Ruth Werfel «Ausgeträumt», Bucher, Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

Die Kulturjournalistin und Lyrikerin, Ruth Werfel, legt ein Lyrikband vor, der eine breite Palette an Gefühlen auslöst oder bedient. Das Buch liegt angenehm und bibliophil schmuck gemacht in den Händen, das Lesen öffnet Tiefen. Dazu stellte der Journalist Urs Heinz Aerni der Autorin in paar Fragen.

«Die Zweifel sind das Gerüst.»

Urs Heinz Aerni: Der Titel Ihres Lyrikbandes heißt schlicht und einfach «Ausgeträumt». Zuerst las ich «Ausgeräumt». Was meinen Sie dazu?

Ruth Werfel: Hm… Ein freudscher Verleser? Oder doch eine engere Verwandtschaft? Cousins, vielleicht?

Aerni: Ihre Gedichte hinterlassen beim Lesenden allerhand Gefühle. Von witzig-fröhlichen wie zum Beispiel beim Gedicht «Spuk-Puck» über wütende auf die Welt wie auf den Seiten 74 und 75, bis hin auch zu zweifelnden und melancholischen wie beim Gedicht «Ohne Lösung». Ist das auch Ihr Weg beim Schreiben; vom Reflex der Emotion zum Griff in die Tastatur?

Werfel: Das ist ganz verschieden. Ein Gedicht meldet sich, wie Klingeln an der Haustür – siehe Seite 12 – es beruht auf Gedanken, einem Erlebnis, oder auf einer Fotografie in der Zeitung. Es gibt ganz verschiedene Auslöser, die zu einem kleinen Text führen.

Ruth Werfel «Ausgeträumt», Gedichte, Bucher Verlag, 2020, 100 Seiten, CHF 20.90, ISBN 978-3-99018-529-2

Aerni: Ihre Arbeit bewegte sich eine Lebenslänge zwischen Kulturjournalismus, Literatur und Poesie. Wie sehr kann ein Leben für die Kultur auch bewirken, dass die Kultur das Leben bereichert?

Werfel: Kultur – wie weit man diesen Begriff auch auslegt – ist eine einzige Bereicherung. Ein Leben ohne Kultur: Unvorstellbar.

Aerni: Zurück zur Ihrer Lyrik. Wie darf man sich die Arbeit daran vorstellen? Wann wissen Sie, dass es vollendet ist, das Gedicht?

Werfel: Nie. Die Suche nach dem einzig richtigen Wort, der stimmigen Sprachmelodie, sind treue Begleiter von der ersten Fassung bis zum gedruckten Text. Das Ändern, Feilen, Reduzieren ist einfach nie fertig. Zweifel sind das Gerüst, an dem entlang geschrieben wird.

Aerni: Im Feuilleton wird gespart, Kulturbudgets werden gestrichen, der Buchhandel steckt in der Krise und Sie schicken schöne Poesie in die Welt hinaus. Wie groß ist Ihr Glaube an die Zukunft?

Werfel: Ich habe keine seherischen Fähigkeiten. Zum Glück! Selbst Kassandra hat sie verloren: «nur Chaos träumt sie – nur Chaos total» (schlägt Seite 73 auf, dreht das Buch um und schiebt es dem Interviewer zu).

Kassandra

Hilfloser Versuch
die Zukunft zu stammeln Künftiges gespiesen
aus Vergangenheit
und Gegenwart Kassandra
schläft
verschwommen
die Träume
verhangen
der Seherblick
nur Chaos träumt sie nur Chaos total

Hurra!

In Gedanken zum Krieg Hurra!
Männer wollen Krieg Hurra!

Potentaten zahlen Krieg Hurra!
Industrien brauchen Krieg Hurra!

Krieg in den Köpfen Krieg in den Hoden Krieg in den Kassen Hurra!

Klon

Da sitzt diese Person
im Café
hallo, denke ich
Bekannte soundso
und grüsse freundlich Erstaunen beim Gegenüber Pech gehabt

war nur ein Klon
selbe Szene anderer Tag hallo, denke ich
das ist der Klon
verzichte auf den Gruss Befremden beim Gegenüber Pech: es war das Original

(Gedichte veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

Ruth Werfel ist mit tschechisch-polnisch-jüdische Wurzeln; geboren, auf- gewachsen, Schulen und Studium in Zürich; freie Kulturjournalistin; Kuratorin der Ausstellung «Gehetzt». Südfrankreich 1940 – deutschsprachige Literaten im Exil; Herausgeberin der gleichnamigen Publikation im NZZ- Verlag; Lesungen, Lyrik, Bühnentexte. 2015 erschien ihr Lyrikband «Mit anderen Worten geht die Zeit» in der Edition Isele.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Norbert Hummelt «Sonnengesang», Luchterhand

Schluss mit Kultur? – das soll nicht sein. Wenn die veranstaltete Kultur ausfällt, bleibt (wieder) Zeit zum Lesen, Hören, Schauen. Kulturstillstand? Muss nicht sein! Kaufen Sie Bücher und Musik bei den HändlerInnen Ihres Vertrauens (bloss nicht bei Amazon!). Beteiligen Sie sich bei all den Benefizaktionen in den Sozialen Netzwerken! Bringen Sie Kultur zuhause zum Leuchten!

Warum nicht eine Lesung zuhause? Lesen Sie Ihren Kindern ein Buch oder eine Geschichte vor. Oder wenn nach all dem Homeoffice, der Kinderbetreuung zuhause, der Küchenarbeit und dem Telefonat mit der Mutter oder dem Grossvater noch Energie übrig bleibt, wenn auch nur ein Fingerhut voll, dann lesen Sie ein Gedicht. Ganz für sich selbst oder der/dem anderen, die/der sich im gleichen Bett ins Kissen kuschelt. Zum Beispiel Gedichte aus dem neuesten Gedichtband «Sonnengesang» von Norbert Hummelt:

amour fou
du handelst anders als du sagtest du redest
anders als du fühlst u. deine überall
verstreuten ausziehsachen u. dein strahlen
über jedes mass .. wer bist du u. wer
bin ich sitze ich da u. warte auf nichts
warst du denn nicht eben erst hier
die zimmerluft ist noch ganz feucht von dir

die verzauberung
sonntag gehen wir beim grossen stern die leicht
geschwungenen regenfeuchten wege u. ich gehe sie
mit dir so gern. vorüber am teehaus im englischen
garten, die späte sonne leuchtet dich kurz an, du ziehst
mich leise fort an deiner hand u. fragst, was ist das,
hinter diesem weiher, was für dinge hängen da im baum?
sieht aus wie weisse fahnen oder plastikzeug; doch es
sind reiher, u. uns zu rühren trauen wir uns kaum.
sie sollen doch jetzt wegen uns nicht fliegen. sie tun
es auch nicht; alle halten still. ich sah noch nie so
viele dieser vögel in fast schon kahlen winterlichen
ästen, flüstere ich in dein heisses ohr, doch kenne ich
mich auch so gut nicht aus. das alles kommt von
unseren küssen, u. keine stille ist noch je so tief
gewesen. ich möchte mit dir bis nach schweden
gehen. du ziehst mich leise fort an deiner hand.

