Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode

Gehören sie zu den Menschen, die noch mit freudiger Erwartung auf den Briefträger oder die Postbotin warten? Oder schon zu jenen, die sich nur mit einer Mischung aus Befürchtung und Angst einmal in der Woche trauen, das unliebsame Fach zu öffnen? Thomas Pfenniger hat einen wirklich komischen Roman über die verborgenen Kräfte jener Botinnen und Zusteller geschrieben, denen wir sonst kaum mehr Respekt zollen.

Ich wohne seit zwei Jahren in einem Mehrfamilienhaus mit 16 Wohnungen. Müsste ich die Namen aufzählen, würde ich nicht einmal eine Handvoll zusammenbringen. Und wenn ich am Morgen noch in winterlicher Dunkelheit zur Arbeit gehe, aus „meinem“ Haus, vorbei an all den erleuchteten Fenstern, links und rechts vorbei an all den andern Mehrfamilienhäusern, schaudert mich das Wissen, dass dort überall Geschichten und Dramen spielen, mir doch eigentlich so nah, aber ich weiss nicht einmal die Namen. Gesichter bleiben wie stumme Etiketten. Mindestens einmal am Tag taucht der Postbote auf, meist ein junger Mann, manchmal eine ältere Frau. Beide freundlich und mit ihrem Elektroroller ungemein fix unterwegs. Wer glaubt, dass sie nur die Post austeilen, oder wenn noch der gelbe Lieferwagen auftaucht, die Pakete, der irrt gewaltig. Wenn jemand über Jahre die Post zustellt; Pakete, Briefe, Rechnungen, Eingeschriebenes – dann muss sie/er mit etwas Kombination sehr genau wissen, mit wem man es hinter diese Klingel, hinter diesen Türen zu tun hat. Dann tun sich Welten auf. Sie kennen die Namen und noch viel mehr. Vielleicht nicht die Gesichter. Aber die Etiketten sind voll geschrieben, bis ins Kleingedruckte. PostbotInnen sind Geheimnisträger! Ich respektiere sie für ihre Verschwiegenheit und die Tapferkeit angesichts der geringen Anerkennung und der Tatsache, dass aus dem Pöstler aus der Vergangenheit mit selbstbewusster Uniform und dem Nimbus eines Glückbringers ein von der Zeit gepeitschter Vollstrecker geworden ist. Wer bekommt denn noch Briefe! 

Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode, 2022, 279 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-905574-00-5

Thomas Pfenninger erzählt von einem Briefträger in einem Aussenquartier von Zürich, der mehr sein will, als ein Auslieferer von Papier. Der Briefträger liebt seine Arbeit. Er liebt auch die Menschen, denen er die Post verteilt. Auch wenn er manchmal mit Ungeduld erwartet wird, wenn er der Überbringer von Schmerz sein muss, wenn er schon vor dem Einwerfen weiss, dass es nicht zur Freude sein wird. Er möchte ein guter Briefträger sein. Und weil dieses „gut“ nicht zu all dem zu passen scheint, was er einwerfen muss, beginnt jener Briefträger in den sonst so klar geregelten Ablauf des Verteilens einzugreifen. Erst sind es einfach ein paar Sendungen, die nicht zugestellt werden, später ein doppelter Boden in seinem Wagen, den er hinter sich herzieht, wo liegen bleibt, was nicht ankommen soll; die eingeschriebenen Vorladungen für Herrn Schweizer, die Rechnungen für das Ehepaar Manzini, die Todesanzeigen für Frau Kälin, den einen, letzten Brief der Tochter an ihre Mutter, Frau Caluori. Aber das Nicht-Zustellen, Zurückhalten ist irgendwann nicht mehr genug. Der Briefträger spürt und ahnt, dass er durch sein Tun die Geschicke jener Menschen beeinflussen kann. Ein bisschen wie Gott. Er rächt sich am strammen Herr Schweizer durch das Zurückhalten, bezahlte die eine oder andere Rechnung für Manzinis aus der eigenen Tasche, verschont Frau Kälin mit immer noch einer Todesanzeige und frisiert die Tochterbriefe an Frau Caluori so, dass der letzte Rest Hoffnung nicht sterben muss.

Und da ist noch Lauriane im Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses. Sie lebt zusammen mit ihrem nichtsnutzigen Bruder Dave, der es nicht einmal schafft, sich selbst aus dem Dreck zu ziehen. Lauraine bleibt stets oben, schaut nur das eine oder andere Mal aus dem Fenster, bekommt immer wieder einmal eine Karte. Sie wird seine Angebetete, der aber verborgen bleiben würde, dass da ein schmachtender Briefträger ist, wäre da nicht Dave, der durch seine Sucht unvermittelt Mittler wird.

Aber statt dass sich das Glück einstellt, zieht sich die Schlinge um den Hals des Briefträgers immer mehr zu. Es muss unweigerlich zur grossen Katastrophe kommen. Was auch geschieht! Es kann keine Entschuldigungen allein mehr geben.

Thomas Pfennigers Debüt „Gleich, später, morgen“ ist eine überaus köstliche Groteske, ein eigentliches Quartiertheater um die Macht des kleinen Mannes mit wenig viel zu erreichen, den Dingen jenen kleinen Schups zu geben, dass sie sich zum Besseren oder Guten wenden. Aber auch ein Mahnung davor, dass sich letztlich nichts in eine Richtung drücken lässt, das nicht der Allmacht der Logik entspricht. Irgendwann rächt sich alles. „Gleich, später, morgen“ ist verspielt und erzählt doch nichts als die Wahrheit.

Interview

Ich bin einer, der sich jeden Tag auf seine Post freut, weil ich nicht nur Rechnungen, Mahnungen oder Werbung erhalte. Für mich ich die Postbotin oder der Postbote eine gute Fee, die mich beschenkt, es sind Überbringer des Guten. Zwei Generationen zuvor brachten Postboten sogar noch die Altersrente, man lud sie zu einem Kaffee und einem Schwatz ein. Was gab den Ausschlag, einen Briefträger zum Protagonisten zu machen? Ein Stück Sehnsucht nach einer überschaubaren Weltordnung?

Diese Lesart – die Sehnsucht nach Überschaubarkeit – wurde mir schon von verschiedener Seite zugetragen. Sie spielte für die Wahl des Protagonisten aber keine Rolle. 
Entscheidend war einerseits die Funktion des Briefträgers als Übermittler von Botschaften und andererseits als Person, die vielen Menschen natürlicherweise sehr nahe kommt, aber ohne sich ihnen aufzudrängen, ohne dass da Skepsis wäre, ohne dass da Vorbehalte wären. 
Ich wollte einen Protagonisten, dem die Menschen ihre Sorgen erzählen. Einer, dem sie Dinge erzählen, die sie ihren Nachbarn, Ehemännern und Freundinnen nicht erzählen können oder wollen.
Stereotypisiert kämen für diese Rolle natürlich auch andere Berufe infrage: der (in der Popkultur überstrapazierte) Taxifahrer, die Friseurin, der Barkeeper, die Psychologin. Aber kein Beruf passte so gut wie der Briefträger, weil die dem Briefträger (oder der Briefträgerin) angehefteten Attribute wie Integrität, Zuverlässigkeit oder Pünktlichkeit so herrlich total sind. Kein Briefträger ist ein bisschen integer oder ein bisschen zuverlässig. Ich glaube, dieses Bild ist extrem tief in uns verankert. Das fand ich äusserst spannend, weil sich daraus ein grandioses Spannungspotenzial ergibt. Was, wenn der Briefträger diese totale Integrität nicht erreicht? Was, wenn er seine eigenen Regeln der Postzustellung aufstellt? Und was, wenn er es nicht aus schlechter, sondern mit durch und durch guter Absicht tut? 

Ihr Briefträger lässt sich ziemlich tief in die Leben seiner Adressaten verwickeln. Auf eine gewisse Art und Weise nimmt er sich ein Stück Allmacht, um seine Welt ein bisschen besser zu machen. Eine Sehnsucht, die sich arg zu rächen droht. Soll man sich festen Ordnungen ergeben? All die „Braven“ bleiben in der Ordnung, weil Gesellschaft nur mit Ordnung funktioniert.

Ich sehe keinen Sinn darin, sich aus Prinzip gegen eine Ordnung aufzulehnen. Und ich sehe auch keinen Sinn darin, sich aus Prinzip einer festen Ordnung zu ergeben. Man mag Gesellschaften attestieren, dass sie nur mit und wegen der Ordnung funktionieren. Vielleicht ist das aber ein Trugschluss. Vielleicht funktioniert »Gesellschaft« nicht wegen der Ordnung, sondern durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit, oder sogar mehr noch, die Überzeugung der Zusammengehörigkeit. Ich plädiere also nicht für mehr oder weniger Ordnungsergebenheit, sondern für mehr »wir« und weniger »ich«. 

Ein Briefträger, der nur ein bisschen Kombinationsgabe besitzt, muss ziemlich viel über seine Kundschaft wissen. Mein Briefträger weiss, dass ich viel lese, dass ich Unsummen für Bücher ausgeben muss (was nicht stimmt), dass ich öfters Blumen verschenke, eine erwachsene Tochter habe, die zeichnet und vieles mehr. Und doch bewegt sich mein Briefträger in absoluter Diskretion. Nicht unbedingt eine Tugend der Gegenwart, oder?

Woher weiss Ihr Briefträger, dass Sie Blumen verschenken? Und woher wissen Sie, dass sich ihr Briefträger in absoluter Diskretion bewegt und nicht am Abend zu Tisch erzählt, dass er dem Herrn Soundso heute wieder zehn Kilo Bücher gebracht hat? Wir nehmen diese Diskretion an und ich glaube, wir tun das noch immer zurecht. Ich bin überzeugt, dass 99 % aller Briefträgerinnen und Briefträger absolut diskret und gewissenhaft und integer arbeiten. Daher würde ich bezweifeln, dass Diskretion heute rarer ist als früher oder dass sie im Umkehrschluss gar eine Tugend der Vergangenheit ist. 

Der Briefträger leidet mit, interpretiert, was er sieht, liest und erlebt, manövriert sich in eine Sichtweise hinein, die ihn zum Handeln zwingt. So wie all jene, die vor ihren digitalen Fenstern und Türen sitzen und sich zum Handeln gezwungen fühlen. Der Briefträger greift in fremde Leben ein, glaubt, dass seine Interpretation Rechtfertigung ist. Ihr Roman als Metapher?

Mich faszinierte die Idee von Grenzüberschreitungen, die besten Absichten und besten Überzeugungen entspringen und dadurch eine Art Rechtfertigung erhalten. Der Briefträger will ja niemandem etwas Böses – ganz im Gegenteil! Das lässt sich durchaus auch als Metapher lesen. Nicht nur ins Digitale, aber auch. Die Überzeugung, dass die eigenen An- und Absichten gut und richtig und wahr sind und der Wunsch, dass andere die Welt ebenso sehen, ist sehr menschlich. 
Das Problem ist aber natürlich, dass auch gut gemeinte Grenzüberschreitungen immer Grenzüberschreitungen bleiben. 
Im Roman entwickelt sich dann aus solchen im Grunde harmlosen Grenzüberschreitungen eine kaum noch zu kontrollierende Eigendynamik. Das Spannende an dieser Dynamik ist, dass sie gerade dadurch aufrechterhalten wird, indem der Briefträger versucht, sie aufzuhalten. Als flicke er das Fass an einer Seite, nur dass es an zwei anderen Stellen Leck schlagen kann. 

Schreiben Sie Briefe noch von Hand? Bedanken Sie sich beim Briefträger? Dass der Roman postgelb ist, ist mit Sicherheit kein Zufall. Sollte er nicht Pflichtlektüre werden in der Berufsschule zum Postlogistiker?

Ich lebe mit einer einzigen Ausnahme praktisch papierlos: Bücher. Ich habe bis heute kein einziges E-Book gelesen. Alles andere, Notizen, Briefe (Mails!), Zeitungen, Manuskripte, lese und schreibe ich wenn immer möglich digital. Ich bekomme übrigens auch höchst selten physische Post. Gerade diese Woche aber zum Beispiel die Jahresrechnung der REGA. Hat mich gewundert, dass die im Briefkasten und nicht in der Mailbox gelandet ist.
Hin und wieder überkommt mich aber ein nostalgisches Gefühl und ich nehme mir vor, mein Smartphone wegzuwerfen und nur noch via Festnetz und Briefkasten erreichbar zu sein. Oder mir vielleicht sogar einen Brieffreund zu suchen und dann komplett entschleunigt im Zweiwochenrhythmus mit ihm zu korrespondieren. Aber natürlich habe ich jetzt erstmal noch so einiges zu erledigen und verschiebe das deshalb auf später.
Wenn ich »meiner« Briefträgerin mal begegne, dann grüsse ich sie immer ganz freundlich. Wie gesagt hat sie aber meistens nichts für mich dabei. (Was ihr aber auch nichts auszumachen scheint). Vielleicht sollte ich ihr bei Gelegenheit ein Exemplar des Buches geben? Vielleicht kann sie dann ein gutes Wörtchen für mich einlegen, dass es in den Kanon der postgelben Literatur aufgenommen wird.

Thomas Pfenninger, geboren 1984, wuchs in Zürich auf und lebt heute in Bern. Neben seiner Tätigkeit als freischaffender Autor und Texter arbeitete er neben anderem als Mediensprecher oder Kommunikationsbeauftragter für verschiedene Unternehmen in Zürich, Berlin und Bern. 2017 veröffentlichte er im Eigenverlag den Gedichtband «Fragmente». 2018 beendete er die Arbeiten am Roman «Die Löffel-Monologe», welcher noch nicht veröffentlicht wurde. Der Roman «Gleich, später, morgen» ist sein Debüt.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Thomas Pfenninger

Didi Drobna «Was bei uns bleibt», Piper

Manchmal wächst Gras über eine Sache oder ein ganzer Wald. Manchmal will man vergessen, obwohl man spürt, dass es unmöglich ist. Das Erlebte modert über Jahrzehnte weiter, Wunden verschliessen sich nie, Versöhnung, auch jene mit sich selbst, ist unmöglich. Didi Drobna erzählt, wie sich der Schrecken über Generationen fortsetzt, die Geschichte zweier Familien im langen Schatten des Grauens.

Besucht man die Webseite der Ortschaft Hirtenberg in Niederösterreich, erinnert nichts an den Umstand, dass in der Hirtensteiner Patronenfabrik Zwangsarbeiterinnen und KZ-Häftlinge unter widrigen Umständen den Krieg an den Fronten mit Munition zu versorgen hatten, dass kurz vor der deutschen Kapitulation über 300 Frauen gezwungen wurden, einen 150 km langen Gewaltsmarsch Richtung KZ Mauthausen unter die Füsse zu nehmen, ohne Perspektive, bewacht von der SS. Selbst der Wikipediaeintrag über Hirtenberg verrät bloss mit einer Notiz die ansässige Munitionsfabrik und ihre Rolle im 2. Weltkrieg. Wichtiger dort der Vermerk, dass die Auslastung des Werks „gut“ war. 

