen zu wollen, was sie wie einen übergrossen, eisernen Haken mit sich herumschleppt. Sich der Angst zu stellen, die Büchse der Pandora zu öffnen, zuzulassen, was an Zorn und Verzweiflung aus der verschlossenen Vergangenheit wirkt und sie nicht freilässt.

Es ist Steph, ein Barman aus ihrer Stadt, in der sie damals wohnte, der die Fragen stellt, die es braucht. Es ist George, ein alter Mann aus Edies Nachbarschaft, den sie schon kannte, als sie als Mädchen bei Edie wohnte, der ihr sein Auto verspricht, wenn sie mit ihm das eine und andere noch erledigt. Und eine ihr unbekannte Frau auf der Geburtstagsparty ihrer Tante, die ihr Sätze an den Kopf wirft, die wie ein Gegengift ihren Körper in Wallung bringen.

„Die blauen Scherben lagen auf dem Boden, als hätte jemand den Himmel zerschmettert.“

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ein starkes Debüt einer vielversprechenden Autorin. Ein Roman, der Zorn und Wut bis zur Selbstzerstörung offenbart. Ein Roman über die Macht dessen, was sich in tiefen Schichten verbirgt, was sich nicht zudecken, nicht löschen lässt. Ein Roman mit bestechenden Sätzen, Sätzen, die bleiben, die sich eingraben.

Interview

Vieles in der Geschichte dieser Familie bleibt skizzenhaft. Eben deshalb, weil vieles verschüttet, zugedeckt, verdrängt wurde. Sie legen den Fokus ihres Erzählens ganz auf Liv, die ihr Leben nur schwer in den Griff bekommt. Ist Verdrängung nicht notwendige Überlebensstrategie?
Bestimmt. Gerade wenn Themen eng verbunden sind mit uns nahestehenden Menschen ist das Verdrängen vielleicht ein notwendiges Übel, um einem Konflikt zu entgehen. Aber etwas zu verdrängen bedeutet ja auch immer, einen Teil von sich selbst zu leugnen. Auch Liv tut sich damit schwer. Im Roman spitzt sich die Lage entsprechend schnell zu.

Der Moment der Dämmerung kann ganz kurz sein. Man kann ihn verpassen. Liv verpasst in ihrem Leben so einiges. Und mit Sicherheit immer wieder den Moment, wo die Selbstzerfleischung, die Selbstzerstörung jene Gesten wegwischen, die ihr eigentlich helfen wollen. Selbstzerstörung ist nicht nur individueller Akt, sondern ein menschliches, ein gesellschaftliches, sogar ein politisches Phänomen. Sie lassen offen, ob sich Liv zu retten weiss. Sind wir zu retten?
Ja, Olivia verpasst vieles, denn ihr Leben ist wahnsinnig voll. Sie hat kaum Ruhe oder Zeit nachzudenken. Sie fürchtet die Stille und sucht den Lärm. Vielleicht lässt sich das tatsächlich ein wenig auf die Gesellschaft übertragen. Ich selbst ertappe mich jedenfalls oft dabei, wie ich dem Lärm verfalle, um die grösseren Fragen zu übertönen.
Selbstzerstörung genau wie Selbstverwirklichung sind definitiv Themen dieses Romans. Für mich geht es in dem Buch daher auch um das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Leben, um das Heraustreten aus dieser destruktiven Opferhaltung, in der auch Olivia zu Beginn festzustecken scheint.

Liv stürzt sich in einem Moment ins Chaos, der auch ihre Rettung hätte sein können. Sie ist mit Alex zusammen, der alles tut, um Ordnung in ihr Leben zu bringen. Sie hat Wohnung und Arbeit. Und sie hat Freunde. Und doch zieht sie die kalkulierte Katastrophe in ihren Bann. Warum ist Leben, das eigene Leben so schwer zu kontrollieren?
Ich weiss es nicht. Geht das überhaupt? Das Leben kontrollieren? Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist dieses vermeintlich «kontrollierte» Leben vielleicht sogar das, was einen auf Dauer den Verstand raubt. Zumindest ist das bei Olivia der Fall. Sie macht alles richtig mit Freund, Job, bemüht sich um das Verhältnis zu ihrer Mutter. Nur fühlt es sich nicht richtig an. Da wären wir wieder bei der Selbstzerstörung, die ihr zunächst unbewusst als einziger Ausweg erscheint. Kontrolle suggeriert ja auch, dass eine starke Kraft im Spiel ist, die eingedämmt werden muss. Oder eingesperrt. Die Frage müsste vielleicht eher lauten: Wieso fällt es uns so schwer, die Kontrolle aufzugeben?

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ihr erster Roman. Sind sie eine Schriftstellerin, die alleine an ihrem Manuskript brütet oder ist ihr Roman das Endergebnis ganz vieler Konfrontationen mit Menschen und Meinungen?
Ich brauche beides. Anfangs arbeite ich allein und zeige meine Projekte niemandem, bis sie genügend Substanz haben, um nicht bei der kleinsten Kritik auseinanderzufallen. Bei «Die Schnelligkeit der Dämmerung» habe ich danach mit einer Schreibgruppe zusammengearbeitet, wo wir uns intensiv über unsere Manuskripte ausgetauscht haben. Das war sehr wertvoll.

Irgend eine Szene, eine Idee muss der Anfang des Romans gewesen sein, der kleine Samen, auf dem der Baum gewachsen ist. Wo lag der Beginn?
Bei Olivia. Ich hatte ein klares Bild von ihr vor Augen und wollte wissen, was sie für ein Leben führt. Wie sie so geworden ist.

Jedem Kapitel geht ein Zitat voraus. Viel mehr als ein Titel oder eine Überschrift, sondern sprachliche Spotlichter. Wie kam es zu der Idee?
Freut mich, dass Ihnen das aufgefallen ist.
Es ist die Stimme der Mutter, die Olivia immer wieder hört. Für mich sind diese Zitate wie akustische Klänge, die einen in den Moment zurückholen. Das ist auch das, was die Mutter mit Olivia immer wieder macht. Sie zurückholen und festhalten.
Aber wie es zu dieser Idee kam, weiss ich nicht mehr.

Lea Catrina ist Autorin und Texterin. Sie hat Multimedia Production in Chur sowie Literarisches Schreiben in Zürich studiert. Zudem ist sie seit 2019 Mitglied des Literaturkollektivs «Jetzt». Catrina ist in Flims aufgewachsen, lebt heute in Zürich und verbringt einen Teil des Jahres in der San Francisco Bay Area.

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Beitragsbild © Oceana Galmarini