waldeinsamkeit
im walde ging ich in dem jungen grün sah
überall den jungen bärlauch stehen
u. will mich nach dem jungen bärlauch
bücken aber kann es nicht denn
nein es geht nicht weil ich sehe
dich ich sehe deinen rücken wie du
dich beugst gebeugt hast du
vor einem jahr ich sehe dich den
jungen bärlauch pflücken immer mehr
du bist am pflücken u. du schaust
nicht her nur ich ich stehe da
u. sehe deinen rücken u. deshalb
kann ich heute mich nicht bücken
ich kann nicht mehr den jungen
bärlauch pflücken aber möchte es so sehr

Norbert Hummelt: „Sonnengesang“, Luchterhand, 2020; 96 Seiten, 29.90 CHF., ISBN: 978-3-630-87630-6.

Norbert Hummelt bezaubert ohne zu verklären. Seine Gedichte umgarnen mich in ihrer klugen Mischung aus Beobachtung, Witz und der Prise Ironie, die alles Wülstige wegwischt. Seine Gedichte sind Augenblicke, manchmal geschrieben wie kleine Geschichten, die sich mir nie durch Geheimnistuerei verschliessen. Da ist nichts gestelzt, nichts verklärt. Norbert Hummelt nimmt mich an der Hand. Manchmal bremst er mich, zeigt mir, was ich übersehen würde, um mir gleich danach zuzuzwinkern.

Als ich meiner Frau vor dem Lichterlöschen noch ein Gedicht oder auch zwei vorlas, leise in die Nacht hinein, sachte blätternd und sie nicht wusste, ob der Gesang schon enden würde, flüsterte sie: «Noch eins, bitte.»

Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk wurde er 2018 mit dem Hölty-Preis für Lyrik geehrt. Zuvor hatte er u.a. den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis, den Mondseer Lyrikpreis sowie den Niederrheinischen Literaturpreis erhalten. Er übertrug T.S. Eliots Gedichtzyklen «Das öde Land» und «Vier Quartette» neu ins Deutsche und ist Herausgeber der Gedichte von W.B. Yeats. Bei Luchterhand erschienen zuletzt seine Gedichtbände «Pans Stunde» und «Fegefeuer».

(Alle Gedichte von Norbert Hummelt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Verlags auf literaturblatt.ch veröffentlicht.)

Beitragsbild © Laura Baginski

4. Lyrikfestival Neonfische 7./8. März in Lenzburg

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!

Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.

PDF Programmheft Neonfische

Webseite Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Ruth Loosli «Hungrige Tastatur», Waldgut

Ruth Loosli ist eine Streiterin für das Wort, oft unterwegs, viel im Gespräch, immer mit spitzem Stift und kleinem Büchlein. Vor ein paar Jahren lud ich sie einmal ganz spontan zu einer Krimilesung in einer Buchhandlung in Winterthur ein. Ich sah sie am Schaufenster vorbeigehen, kurz stehen bleiben. Aber weil das Buch sie dann doch nicht zu fesseln vermochte, sass sie vor mir mit Stift und Büchlein und begann zu schreiben. Als wäre es hilfreich im Kampf gegen etwas, was ihr nicht gefällt. Als wäre Sprache, Schrift und Schreiben Schild und Speer, mit denen sie sich gegen das zur Wehr setzt, womit die Welt sie attackiert.

Gespräch mit Dichtung:

In einem ihrer Gedichte steht am Anfang:
Die Gedichte ruhen.
Sie sind Handläufe
die unserer Melancholie
schmeicheln und sie
hinunter auf die Strasse
begleiten.

Gibt dir das Schreiben Halt, eine Richtung? Braucht es das Schreiben und ganz besonders Gedichte, um eine immer schwerer zu lesende Gegenwart verständlicher zu machen? Gedichte als Kontrapunkt zu Fakten, denen man dann doch nicht trauen kann?

Das Dichten an sich, dem oft eine innere Aufmerksamkeit vorangeht, ein absolut konzentrierter Moment (wie der Moment, wenn ein Bogen gespannt wird) gibt mir Halt. Es ist meine Art, der Welt zu begegnen. Und auch meiner eigenen Alchemie, die immer wieder für Überraschungen sorgt, für Unsicherheit, für ein Ausbrechen ausgetretener Denkpfade. Überhaupt scheint der Verstand der heutigen Menschen ein Verzerrer zu sein und jeder will für sich in Anspruch nehmen, die Art, wie er die Welt sieht, sei die richtige. 

Das erscheint mir lächerlich. Wir sehen täglich, in welche Sackgassen uns dieses Denken führt. Natürlich muss man die Dinge ordnen können, aber sie auf schwarz-weiss hinunter brechen zerstört uns als Menschengemeinschaft und unsere Umwelt. 

Wenn dann noch ein Gedicht entsteht in meinem Alltag, ist das Glück. Das Glück, einer Wahrnehmung, einem Moment Gestalt zu geben. In Form von Worten. Andere machen es mit einem Bild, einer Melodie. Und ich habe mich dem Dichten anvertraut als Handlauf meiner Gegenwart. 

Gerne weniger

an Gier
an Verlust an
Land an
Hunger an
Ohnmacht an
Rattengift an
Rampenlicht an
enger Sicht an
Hass an
Blindheit und
geschundener
Kindheit
(denn dort werden
die Weichen gestellt)

Man spürt die Leidenschaft, als nähmst du ein Messer in die Hand. Wenn dein Schreiben filetiert, aufschneidet, zusticht. Und doch ist da auch der grosse Hang zur Versöhnung, Umarmung, der Wunsch, den unlauteren Leidenschaften die Macht zu nehmen. Manchmal drückt Wut und Verzweiflung, manchmal das Wissen, dass nur das Kleine, Feine in eignen Händen liegt. Und wenn ich in meiner Lesart der Flüchtigkeit von Momenten bewusst werde, dann in Sätzen wie: «Sag es, ich halt dagegen an: die Luft!» Hat das Schreiben von Gedichten dein Sehen verändert?