Aber was in Landschaften und Ortsbildern verschwunden ist, wirkt trotzdem weiter. Ganz bestimmt in den Geschichten all jener, die von Geschichte direkt oder auch in Generationen danach betroffen waren. Dass das grosse Schweigen über die dunklen Jahre des Nationalsozialismus ein Phänomen ist, das bis in die Gegenwart wirkt, ist nichts Neues, dass persönliches dem institutionellen Aufarbeiten meist hoffnungslos hinterherhinkt, ebenfalls. Didi Drobna erzählt eine Geschichte, ein Stück Geschichte, Tatsachen, die mit den letzten Überlebenden, die berichten könnten ins allgemeine Vergessen zu rutschen drohen.

Didi Drobna «Was bei uns bleibt», Piper, 2021, 256 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-492-07052-2

Klara, nie weit weg gekommen, selbst in der Seele verwundet durch einen Vater, den die Front schluckte, wird als Zwangsarbeiterin in der Hirtensteiner Patronenfabrik verpflichtet. Eine Patronenfrau, in einer Zeit, als nur noch die Parteibonzen an den Endsieg glaubten. Man produziert Munition für die Front, jeden Tag eine Million Patronen. In den letzten Monaten des Krieges soll die Produktion durch KZ-Häftlinge noch gesteigert werden. So arbeiten in den letzten Wochen einheimische Zwangsarbeiterinnen und ausgezehrte KZ-Frauen Schulter an Schulter. Als die Front immer näher rückt und mit ihr die Angst, werden kriegswichtige Maschinen in einen Zug verfrachtet, mit ihnen eine begrenzte Zahl der Belegschaft. Ein Zug in den Tod. Klara bleibt zurück, schlägt sich in die Wälder und folgt dem Zug jener KZ-Frauen, die von SS-Leuten bewacht zu Fuss nach Mauthausen aufmachen. Unter den KZ-Frauen ist Lujza, die Klara nicht aus den Augen verlieren will.

Klara, weit über 80, spürt, dass sich ihre Lebenskraft verabschiedet. Sie muss sehen, wie die Geschehnisse rund um jenen fürchterlichen Krieg, den sie als junge Frau miterleben musste, selbst im Leben ihres Enkels Luis weiterwirken. Sie sieht ihren Nachbarn Horst, der ganz alleine seine wilde Tochter Dora grosszieht, die an den „Geistern ihrer Vorfahren“ leidet. Und weil Luis ebenfalls spürt, dass nicht nur das Dach des Hauses, in dem er seit dem Tod seiner Eltern mit seiner Grossmutter zusammen wohnt, in Ordnung gebracht werden muss, nimmt Klara an der Hand und fordert sie auf, ihr Schweigen endlich zu brechen.

Didi Drobna erzählt ganz behutsam. Von einer unkritischen jungen Frau in einer kriegswichtigen Fabrik, die einfach zufrieden ist, einen sicheren Platz in einer unsicheren Zeit zu haben. Von der Begegnung mit einer jungen Frau, der man alle Rechte, jede Würde genommen hat. Von einer alten, fürsorglichen Frau, die den Alp nie abschütteln konnte, der bis ins Leben ihres Enkels wirkt. Von einem Mann und seiner Tochter, die das Schicksals einer Mutter und Ehefrau mit sich herumtragen, ein Schicksal, das sich im Leben der Tochter spiegelt, dem das Mädchen hilflos ausgeliefert ist. „Was bei uns bleibt“ ist keine Enthüllungsgeschichte. Aber eine Mahnung dafür, dass weder Gras noch Bäume das Leiden in der Vergangenheit verbergen können.

Didi Drobna bei den Ruinen der zweiten Hirtenberger Patronenfabrik

Interview

Sind wir uns der Tatsache, dass der Boden, auf dem wir leben, von Geschichte getränkt ist, zu wenig bewusst? Man mahnt zwar immer, man müsse im „Hier und Jetzt“ leben. Aber birgt sich darin nicht eine fatale Portion sich permanent entschuldigender Oberflächlichkeit?

Nach dem Krieg floss alle Kraft in den Wiederaufbau. Viele Dinge wurden ausser Acht gelassen, auch die konsequente Auseinandersetzung mit verbliebenem nationalsozialistischem Gedankengut. Es gab da eine grosse Angst, selbst in den Fokus zu geraten. In manchen Punkten ist in Österreich der Umgang mit dieser Zeit immer noch viel zu zögerlich. Auch da ist die Geschichte meines Romans ein gutes Beispiel: Dass eine Fabrik wie in Hirtenberg nach 1945 nahtlos weiterproduziert, ist wenig überraschend. Irgendwo ist immer Krieg, und damit lässt sich Geld verdienen. Heute hat Hirtenberg auf ganze andere Produktsegmente umgestellt und ist nach 160 Jahren Patronen und Granaten endlich „friedlich“. Andererseits erinnert vor Ort immer noch nichts an die Vergangenheit. Keine Gedenktafel, kein Schild, das aufklärt. Das hat mich bei meinen Besuchen und Recherchen vor Ort irritiert. Wichtig ist aber, dass wir dieses Kapitel nicht als abgeschlossen begreifen.

„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ mag in gewissen Situationen stimmen. Aber wir alle schleppen Geheimnisse mit uns herum, kleine und grosse, mit unter lebensbedrohliche. TherapeutInnen verschiedenster Couleur kassieren im Kampf gegen dieses Schweigen vielleicht eben jenes Gold. Warum fällt es dem Menschen so schwer zu reden, zu erzählen?
Ich glaube, dass einige Menschen mit der Zeit oder im Alter von Schuldgefühlen oder Reue eingeholt werden können. Es gibt doch immer etwas zu bereuen, Dinge die man getan oder eben nicht getan hat. Das können kleine oder grosse Dinge sein. Nicht immer muss es sich dabei um etwas Schlechtes handeln. Aber ich kann mir vorstellen, dass besonders grosse Lebensthemen und Geheimnisse am Ende stark hochkochen können – so wie sie es im Roman bei der Hauptfigur Klara tun. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, gab es eine ganze Generation, die ihre Erfahrungen, egal ob gut oder schlecht, zu einem grossen Grad verschwiegen hat. Manche konnten nicht darüber sprechen und manche wollten es auch nicht. Für die nachkommenden Generationen ist es aber unglaublich wichtig, von diesen Erfahrungen zu lernen und diese Geschichten zu hören.

Klara und ihr mittlerweile erwachsener Enkel Luis, ein junger Mann, den sie an Stelle seiner Eltern grossgezogen hatte. Sie beide sind Versehrte. Klaras Nachbar Horst, ein alleinerziehender Vater und seine Tochter Dora. Das ist das Viereck, in dem sich ihr Roman bewegt. Auch sie beide Versehrte. Alle allein gelassen, gepeinigt durch die Geschichte. Müssten nicht all jene, die das Glück der Unversehrtheit oder einer minimalen Versehrtheit geniessen dürfen, laut skandierend auf den Strassen ihr Glück demonstrieren?
Dazu zitiere ich gerne einen Satz, der im Roman meine Hauptfigur Klara mehrmals umtreibt: «Die Abwesenheit von Unglück ist ein Glück an sich.»

Wie sind sie auf diesen Stoff gestossen?
Am Anfang von allem stand Klara – eine alte Frau, die auf ihr Leben zurückblickt. Eher zufällig kam mir die Idee, ihr eine Vergangenheit in der Patronenproduktion zu geben. Im Zuge der Recherchen dazu stiess ich auf Hirtenberg und war völlig erstaunt, dass ich noch nie von diesem Ort und dieser Fabrik, die zwei Weltkriege beliefert hatte, gehört habe. Dann fiel ich wie Alice im Wunderland ins Kaninchenloch: Ich recherchierte in verschiedenen Archiven, darunter auch dem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Archiv der Hirtenberger Fabrik, sprach mit ZeitzeugInnen, las mich umfangreich zum Zweiten Weltkrieg ein und durchkämmte den Hirtenberger Wald nach den Überresten der zweiten Fabrik. Spätestens da wurde mir klar, dass ich hier auf ein Stück Geschichte gestossen bin, das wie die Erinnerungen der dort arbeitenden und gefangenen Menschen bisher verschüttet geblieben ist. Und ich entschloss mich, diese Geschichte mit Hilfe von Klara zu erzählen.

Ihr Roman ist nicht zuletzt ein Roman darüber, was „Familie“ bedeuten kann. Selbst dann, wenn das Personal dazu alles andere als dem überall als Mass genommenen Idyll entspricht. Klara und Horst sind dabei zwei ziemlich entgegengesetzte Archetypen. Beide Familien in einem Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz. Pumpen wir das Ideal „Familie“ nicht zu sehr auf?
Familie ist in meinen bisherigen Werken immer ein zentrales Thema. Der Begriff «Familie» hat sich im Laufe der Zeit sehr stark gewandelt, dessen Personal ebenso. Dem versuche ich mithilfe meine Figuren nachzuspüren.

Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Germanistik und  Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Für ihre literarische Arbeit wurde sie mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet. Didi Drobna arbeitet auch als Jurorin für Literaturwettbewerbe und lehrte von 2018-2019 an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Parallel zu ihrem Schreiben arbeitet Didi Drobna an einem Wiener IT-Forschungszentrum. 2018 erschien ihr zweiter Roman «Als die Kirche den Fluss überquerte» bei Piper. 

Beitragsbild © Barbara Wirl

Andreas Hillger «EI_LAND», Osburg

Schon mal ein Solei gegessen? Bis zur Lektüre von „Ei_Land“ kannte ich diese Art von haltbar gemachten, gekochten Eiern nicht. Mit der Lektüre dieses köstlichen Romans ist nicht nur die Lust auf ein solches Ei gewachsen, sondern auch jene, endlich einmal einen Blick in jene schwarzen Löcher zu werfen, die der Hunger nach Kohle in unser Nachbarland schürft und in das literarische Werk eines Schriftstellers, der mir bis jetzt entgangen ist.

Es öffnen sich riesige Löcher in Deutschland; Kohletagebau. Und an den Rändern, die sich immer tiefer in die Landschaft fressen, zerfallen Geistersiedlungen. In einer dieser Siedlungen, in einem kleinen Dorf, harren ein paar alte Männer, die sich nicht bewegen lassen, die einen aus Trotz, die andern weil sie nicht mehr können oder weil ihnen der Ort jenes Versteck bietet, das es braucht, um in Ruhe gelassen zu werden. Ein Haufen alter Kerle, die eigentlich nichts mehr wollen, schon gar nicht, dass man ihnen den letzten Rest ihres Lebens nimmt.

Mitten im Winter, viel Schnee liegt auf den Strassen, verirrt sich ein Fremder ins Dorf. Und weil sein Auto stecken bleibt und er zu erfrieren droht, tritt er ein, in das, was von aussen wie eine Dorfkneipe aussieht. Wolters, ein Makler „des guten Geschmacks“ will nur eine Nacht bleiben und dann wieder weg vom Ende der Welt. Aber die Dorfkneipe ist längst keine Kneipe mehr mit Ausschank und Speisekarte. Jeder muss sein Zeug selber mitbringen. Man trifft sich dort, die letzten Verbliebenen als eine Art Dorfrat, der im Turnus immer wieder einen neuen Vorstand, eine Art Bürgermeister bestimmt. Weil Wolters ganz offensichtlich Hunger hat, bietet man ihm Soleier an, zusammen mit Pfeffer, Salz, Senf, Essig, Öl und Worcestersauce. Soleier werden in einem Sud aus Wasser, Salz und Kräutern haltbar gemacht, nachdem man die Eier hartgekocht mit gebrochener Schale mit dem heissen Sud übergiesst und in grossen Einmachgläsern aufbewahrt. Der Fremde bekommt eine Schlafstelle bei Hagen Siegfried, einem der Gebliebenen, der im Haus einer Frau wohnt, die ihm, als auch er sich ins Dorf verirrte, ihr Haus als Erbe vermachte, weil es sonst niemanden gab, nicht einmal mehr einen Friedhof, auf dem man die toten Angehörigen hätte besuchen können.

Andreas Hillger «EI_LAND», Osborn, 2021, 250 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-95510-255-5

Aber Wolters ist Geschäftsmann. Und weil er nicht mitansehen kann, wie die sechs Männer, der von oben bis unten tätowierte Liebig, der hagere Werner, Lokführer Herbert, der ehemalige Gastwirt Joachim, der „König ohne Land“ und Konrad der Gewohnheitstrinker nur mehr warten und harren, was da kommt, macht er den Mannen den Vorschlag, aus den Soleeiern ein Geschäft zu machen, aus der Not eine Tugend; The Egg from the Edge! Es gäbe in den Städten, den hippen Bars und angesagten Lokalen Potenzial genug, um die urigen Soleier vom Ende der Welt an zahlungskräftige Konsument:innen zu bringen. Ein Stück alte Kultur, ein Relikt aus der Vergangenheit, etwas „Echtes“ für den kleinen Hunger zwischendurch.
Was am Anfang Stirnrunzeln verursacht, kommt, angefeuert durch Scarlett, die singende Tochter des Gastwirts immer mehr in Fahrt. Man kauft Orloffs, Altenglische Kämpfer und Deutsche Reichshühner, man richtet sich ein; Ställe mit Freilauf, ein eigentliches Labor, in dem man nach Rezepturen forscht. Liebig kommt gar auf die Idee, den Eiern durch die Schale hindurch eine verborgene Tätowierung zu verpassen. Die Maschinerie beginnt zu laufen. Bis der Motor durch einen Haufen Muskelmänner ins Stocken gerät.

Was Andreas Hillger literarisch einkocht, ist pures Lesevergnügen. Zum einen das Personal, seien es die schrägen Typen im Dorf, die singende Scarlett mit ihrer Band «Drei Schwestern“, die die Kampflieder rund um das Experiment EI_LAND singen, sei es die Kulisse, dieses Geisterdorf am Randes zum Nichts, sei es die Welle aus eine Mischung aus Enthusiasmus, Gier und Schnapsidee, die sechs Figuren auf standby in Aufruhr versetzt. Andreas Hillger sprudelt aber auch sprachlich, gibt dem Geschehen jene gesellschaftskritische Würze, die aus dem Roman viel mehr als eine Geschichte macht. „EI_LAND“ ist eine Parabel über den alten Mann, der es der Welt noch einmal beweisen will!

Grosses Lesevergnügen, das Hunger auf noch viel mehr als nur Buchstaben macht!

Interview

Sechs müde Männer am Abgrund, die noch einmal alles auf eine Karte setzen, auf ihr Ei des Kolumbus. Da das leere Loch in der Landschaft, ein kaputtes Dorf am Rand, ein Gasthaus mit verlorener Lizenz, ein im Schneegestöber festgefahrener Fremder und ein Glas mit eingelegten Eiern – wie sind sie auf die Idee gekommen?

