Jochen Veit «Mein Bruder, mein Herz», Arche

Benno und Stephan sind Brüder. Als der 13 Jahre jüngere Benno an den Folgen eines Zeckenbisses erkrankt und sein Kopf, aber nicht sein Lebenswille durch den Schmerz zu zerreissen droht, wächst zwischen den Geschwistern ein Band, das selbst durch das Verschwinden der Eltern und einen schrecklichen Verdacht nicht durchschnitten wird.

Was der junge Jochen Veit als Erstling vorlegt, ist beeindruckend, in jeder Hinsicht. Jochen Veit erzählt eine Geschichte, viele Geschichten in einer, ohne eine der Geschichten zu Ende zu erzählen. Jochen Veit will mit seinem Erzählen nicht klären, schon gar nicht erklären. Es geht ihm um das Geheimnis an sich; das Geheimnis einer Bruderschaft, die durch schwierige Zeiten gestählt ist, das Geheimnis in einer Familie zwischen Kindern und Eltern, die sich voneinander entfernen, das Geheimnis von Mutter und Vater, die sich eines Tages ganz entfernen und verschwinden, das Geheimnis einer Gegend, in der Landschaft viel mehr ist als Kulisse, ein Baum nicht einfach ein Baum, ein Haus nicht bloss ein Haus. Jochen Veit spielt mit den Genres; dem Heimatroman, dem Krimi, dem Horror, der Traumgeschichte, die abzudriften droht, dem Rückkehrerroman. Und das alles in bestechender Sprache, den permanenten Zwiespalt erzeugend, ob man versteht oder nicht, mit grosser Geste in kleinen Räumen und Sätzen, die mich mit Entzücken zwingen, sie noch einmal zu lesen.

Stephan ist in die Stadt gezogen, hat sich Monate, Jahre nicht mehr bei seinem jüngeren Bruder gemeldet, mit dem ihn einst nicht nur Bruderschaft verband, sondern gemeinsam überstandener Schmerz, sei es jener einer einschneidenden Krankheit, oder der Schmerz, das zu vermissen, was die Eltern nicht zu schenken vermochten; Zuwendung, Liebe, Anwesenheit. Es ist nicht nur der Alp einer schlimmen Krankheit, der Keile in die Familie trieb. Irgendwann verschwanden die Eltern, blieben für immer weg, hinterliessen zwei Brüder zusammen mit Alfred, einem alten Freund der Familie, der sich den beiden Jungen annahm, hinterliessen ein Geheimnis, das Stephan nicht mehr mittragen wollte und konnte. Kaum erwachsen ertrug Stephan die mit Mühe aufrecht gehaltene Idylle des Schwarzwaldes nicht mehr. Die Schwärze des Waldes hatte seine Eltern geschluckt. Der Hund mit Namen Cadejo (in der zentralamerikanischen Folklore ein hundeähnlicher Geist aus der Nacht) vermochte die Brüder nicht mehr zu schützen.

Irgendwann kommt er aber doch zurück. Nicht zuletzt gerufen von Alfred, der sich immer mehr über den mittlerweile erwachsen gewordenen Benno wundert, über seine Ausbrüche, seine Anspielungen. Alfred bittet Stephan flehentlich, ins Haus seiner Eltern zurückzukehren, weil er glaubt, dass ein schreckliches Geheimnis aufzubrechen droht, zurück in ein Haus, einen Garten, ein immer offensichtlich leerer werdendes Dorf, in eine Landschaft, die Stephan vor Jahren zur Flucht zwang. In ein Leben, das seit dem Verschwinden der Eltern unmöglich geworden war.

Jochen Veit rüttelt mit seinem Roman „Mein Bruder, mein Herz“ an den Urängsten eines jeden; dass Eltern spurlos verschwinden, dass Eltern ihre Kinder willentlich zurücklassen, über die Unmöglichkeit Familienbande, Bruderschaft zu kappen. Was in der Kindheit wächst und durch Schicksal gehärtet wird, lässt sich nicht einfach vergessen, amputieren.

„Mein Bruder, mein Herz“ hallt unweigerlich im eigenen Erleben nach. Jochen Veit hat Sätze geschrieben, die sich eingraben, eine Geschichte, die erfrischend verunsichert, ein Buch, das wörtlich begeistert und eine Art des Schreibens, die viel für die Zukunft verspricht! Einen Roman, der vieles offen lässt, vieles bloss in eine Richtung zu rollen anstösst, der mir Leser einiges abverlangt.