Es war und ist ein Prozess und läuft immer auch parallel: ich schaue genau, weil ich Gedichte schreibe. Weil ich verstehen will. Weil ich mein Sehen und genaues Erfassen erweitern will. Das Gedicht ist dann eine logische Folge davon. Funktioniert aber auch umgekehrt, es beeinflusst und bedingt sich wechselseitig. 

Zweifel

Die mongolische Hochzeit
findet in der Bretagne statt

das Brautpaar wechselt dreimal
die Kleidung von weiss zu blau zu rot.

Der Abend schreitet fort
und mit ihm das Paar.

Sie trauen der Zeit nicht
obwohl sie einander einen Ring

an den Finger gesteckt haben.

Es liegt ein grosses Staunen in den Gedichten, gepaart mit der Bescheidenheit, die mit dem Mut kämpft, mit der Bescheidenheit, die sich im Hintergrund lässt. Die weiss, dass nur zu gewinnen ist, was man sich mit Sprache verinnerlicht.
Du bist viel unterwegs, im Zug, zu Fuss, mit den Augen, mit deinem Herz – aber auch in den sozialen Medien. Wo stolpert Ruth Loosli?

Welche Frage! Ruth Loosli stolpert immer wieder. Unbedarft. Ungeschützt und manchmal über sich selber. Über minimale Erhebungen, die ich zu spät erkannte, weil zu schnell unterwegs. Ja, manchmal will ich zu schnell an einem anderen Ort sein. Weil genau dort ein Gedicht auf mich warten könnte. Ein Gespräch, eine Idee, ein offener Himmel. Die Bewegung ist zentral für mich. Durch Bewegung und Unterwegs-Sein fühle ich mich lebendig. Und manchmal stolpere ich in ein Fettnäpfchen, weil es mir schwer fällt, Konventionen einzuhalten. Öfter noch stolpere ich in mein Schweigen, das sich als Fallgrube erweisen kann. Da hilft dann nur noch ein Gedicht. Fremd oder eigen unwichtig. 

Ertrinken

Ich könnte ertrinken
in meiner Zeit
sie schwappt über wie kochende
Milch über den Pfannenrand
beginnt zu zischen und
gleich danach zu stinken wie es
übergekochter Mich eigen ist
wenn sie die heiße Fläche berührt.

Auch ein bisschen die Angst darüber, was man mit dem «Sehen durch Schreiben» bei sich selber anrichten könnte? Schreiben ist ja nicht nur ein selig machender Prozess, ein nur glückliches Tun. Manchmal droht die Büchse der Pandora.

Ja, die Büchse der Pandora. Das Stinken von übergekochter Milch, wenn sie eine heisse Fläche berührt. Sie hat mit dem Schreiben selbst wenig zu tun (aber auch und gerade das kann man wiederum ganz anders sehen und begründen). Das Schreiben scheint mir eine der wenigen Möglichkeiten, das Stinken zu beschreiben, damit wir es wenigstens als Solches erkennen. Den schlechten Träumen die Stirn zu bieten. Die luftigen, leichten willkommen zu heissen. Die Träume sind mir wichtige Hinweise. Und manchmal scheint mir das ganze Leben mit Wort und Zahl ein einzig listiger Traum. 

© Anne Bürgisser

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. In derselben Reihe erschien 2016 der Lyrikband «Berge falten». «Hungrige Tastatur» ist ihre erste Publikation im Waldgut Verlag.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ruth Loosli (Schreibbilder)

Eva Maria Leuenberger «dekarnation», Droschl

«Dekarnation» bedeutet «Entfleischung». Ein menschlicher oder tierischer Organismus «befreit» sich von allen Weichteilen, bis nur noch Knochen und Horn übrig bleiben. Eva Maria Leuenbergers Dichtung ist wahrlich Verdichtung, bis nur noch Konzentrat übrig bleibt. Aber kein Skelett, sondern das, was bei einer in Sprache Sehenden hängen bleibt.

Wie sehr mich beeindruckt, was sich las, ist daran zu messen, wie lange das Buch «Dekarnation» mich begleitete. Eva Maria Leuenbergers Lyrik ist wie eine leise Berührung. Nichts, das zerlegt. Nichts, das unter die Lupe nimmt. Nichts, das verkopft. Nichts, was einem unberührt lässt.
Ihre Gedichte sind der Nachhall dessen, was mit sanftem Berühren über Tal, Moor, Schlucht und Tal bleibt. Als würde die Dichterin mit ihrem Sprachatem die Formen, Farben, Düfte und Bilder umstreichen, wie ein Hauch, ganz zart, aber keineswegs ohne Gewicht.

hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein

am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht

hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden

auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein

(Ausschnitt aus «dekarnation» von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Naturlyrik, die mich umschmeichelt und zuweilen aufschreckt, die nicht idealisiert, aber Bilder erzeugt, wie es nur die Sprache zu schaffen vermag. Sie tastet, schmeckt und riecht, fühlt, hört und empfindet für mich, ohne mich zu gängeln.

Ein schmucker Band durch und durch! Ein Genuss!

Der Lyrikband «dekarnation» erscheint mit Recht auf der Hotlist der besten Bücher unabhängiger Verlage. Wer die Hotlist unterstützen will, hier sind die Infos!

© Anja Fonseka

Eva Maria Leuenberger wurde 1991 in Bern geboren und lebt in Biel. Sie studierte an der Universität Bern sowie an der Hochschule der Künste Bern. Veröffentlichungen u.a. in manuskripte und in Literarischer Monat.
Sie ist zweifache Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017) und erhielt 2016 das »Weiterschreiben«-Stipendium der Stadt Bern.

Gabrielle Alioth «The Poet’s Coat», Waldgut

Nach fast dreissig Jahren Prosa veröffentlicht Gabrielle Alioth im Waldgut Verlag ihre Gedichte unter dem übersetzten Titel «Der Mantel der Dichterin». Eine ganz besondere Sammlung, denn die Schriftstellerin, die ihre Prosa nur deutsch schreibt, dichtet in der Sprache ihrer Wahlheimat, in der grossen Tradition nordirländischer Dichtung, einem Land, in dem Dichtung bis heute einen ganz anderen Stellenwert besitzt.

„Als ich die Schweiz vor 35 Jahren verliess, fand ich eine Insel, ein Leben und eine Sprache. In Irland stiess ich auf eine lebendige poetische Kultur, die den Alltag der Menschen betraf; und die Gedichte, die in den 1980er-Jahren häufig von Frauen geschrieben und zitiert wurden, berührten mich, wie es kein deutsches Gedicht je vermocht hatte…“

Time

Once I lost a future
On a warm summer evening,
And my past
In a sentence of a stranger.
Now the wind ist blowing in my hair
And the sea is in my heart.