Das war eine Mischung aus verschiedenen Inspirationen – oder Aromen, wie man im Fall der Soleier wohl sagen müsste. Zunächst wollte ich nach zwei historischen Romanen in der Gegenwart ankommen und dabei einen anderen, etwas groteskeren Tonfall finden. Dann beobachtete ich bei längeren Aufenthalten in Berlin das absurde Tempo, mit dem dort Moden und Trends wechseln – auch in der Gastronomie, deren Entwicklungen ich als neugieriger Dilettant verfolge. Und schliesslich fand ich das Thema gewissermassen vor der Haustür: Ich lebe in Dessau, die nächsten Braunkohle-Gruben und Baggerseen sind nicht weit entfernt, als Kind waren die vier Schornsteine des Kraftwerks Vockerode eine unübersehbare Landmarke für mich. Also ist „EI_LAND“ in gewisser Weise auch ein Heimatroman – ein Genre, das in der deutschsprachigen Gegenwarts-Literatur ja fröhliche Urständ feiert und dabei eine tiefe Sehnsucht nach Herkunft bedient. Dass ich die Geschichte dann in die Lausitz verlegt habe, liegt einerseits an der fortwährenden Präsenz des Tagebaus in dieser Landschaft und andererseits an meiner Liebe zur sorbischen Kultur, die trotz unmittelbarer Nähe so fern wirkt. 

Sie sind ein Theatermensch. Das spürt man ihrem Roman an, gibt ihm die klaren Konturen, die Dramaturgie und die markige Kulisse. Was gibt den Ausschlag, ob sie einen Stoff zu einem Bühnenstück machen oder zu einem Roman?

Das ist schwer zu beantworten. Einige Themen – etwa die Geschichte des barocken Augenarztes John Taylor, der sowohl Johann Sebastian Bach als auch Georg Friedrich Händel vom Grauen Star befreien wollte – habe ich sowohl im Prosatext als auch für die Bühne verarbeitet. Im Roman kann ich eine Atmosphäre jenseits der direkten Rede schaffen, die im Theater von anderen Künstlern kreiert wird. Jedes Schauspiel, jedes Musical entsteht im kollektiven Prozess, was im Idealfall eine grosse Bereicherung für den Autor sein kann – aber natürlich auch Leidensfähigkeit voraussetzt. Immerhin kann man sich im Falle des Scheiterns darauf verlassen, dass die Inszenierung irgendwann von der Bildfläche verschwindet. Die Arbeit am Roman ist einsamer, fast ein wenig asozial – aber im Ergebnis eben auch dauerhafter. Ich liebe es, zwischen diesen Gattungen zu wechseln und zwischendurch immer wieder auch dramaturgisch zu arbeiten. Und „EI_LAND“ sollte ursprünglich tatsächlich ein Musical werden. Damals ging es allerdings noch um Pumpernickel …  

Ihr Roman ist vielschichtig, in Vielem eine Groteske und doch ganz nah an der Wirklichkeit, ein Schelmenroman, auch wenn die Protagonisten alte Männer sind, durchaus eine Satire und hinter allem Gesellschaftskritik. Ich spüre als Leser das Vergnügen des Schreibens, des Fabulierens, des Zuspitzens. Männer und ihre Eier! Mussten Sie sich gegen das Überborden stemmen?

Ich versuche beim Schreiben, mich selbst bei Laune zu halten – und freue mich immer wieder, wenn mir die Wirklichkeit dabei hilft. Viele Details der Geschichte habe ich selbst erst entdeckt, als das Thema bereits feststand und meine Herrenrunde in Schwarzmühl bereits Position bezogen hatte. Das Deutsche Reichshuhn etwa oder die absurde Geschichte der Kirchen, die man behutsam aus den abzubaggernden Dörfern entfernt, um sie an anderen Orten als leere Hüllen ohne Gemeinde wieder aufzubauen … das muss man sich doch nicht ausdenken, das ist alles tatsächlich da! Das Mit- und Beschreiben der Realität habe ich als Journalist gelernt, nach meinem Seitenwechsel kann ich die Tatsachen nun mit mehr Phantasie verknüpfen. Und dabei liebe ich das Überbordende.

Haben Sie zuhause in Ihrer Küche auch einmal Eier in Soleier verwandelt? Mögen Sie sie noch immer?

Andreas Hillger mit einem Denkmal für die „Lutki“ im Spreewald-Ort Burg

Die aufwändige Zubereitung – also das Würzen mit Essig und Öl, Senf und Worchestersauce – hat in der Familie meiner Frau Tradition. Mich hat dieser Kult, der mit dem Einfachsten getrieben wird, immer zugleich amüsiert und gerührt. Gelegentlich beteilige ich mich noch immer daran … Aus meiner Jugend kenne ich zudem noch die Eckkneipen, in denen das Glas mit den eingelegten Eiern auf dem Tresen stand und die zumindest im Osten Deutschlands nach der Wende fast vollständig verschwunden sind, was man als Verlust eines Kulturgutes durchaus bedauern kann. Aber es gibt ja Hoffnung: Kurz nach Erscheinen von „EI_LAND“ las ich im Netz, dass Migros in der Schweiz tatsächlich jene vegane Variante auf den Markt bringt, an deren Herstellung meine Männer im Roman so lange erfolglos arbeiten. Dass sie tatsächlich aus Tofu hergestellt wird, wie es ja auch im Buch geschieht, hat mich sehr amüsiert – ebenso wie der futuristische Name „V-Love The Boiled“, gegen den mein „Soul-Eye“ nachgerade banal wirkt. So wird das hartgekochte Ei für biobewusste Trendsetter fashionabel. Manchmal ist der Text eben doch klüger als der Autor.

Über jedem der Kapitel steht eine Strophe der „Drei Schwestern“, einer Frauenband, angeführt von Scarlett, die wegen der Liebe zum Film diesen Namen trägt. Manchmal beissende Kommentare, die sich stets reimen, wie eine musikalische Stimme, die sich von Bühnenrand immer wieder ins Geschehen mit einmischt. Kamen diese Strophen im Nachhinein dazu? Hören Sie sie beim Schreiben?

Ich spiele gern mit solchen zweiten Ebenen, die als Orientierung oder Kommentar gelesen werden können. In meinem Bauhaus-Roman „gläserne zeit“ hatte ich den Protagonisten die drei Grundformen Dreieck, Kreis und Quadrat zugeordnet, in „Ortolan“ gab es kleine Piktogramme für die Hauptfiguren. Für „EI_LAND“ muss ich mir nun tatsächlich den Vorwurf des Plagiats machen – auch wenn ich nur bei mir selbst abgeschrieben habe. Fast alle Strophen stammen aus Musicals und Oratorien, die ich mit verschiedenen Komponisten geschrieben habe. Wenn es bissig wird, sind es meist Texte aus der Neubearbeitung von John Gays „Beggar’s Opera/Polly“, die zusammen mit Christoph Reuter für das Anhaltische Theater Dessau entstand – oder aus dem Fugger-Musical „Herz aus Gold“, das Stephan Kanyar und ich für das Staatstheater Augsburg schreiben durften. Andere Zeilen sind aus der Kinderoper „Oskar und die Groschenbande“ oder aus dem Melanchthon-Oratorium „Gott allein die Ehr‘“ entliehen. Aber weil die darstellende eben auch eine flüchtige Kunst ist, wollte ich den Fragmenten ein wenig Dauer verleihen – die ich beim Schreiben tatsächlich im Ohr hatte, weil sie ja bereits melodisch ausformuliert sind. Daher habe ich sie den „Drei Schwestern“ in den Mund gelegt, deren Name natürlich auf Tschechow verweist – und auf ein Leben im toten Winkel, das von Sehnsucht nach der Grossstadt verzehrt wird. Das schien mir irgendwie passend.

Andreas Hillger arbeitet nach langer journalistischer Tätigkeit als freier Autor und Dramaturg. Sein Hauptinteresse gilt dabei historischen Themen, die er oft auf dem Theater verhandelt – so u.a. zuletzt im mehrfach ausgezeichneten Fugger-Musical «Herz aus Gold» für das Staatstheater Augsburg oder im Melanchthon-Oratorium «Got.alein/die.Ehr». Bei Osburg erschienen seine Romane «Gläserne Zeit» (2013) und «Ortolan» (2020).

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Beitragsbilder © privat

Hansjörg Schneider «Die Eule über dem Rhein», Diogenes

«Die Eule über dem Rhein» vom Grossmeister Hansjörg Schneider ist ein liebender Blick auf die Stadt am Dreiländereck, ein Buch voller Erinnerungen, über das Schreiben, sein Wachsen, die grossen Lieben des Lebens, gegen das Vergessen, ohne Pathos aber mit den Augen eines Weisen.                                    

Es gibt Autoren, an denen ich mich nicht „vorbeilesen“ kann, nur schon deshalb, weil sie mich schon ein ganzes Leseleben begleiten. Noch während meiner Ausbildung las ich Hansjörg Schneiders Roman „Lieber Leo“, von einem der auf sein scheinbar gescheitertes Leben zurückschaut, verwundet, weil ihn seine Liebe ohne Abschied verlässt. Es war der erste Schneider im Regal. Ein Paar Jahre später provozierte Hansjörg Schneiders Theaterstück „Sennentunschi“ nicht nur das brave Theaterpublikum, nach einer Fernsehproduktion auch unsere Familie, weil mein Vater darauf bestand, das Gerät abzuschalten, er dulde keine Pornografie im Wohnzimmer. Und als kurz vor der Jahrtausendwende „Das Wasserzeichen“ erschien, noch immer mein liebstes Schneiderbuch, weil es mich mit seiner Sprache und seiner Geschichte in ganz neue Sphären wegzog, wurde ich endgültig zu einem Schneiderer, schon lange vor all den Hunkelerkrimis, und erst recht bei deren Verfilmungen mit Matthias Gnädinger.

Hansjörg Schneider «Die Eule über dem Rhein», Diogenes, 2021, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-257-07162-7

Mit „Die Eule über dem Rheinknie“ hat Hansjörg Schneider bei Diogenes kurze Prosa veröffentlicht, Kolumnen von 2015 bis 2017 und Betrachtungen über sein Leben. Auf dem Dach des Basler Münsters sitzt eine steinerne Eule. Sie blickt über den Rhein auf „die andere Seite“. Hansjörg Schneider, der mit seiner Familie früh nach Basel zog, blieb immer ein Aargauer, obwohl er längst ein Basler Urgestein ist. Wie die Eule blickt er in seinem Schreiben auch stets leicht erhöht „auf die andere Seite“, auf eine Schweiz, die ihm oftmals eng erscheint, sein Basel, vom Geldadel erdrückt, hinüber ins Elsass, in die Vogesen, wo er auch seinen Ermittler Hunkeler schickte, wenn ihm das Geschehen am Rheinknie auf die Pelle ging. „Die Eule über dem Rheinknie“ ist der Blick eines Mannes, der das Leben aus dem vergangenen Jahrtausend mit ins neue nimmt, von einem, der an den Gewohnheiten festhält, nicht aus dumpfem Trott, sondern weil ihm sein Tun, Denken und Handeln lieb geworden ist. Ein Schriftsteller, der noch immer von Hand schreibt, ein Heft nach dem andern füllt, mittlerweile mehrere hundert, einen Schatz, den er dem Schweizerischen Literaturinstitut übergab. Der sein Geschriebenes noch immer mit einer mechanischen Schreibmaschine abtippt und gleich korrigiert, kürzt oder ergänzt, dem das Tippen als körperliche Handlung ebenso wichtig ist, wie das Geräusch, auf das er nicht verzichten will.

Hansjörg Schneiders Blick schweift, manchmal ganz nah, wenn er von seinen Nachbarn erzählt, von den Alten in seinem Quartier, den Begegnungen im Supermarkt, wie sehr wir uns in unserem Hafen sicher fühlen, wie sehr wir uns an all die Annehmlichkeiten gewöhnt haben. Von seinen Spaziergängen in der Stadt, vorbei an den gestylten Joggern. Dann zurück in die Vergangenheit, in seine Kindheit und Jugend in Zofingen, über den Schmerz, mit seinen Krimis nie an die Solothurner Literaturtage eingeladen worden zu sein, über seine Zeit in Paris als bettelarmer Niemand. Über seine Schriftstellerkollegen Guido Bachmann, Dieter Fringeli, Christoph Mangold und Werner Schmidli, mit ihm ein Basler Pentagon, von denen alle bis auf ihn gestorben sind, die man mehr und mehr vergisst.

Hansjörg Schneider schreibt mit seinem ganz eigenen Witz und Schalk, nicht ohne Kopfschütteln über sich selbst. Er schreibt von einem Mann, der sein Leben und Tun liebt, der mit seinem Schreiben seine zweite grosse Liebe gefunden hat. Der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er Schwätzer mit Namen nennt und sich zuweilen Schmerz darüber einschleicht, was alles unwiederbringlich verloren geht. Aber das darf ein Mann von 83 Jahren, dessen Blick fast immer ein liebender und freundlicher ist.

Warum nicht mit der Eule über dem Rhein in den schneider’schen Kosmos einsteigen!

Interview

Ich schreibe Ihnen meine Fragen von Hand auf Papier. Sie schreiben noch immer in Hefte ebenfalls von Hand und tippen es anschliessend in eine mechanische Schreibmaschine. Schwingt da der Wunsch des Haptikers mit, „Spuren“ zu hinterlassen?
Ich schreibe erst von Hand, dann in die Schreibmaschine, weil ich es so gelernt habe und nie einen Grund sah, davon abzuweichen. Ausserdem finde ich meine Handschrift schön, obschon sie offenbar schwer zu entziffern ist. Aber es stimmt schon: Heimlich bin ich stolz auf meine handschriftlich gefüllten Hefte.

Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an Ihre Mutter, Ihre Kindheit, den Blick in die Weite, die Stadt Paris und viele Freunde, die nicht mehr sind, darunter auch Werner Schmidli, einen Schriftsteller, von dem ich wie von Ihnen alles gelesen habe, der mir lieb ist, auch wenn er mich einst mit meinem Bücherstapel in Händen zum Signieren ganz an den Schluss der Warteschlange schickte. Fühlen Sie sich manchmal alleine gelassen?
Natürlich finde ich mich alleine gelassen, natürlich sitze ich allein am Tisch. Mit 83 Jahren ist das wohl normal.

Sie arbeiteten wie Peter Bichsel vor mehr als einem halben Jahrhundert als Lehrer. Ich bin es in meinem Brotberuf noch immer, schon 37 Jahre lang. Manchmal leide ich etwas unter dem Sisiphos-Effekt, an den immer gleichen Problemen, die man den Berg hinauf schiebt und rollt. Obwohl ich ein grosser Leser bin und mir das freie Schreiben in der Schule ganz zentral erscheint – nicht bloss Sprachübungen – entmutigt mich die Entfremdung von der Sprache manchmal, die Verflachung und Verarmung. Muss man Angst um die Sprache haben? Wird echte Auseinandersetzung mit Sprache immer seltener, einsamer?
Ich habe mein Germanistikstudium mit Stellvertretungen an aargauischen Bezirksschulen verdient, mit weissem Hemd und Krawatte und lauter Militärköpfen im Lehrerzimmer. Da wollte ich nicht mitmachen.
Heute ist es ganz anders in den Schulen, viel lockerer. Da ich den Lehrerberuf als sehr wichtig erachte, könnte ich mir heute ein Lehrerdasein gut vorstellen. Über die Sprache würde ich mir keine grossen Sorgen machen. Sie lebt, sie verändert sich, wie sie sich immer verändert hat.

Warum zählen Krimis mit einem literarischen Anspruch, so wie Ihre Hunkeler-Krimis noch immer zu minderwertiger Literatur? Zumindest im deutschsprachigen Raum, ganz im Gegensatz zu den „Angelsachsen“?
Die Verachtung des Krimis als Literaturgattung ist völlig idiotisch. Am besten nimmt man sie einfach nicht zur Kenntnis. Für mich ist der Krimi eine wunderbare Gattung. Man kann erzählen, beschreiben, was und wie man will. Schreiben heisst, sich die Freiheit nehmen, die man sich nehmen will.

Sie sind 83. Ihr Werk ist umfangreich, vielfältig und gross. Bald werde ich vor einer Gruppe „Studierender“ stehen und ihnen von der aktuellen CH-Literaturszene erzählen. Lauter Menschen, die davon träumen, dereinst ein Buch mit ihrem Namen in Buchhandlungen zu finden. Was würden Sie den mehr oder minder jungen Hoffenden raten, waren Sie doch auch einmal einer, auf den niemand gewartet hatte.
Selbstverständlich hat keiner auf mich gewartet, als ich jung war. Ich erhielt nur Absagen, von Zeitungen und Verlagen, auch von Theatern. Bis es eben doch geklappt hat, mit viel Glück. Natürlich ist Erfolg etwas Schönes. Aber der Grund, warum man schreibt, ist ja das Schreiben selber.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter „Sennentuntschi“ und „Der liebe Augustin“, war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine „Hunkeler“-Krimis, verfilmt mit Matthias Gnädinger, führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Beitragsbild © Philipp Keel

Max Annas «Der Hochsitz», Rowohlt

Manchmal werde ich für meine Weigerung, Krimis zu lesen, bestraft. Obwohl man mit der Gattungsbezeichnung „Krimi“ im Fall von Max Annas Büchern wohl nicht gerecht wird. „Der Hochsitz“ ist eine Gesellschaftsanalyse der späten Siebziger, stierem Spiessbürgertum und der allgegenwärtigen Angst vor dem Bösen, die nicht nur bei den Nachbarn oder weit weg stattfinden kann.

Frühlingsferien 1978 in einem kleinen Nest in der Eifel, nahe an der Grenze zu Luxemburg. Sanne und Ulrich sind elf und haben Zeit, unendlich viel Zeit. Wenn sie nicht auf „ihrem Hochsitz“ über ihrem Dorf sitzen, dann streifen sie durch den Ort, auch mal in den kleinen Laden von Trines, die sie Hanukas klauen lässt, in denen immer ein Bildchen von der kommenden Fussballweltmeisterschaft in Argentinien steckt. Die Jungs im Dorf bekommen sogar mehr Taschengeld, um ihre Alben mit den Fussballern zu füllen. Sanne und Ulrike klauen sie und kleben sie oben auf ihrem Hochsitz in ein getarntes Heft. Voll wird es nicht werden, schon gar nicht in diesen Frühlingsferien. Und weil es neben Ronnie Worm, Rudi Kargos, Harald Konopka, Hansi Müller, Rainer Bonhof und Karl-Heinz Rummenigge noch Platz hat, kleben sie auf die leeren Stellen die ausgeschnittenen Gesichter vom RAF-Fahndungsplakat, das sie ebenfalls geklaut haben. Aber es sind nicht nur die Gesichter der Fussballer und Terroristen, die in diesem Frühling die sonst tote Zeit füllen.

Max Annas «Der Hochsitz» Rowohlt, 2021, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00208-4

Im Nachbarort passiert ein Banküberfall und eines Nachts, Ulrike übernachtet bei Sanne, beobachten die beiden Mädchen in einer durchquatschten Nacht auf der Strasse vor dem Haus, wie ein Mann von seinem Motorrad kippt und eine Gestalt in Mantel und Hut mit einem Gewehr den am Boden liegenden exekutiert. Aber Sanne und Ulrike bleiben auf dem hocken, was sie gesehen haben und erzählen wollen, denn niemand glaubt ihnen, nicht einmal die Mütter, die Väter schon gar nicht. Wer glaubt schon kleinen Mädchen. Zudem fährt seit ein Paar Tagen ein übergrosser Cadillac durch die Dörfer an der Grenze. Betont langsam und immer wieder an Orten Pause machend, an dem das unpassende Gefährt gesehen werden muss. Ein Mann, der im Fond sitzt, lässt sich von Hof zu Hof chauffieren und bietet den Besitzern für Haus und Grund Summen, die träumen lassen, die einen von einer rosigen Zukunft, die anderen über die Gründe, warum der Mann noch nicht auftauchte oder dem einen viel mehr bieten sollte als ihnen.

Es kocht im Dorf, in dem sonst nie etwas passiert. In dem jede und jeder jede und jeden kennt, ausser die Hinzugezogenen. In einem Dorf, in dem  alle fast allen alles zutrauen. Der verrückten Gaby Teichert, die schon seit Jahren allein im Haus am Bach lebt und immer wieder mal nur in Mantel und Schlapfen an den Füssen zum Bach geht, um sich platt Gesicht voran ins kniehohe Wasser zu schmeissen. Vor Jahren fuhr ihr einziger Sohn ohne zu bremsen gegen einen Baum und der Mann weg. Aber ganz bestimmt die Peters vom Petershof. Die drei Brüder, von denen der jüngste Peter heisst, die aber auf dem Hof schon lange nichts mehr auf die Reihe bringen, es zuerst mit Zigarettenschmuggel versuchten, um dann später härteres Zeug über die Grenze zu bringen. Und als man wegen des Banküberfalls den langhaarigen Lehrling, der noch nicht lange frisch im Dorf wohnt und den jungen Frauen den Kopf verdreht, festnimmt, wo doch Sanne und Ulrike in einer Scheune ganz deutlich sahen, dass dieser sich mit ganz anderen Dingen leidenschaftlich beschäftigte, ist für die beiden Mädchen klar, dass die den Geheimnissen im Dorf auf die Spur kommen wollen. Auf ihre Art und Weise. Denn elfjährige Mädchen sieht man nicht.

Max Annas ist einer, der in seiner Hexerküche sitzt und mit List und grenzenlosem Vergnügen an den vielen kleinen Feuern werkelt, über denen die giftig explosiven Tinkturen köcheln, von denen ich als stiller Betrachter nie weiss, wann ihre schlummernde Gewalt ausbricht. Max Annas experimentiert mit den Untiefen menschlichen Seins in einem Dorf „am Ende der Welt“. In diesem kleinen Dorf in der Eifel, in dem jedes fremde Auto wie ein Eindringling wahrgenommen wird, hat Max Annas Lunten ausgelegt, verschlungen und versteckt, die alle gleichzeitig brennen, von denen ich als Leser genau weiss, dass irgendwo Dynamitstangen liegen, die zu explodieren drohen. „Der Hochsitz“ ist ein literarischer Flickenteppich, der sich vor meinen Augen zusammenwebt, der mich atemlos und fasziniert lesen lässt, weil der Roman viel mehr ist, als ein „Krimi“ aus Sicht des Ermittlers.

Wenn ich nun eines sicher weiss: Es gibt noch mehr von Max Annas!

Interview:

Obwohl ich noch nie in der Eifel war, bin ich es literarisch immer wieder. Erst mit den Romanen von Norbert Scheuer, den ich sehr verehre und nun mit Ihnen. War es einfach die nahe Grenze zu Luxemburg? Der ideale Kontext? Maximale Provinz? Oder doch eigene Erfahrungen, waren sie doch 1978 wenig älter als die beiden Mädchen Sanne und Ulrike?
In dem (fast) nicht genannten Dorf, in dem die meisten Kapitel spielen, ist meine Partnerin aufgewachsen. Die Kapitel, die sich mit den Fussballsammelbildern zur WM in Argentinien beschäftigen, und die Episode mit dem geklauten RAF-Fahndungsplakat sind dokumentarisch. Das ist der Auslöser gewesen für den Roman. Und die Geographie, die Geschichte und die Leute der Gegend hab ich natürlich sehr ernst genommen. Aber Sie haben Recht, ich bin damals nicht viel älter gewesen als die beiden Protagonistinnen. Vieles im Binnenleben der Familie Klein stammt also aus meinem eigenen Aufwachsen, aus der Erinnerung an meine Jugend in Köln, an meine Familie. Politisch, denke ich, waren sich viele Dialoge jener Zeit sehr ähnlich. Das konnte schon mal so wirken wie eine Fortsetzung der Moderationen des ZDF-Magazins unter Gerhard Löwenthal.

Sie bauen ein ganzes Dorf. Ein paar alt eingesessene Bauernfamilien, gescheiterte und gestandene, Zugezogene, Verschrobene, Verschlossene, Verrückte, Versteckte, ein Polizist, ein paar Grenzer und mittendrin zwei Mädchen. Sie erzählen aus allen möglichen Perspektiven. Wie bauen sie eine solche Geschichte? Wächst das nach und nach oder folgt die Geschichte einem Plan?
Tastend. Oder: Sowohl als auch. Ich baue eine solche Geschichte langsam und schreibend. So wie jeder neue Roman ein neues Vorgehen und einen neuen Plan braucht, so gibt es sicher Gemeinsamkeiten hinter den individuellen Plänen. Ein ganz und gar durchgeplotteter Roman, der alle Kapitel schon kennt, erscheint mir für den Schreibprozess nicht interessant. Ich muss mich mit den Figuren suchend im Terrain bewegen, mit ihnen im Dialog stehen. Vor allem mit den wichtigsten Figuren. Aber es gibt stets auch andere Fixpunkte. Bei «Der Hochsitz» war vom Beginn des Schreibens an klar, dass ich mich auf diesen doppelten Showdown zu bewegen würde.

Es ist die grosse Geschichte die fasziniert, ebenso die Kulisse, in der sie spielt. Aber auch die vielen kleinen Geschichten, sei es die Geschichte einer Mutter, die Mann und Sohn verliert, jeden Halt und irgendwie auch den Verstand. Oder die Minigeschichten wie die der beiden Mädchen, wie sie im Hochsitz Fussballerbildchen neben Fahndungsfotos von RAF-Terroristen kleben. Mussten Sie sich zusammenreissen, um sich nicht zu verlieren?
Die ganze Geschichte ist nur so gut wie deren einzelne Teile. Das Wunderbare an ihnen ist nun, das sie gar nicht ohne einander existieren können. Alles geschieht neben- und über- und gegen- und miteinander. Die Erzählebenen kreuzen sich, widersprechen sich, belauern sich beinah. Was ich in der inneren Stimme nicht erfahre, lerne ich dann durch die äußere Betrachtung. Drei Kapitel später. Der Prozess selbst, das Schreiben: Aufregend.

Damals hatten Kinder, wenn sie ihre Aufgaben in Haus oder Hof hinter sich hatten, Freiheiten, die Kinder heute gar nicht mehr kennen. Ihre Geschichte hätte so in der Gegenwart gar nicht spielen können, wo Eltern ihre Kinder mit dem Auto von der Schule abholen, Kinder in ein eigentliches Freizeitprogramm gepresst werden, um sie ja nicht auf „dumme Gedanken“ kommen zu lassen, in den Ferien in Kurse, ein Camp oder in ein Ferienressort mit Unterhaltungsmaschinerie. Die gute, alte Zeit?
Sicher ist «Der Hochsitz» ein Buch über das Erinnern. Hier und da möglicherweise ein Reflex auf die rechte Forderung, es möge alles so bleiben, wie es ist. Dann schauen wir doch einmal darauf, wie es gewesen ist. Werfen wir einen Blick in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der zeitlichen Mitte ihrer Existenz, der relativ kurzen sozialdemokratischen Phase. Und atmen wir also die Luft der guten alten Zeit. – Auf der anderen Seite war es für mich interessant, nach zwei Büchern, die in der DDR spielen, den Blick auf Westdeutschland zu justieren. Herauszufinden, wie sich mit dem Schreiben über das andere Deutschland der Blick aufs Eigene entwickelt.

Und auf der anderen Seite begegnet man in ihrem Roman all jenen, die durch die Zeit, durch die Maschen fallen. Denen, die es nicht schaffen, ob privat oder geschäftlich, in der Beziehung oder vor dem Spiegel. Ist Schreiben auch ein Mittel des Trosts?
Trost, natürlich, immer. Für den Autor. Er speist sich aus der Gewissheit, dieser Zeit lebend entkommen zu sein, lebend und lebendig. Vielleicht fehlt mir im Blick auf diese Zeit die Fähigkeit, jene zu sehen, die nicht durch die Maschen fallen. Liegts am Autor? Aufgewachsen in der Arbeiterklasse, prekär. Gut möglich. Liegts an der Zeit? An den falschen Versprechen, die samt und sonders bald wieder gebrochen werden sollten. Die Sicherheit, die soziale. Das Teilen. Das gesellschaftliche Miteinander. Alles gelogen. Alles aufgehoben.

Eine Figur in ihrem Roman erinnert ein bisschen an Dürrenmatts alte Dame. Ein Mann mit Geschichte kurvt in einem gemieteten Cadillac mit Chauffeur durch die Gegend und täuscht Kaufabsichten bei einer ganzen Reihe von Höfen vor. Was wie eine Einkaufstour ohne sichtbare Strategie aussieht, hetzt das Dorf, Nachbarn gegeneinander auf. Neid, Missgunst artet in Gewalt aus. Zufall?
Den Dürrenmatt kenne ich am besten über den Umweg via Senegal. Djibril Diop-Mambetys Verfilmung HYÈNES von 1992 war mir ein Fixpunkt in der Beschäftigung mit dem Kino des afrikanischen Kontinents. Aber der Stoff hat als Vorlage eigentlich keine Rolle gespielt. Das liegt an dem Fokus auf dem Chauffeur, der diese Erzählebene zieht. Der Mann, über den er uns erzählt, bleibt für uns im Undeutlichen, weil es der Chauffeur selbst ist, der nicht versteht. Ich bauchte hier einen Vermittler, der nichts zu vermitteln hat. Einen, der Augen hat, aber nicht sieht. Und damit gewiss nicht allein steht.