Zeit

Einst, an einem warmen Sommerabend,
verlor ich eine Zukunft
und, im Satz einer Fremden,
meine Vergangenheit.
Jetzt bläst der Wind durch mein Haar
und das Meer ist in meinem Herzen.

„Muttersprache“ ist die Sprache des Herzens, eine Sprache, in der unweigerlich Bilder mitschwingen, die sich in einem ganzen Leben ansammeln. Eine gelernte Sprache, eine Sprache, in die man aktiv hineinwächst, ist viel weniger verschlüsselt. Gabrielle Alioth erklärte bei einer Lesung im Kultbau St. Gallen, sie sei im Schreiben von Gedichten, in der englischen Sprache eine „andere Frau“, könne viel freier agieren. Das sei auch ein Grund, warum man in einer fremden Sprache viel freier fluche als in der Muttersprache. So „distanziert“ sie in ihrem schriftstellerischen Wirken in ihrer Arbeitssprache Deutsch wirkt, in den historischen Themen wie in ihrem Ausdruck, so persönlich, so nah, so ganz anders wirken die Gedichte. So sehr die Schriftstellerin ihre Prosa einem Ziel unterwirft, so sehr ergibt sich ihre Lyrik dem Moment, auch den Momenten einer Erinnerung.

Leaving Rosemount

Snow on the hills
No winter has been so cold
And empty roads.
Could I Have died?

It will get easier
In time to come
I will get used
To leaving
Till it leaves me.

Rosemount verlassen

Schnee auf den Hügeln.
Kein Winter war je so kalt.
Und die Strassen leer.
Hätte ich sterben können?

Es wird leichter werden in Zukunft.
Ich werde mich gewöhnen
ans Verlassen.
Bis es mich verlässt.

Gabrielle Alioth schreibt seit 20 Jahren Gedichte in Englisch, von denen einige in irischen Zeitungen erschienen, in denen Gedichte noch immer nicht bloss Lückenbüsser sind. In ihren Gedichten spiegeln sich ihre Vergangenheit, Begegnungen, ihre zweite Heimat, das, was Orte mir einem tun und anstellen, was sie in uns und wir an ihnen zurücklassen. Ihre Gedichte sind Ausdruck dessen, dass sie nicht zerrissen, sondern an vielen Orten zuhause ist, dass Heimat nicht an Nationen und ihre Grenzen, nicht einmal an die Sprache gebunden sein muss. Gedichte darüber, wie wenig Orte sich an uns selbst erinnern, wenn man mit dem Bewusstsein lebt, dass man sich an die einen oder andern Orte „für immer“ erinnert.
Dichten ist Alchemie, eine Dichterin, ein Dichter ein Alchemist. Gedichte eine Form „Unerklärliches“ erklären zu wollen. Dichten sei „Altes im Feuer verbrennen, zusammen mit gesammeltem Treibholz“.

Ein besonderes Vergnügen bereitet die Gegenüberstellung der englischen Originalgedichte und die deutschen Übersetzungen von Fred Kurer. Die beiden Seiten zeigen offensichtlich und eindrücklich, was Übersetzung kann und muss, dass literarische Übersetzung viel mehr ist als das, was ein Google-Übersetzer kann, wie unterschiedlich Klang und Tiefenschärfe ist, wie viel Auseinandersetzung es braucht, bis sich Dichterin, Übersetzer (und in diesem Fall die Herausgeberin Irène Bourquin) finden.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war anschliessend als Konjunkturforscherin tätig. 1984 wechselte sie ihren Wohnsitz nach Irland. 1990 erschien der Roman «Der Narr», der durch das Literaturhaus Hamburg ausgezeichnet wurde. Es folgten zahlreiche weitere Romane – jüngst «Gallus, der Fremde», 2018 im Lenos Verlag – Kurzgeschichten, Essays sowie Kinder-, Reise- und Sachbücher. Gabrielle Alioth ist Dozentin an der Hochschule Luzern Design & Kunst, journalistisch tätig und hält Schreibkurse am Literaturhaus Basel.

Der Übersetzer Fred Kurer, 1936 in St. Gallen geboren, studierte nach einer Lehrerausbildung Germanistik, Anglistik, Publizistik und Theaterwissenschaften in Zürich, Wien und London. Er ist Autor eines Romans, zahlreicher Gedichtbände, Bühnencollagen, Theaterstücke und verschiedener Programme für Kleinbühnen, Kabarett, Radio und Fernsehen. Er übersetzt aus dem Englischen und Amerikanischen.

Rezension «Gallus, der Fremde» auf literaturblatt.ch

«But you don’t really care for music, do you? – Szenen zu Leonard Cohen» von Gabrielle Alioth auf der Plattform Gegenzauber

Kultbau St. Gallen

Webseite der Autorin

Illustrationen aus dem Buch © Isabelle Looser

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ivo Ledergerber «Alltagsgübeleien», Waldgut

Zu Ivo Ledergerbers 80sten Geburtstag macht sich der Autor ein Geschenk: 51 Gedichte, die sich in den letzten Jahren ansammelten, nicht zuletzt in seinem «Ivo-Blog», auf dem der Dichter jede Woche ein Gedicht veröffentlicht. So war der «Raum für Literatur» in der St. Galler Hauptpost restlos besetzt, als der Autor zusammen mit seinem Dichterfreund Richard Butz seinen neusten Gedichtband aus der Taufe hob.

Ivo Ledergerber grübelt gerne, hängt seinen Gedanken nach, erst recht mit 80, in einer Lebensphase, in der man Zeit hat, Zeit, die endlich wird. Liebe und Tod sind denn auch die Pole, zwischen denen der Leser pendelt, von einem Anfang her zu einem Ende hin, von beiden nur ahnend. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit sei ein Teil dieses Pendelns. Es sei in seinem Alter unmöglich so zu tun, als betreffe einem das nicht.

Viele Gedichte entstanden aus dem Moment, mitgenommen von Spaziergängen, Augenblicken, nach innen und nach aussen. Sprachskizzen, Zeichnungen in Worten, als wäre er kurz in der Zeit stehen geblieben, um den Moment mit Sprache einzufangen.

Dreiweihern

Auf dem Balkon über dem Pissoir
eine tote Fliege
auf dem Rücken
die Beine gereckt
betend
voller Inbrunst
schöner ist nicht
für den Sommer zu danken

Er brauche Anfänge, an die sich weitere Sätze heften, immer mehr, bis sich nach dem Sammeln der Kamm über den Text hermacht und hinausstreicht, was nicht passt oder schlicht zu viel ist. In seinen Gedichten spiegeln sich aber nicht bloss Augenblicke und Ein-Sichten, ebenso sehr Schreib- und Entstehungsprozesse, die weit über das «Dichten» hinausgehen. So wie der Vogel am Waldweg, die tote Amsel ihn im Schreiben festhält, so verhilft er dem toten Vogel noch einmal zu einem wortgewaltigen Höhenflug.

«Wir verschwinden lesend in unsterblichen Texten.»

Und doch ist den Gedichten das Alter des Dichters anzumerken, was auch so sein soll, wenn zwischen Wehmut, hinter lauten Sätzen, die Demut glänzt. Er fliegt mit Dohlen über Schluchten und Berge, huldigt der Freiheit des Denkens mit Sprache, die ihn durch die Lüfte trägt.

Von den Dohlen

Von den Dohlen sagt man
sie hätten gesehn
wie es war bevor wir kamen
und sie sähen
was wie nicht kennten
sie wüssten wohin
Wege führen
die wir noch lange nicht kennten
an die Orten die wir nicht nennten

Ihre Flügel sagt man
trügen sie in Höhen
wo unsereinem nur schwindelt
ihr Mut aber
der sei grenzenlos groß
sie lassen von Stürmen
sich treiben
wie Nebelfetzen ein verirrtes Blatt
lassen wir wirbeln werden nicht matt

Von den Dohlen sagt man
sie eine so frei
wie wir es uns träumen
und selten gestehn
während sie getragen
vom wilden Wind
die Freiheit
erleben die wir nicht mehr wagen
obwohl der Geist auch uns würde tragen

(beide Gedichte mit freundlicher Genehmigung des Autors aus «Alltagsgrübeleien» von Ivo Ledergerber, Waldgut Verlag, 2018)

Schon erstaunlich, wie viele Menschen Ivo Ledergerber mit seiner Lyrik in die Hauptpost St. Gallen zu locken vermag, wo doch wenige Tage zuvor die grosse Dichterin und Essayisten Monika Rinck anlässlich des Literaturfestivals Wortlaut nur einen kleinen Bruchteil dessen in den «Raum für Literatur» mobilisieren konnte.

Ivo Ledergerber (1939) studierte in Mailand, Innsbruck und Konstanz Theologie, Deutsche Literatur und Erziehungswissenschaft. Bis 1999 arbeitete er als Mittelschullehrer in St. Gallen. Durch seine Schreibaufenthalte in Rom und Krems und seine Teilnahme an internationalen Literaturkongressen knüpfte der mehrsprachige Autor Kontakte zu Dichtern in Kosova, Mazedonien, Albanien, Italien, Tunesien, Algerien, Spanien, Frankreich und Polen. Ivo Ledergerber lebt und arbeitet in St. Gallen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Albert Ostermaier «Über die Lippen», Suhrkamp

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band «Über die Lippen» und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

«Über die Lippen» sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. 

Lesen Sie und lassen sie sich mitnehmen!

© Susanne Schleyer

Albert Ostermaier ist 1967 in München geboren, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. 1995 erschien sein erster Gedichtband «Herz Vers Sagen», der mit dem Lyrikpreis des PEN Liechtenstein ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr fand die Uraufführung seines ersten Stückes Zwischen zwei Feuern – Tollertopographie im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels statt. Seither gilt Ostermaier als einer der wichtigsten Gegenwartsdramatiker.
Neben seinen zahlreichen Lyrik-Bänden und Theaterstücken schrieb er 2008 seinen ersten Roman «Zephyr», 2011 «Schwarze Sonne scheine», der auch als Hörbuch erschien und mit dem Preis der Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde, 2013 den Roman «Seine Zeit zu sterben» und 2015 ist der neueste Roman «Lenz im Libanon» erschienen, der auch auf Arabisch publiziert wurde. Die Lyrikbände «Flügelwechsel Fußball-Oden und Gedichte» sowie der Gedichtband «Ausser mir» sind ebenfalls bei Suhrkamp erschienen.
Albert Ostermaier wurde mit namhaften Preisen und Auszeichnungen geehrt, u.a. dem Kleist-Preis, dem Bertolt-Brecht-Preis und in 2011 mit dem »Welt«-Literaturpreis für sein literarisches Gesamtwerk.

Ich danke dem Autor für die ausdrückliche Erlaubnisse, Gedichte aus dem Band «Über die Lippen» in den obigen Text einfügen zu dürfen.

Albert Ostermaier: Autorenporträt und Gespräch auf der Suhrkampseite

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr», Volant & Quist

2016 sorgte Michelle Steinbeck mit ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» für Aufregung, kam damit auf die Listen des Deutschen und Schweizer Buchpreises. Nun erscheint bei Volant und Quist ihr erster Lyrikband. Mit Sicherheit auch dies ein Buch, das aufmischen wird!

Vor längerer Zeit hörte ich Michelle Steinbeck an den Lyrikfestival «Neonfische» in Lenzburg aus ihren Gedichten vorlesen.

Deine Gedichte entsprechen gar nicht dem, was Gedichte sehr oft suggerieren, diesen verklärenden, romantisierenden Blick auf die Welt. Du bist erfrischend „hemmungslos“, ungewohnt direkt. Irgendwie ein Kontrast zu deinem Roman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, wo die Bilder sehr oft ins Surreale kippen. Willst du “aufmischen»?
Klar, immer aufmischen! Nein im Ernst: Ich habe ein anderes Bild von Lyrik, als du hier beschreibst. Von der zeitgenössischen Szene, aber auch sonst. Was ist denn z.B. mit einer Kaleko? Aber es stimmt: Ich habe mich in diesem Format sehr frei gefühlt. 

wie die grossmutter aufblüht
und rosig wird im Angesicht ihres
urenkels der rot und dünn und
ausgeliefert im licht
der wärmelampe seine unanständig
geschwollenen hoden
dem betrachter entgegenstreckt

fotografier ihn von der
anderen Seite sagt die mutter
die aufgeschnittene
von hier aus
lächelt er

Selbst der Verlag Volant & Quist spielt mit dem Entsetzen der Literaturkritikerin Elke Heidenreich auf deinen Roman und setzt den Satz „Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott“ auf den Buchdeckel deines Gedichtbands. Wie viel Provokation ist Programm?
Was soll daran provokativ sein? Das ist doch eine Traum-Kritik! Um diesen Satz würde ich jede andere Autorin beneiden. Er hat so was altmodisches, klassisches, als würde er auf einem vergilbten Schinken im Bücherbrocki stehen. Das mag ich daran. (Lustigerweise hat der englische Verlag auf die Übersetzung ohne Absprache dasselbe Zitat auf den Umschlag gedruckt.)