Müssen Sie Briefe aus der Eifel fürchten?
Tweets vielleicht? Grimmiges Gezwitscher aus der Eifel? Ich habe meine Premierenlesung in der Eifel gehabt, in Hillesheim, das ist ein paar Mal zehn Kilometer vom Schauplatz des Romans entfernt, da war alles ganz friedlich und freundlich. «Der Hochsitz» ist ja auch kein Schlüsselroman über die Eifel. Er nutzt das dort eigene, um darüber hinaus zu schauen. Dorf, Grenze, sich verändernde Strukturen, Mädchenleben im Aufbruch. Aber ich nehm die Briefe gern in Empfang. Furchtlos.

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikolai» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien ausserdem «Illegal» (2017).

Beitragsbild © Max Annas

Martin Kunz «Vom Adel der Alltagsfragen» Edtion Baes, Interview mit Urs Heinz Aerni

In seinem neuen Buch setzte der Philosoph Martin Kunz den Untertitel: «Philosophische und andere Notizen in einem merkwürdigen Jahr». Was machte die Pandemiezeit mit einem Philosophen und wie könnte der Alltag eine neue Qualität erhalten?

Interview: Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Ich beginne mit einem Zitat: «Vom Einzelnen wird Autonomie verlangt, diese ist aber im Grunde eine Bürde». Wissen Sie, wo ich diesen Satz las?

Martin Kunz: Alle, die über Autonomie nachdenken, kommen darauf zu sprechen, dass sie, also die Konkretisierung der Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, eine Aufgabe ist und nicht einfach ein Geschenk. Autonom bin ich, wenn ich den Willen habe zu wollen. Das heisst, ich muss nachdenken können, und zwar so, dass schliesslich das, was ich will, handlungsleitend wird.
Aber nun zu Ihrer Frage. Ich habe das so oder ähnlich sicher in einem meiner Essays geschrieben.

Aerni: Dieser Satz findet sich auf Seite 55 in Ihrem Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Ich komme auf dieses Buch zurück. Doch nun zu diesem hier vorliegenden, das ja mitten in eine Zeit hinein oder aus ihr heraus geschrieben worden ist, in der die Frage nach Freiheit und Autonomie eine zusätzliche Brisanz bekommt. Das Buch enthält aber durchaus auch Notate, wie «Was koche ich für Vera?». Es scheint, dass Alltagsfragen wie diese, durch die Pandemiekrise geadelt werden. Weisst du noch, was du ihr dann gekocht hast?

Kunz: Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich gab‘s zwei Gänge, etwas Vegetarisches und dann vielleicht einen Fisch. Sie sagen es übrigen sehr eindrücklich: Alltagsfragen werden in einer solchen Krise geadelt. Viele Verrichtungen habe ich bewusster ausgeführt. Das scheinbar Unwichtige erhält einen besonderen Glanz.

Aerni: Auch in diesem Buch hier reflektieren Sie über Ihre Existenz – mit Fragen und Gedankenspielen. Die letzten Bücher sind entstanden in Zeiten, in denen die Welt pulsierte: mit Events, Kinos, offenen Konzerthäusern und Theatern. Könnte es sein, dass Ihre Zurückgeworfenheit in die eigenen vier Wände mit Tätigkeiten wie Entkalken der Kaffeemaschine das Schreiben gelähmt hat? Oder war es für Sie eine Art Rettung?

Kunz: Das Warten der Kaffeemaschine habe ich gewissermassen zelebriert. Wenn die Grossräume des Heiligen, also Kirchen, Kinos und Wellnesstempel, geschlossen sind, stellt sich die Frage, ob andere seelische Verdichtungen bzw. Öffnungen gefunden werden können. Vielleicht eben Würdigungen des Nebensächlichen. Als es hiess ‹Bleibt zu Hause›, habe ich zunächst gedacht, dass ich ja nun etwas Grösseres anpacken könnte, ein Buch über den utopischen Aspekt der Romantik zum Beispiel.

Aerni: Da höre ich nun das berühmte «Aber»…

Martin Kunz «Alltag – Philosophische und andere Notizen in einem seltsamen Jahr» mit einem Vorwort von Zora del Buono. Edtion Baes, 2021, ISBN 978-3-9519872-7-9

Kunz: Genau … Ich habe dann eben gemerkt, dass ich energetisch dazu nicht in der Lage war, und kam deshalb aufs Tagebuchschreiben wie viele andere ja auch. Es wurde für mich existentiell wichtig. Man könnte geradezu sagen, dass das Tagebuchschreiben Ausdruck der Suche nach Selbstbestimmung ist. Ich schreibe, also bin ich im Quadrat. Dazu kommt noch das Klavierspielen, künstlerische Arbeit und die Kunst des alltäglichen Tuns. Deshalb schreibe ich auch übers Essen, über Liebesgefühle und nicht nur über die Kopfarbeit. Interessant dabei auch die Frage, worüber ich nicht schreibe …

Aerni: … was vielleicht durch das Lesen erahnt werden könnte…

Kunz: Auch habe ich mich Immer wieder gefragt, wie andere Alleinlebende, denen all das nicht zur Verfügung steht, mit der Situation umgehen. Ich bin in dieser Hinsicht privilegiert.

Aerni: Ob es Ihr persönlichstes Buch von allen ist, sei hier mal offengelassen, aber wir erfahren zwischen den Zeilen allerhand über Ihre inneren Konflikte und Sehnsüchte. Gab es auch Momente, in denen Sie die Philosophie und die Kunst als gescheiterte Stützen empfandest?

Kunz: Noch in der ärmlichsten Hütte wird sich ein Väschen mit einem Zweig, die Figur einer Gottheit oder ein einfaches Spielzeug finden. Genau dies, Anteil zu haben am Reich des Ästhetischen, der Phantasie, des Sakralen, trägt hindurch. Fragen zu stellen, Gedankenreichtum, Spiel, Schönheit und die Erfahrung von Sprengendem, von etwas, das uns aus unserem Weltimmanenzgefängnis hinausschauen lässt, das hilft. Und es ist kein Widerspruch zum Gedanken der Nobilitierung des Alltags. All dies mit Fragezeichen. Mich beflügelt`s. Meistens.

Aerni: «Weltimmanenzgefängnis», ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Wir erleben hier, bei der Lektüre, nicht nur eine Reise durch Ihre Gedanken, sondern erfahren auch, was Sie gelesen haben. Befanden sich darunter Titel oder Texte, die Sie als Gewinn empfunden haben oder die Sie vielleicht enttäuscht haben?

Kunz: Enttäuscht haben mich jene Intellektuellen, die vorschnell wissen, wie alles ist, es besser wissen als die Experten, die in der Regel bescheiden sind. Schreibende, die zu Kurzschlüssen neigen, mag ich nicht besonders. Ein Kurzschluss ist das Ergebnis eines Zusammenbruchs der Spannung zwischen zwei Schaltungspunkten mit verschiedenem Potential. Oder anders gesagt: Wem der Doppelblick mangelt, der denkt nicht.

Aerni: Zum Glück gibt es auch noch andere Geister…

Kunz: In der Tat, ich bin bewegt worden durch Philosophen, die letztlich angetrieben sind vom Versuch, «alle Dinge so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten» – so Adorno. Immer wieder hat mich da auch der Philosoph Ernst Bloch vereinnahmt mit seiner Utopie des transzendenzlosen Transzendierens. Jetzt verwende ich wohl wieder eine etwas strapazierende Formel. Nun ja, Philosophen sind in den Fragen der seelisch-geistigen Vertikalspannung manchmal mutiger als Theologen.

Aerni: Und die Kunst am Text, sprich Literatur?

Kunz: Philosophisches zu lesen genügt mir, wie Sie ahnen, noch nicht. Hölderlin, Trakl, Celan – Poesie, gehört dazu. Auch eigene Versuche. Und Klavier zu spielen, mich mit Kunst auseinanderzusetzen und nach dem Göttlichen zu fragen, unabhängig davon, ob es dieses gibt. All dies hat, wie schon erwähnt, rettende Kraft. Und ich habe es nie ganz aufgegeben, Menschen zu treffen. Zu spüren, dass es Menschen gibt, die uns mögen, ist lebenswichtig. Es gibt keine Kunst des Seins ohne Mitsein.

Aerni: Was hat Sie mehr verändert, die zwei Lockdowns, das Leben auf Halbmast oder das Schreiben dieses Textes?

Kunz: Wir stecken ja noch ziemlich in der Krise. Zurzeit sind meine Gedanken gerade dort, wo Menschen ins Elend gestürzt werden; bei den Kindern – es sind weltweit schätzungsweise eine halbe Milliarde, die nicht zur Schule gehen dürfen; bei den Mädchen, die statt sich emanzipieren zu können, ungewollt schwanger werden …

Aerni: Ein gewaltiges Thema, das uns wohl noch lange beschäftigen wird. Währenddessen verbeissen sich viele Flachdenker in festgezurrte Thesen und Weltbilder…

Kunz: Nun, wir denken immer lokal, schauen auf die Entwicklung der Zahlen bei uns, jammern, wenn wir nicht shoppen gehen können und die Bars geschlossen sind. Einzelne verrennen sich da gedanklich, kommen auf abstruse Behauptungen. «Scheinmeinungen» nannte das ein Vorsokratiker. Wir wissen leider nicht genau, welcher Umgang mit der Krise wirklich gut wäre. Und ich verstehe, dass es schwierig ist, Nichtwissen auszuhalten.

Aerni: Zudem wurde auch unsere Endlichkeit wieder mehr ins Bewusstsein gerückt.

Kunz: Sie sagen es. Ich denke über den Tod nach, ohne da sehr weit zu kommen. Und ich bin selbstverständlich besorgt, was die rettenden Massnahmen in unserer Gesellschaft für Schäden hinterlassen werden, ökonomische, soziale, psychische. Und ja, philosophisch stellt sich die Frage der Autonomie durchaus, um nochmals auf diese Frage zurückzukommen. Darf und soll «der Staat», den wir unversehens als strenges Gegenüber wahrnehmen, derart eingreifen in unsere Lebenswirklichkeit?

Aerni: Lassen Sie mich auf die Frage zurückkommen…

Kunz: Was mich verändert habe?

Aerni: Ja genau.

Kunz: Stellen Sie mir die Frage in ein paar Jahren nochmals.

Aerni: Sehr gerne. Das Lesen dieses Textes führte mich bei aller Neugier auf Ihre persönlichen Erlebnisse auch hin zum Mitdenken über Hegel, Adorno usw., aber auch in Phasen der Rat- ja sogar Hilflosigkeit bin ich geraten, bis hin zur Melancholie. Ich denke an Ihr bereits erwähntes Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Hand aufs Herz, wie viel Erotik steckt nach diesem Jahr noch in ihr?

Kunz: Wir sind wohl nicht fürs Alleinsein vorgesehen. Etwas drängt zum Leben in einem Stamm, in einer Sippe, einer Gruppe und seit noch nicht langer Zeit zur Dialektik in einer Zweierkiste. Ich halte es aber für eine gute Übung, sich dem Alleinsein auszusetzen. Komme ich in ein weiterführendes Gespräch mit mir? Oder gerate ich in die Seelenwüste der Einsamkeit? In einem meiner Bücher

Aerni: … im «Wider die Selbstvergessenheit» …

Kunz: Genau, da habe ich ja nachgedacht über die sogenannte Individuation, also den Imperativ Werde, der du bist. Werde die, die du bist. Damit ist gemeint, den Weg der Schatten-Erkenntnis und Ichdistanzierung zu gehen, was der Ganzwerdung dient. Wir müssten wieder ernstnehmen, was Seele ist: das Medium, durch das sich etwas zeigt, was nicht meiner Wenigkeit zu verdanken ist. Trotzdem: Nur für den mystischen Menschen ist Einsamsein Eins-Sein. Einsam kann man sich übrigens auch mitten unter Menschen fühlen.

Aerni: Und für mich als Nichtmystiker?

Kunz: Ungewollte soziale Isolation ist keineswegs mehr süsse Melancholie, darauf wollen Sie wohl hinaus, sondern kann krank machen. Sprachlich und gedanklich unsorgfältig hat man uns soziale Distanz empfohlen.

Aerni: Irgendwo karikieren Sie «Freunde», die nur über sich selber reden, aber sich nie nach der Befindlichkeit des Gegenübers erkundigen. Nun, welche Fragen würden Sie den Leserinnen und Lesern dieses Buches gerne stellen wollen?

Kunz: Das will ich so abstrakt gar nicht beantworten. Ich käme gerne ins Gespräch mit einzelnen Lesenden. Und dieses Gespräch würde sich abhängig vom jeweils entstehenden Resonanzraum ganz anders entfalten.

Aerni: Trotzdem…

Kunz: Ja, um Ihrer Frage doch noch gerecht zu werden: Mich würde interessieren, welche Passagen beeindruckt, irritiert, geärgert, zum Staunen bewegt oder zu was auch immer angeregt haben.

Aerni: Danke, Martin Kunz, bleiben wir im Austausch. Über die fragile Freiheit, über das, was wir wollen und können. Unser Leben und unsere Welt befinden sich im Kippzustand, um so wichtiger bleiben das Lächeln und die Gelassenheit als unsere Stützen, und Bücher, wie dieses hier.

Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Ferner studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liess sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Er war Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich.
Publikationen (Auswahl): «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (2017), «Die stille Erotik der Melancholie» mit Bildern von Jeanine Osborne (2018), «Wider die Selbstvergessenheit»(2020).

Webseite von Martin Kunz

Beitragsbild © Urs Heinz Aerni

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser

Es ist vier Jahre her, seitdem Ruth ihren Mann Ludwig durch einen tragischen Skiunfall verloren hatte. Aber statt sich auf ein neues Leben zu fokussieren, erschüttern anonyme Nachrichten ihr Leben. Obwohl sie sich mit aller Kraft gegen den Kontrollverlust stemmt, werden aus den hereintropfenden Nachrichten überhohe Wellen, die ihr Leben zu kippen drohen.

Mit der Wasserfolter können Menschen durch stetig auf den Körper tropfendes Wasser um den Verstand gebracht werden. Jeder einzelne Tropfen ist ein Nichts. Das permanente Tropfen allerdings reisst am Verstand.

Ruth hat sich nach dem Tod ihres Mannes in ihrem neuen Leben eingerichtet, zumindest einigermassen, denn der Schmerz sitzt noch immer tief. Sie lebt in einem kleinen Holzhaus, das sie einst zusammen mit Ludwig baute. Zwei ihrer drei Kinder führen ein eigens Leben. Und der Jüngste, auch wenn er in der Schule nicht sein Möglichstes tut, schickt sich immer deutlicher an, ein eigenes Leben führen zu wollen. Ruth ist erfolgreich in ihrer Arbeit, zufrieden mit ihrem „Alleinsein“, an dem sie gar nichts ändern will. Eine Ruhe, die nicht leicht zu erreichen war, denn Ruth hatte nach dem Tod ihres Mannes feststellen müssen, dass Ludwig nicht der war, für den sie ihn ein Leben lang hielt, zumindest was seine Treue betraf. Ludwig führte ein Nebenleben, von dem Ruth erst beim Aufräumen seiner Hinterlassenschaft erfahren musste. Ein Stachel, der ihr nicht einfach nur Schmerzen bereitete. Er verunmöglichte jene Trauer, mit der sie sich gerne von ihrem Mann verabschiedet hätte.

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser Berlin, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27103-6

Und als mit einem Mal, wie aus dem Nichts, Nachrichten über Social Media in ihr Dasein eindringen, Nachrichteten, die von Mal zu Mal verletzender und zerstörerischer werden, Nachrichten, die nicht nur an sie gelangen, sondern an alle, die zu ihrem Umfeld gehören, bis zu ihren Arbeitgebern, bröckeln all jene Sicherheiten, auf denen Ruth ihr neues Leben einzurichten versuchte. Es sind Nachrichten, die nicht nur sie und ihren verstorbenen Mann beschmutzen. Es sind Nachrichten, die sich in der Brutalität ihrer Sprache ins Unterbewusstsein schleichen und dort zu steuern beginnen – nicht nur bei ihr, sondern aus Ruths Sicht auch in den Leben um sie herum, hinein bis in ihre Arbeit. Ein zerstörerisches Tropfen, gepaart mit der dauernden Frage, wer der Verfasser oder die Verfasserin dieser Nachrichten sein könnte. Bis hin zu Verdächtigungen, die sie an sich selbst zweifeln lassen, die ihre Familie, ihre Freundschaften belasten. Nachrichten, die zu einem immerwährenden Alp werden.

Wie wenig braucht es, dass ein Leben in Schieflache gerät. Wie verletzend können Wörter und Sätze sein, selbst wenn sie mit der Wahrheit rein gar nichts zu tun haben. Wie einsam kann man sich fühlen, wenn man sich nicht zu wehren weiss, wenn sich Dinge in ein Leben einmischen, die nicht zu beeinflussen sind. So sehr wie Krebs Ruths Freund von innen zerfrisst, sich unaufhaltsam an seine Zerstörung macht, so kann das zersetzende Gift von Unwahrheit und Beleidigung das Denken und Handeln zerfressen. „Die Nachricht“ offenbart diesen Zersetzungsprozess, den Sog, den diese Zersetzung auszulösen vermag. Ebenso eindrücklich beschreibt Doris Knecht unterschwellig aber auch jene Kraft, mit der man sich diesem Zersetzungsprozess entgegenstellen kann, auch wenn er damit nicht aufgehalten werden kann.

Klar liest man den Roman mit der Spannung, wer wohl der Verfasser dieser Nachrichten ist und was  die Gründe dafür sein könnten. Aber die eigentliche Spannung des Romans liegt ganz woanders: Ich will wissen, wie es Ruth schafft. Ich will sie siegen sehen. Ich will, dass sie ihr Leben zurück bekommt. „Die Nachricht“ dringt tief ein. Nicht nur, weil es Doris Knecht meisterlich versteht, die Spannung hochzuhalten, sondern weil ich weiss, dass das, was Ruth geschieht, auch mir passieren könnte, jetzt.

Interview

Obwohl es für Ruth immer klarer wird, wer der Verfasser dieser „Nachrichten“ sein könnte, bleibt jene Person eigentlich ein Gespenst, unfassbar. So wie anonyme Verfasser:innen von irgendwelchen Texten immer Geister sind. Wir leben im Zeitalter der Geister. Inhalte sind wichtiger als ihre Verifizierung, als ihre Verfasser:innen. Alles wird kommentiert, behauptet, erfunden. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein, dass Wahrheit subjektive Wahrnehmung ist. Ruth ist diesem Geist lange hilflos ausgeliefert, eine ganze Welt den Fake-News. Müssen wir kapitulieren?
Es ist jedenfalls sehr schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Bzw: sich gegen einen unfassbaren, anonymen Stalker zu wehren, braucht Fokussierung und eine Menge Energie, die einem dann woanders fehlt. Und meistens bringt es am Ende nichts, man verliert also. Ruth wird das bald klar, und sie wählt einen anderen Weg: Sich zu stärken gegen solche Angriffe, weniger verwundbar zu werden, das abperlen zu lassen. Allerdings: Das führt auch dazu, dass viele Frauen verstummen und sich unsichtbar machen, um nicht zum Ziel von Angriffen zu werden.

Warum schaffen wir das „einfache Leben“ nicht mehr? Ruth will doch eigentlich nur den Frieden mit sich selbst und der Welt. Ist unser Leben derart kompliziert geworden, dass wir uns nicht mehr auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können?
Es wird immer schwieriger, sich nicht ablenken zu lassen, wenn man nicht auf die Bequemlichkeiten des Internets, der digitalen Kommunikation, der sozialen Medien verzichten möchte. Da tun sich halt Welten auf, auch Wissens-Welten, in denen man sich gut verlieren kann. Das Problem ist: Wenn man darauf verzichtet, wird das Leben vielleicht ruhiger, konzentrierter, fokussierter, aber einfacher wird es nicht.

Es gibt in ihrem Buch, das eigentlich auch ein Liebesroman ist und ein Roman einer „Ernüchterung“ ist, ein ganzes Kapitel, dass sich wie eine Liebeserklärung liest. „Ludwig war ein kräftiger Mann…“ (S. 69). Ein Text wie eine Hymne. Ein Kapitel, dass deutlich macht, wie tief der Stachel der Enttäuschung sitzt und wie sehr sich das Ganze „entzündet“ hat. Pumpen wir Begriffe wie „Liebe“, „Familie“, „Ehe“ nicht zu sehr auf?
Unsere Gesellschaft macht Liebesglück, eine gelungene, funktionierende Ehe oder Beziehung, ein harmonisches Familienidyll leider noch immer zu einem Massstab eines erfolgreichen Daseins. Das schafft einen Erwartungsdruck auf Frauen und Männer, die für sich andere Existenzformen gewählt haben, der sich mitunter schwer abschütteln lässt.

Ruth steigert sich in das Rätsel dieser Nachrichten hinein. Das Fundament ihres Lebens scheint zu zerbröseln. Der Grat über den menschlichen Abgründen wird immer schmaler. Gibt Ihnen das Schreiben Halt, weil es ordnet? 
Tatsächlich ja. Man beschäftigt sich ja jahrelang mit dem Thema und den Figuren eines Romans, und mit diesem Thema habe ich mich besonders lange auseinandergesetzt. Daraus eine Geschichte zu machen, sie aufzuschreiben, sie für andere fühlbar zu machen, schafft ein gute Distanz, aus der sich auch komplizierte, schwierige Dinge klarer sehen lassen.

Am Schluss ihres Romans könnte das Wörtchen „Ende“ nicht stehen. Ich mag Geschichten, die nicht „zu Ende“ erzählt sind, weil keine Geschichte ein Ende hat, meist nicht einmal einen Anfang. Hätte die Geschichte im Prozess des Schreibens auch einen anderen Verlauf nehmen können oder war der Plan von Beginn weg festgelegt?
Ganz zu Beginn habe ich noch die Möglichkeit eines Rache-Exzesses erwogen, aus dem das Opfer als strahlende Siegerin hervorgeht. Mir war dann gleich klar, wie utopisch und märchenhaft das wäre. Ich wollte eine realistische Geschichte mit einem realistischen Ausgang erzählen, und das Match Feminismus gegen Patriarchat wird halt leider so gut wie immer vom Patriarchat gewonnen. Viele finden das Ende unbefriedigend, aber genau so ist das Leben nun mal.

Doris Knecht laust aus «Die Nachricht» am 5. November um 19.30 Uhr in der Kantonsbibliothek Frauenfeld. Reservationen bei der Organisatorin Marianne Sax (saxbooks.ch).

Doris Knecht, geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin (u.a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten) und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, Gruber geht (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen «Besser» (2013), «Wald» (2015), «Alles über Beziehungen» (2017) und «weg» (2019). Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensburger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Doris Knecht lebt mit Familie und Freunden in Wien und im Waldviertel.
 
 
Beitragsbild © Heribert Corn

Peter Henisch «Der Jahrhundertroman», Residenz

Wäre es ein anderer gewesen, der seinen Roman „Jahrhundertroman“ betitelt hätte, hätte ich das Buch nicht einmal in die Hand genommen, selbst wenn es ironisch gemeint gewesen wäre. Aber diesen Roman schrieb nicht irgendeiner, sondern Peter Henisch. Einer, der zu den ganz Grossen gehört, nicht erst ein paar Jahre, sondern seit Jahrzehnten. Einer, bei dem jedes nicht gelesene Buch ein potenziell grosses Versäumnis sein kann.

Roch ist ein schrulliger Alter, der zu den Stammgästen in jenem Café gehört, in dem die Studentin Lisa eine Arbeit gefunden hat. Eine Arbeit, die zum Allernötigsten reicht und längst nicht alles abverlangt. Denn es ist nicht viel, was es in dem Lokal, das einst viel bessere Zeiten erlebt hatte, zu tun gibt. Auch nicht, wenn Herr Roch dort sein immer gleiches Frühstück bestellt und alles dafür tut, die junge Kellnerin Lisa in ein Gespräch zu verwickeln. Irgendwann erzählt er von einem Manuskript, seinem grossen Roman, den er beabsichtige, endlich zu einem guten Ende zu bringen, seinem Jahrhundertroman, die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, erzählt mit den Geschichten jener Literaten, die in diesem Jahrhundert seine Stadt, die Stadt Wien bewohnten. Er brauche jemanden, der das von Hand geschriebene Manuskript abtippe, biete zwei Euro pro Seite. Irgendwann wird die abgegriffene Mappe mit dem Papierbündel wie heisser Stoff im Café übergeben, denn die sonst kaum je anwesende Wirtin will nicht, dass Gäste ihrer unentbehrlichen Kellnerin zu nahe kommen. Aber als Lisa in ihrer WG das Manuskript auspackt, muss sie feststellen, dass sie den Text nicht einmal bruchstückhaft lesen kann, denn Rochs kryptische Handschrift ist für sie nicht zu entziffern. 

Lisa bringt das Manuskript in Rochs Depot in der Floriangasse 4A (einer Adresse, die es tatsächlich gibt), dorthin, wo sich Roch mit seinem Manuskript, seinem Leben zurückgezogen hatte. Einem Lagerraum, in dem er jene Bücher hortet, die er bei der Auflösung seine Bücherei vor der Vernichtung rettete und sich mit all jenen Büchern umgibt, die er auf seinen immer seltener werdenden Streifzügen in seine Höhle schleppt. Nach etwelchen Versuchen sitzen sie dann wirklich nebeneinander und Roch bittet Lisa, nachdem er den Schmerz darüber, dass Lisa bei sich zuhause den nicht nummerierten Seitenstapel doch tatsächlich entgegen seinen Warnungen durcheinanderbrachte, eine und immer noch eine andere Seite herauszuziehen, damit Roch ausbreiten kann, was in seinem Jahrhundertroman sonst für immer verborgen bleibt.

Peter Henisch «Der Jahrhundertroman», Residenz, 2021, 388 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7017-1731-6

Da wäre diese Geschichte zwischen dem Alten und der Jungen. Eine Geschichte der Annäherung, die für sich als Geschichte schon genügen würde. Aber eben nicht für einen Jahrhundertroman. Da ist noch die Geschichte von Semira, Lisas Freundin, die seit einigen Monaten in Österreich als Flüchtling Fuss zu fassen versucht, der aber die Ausschaffung droht und sich deshalb dem Arm des Gesetztes entzieht. Durchaus ein Thema, ein Thema, das nicht erst in der Gegenwart in einem europäischen Land zum Knackpunkt von Politik und Gesellschaft geworden ist. Aber nicht genügen würde für einen Jahrhundertroman.
Lisa zieht Blatt um Blatt aus dem Manuskript, dass die Geschichte der Stadt Wien mit den Geschichten ihrer Dichterinnen und Dichter erzählt, über ein ganzes Jahrhundert, von Musil bis Jelinek, von Artmann bis Mayröcker. Von Thomas Bernhard, der sich vor der Première seines Stücks ‹Heldenplatz› vor der ganzen Stadt zu verstecken versucht, weil er weiss, dass er mit der schon verschobenen und durch Misthaufen verhinderten vorerst abgesagten Première einer selbstgefälligen Gesellschaft den Spiegel vorhalten würde. Oder wie Christine Nöstlinger einen Anruf von Ernest Hemingway bekommt, der sie bittet, seine Frau zu werden und Christine Nöstlinger glaubt, einer Verarschung von Helmut Qualtinger aufzusitzen. Oder wie Peter Handke im Kino wenige Reihen vor Roch und seiner Begleitung den Film wie ein Berichterstatter einer Veranstaltung mit Stift und Papier verfolgt und nach der Vorstellung förmlich nach Hause rennt (um seine Erzählung „Die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter“ niederzuschreiben). Geschichten, die sich alle wenig um ihren Wahrheitsgehalt kümmern, die das Buch von Peter Henisch aber zu einem  Feuerwerk der Fabulierkunst machen – eben zu einem Jahrhundertroman.

Was der fast achtzigjährige Schriftsteller auspackt, wie kunstvoll er konstruiert und mich als Leser immer und immer wieder überrascht, wie sehr man die Lust des Schreibens spürt, von einem, der sich an Form- und Farbvielfalt der Sprache so gar nicht bemühen muss, sondern alles wie flüssig warme Butter zu fliessen scheint – das beeindruckt ungemein. „Der Jahrhundertroman“ ist ganz viel, vielleicht nicht alles, aber ein fast 300seiten dickes Lesefest erster Güte. Schon lange nicht mehr habe ich mich beim Lesen so sehr amüsiert und berühren lassen wie bei diesem Roman – eben doch ein Jahrhundertroman. (Muss ja nicht der Jahrhundertroman sein.)

PS Wie ich sie liebe, die schrulligen Vögel, die sich im Papier einnisten!

PPS Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie mehr und fragen Sie Ihre Buchhändler:innen oder Bibliothekar:innen.

Interview

Ich mag Herrn Roch. Ich mag den Sonderling und Büchermenschen. Auch seine Unverfrorenheit. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass vieles von Roch zu Herrn Henisch passt. Oder ist meine Vermutung völlig falsch?
Natürlich freut es mich, dass Ihnen mein Buch so sehr zusagt. Ich will also versuchen, Ihre Fragen zu beantworten, so gut und einfach ich es kann. Dass manches von Herrn Roch zu Henisch passt, kann schon sein – gewiss hab ihm dies und das in den Mund gelegt, was ich auch selbst sagen würde. Jedoch ist er  – gefühlt – etwas älter als ich, deutlich frustrierter, von diversen Handicaps geplagt, die mich Gott sei Dank nicht plagen und eben eine Literaturfigur. Eine Literaturfigur, die ich allerdings recht lebendig vor meinem inneren Auge gesehen und dessen Stimme ich vor meinem inneren Ohr gehört habe, so lang ich in diesem Roman drin war.