Sonntag

sie bringt das baby vorbei
es schreit krebsroter kopf
dann trinkt es – pappsatt
die zunge hängt ihm aus dem mund so satt

er surft im internet nach der fad und
er googelt sich selber und
er pult an seinem fusspilz

ich grüble an meiner hausaufgabe
kann man wissen was andere fühlen?

Mit Jahrgang 1990 bist du ganz bestimmt die neue Generation. Was soll Lyrik in der Gegenwart?
Ach was, es gibt immer Jüngere. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Lyrik ist meiner Meinung nach die freiste Form des Schreibens. Deshalb die interessanteste. Ich glaube, mit Lyrik kann man Dinge ausdrücken, die in einer prosaischen Sprache unmöglich wären. 

fotos die mir fehlen

du vor einem blinkenden paniniwagen
kramst im bauchtäschlein nach geld

//

strasse mit bestattungsunternehmen
dazwischen einzig ein frisör
wo eine alte unter der haube vergessen
vergilbte klatschhefte liest
während am boden sich zwei kinder winden
schreiend um einen waschkorb streiten

//

am quai
durch die absperrung aufs schiff zu geistert ein alter
dem scheisse das bein runterläuft und wc papier aus der kurzen
hose flattert
er trägt ein ausgewaschenes t shirt darauf steht

GOOD LOOK

Deine Lyrik ist nicht Naturbetrachtung, kein Absinken in Gefühlswelten. Du konfrontierst mich mit dem Blick einer jungen Frau. Manchmal schmerzt dieser Blick fast, machmal greifst du mit Absicht in „Peinlichkeiten“. Iw entstehen deine Gedichte?
Ich bin ein Stadtkind. Aber Gefühle sind doch jede Menge drin! Und auch ein paar Bäume. Und Peinlichkeiten… Ja? Gut! Mein alter Freund Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Das fand ich einen guten Rat, daran habe ich manchmal gedacht. Es gibt ja einen Text im Band, der heisst: «Wie ich Gedichte schreibe». Tatsächlich ist jedes anders entstanden. Es sind ganz alte und ganz neue Texte drin. Ich hab mich durch meine Material-Sammlung gewütet. Es war eine schöne Arbeit. 

Michelle Steinbeck, geboren 1990 in Lenzburg, aufgewachsen in Zürich, lebt in Basel. Sie ist leitende Redaktorin der Fabrikzeitung, Kuratorin von Babelsprech.International und Studentin der Philosophie und Soziologie. Sie schreibt Geschichten, Gedichte und Stücke, Kolumnen und Reportagen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» erschien 2016 im Lenos Verlag und war nominiert für den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis. Ihre literarischen wie journalistischen Texte werden in verschiedene Sprachen übersetzt.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Iason Depountis «Im Quantenland» von Alice Grünfelder

„Meine schriftstellerische Laufbahn begann mit einer Frage und endet mit derselben Frage wie am Anfang: Ob es wirklich auf dieser Welt einen Ort gibt für die Geplagten, die Armen, die Aussenseiter und armen Teufel?“ Tatsächlich dreht sich für den griechischen Lyriker Iason Depountis (1919-2008) alles um diese eine Frage, und er hat sie im Laufe seines schriftstellerischen Lebens variantenreich beantwortet.

In seinem Hauptwerk „Systema Naturae“ sucht er nach dem Zusammenhang zwischen Dichtung, Wirklichkeit und Wissenschaft, kombiniert Buchstaben, Formeln und Zahlen und reizt diese Kombination in so manch einem Poem aus bis an die Grenzen der Verständlichkeit. Ist die Hermetik seiner Lyrik womöglich der griechischen Diktatur geschuldet? Im Jahr 1969 setzte er zusammen mit 17 Schriftstellern seine Unterschrift unter eine Charta, die sich gegen Zensur verwehrte, kurz darauf floh er über England, Frankreich und gelangte in die Schweiz, wo er im Kinderdorf Pestalozzi Trogen 13 Jahre lang das griechische Haus leitete. Sein Sohn Dimitris Depountis übertrug das Werk des Vaters ins Deutsche, ihn fragte ich nach den Überlegungen, Abrechnungen und Ermahnungen des Iason Depountis`.

Leiser Beobachter, Sehn-Süchtiger und humorvoller Melancholiker – er selbst nannte sich „Bürger des Planeten“ und „Der aus dem Meer Geborene“. Welche dieser Bezeichnungen trifft wohl am ehesten auf Iason Depountis zu, frage ich Dich nicht als Sohn, sondern als Literaturwissenschaftler. Was hat ihn umgetrieben – im Leben und in der Literatur?

Eines seiner letzten Bücher veröffentlichte Iason Depountis unter dem Pseudonym „Odysseas Okeanos“. Das poetologische Essay trägt den Titel „Das Meer im TV“, der erste Satz darin lautet: „Dort liegt mein ganzer Reichtum, verstreut vor mir, am Horizont“. Bei jedem anderen Autor wäre ein Pseudonym wie „Odysseus Ozean“ wohl eine Anmassung, bei Depountis nicht: Fast die Hälfte seiner gut zwei Dutzend Werke hat unmittelbar mit dem Meer zu tun. Darunter fallen so unterschiedliche Texte wie solche über die Schwarmbildung von Fischen, in deren Verhalten er ähnliche Prinzipien wirken sah wie bei der Produktion von Sprache. Oder Gedichte über den Freiheitskampf auf den Inseln der Ägäis. Und zu erwähnen wären etwa Essays über ein angeblich unsterbliches prähistorisches Wesen Namens „Antixoos“, das im Meeresgrund gelebt haben soll und seinem Wesen nach einem Poeten gleichkam. Als einen „Bürger des Planeten“ bezeichnete er sich erst in den späten Jahren, als er von einer quasi universellen Warte aus auf das Leben blickte und sich in seiner Dichtung vermehrt der Mathematik und der Astronomie zuwandte. Beide Angaben zu seinem Ursprung (er vermied praktisch jede andere) verweisen natürlich auf die anti-regionalistische, anti-nationalistische Haltung, die ihn zeitlebens auszeichnete: Alle Menschen besassen ihm zufolge dieselbe, sie verbindende Herkunft.

Manche Gedichte sind nicht einfach zugänglich, was u.a. an der Kombination von Buchstaben, Ziffern und mathematischen Formeln liegt. Iason Depountis besuchte während seiner Zeit in Trogen mathematische Vorlesungen an der ETH Zürich, was faszinierte ihn daran? Und warum hat er Verquickung von Dichtung und Wissenschaft zu seinem lyrischen Prinzip erhoben?

In der Mathematik sah er so etwas wie die „verlorene Vernunft“ der Poesie, also das, was der zeitgenössischen Dichtung seiner Meinung nach fehlte, um Zusammenhänge als relevant zu erkennen und zu erschliessen: Wort und Zahl, Wissenschaft und Poesie bildeten für ihn ursprünglich eine Einheit, die es wiederherzustellen galt, und er erhoffte sich einen Wandel für die Welt durch eine von der Dichtung ausgehende Erneuerung der Wissenschaften. Sicher hing sein Interesse an der Mathematik auch mit seiner Freundschaft mit dem Architekten und Musiker Iannis Xenakis zusammen, der mathematische Verfahren in seinen musikalischen Kompositionen umsetzte. Jedenfalls war Iason Depountis der Meinung, dass die bisherigen Formen der Dichtung das substanziell Neue, das das 20. Jahrhundert mit sich brachte, nicht wiederzugeben vermochten. Einen Spaziergang im Wald als eine romantische Fussreise in der Art des 19. Jahrhunderts darzustellen, wäre für ihn ein Graus gewesen, ähnlich anachronistisch wie der Sheriff im Wildwestfilm, der auf seine Armbanduhr schielt (lacht). Liebende unter heutigen Bedingungen spazieren in einem Quantenwald; sie werden durchdrungen von elektromagnetischen Strahlen, von Satelliten beobachtet und, aus Schaltzentralen abrufbar, von Computern erfasst.

Entsprechend experimentierte er und suchte beständig nach adäquaten Weisen, das Brandneue, das er in seiner Umwelt entdeckte, auszudrücken. Seine letzten Werke zeichnen sich durch eine enorme Vielgestaltigkeit aus, der die Suche nach einer Antwort zugrunde liegt, wie sich das mörderische Jahrhundert ausdrücken und vielleicht sogar auch überwinden liesse. Interessant ist hier nicht zuletzt seine Haltung gegenüber den neuen Technologien: Obwohl er auch ihre Gefahren beschrieb, sah er in diesen vorab eine Chance und entwickelte für seine Dichtung die Vorstellung einer Art kybernetischer Lyrik an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Sein Hauptwerk „Systema Naturae“ erschien 1969 während der Militärdiktatur der Obristen erstmals als illegaler Druck. In den Jahren 1984 und 1998 wurde die Gedichtsammlung ergänzt und neu aufgelegt. Diese Lyrik ist radikal in ihrem Versuch, Wurzeln und Zusammenhänge und die Gefahr der totalen, menschengemachten Zerstörung zu ergründen. Ist Iason Depountis ein engagierter, politischer Lyriker, ein Mahner? Vor allem, wenn ich an diese Zeilen denke? „die Flüsse Europa, die verrotten / die Flüsse sie verrotten sie verrotten und verrotten / zu einem Zeitpunkt des Grauens & Verbrechens / deine Flüsse deine Dichter, Europa, sie verrotten.“

Du hast mich vorhin nach der Mathematik in der Dichtung des Iason Depountis gefragt: Bei aller „Mathematisierung“ und Experimentierfreude vor allem des späten Dichters darf man nicht vergessen, dass sein Werk ursprünglich ganz direkt aus dem antifaschistischen Widerstand der 1940er Jahre hervorging. Er begann nach eigenem Bekunden Gedichte zu schreiben, um die angefangenen Gespräche mit den gefallenen Genossen des grossen Widerstands fortzuführen. Auch wenn er später von seiner frühen Produktion Abstand nahm, tat er dies nur bezüglich ihres künstlerischen Werts und nicht etwa bezüglich ihres Inhalts oder seines Engagements. Im Gegenteil: Das gesamte Werk des Dichters ist im Grunde hochpolitisch und referiert vorab auf die Themen Krieg und Zerstörung. Das heisst, auch dann, wenn von anderem die Rede ist, ist dieses Andere trotzdem nur vor diesem Hintergrund in seinen eigentlichen Dimensionen zu begreifen.

In der „Systema Naturae“ nun breitet er in einer Art Gesamtschau menschlicher, aber auch tierischer Lebenswelt seine ganz eigene Sicht auf das 20. Jahrhundert aus: Demnach habe der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki die existenziellen Bedingungen auf der Erde grundlegend verändert. Leben und Tod, die bisherigen Dimensionen und Koordinaten: Alles wurde mit den Abwürfen durcheinandergewirbelt und vernichtet. Sogar der Tod, der bisher Teil einer Einheit von Werden und Vergehen, Sein oder Nichtsein gewesen ist, wurde pulverisiert. Die Bomben löschten alles aus, die Umwelt, die Mitmenschen, die Geschichte, als hätte es das alles nie gegeben. Eine neue Grösse entstand: das Nichts. Das vom Menschen erschaffene, jedoch von keiner Wissenschaft, Philosophie, Dichtung oder Religion prognostizierte Nichts.

In den siebziger Jahren kam noch das Thema der allgemeinen Umweltzerstörung hinzu. Das Gedicht mit dem Titel „Schall & Töne“ über die Flüsse Europas, das aus jener Zeit stammt und aus dem du die obigen Verse zitiert hast, besitzt allerdings eine weitere Komponente als jene der Umweltkatastrophen – denn hier werden die kontaminierten Flüsse mit den europäischen Dichtern und Intellektuellen gleichsetzt. Die ehemaligen Vordenker der Aufklärung und „Fuhrhalter des Reichtums“ Europas „hüten jetzt Schlamm“, heisst es an anderer Stelle. Noch deutlicher wollte Iason Depountis seine Haltung gegenüber festgefahrenen lyrischen Traditionen wohl nicht ausdrücken.

 

Düster seien die Gedichte, schreiben einige Literaturkritiker, Zeilen wie „Vor uns klafft der Abgrund Erde, der Abgrund Mensch“ versprechen in der Tat wenig Hoffnung. Schrieb Iason Depountis gegen den Untergang der Menschheit an?

Ja, ich glaube tatsächlich, dass Iason Depountis zumindest zeitweise gegen den Untergang der Menschheit anschrieb. Die Art, wie er dies tat, war singulär: Gerade das Spätwerk weist trotz seiner wahrlich düsteren Thematiken eine überraschende Verspieltheit auf, der man bis in die kleinsten Details begegnen kann. Auf den Spuren des Ganzen – des ganzen Lebens, des ganzen Todes, der ganzen Welt – wandte sich sein Blick zuletzt vermehrt nach aussen, ins Universum. In der Schönheit der Sterne, in ihren Formationen, ihren Namen fand er möglicherweise etwas, wonach er zeitlebens gesucht hatte. Zugleich sprengten seine Manuskripte, die er nun „Metatexte“ nannte, allmählich den Rahmen von simplen Textträgern, glichen mehr Bildern und Kollagen, trugen zunehmend Züge von Gesamtkunstwerken.