Sie lassen mit der Studentin Lisa und Herrn Roch zwei Gegensätze auflaufen. Das meine ich wörtlich, braucht es doch einiges, bis sie sich finden, letztlich die beiderseitige Not. Sie haben eben Ihren 78sten Geburtstag gefeiert. Wie schafft man es, so nahe an der Jugend zu bleiben?
Dass Sie mir in Hinblick auf Lisa zugestehen, nahe an der Jugend geblieben zu sein, finde ich sehr schön. Ich hab sie mir, diese Neunzehnjährige, scheint mir, ganz gut vorstellen können. Anfangs habe ich dabei an eine Nichte meiner Frau gedacht, die eine nicht unähnliche Kindheit gehabt und sich dann sehr tapfer emanzipiert hat. Aber natürlich hat sich die Figur dann verselbständigt, ist eben jetzt Lisa, in deren Rolle ich mich hineinzudenken, hineinzufühlen versucht habe – eine gewisse Empathiefähigkeit gehört ja zu den Voraussetzungen lebendigen Schreibens, da war die Distanz der Jahre und des Geschlechts gar kein grosses Hindernis.

Wenn die Literatur etwas darf, dann ist es das Erfinden. Das ist nicht leicht in einer Zeit, wo dauernd „Fake-News!“ geschrien wird und gewisse Leute sich weigern, der Fantasie ihren Platz zu geben. Selbst bei Filmen braucht es den Zusatz „nach einer wahren Begebenheit“. Weisst heisst das schon. Dabei spielen sie gekonnt mit der Fiktion. Braucht es den Mut der Verzweiflung?
Ja, das Erfinden – in diesem Buch das Erfinden von möglichen, oft wünschenswerten Abweichungen von der sogenannten Realität… Sich vorstellen zu können (zu wollen), dass etwas anders hätte sein können, als es war … Interessant, dass Sie mich fragen, ob es dazu den Mut der Verzweiflung braucht? Darauf wär ich selbst nicht gekommen, mir hat es in der ersten Schicht eher Freude gemacht, aber vielleicht erspüren sie da etwas im Hintergrund, das eine tiefere Wahrheit hat. 

Sich etwa vorzustellen, dass Ödön vom Horvath nicht von jenem Ast getroffen worden wäre, den der Sturm von einem Kastanienbaum in den Champs Elysées gerissen hat. Und dabei zu wissen, dass es leider doch so war … Sehen Sie, ich habe auch eine Szene skizziert, in der Jura Soyfer, der, zwei Tage vor dem Einmarsch der Nazis in Österreich, auf Schiern in die Schweiz fliehen wollte, nicht von übereifrigen Grenzgendarmen aufgehalten und festgenommen worden wäre. Und dann wäre er eben nicht noch im letzten Moment in ein Gefängnis des Schuschnigg-Staates gesperrt worden (von wo er dann, nach Übernahme des Knasts durch die Nazis, ein paar Tage später ins KZ überstellt wurde) aber ich habe diese Szene dann weggelassen, sie hätte m.E. im Zusammengang des Romans zu schwer gewogen.

Büchereien, Buchläden waren einst Treffpunkte von Intellekt und Kultur. Heute sind sie immer mehr Kaufhäuser und Gemischtwarenhandlungen. Buchhandlungen hatten eine Mission. Heute biedern sie sich an. Und trotzdem verschwindet das gute Buch nicht. Werden Leser:innen von anspruchsvoller Literatur immer weniger?
Dass Leserinnen und Leser anspruchsvoller Literatur immer weniger werden, ist zu befürchten. Auch dass Literatur, wie wir sie meinen und lieben, immer weniger geschrieben wird. Das ist es ja, was auch Herr Roch befürchtet, deswegen will er ja den Autoren und Autorinnen seines Jahrhunderts, also eines inzwischen immer weiter in die Vergangenheit abgedrifteten Jahrhunderts, ein Denkmal setzen. Aber vielleicht ist der alte Herr doch etwas zu kulturpessimistisch.

Es gäbe ja eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die seiner Ansicht durch ihre Arbeit widersprechen. Mir fallen da in Österreich spontan die verschiedensten Leute ein; Thomas Stangl („Die Geschichte des Körpers“), Anna Weidenholzer („Der Winter tut den Fischen gut“) und Egon Christian Leitner („Sozalstaatsroman“). Aber die Tendenz, dass Literatur, die sich einfach als cooles Business versteht, in dem vorweg berechnet und dann entsprechend geschrieben wird, was der Zeitgeist verlangt, sowohl von den Verlagen als auch von den Buchhändlern – und dann natürlich auch von den Leserinnen und Lesern, eher angenommen wird, ist nicht zu übersehen.

„Der Jahrhundertroman“, ein ziemlich vermessener Titel. Hätten nicht Sie ihn genommen, hätte er mich als zu vermessen abgeschreckt. Dabei tut mir Roch nicht bloss einmal sehr leid. Ein Bündel Papier, das durcheinander geraten ist, über ein Jahrhundert, das durcheinander geraten ist. Nahmen Sie all die grossen Namen an der Hand und verrieten Ihren ihre Geheimnisse (Geheimnisse müssen ja nicht wahr sein!)?
Dass der Titel „Der Jahrhundertroman“ zu dem Missverständnis Anlass gibt, der Autor (also der Herr Henisch) sei vermessen, grössenwahnsinnig, unrealistisch, was seine Selbsteinschätzung betrifft, war ein Risiko, das ich vielleicht etwas unterschätzt habe.  Andererseits stellt sich doch schon beim Überfliegen des Klappentextes und erst recht nach wenigen Seiten der Lektüre heraus, dass sich der Titel auf den Roman des ehemaligen Buchhändlers und Büchereiangestellten Roch bezieht, ein Manuskript, das die Studentin Lisa abtippen soll, nicht lesen kann, durcheinanderbringt. Ein Fragment, in dem die Chronologie abhandengekommen ist, in dem v.a. der Anfang mit Musil, den der Protagonist sucht, bis ganz knapp vor Schluss nicht zu finden ist. Ein Fragment, das nach und nach von der außersprachlichen Wirklichkeit überholt wird.

Apropos Musil & Co – die großen Namen kommen ja übrigens auch nicht irgendeinem fragwürdigen Kanon entsprechend vor. Manche, wie jener der Frau Nöstlinger, überraschen dann vielleicht auch ein wenig. Dass mich die Träger dieser Namen an der Hand nehmen und mir ihre Geheimnisse verraten ist ein hübscher Gedanke, ist aber nicht ganz der Fall. Ich hab halt ein gewisses Einfühlungsvermögen auch in diese Personen, keine Berührungsängste, keinen übertriebenen Respekt und manchmal eine gewisse Lust daran, ihnen etwas Alternatives anzudichten.

Sie gründeten 1969 die Literaturzeitschrift „Wespennest“. Lange Jahrzehnte eine Institution im Literaturbetrieb, weit über die Landesgrenzen hinaus. Literaturzeitschriften gibt es noch immer. Und doch ist ihre Bedeutung nicht mehr die, die sie einmal hatten. Warum protzen dafür „Schöner wohnen“, „Bleib gesund“ und „Motorwelt“?
Zweifellos hat es in den Sechziger-und Siebzigerjahren mehr davon gegeben und sie haben mehr bedeutet als heute. Das war eine Zeit, in der viele jungen Leute geradezu literatursüchtig waren – so ähnlich erinnert sich Roch in meinem Buch. Das wird er Lisa vielleicht erzählen, aber er bezweifelt, dass sie es glauben wird.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät. Studium der Philosophie und Psychologie. 1969 gemeinsam mit Helmut Zenker Begründung der Zeitschrift «Wespennest». Seit den 1970er­n freischwebender Schriftsteller. 1975 erschien Henischs erster Roman «Die kleine Figur meines Vaters», seitdem zahlreiche Romane. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Kunstpreis

Amanda Lasker-Berlin «Iva atmet», FVA

Köcherbäume sind in Namibia heimisch, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, und gedeihen nur schwer in einem Dresdner Villenviertel, schon gar nicht, wenn sie dort links und rechts des Eingangs einbetoniert sind, mit Chemikalien vor dem Verrotten bewahrt, als Erinnerung an eine Zeit, die man eigentlich lieber vergessen lassen will.

Iva kehrt in dieses Haus zurück. Ein Haus, das leer geworden ist und bloss noch von einer polnischen Haushälterin bewohnt wird. Ivas Vater liegt im Krankenhaus, angeschlossen an lebenserhaltende Maschinen, ohne Chance, je wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Und weil es das Ende von Evas Vater sein wird, weil die Mutter das Haus längst fluchtartig verlassen hatte und Evas Geschwister mit dem Gemäuer und dem alten Mann darin nichts mehr zu tun haben wollten, tritt sie ein in ein Leben, in das sie eigentlich nicht mehr zurückkehren will. Warum nicht zuhause bei ihrem Mann Roy und ihrem Jungen Shlomo bleiben? Warum nicht einfach alles seinen Gang nehmen lassen? Warum ein Leben unterbrechen, um in ein Leben zurückzukehren, das man einst mit wehenden Fahnen zurückliess?

Amanda Lasker-Berlin «Iva atmet», Frankfurter Verlagsanstalt, 2021, 320 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-627-00285-5

Amanda Lasker-Berlin nimmt mich an der Hand und mit in dieses Haus, hinter Türen, vorbei an Wänden, die mit ausgestopften Tierköpfen verhängt sind, in Zimmer, aus denen das Leben längst entwichen ist, in denen aber unverdaute Erinnerungen sabbern. Erinnerungen an Evas Grossmutter, die man zusammen mit den beiden Köcherbäumen aus Namibia in Deutschland einsetzen wollte, nachdem sie als Kind das Land fluchtartig verlassen musste. Ihr Land, das Land, das die Wilden ihr genommen hatten, in dem Deutschland als Kolonialmacht zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Aufstand der einheimischen schwarzen Völker brutal niederschlug, Völkermord beging. Eine Grossmutter, die mit ihrem Mann während der Naziherrschaft zu den Parteibonzen gehörte und sich schamlos am Reichtum der verschleppten und ermordeten Juden bereicherte. Erinnerungen an eine Mutter, die einst mitten in der Nacht mit blutendem Gesicht in Evas Zimmer stand und von Iva eine Entscheidung forderte; mitkommen oder bleiben, jetzt gleich.

Iva fährt von ihrer Familie weg, weg von ihrem Mann und ihrem kleinen Kind. Weg von Roy, der aus einer so ganz anderen Familie stammt als sie selbst, dessen Vater in einer schmuddeligen Wohnung in einem Hochhaus Akten, Fotos und Berichte sammelt, die unter anderem die verbrecherische Vergangenheit Ivas Familie dokumentieren sollen. Shlomo, Iva und Roys Junge heisst nicht aus einer Laune heraus Shlomo. Ein Name aus der Geschichte Roys Familie, ein Name, der „Friede“ bedeutet. Sie fährt zum Haus ihrer Familie, in der sich das Schweigen schon seit Jahrzehnten eingenistet hat, in der man nicht nur Köcherbäume tot einbetoniert, sondern auch die Geschichte und Geschichten, die dahinter stecken. Auch die Geschichte Ivas Geschwister Jette und Alexander. Jette, die dort wo die Köcherbäume herkommen nach Spuren sucht und Alexander, der am Gewicht seines Vater zerbrochen ist und erst zurück ins Haus seines Vaters kommt, als dessen Sterben absehbar und unausweichlich ist.

Was heisst es, als Kind aus einer Familie zu stammen, die sich in der Vergangenheit schuldig gemacht hatte? Ivan sitzt im Krankenhaus am Bett ihres sterbenden Vaters. Von ihm sind keine Antworten mehr zu erwarten. Aber selbst wenn er stirbt, wird das, was sich über Generationen an blutigen Spuren nicht leugnen lässt, weiter wirken, wie radioaktiver Abfall.

Amanda Laker-Berlin erzählt behutsam und unspektakulär. Ohne dass die Geschichte aufzublasen wird, begleite ich eine Frau, die ringt und sucht, die sich dem stellt, was hinter Fassaden verborgen bleiben soll. Der Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika, die Schoah, der Nationalsozialismus, Themen die im Roman „Iva atmet“ nicht bloss einfach Kulisse und Katalysator sind, sondern der Grund, auf dem das Haus aufgebaut ist. Iva atmet schwer!

Interview

Auf dem Umschlag ihres Buches ist ein Köcherbaum abgebildet. Aber umgekehrt, sodass er aussieht wie ein Lungengeflecht. Ihr Roman heisst „Iva atmet“. Iva hat immer einen Asthma-spray bei sich. Es ist nicht nur der Stress, der ihr den Atem nimmt. Das Verschwiegene, Unausgesprochene, letztlich das Lügen nimmt ihr den Atem. Was nimmt Ihnen den Atem?
Den Atem nimmt es mir, wenn ich die starken Ausprägungen des Klimawandels wahrnehme und dann überlege, wie stark sich die Lebensweise verändern muss. Die Überflutungen in Deutschland diesen Sommer, haben allen vor Augen geführt, dass die Katastrophen auch uns treffen und in Zukunft weiter treffen werden. Mich beschäftigt, wie es möglich ist, Krisen und Veränderungen als Gesellschaft zu meistern, ohne das es zu Radikalsierungen und Ausschlussmechanismen kommt. Auch die Coronakrise hat mir teilweise den Atem genommen. Sie schon jetzt so viele Verwüstungen in der Kulturbranche hinterlassen. Und ich wünsche, dass vieles wieder- oder neuhergestellt werden kann.

Die Grossmutter malte. Sie malte die südwestafrikanische Idylle. Sie selbst malten auch und erklären in einem Interview, dass das Schreiben Ihnen mehr Wege in die Tiefe gebe, das Malen durch die Ränder der Leinwand begrenzt sei. Sie schreiben auch Theater. Dort ist das Geschehen durch die Möglichkeiten der Bühne begrenzt. Steht beim Malen wie beim Schreiben nicht über allem die Frage, ob man Tiefe will oder lieber an der Idylle koloriert?
Ich glaube eigentlich nicht, dass Geschehen durch technische Möglichkeiten auf der Bühne oder durch Grenzen von Leinwänden beschränkt ist. Die Bildenden Kunst, das Theater und die Literatur können sich immer so weit ausbreiten, wie die Phantasie und die Bereitschaft es zu lassen. Sie sind schliesslich vermittelnde Elemente zwischen Rezipierenden und Agierenden. Ich wünsche mir oft mehr Bereitschaft sich auf Kunstwerke einzulassen und zu erforschen, wie viel sich in ihnen verbirgt. Für mich persönlich ist das Schreiben der künstlerische Weg, durch den ich mich am kraftvollsten in die Tiefe sprengen kann.

Wahrscheinlich gibt es in jeder Familie Geheimnisse. Und auch Geheimnisse, über die man nicht spricht. Aber Geschehnisse, die gar keine Geheimnisse sind, aber mit Bedacht als solche behandelt werden, weil man genau weiss, wie viel Gefahr von ihnen droht, sind die schlimmsten. Geheimnis aufbrechen um jeden Preis?
Das ist schwierig. Ich denke, dass jeder Mensch Geheimnisse haben muss. Sie sind schliesslich auch Schätze. Wenn diese Geheimnisse, aber andere Menschen direkt tangieren, halte ich einen offenen Umgang für wichtig. Gerade in einer Familie wie der von Iva. Dort wird die Vergangenheit ja nicht vollständig verschwiegen. Die NS-Zeit wird zelebriert und die Ideologie weitergetragen. Was in dieser nicht stattfindet ist eine Reflektion und das Überdenken der eigenen Perspektive.  Ich halte das Reflektieren von Zusammenhängen und Diskutieren von Ereignissen für essenziell.

Roy, Ivas Mann, sagt ihr einmal: „Seitdem ich dich kenne, bist du auf der Flucht, Iva.“ Dabei ist der Mensch mit seinem aufrechten, aber mit dem Alter immer schwerfälligeren Gang ein denkbar schlechtes „Fluchttier“. Therapien alles Art florieren, weil wir uns von alleine dem nicht stellen, wovor wir fliehen. Ist Schreiben eine Gegenbewegung zur Flucht?
Ja, ich denke schon. Schreiben und auch Lesen sind Auseinandersetzungen. Sie können die Angst, das Unbehagen vor Themen nehmen. Bei mir beobachte ich oft, dass ich mich mit Thematiken beschäftige, die mir auf unterschiedlichste Weisen Angst machen. Wie in meinem ersten Roman „Elijas Lied“ die Ideologie der Neuen Rechten. Beschäftigung und das Schreiben mit solchen Themen hilft einen vernünftigen Blick auf Veränderungen und Entwicklungen zu bekommen. Gleichzeitig löst es natürlich keine gesellschaftlichen Probleme, aber erschafft Denkräume, die Anstöße geben können.

Wie sind sie auf den Völkermord im heutigen Namibia gestossen? Kein Thema, das in der Deutschen Literatur einen gossen Hallraum hätte!
Das stimmt. Und das hat mich verblüfft. Ich habe mehr oder weniger zufällig von dem Genozid erfahren und mich erschrocken, wie wenig ich darüber wusste. In meiner Schulzeit war die deutsche Kolonialgeschichte etwas kaum Erwähntes. Auch in meinem Studium war sie kein Thema und das hat mich sehr irritiert. Deshalb habe ich angefangen zu recherchieren. Ich denke, dass zu diesem Thema noch viel geschrieben, gedacht und gesagt werden muss. Und das vor allem die Opferverbände mehr Gehör bekommen müssen. 

Amanda Lasker-Berlin, geboren 1994 in Essen, inszenierte mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück. Nach einem Studium der Freien Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert sie Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Ihre Theaterstücke und Prosa wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, «Elijas Lied» wurde mit dem Debütpreis der lit.COLOGNE 2020 ausgezeichnet und für Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur nominiert. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Videoporträt 

Beitragsfoto © Nora Battenberg-Cartwright

Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus

„Krumholz“ ist ein Stück Wald, in dem Agatha ihr Leben liess. Aber vielleicht auch das Leben der beiden Protagonisten, deren Leben nie gerade verlief, das wie ein krummes Stück Holz abgerissen vom Ganzen weggeworfen wurde. Flavio Steimann ist ein Meister der stimmungsvollen Sätze, die in fast barockem Glanz so ganz anders klingen wie das Einerlei des Mainstreams.

Klar, es gibt den süffigen Wein, den süssen, den herben, den vollen, den trockenen. Wäre „Krumholz“ ein Wein, dann wäre es Portwein, schwer und nur in keinen Schlucken zu geniessen. Zwar las ich den Roman im Liegestuhl an einem breiten Fluss, aber im Wissen darum, dass ich dem Geschenk dieses Buches nicht gerecht werde. Da ist wohl eine Story, gar verbürgt und in seiner Abfolge amtlichen Akten nachempfunden. Was den Roman aber so genussreich macht, ist seine opulente Sprache, die Kontraste und Farben überzeichnet, das Lesen zu einem Schmaus mit jenen Sinnen wachsen lässt, die im Kopf Farben, Formen, Rhythmen und Empfindungen evozieren. Mag sein, dass meine Beschreibungen hymnisch werden. Aber als ich das Buch gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, ihm nicht gerecht geworden zu sein. Ich hätte es langsamer lesen sollen, immer wieder weglegen, die Lektüre zu einem Zeremonie machend. Eben wie bei Portwein, und zwar mit jenem von der teuren Sorte.

Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus, 2021, 195 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96054-247-6

Agatha kommt Ende des 19. Jahrhunderts zur Welt, irgendwo im Nirgendwo, in einer Bauernfamilie, die eh schon ums Überleben kämpft. Bei der Geburt entscheidet sich der junge Arzt, den die verzweifelnde Hebamme herbeiholt, für das Leben des Neugeborenen. Die Mutter stirbt, der Vater zerbricht. Der Hof geht vor die Hunde. Und als klar wird, dass das kleine Mädchen taub ist und der Vater es nicht mehr schaffen wird, gibt man das Mädchen vorübergehend Verwandten in Obhut, bis sich die Ämter melden und man das Mädchen in eine «Armen- und Idiotenanstalt» steckt. Wie Flavio Steimann, der auch als Theaterautor erfolgreich ist, das Geschehen in jenen Gemäuern beschreibt, zum Beispiel als der Störmetzger eine Sau schlachtet und die Schlachterei zu einem opulenten Szenenspektakel macht, zwingt mich der Autor am Ende der Lektüre noch einmal zu den markierten Stellen zurückzukehren, um noch einmal in den Bildern zu baden.

Als Agatha alt genug ist, um für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, schickt man sie in eine der vielen Textilfabriken, die am Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Boden schiessen. Ganz allmählich beginnt die junge Frau die Welt zu erkennen, bis man bei einer der damaligen mobilen Reihenuntersuchungen bei ihr Tuberkulose diagnostiziert und die junge Frau auf einen Hof auf dem Land zur Erholung schickt. Und weil sie nicht arbeiten soll, zieht sich Agathe in den nahen Wald ins „Krumholz“ zurück, aus dem sie eines Tages nicht mehr zurückkehrt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Flavio Steimann von Innozenz Torecht, genannt Zenz. Zenz ist ein Vagabund, ein Herumtreiber, dauernd auf der Flucht, vor sich selbst, seiner Vergangenheit, dem Hunger, den Ämtern, mal in Paris als Modell in den Diensten eines Künstlers, mal als Halbwilder in den Wäldern. Bis zu jenem Tag, als er eine junge Frau im Wald antrifft, eine junge Frau, die die Begegnung mit dem Streuner und Ruhelosen mit ihrem Leben bezahlt. Man wird ihm habhaft, steckt ihn ins Gefängnis, macht ihm den Prozess und einen Kopf kürzer.

Flavio Steimann erzählt zwei Leben, die sich fatal kreuzen. Von zwei Menschen, denen die Gesellschaft von Beginn weg den Stempel des Verlierers auf die Haut brennt, die man auf die Seite der Bösen, Missratenen, vom Teufel Besessenen drängt, mit Unterstützung der Kirche und des Staates, in einer Zeit, die doch eigentlich im Aufbruch steckte. Aber Menschen, und vor allem die Armen, Rechtlosen, sind Material.

Gerade weil einem das Geschehen manchmal fast mittelalterlich dünkt und die Geschehnisse parallel mit den Errungenschaften der aufkommenden Psychologie einhergehen, reisst die Geschichte mit. Dass mich Flavio Steimann dabei fast überbordend in den Strudel seiner Sprache hineinzieht und dabei alle Regeln der Sprachbescheidenheit elegant umschifft, macht «Krumholz» zu einem Sonderling. So wie Portwein. Allen schmeckt er nicht! Aber mir!

Interview

Der Inhalt ist authentisch, beruht auf einem «Fall» aus dem Jahr 1914. Wie sind sie auf den Stoff gestossen? Solche Geschichten offenbaren sich ja meist durch aktives Suchen, wenn auch auf der Suche nach etwas ganz anderem.
Es war in der Tat so: Ich habe aus Interesse Akten zum Prozess gegen den Vierfachmörder Matthias Muff besorgt und bin dabei quasi als Beifang auf das Urteil über Wütschert gestossen. In groben Zügen war mir seine Geschichte bereits bekannt; in der Dokumentation durch die Behörde mit dieser speziellen formaljuristischen und gleichzeitig selbstgerechten Ausprägung aber hat mich die Sache dann nicht mehr losgelassen, insbesondere auch, weil das weibliche Opfer als Objekt des Delikts nur in wenigen Worten erwähnt wird. Um die Idee nicht am Faktischen ersticken zu lassen, habe ich das dünne Büchlein mit dem Urteil des Luzerner Obergerichts nach der Lektüre lange Zeit liegen lassen, bis sich eine Art Vergessen einstellte; ich wolle mich bewusst wieder vom authentischen Fall lösen und ihn nur noch modellhaft verwenden. Geblieben ist letztendlich der Umriss als Plot mit seinen beiden Hauptfiguren, die ich aber fiktional gestaltet habe – unter Beibehaltung gewisser Schnittmengen mit dem historischen Personal, wo ich es für wesentlich und adäquat erachtete.

Die Geschichte, der ganze Roman lebt vom Kontrast. Auf der einen Seite eine Gesellschaft im Aufbruch, der Wechsel von einer reinen Agrar- zu einer Industriegesellschaft, das Aufbrechen der Psychologie, der Kunst. Und auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die noch immer in ganz klare Muster trennt; unten und oben, gut und böse, Privileg und Material. Auch in Agatha und Zenz offenbaren sich diese Kontraste. Lieben Sie den Kontrast?
Verschiedenheit, Ambiguität und Ambivalenz machen den Reiz der verschiedenen Literaturen und damit auch des Lesens aus. Jedes gelungene Erzählen lebt in irgendeiner Form von Unterschieden, Gegenteilen und Kontrasten – im Guten wie im Schlechten. Was in meinen Texten, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, dazukommt, ist die Realität des sozialen Gefälles, sowohl was den Lebensstandard als auch die Geistesschulung betrifft. Diese Diskrepanz ist auch auf unserer modernen Welt bei Weitem noch nicht überwunden. Ganz im Gegenteil. Hinsichtlich Armut, Bildungsmangel und Ausgrenzung sind Aga und Zenz gewissermassen Zwillinge. Trotz unterschiedlicher Charaktere leben aber beide ganz unten, und das Delikt macht die Fatalität ihrer Lebenskatastrophen zudem unabwendbar und endgültig.

Mein Deutschlehrer warnte uns einst vor einem übermässigen Gebrauch von Adjektiven. Trotzdem hätte mein Deutschlehrer wahrscheinlich Freude an ihrem Roman gehabt, denn es gibt nichts Heikleres im Schreiben, als eben diese Sorte Wörter richtig einzusetzen. Aber weil sie ihr Erzählen in einen so ganz eigenen Sound eintauchen, stört die Würze nicht. Es ploppt in den Rezeptoren! Drängte sich das von Beginn weg auf?
Literarische Texte schreibe ich mit der Feder unbeeinflusst von formalen Überlegungen aus der Hand heraus und folge dabei einer Intuition, die mir ohne ein gewolltes Zutun Duktus und Klang vorgibt. Das Beschriebene oder Erzählte wird somit Ergebnis eines unkontrollierten generativen Schreibakts und nicht eines absichtsvollen Konstruierens. Strukturelle Analysen auf der Metaebene mache ich keine, somit fehlt mir ein klar definiertes Bewusstsein für die Art meines Schreibens, und allfällige Überhänge von einzelnen Wortarten nehme ich nicht wahr. Dennoch: Einleuchtenden, nachvollziehbaren Vorschlägen zu Lektoratseingriffen entziehe ich mich nicht; letztlich gibt es aber so viele verschiedene Rezeptionen und Urteile wie Lesende, und jene sind nicht selten diametral, immer aber breit gestreut.

Es hätte eine Kampfschrift für die Verlorenen, Unterdrückten werden können. Und doch, trotz aller sprachlichen Nähe, bleiben sie beim Schreiben in erstaunlicher Distanz, halten sich mit jeglicher Interpretation zurück. Auf der einen Seite sprachliche Opulenz, auf der anderen Seite erzählerische Distanz. Wieder ein Kontrast?
Wenn man so will. Ich verstehe mich als Erzähler und nicht als Erklärer von Geschichten. Weil ich davon ausgehe, dass es ohnehin keinen Plot, keine Romanidee gibt, die nicht schon auf der Welt wäre, ist für mich in allererster Linie die Form, der sprachliche Zugriff auf das Gewählte entscheidend. Dieser bestimmt letztlich auch den Standpunkt und die Haltung der Autorschaft: Bei aller Empathie für mein Personal will und kann ich nicht aktiver Anwalt oder gar Interpret sein: Wertungen, Urteile, psychologische Einordnungen sollen nicht Elemente meiner Prosa sein. Zuzustimmen oder abzulehnen, Nähe oder Distanz zum Roman und seinen Figuren zu finden, ist in jedem Fall Angelegenheit des Lesepublikums.

Ihr vorheriger Roman „Bajass“ und „Krumholz“ sind verwandt. Ist das Programm?
In einem bestimmten Sinne, ja! Zusammen mit „Aperwind“ (1987) sind diese letzten Werke in einer weiten Klammer trilogisch zu verstehen. Die Bücher sind im Wesentlichen in drei verschiedenen Bereichen verortet, die auch Gegebenheiten und Biografien meines familiären Hintergrunds geprägt haben: Die technischen Errungenschaften der anbrechenden Moderne und die damit verbundene Emigration sowie die Reduktion des Menschen auf seine Arbeitskraft. Angesiedelt habe ich diese Texte bewusst in einer Periode des vielfältigen Aufbruchs vor und nach der Jahrhundertwende von 1900 – es gab da, neben viel anderem, Eisenbahnprojekte, die Erfindung der drahtlosen Telegrafie und der Kunstseide, die Blüte der Atlantikschifffahrt mit dem Traum von Amerika – fundamentale dramaturgische Elemente, die in meinem Erzählen mehrschichtig als Hintergründe oder Treiber wirken.

Flavio Steimann, geboren 1945 in Luzern, ist seit 1966 literarisch und als Theatermacher tätig und veröffentlichte Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Er wurde ausgezeichnet mit dem Förderpreis von Stadt und Kanton Luzern, mit dem Schweizerischen Schillerpreis und mit dem Förderpreis der Marianne und Curt-Dienemann-Stiftung Luzern. Sein Roman «Bajass» erschien 2014 und wurde 2020 in Luzern als Theaterfassung uraufgeführt.