Andererseits hat es in seinem Werk immer auch „leichtere“ Gedichte gegeben – zum Beispiel jene über einzelne Schweizer Ortschaften, die während der Zeit im Kinderdorf Pestalozzi in den Jahren 1969–1982 entstanden. Hier legte er eine Heiterkeit und Gelassenheit an den Tag, wie sie sich sonst nur bei einzelnen seiner Meeresschilderungen manifestierte. Zu erwähnen wäre da unter anderem das ganz und gar untypische Gedicht über das Dorf Trogen, in dem das Leid der Welt vor lauter Staunen über das Naturphänomen Nebel zumindest vordergründig vergessen zu gehen scheint. Oder ein Gedicht über das Nietzsche-Haus in Sils Maria, in dem der Dichter wie ein schelmischer Tourist den Tisch des Philosophen mitnimmt, um ihn auf den See Silvaplana zu stellen. Ich denke, dass Iason Depountis trotz der Düsterkeit der meisten seiner Werke immer wieder zu einer Musse finden konnte, die ihn regenerierte. Unter anderem auf seinen Spaziergängen in der Nähe des Zürcher Zoos, unweit des Grabs seines geliebten James Joyce.

«Die ruhelose Dichtung eines ruhelosen Geistes», schreibt der Literaturhistoriker Alexandros Argyriou. Nach seinem 75. Geburtstag pendelte Iason Depountis zwischen Zürich und Athen und veröffentlichte fast jährlich ein neues Buch. Was führte zu dieser Schaffensexplosion?

Tatsächlich veröffentlichte er in den letzten zehn Jahren seines Lebens ein Drittel seiner gesamten literarischen Produktion. Neben acht Büchern auch so manche Beiträge in Zeitungen, Literaturzeitschriften und so fort. Das hatte wohl mehrere Gründe. Zum einen war er Griechenland auch nach dem Sturz der Junta während vieler Jahre ferngeblieben, und es hatten sich in dieser Zeit sehr viel Stoff und viele Manuskripte angesammelt, die er erst jetzt publizieren konnte. Der wichtigste Grund war jedoch meiner Meinung nach die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem knapp 40 Jahre jüngeren Verlegerpaar Kostas Kremmydas und Tzela Asprogeraka nach etwa 1995, die sich als eine der glücklichsten Fügungen im Leben von Iason Depountis erwies. Kremmydas und Asprogeraka, die den Verlag und die renommierte Literaturzeitschrift „Mandragoras“ leiten und ein ganzes Team von jungen Leuten um sich scharen, hegten und hegen eine unumstössliche Bewunderung für das Werk von Depountis und haben damit auch die Personen um sich angesteckt. Das heisst: In den letzten zehn Jahren vor seinem Tod war Iason Depountis von einer ganzen Schar junger Menschen umgeben, die ihn auf Händen trugen und unterstützten – wofür er natürlich sehr dankbar war. So konnte der Dichter seine mathematischen Gedichte, seine Essays und „Metatexte“ laufend produzieren: Praktisch alles wurde sofort gesetzt und publiziert. Iason Depountis› schöpferische Leidenschaft befand sich in der letzten Schaffensperiode dank des Engagements der Leute um „Mandragoras“ quasi im Zustand eines permanenten Urknalls.

Das Interview führte Alice Grünfelder.

Das Dorf Trogen 

Der Nebel wird hier geboren er ist hier
zu Hause.
Ich sehe ihn aus den Tannen oder unter
den Brücken aufsteigen
oder er zieht über das dichte Gras das
immer grünt;
er kommt auch aus dem Fell der Tiere, der
Kühe, die östlich des Dorfes
Flusspferden gleichen;
der Nebel entsteht mitten auf der Strasse,
wie eine anmutige junge Bäuerin
die Sonne scheint ihr ins Haar, dann trägt
sie ihre, im Licht blendenden, Appenzeller
Stickereien
der Nebel kommt auch aus den feuchten
Kleidern der Kinder;
so wie er von den Dächern emporsteigt,
vergisst er sich,
wie eine Schweizer Grossmutter oder
wie jene trotzige alte Dame von Dürrenmatt
— von Friedrich Dürrenmatt —
und es dauert
eine Ewigkeit, bis er sich verzieht.

Ein Wanderlied für Sils-Maria
«Ein Zwei Drei …

Nietzsche achetait ce qu’on trouve
à la gare de Sils-Maria,
des livres de Gyp, de Paul Bourget.
Zarathoustra est un vieux guide suisse,
mais son diamant raye tout.» Jean Cocteau

ich möchte hier zuerst die Regel meiner Kunst
erklären ich stelle den Gegenstand:
«Nietzsches Tisch»
der vollkommen gleichgewichtig
in Raum und Zeit ruht so wie man
zum Beispiel sagt, etwas stehe von selbst
auf der Oberfläche des Wassers zudem stelle
ich ihn als mein eigenes Werk über die visuelle Phantasie.

zum Thema:

nach einem nachmittäglichen Besuch
im hübschen und gepflegten Haus von Sils-
Maria, wo Friedrich Nietzsche gelebt und
geschrieben, wo Friedrich Nietzsche gelitten
hat und geschrieben, konnte ich nicht anders
handeln (die Gründe sind im All verborgen)
vorsichtig zog ich also im Zimmer des Philo­-
sophen den Tisch, seinen Tisch, hob ihn
langsam von seiner Stelle und nahm ihn
ohne jede Heimlichkeit hinaus. Ich sah
ihn an, er war ein kleines aber
geschmackvolles Möbel, Nietzsches Tisch, er
hatte das Gewicht all der vielen und unruhigen
Gedanken des Dichters getragen.

ich nahm ihn so wie er war
mit der antiken Lampe als Dekor
und stellte ihn dorthin, wo er
auch heute noch steht: mitten auf die Wasser-
­fläche des Sees Silvaplana.

ein Tisch auf dem Wasser,
wie ein Zeitspiel
wie eine Epiphanie;

die Lampe spendet ein mystisches Licht.

(Das Gedicht „Ein Wanderlied für Sils-Maria“ aus dem Jahr 1973 findet sich auf einer Tafel zu Iason Depountis, die im Nietzsche-Haus in Sils-Maria vis-à-vis vom Schlafzimmer des Philosophen hängt.)