„Wir sind alle endgültig alleine.“

Ein Interview mit Jochen Veit:

In ihrem Roman geht es letztlich um Familie und um das, was sie zusammenhält, selbst dann, wenn Eltern verschwinden. Sie spielen mit Gegensätzen; auf der einen Seite die Bilderbuchlandschaft des Schwarzwalds, ein Dorf, ein Haus, ein Garten – auf der andern Seite der verwilderte Garten als Metapher der Familie selbst, leere, verlassene Häuser, ein Hund mit Namen Cadejo. Die Krankheit von Benno, als er ein Kind war und an dieser zu sterben drohte und ein nicht einzuordnender Husten seines grossen, älteren Bruders, das Offenbare und das Verborgene. Wo liegt das Epizentum ihres Romans?

Als ich überlegt habe, wie ich auf diese Frage antworten soll, habe ich mich ein bisschen durchs Internet geklickt und gelernt, dass Erdbebenherde (Hypozentren) nicht eigentlich punktuelle Brüche der Erdkruste sind, sondern (Bruch-)Flächen. Bei besonders gravierenden Erdbeben können sich diese über etliche Kilometer erstrecken. Das Epizentrum wäre dann der Ort, an dem diese Bruchflächen ihre Wirkung an der Oberfläche zeigen. Das müsste die Konfrontation der beiden Brüder sein – während die Bruchflächen unter ihnen sich kilometerweit erstrecken und auch die Katastrophe nicht am Ort dieser Konfrontation eingesperrt werden kann.

Zeitlich ordne ich ihren Roman in nicht allzu ferner Zukunft an, ohne dass ich ihren Roman in die Schublade „Dystopie“ stecken könnte. Die beschriebene Gegenwart bröckelt. Und genau diese Tatsache fasziniert. Sie entziehen sich mit ihrem Buch einer Einordnung. Es scheint ihnen nur vordergründig um eine Geschichte zu gehen. Viel mehr um all das, was sich weder erzählen noch erklären lässt. War das von Beginn weg Plan?

Das ist eine sehr freundliche Einschätzung. Ganz zustimmen würde ich allerdings nicht, die Geschichte ist wichtig. Ich finde, man sollte im 21. Jahrhundert nicht so schreiben, als hätte es die Postmoderne nicht gegeben: Spannung kann auch faszinieren, insbesondere wenn sie nicht zu einfach gestrickt ist. Insofern war gerade diese Kombination von Beginn an der Plan, d.h. den ‹Plot› zu erzählen und zu den Bruchflächen vorzudringen.

Ihr Roman strotzt vor Andeutungen. Einmal fällt der Nebensatz „wie diese drecksverdammten Nazieltern es verdient hätten“. Eine Andeutung, die nie wieder aufgenommen wird, die mich als Leser stehen lässt, verunsichert. Eine Eigenschaft ihres Romans, die man ihnen leicht vorwerfen könnte, dabei aber nur die unmittelbare Nähe des Erzählers schildert, so wie jeder in seinem Erzählen dauernd andeutet und niemals alles zu einem Ende erzählen kann. Wie sehr war der Roman ein Kampf mit einer Lektorin oder einem Lektor?

Glücklicherweise gab es eigentlich gar keinen Kampf mit meiner Lektorin, es war viel mehr eine sehr gründliche Detailarbeit. Das lag wohl daran, dass sie das ästhetische Programm des Romans durchblickte und dann innerhalb dieses Rahmens ihre Anmerkungen vorgenommen hat. Der Nazi-Ausruf Bennos korrespondiert mit einigen anderen Textelementen, auch wenn diese Andeutung in Bezug auf die Eltern tatsächlich nicht auserzählt wird. Man muss aber auch bedenken, wie das Wort «Nazi», gerade wenn ein Jugendlicher spricht, heute verwendet wird.

Ein Prolog, zwölf Kapitel, ein Epilog. So wage manch ein Erzählstrang, so klar die Struktur. Sie scheinen jemand zu sein, der Ordnung liebt, auch wenn inhaltlich nicht „aufgeräumt“ wird. Ist Schreiben nicht stets eine Form des Aufräumens?

Ab einem gewissen Zeitpunkt: ja. Aber der Anfang ist chaotisch, weil Kreativität eine chaotische, zerstörerische Kraft ist. Irgendwann aber muss sie gelenkt werden, sonst kann kein stimmiger Text entstehen. Ich selbst habe den Roman nicht linear geschrieben, das Ende war sogar einer der Textteile, die ich schon relativ früh fertiggestellt hatte.

Die Erzählstimme berichtet von Stephans Rückkehr an den Ort seiner Kindheit. In dem Masse wie er zurückkehrt und eintaucht, verliert er den Kontakt zu seinem Leben in der Stadt, zu seiner Freundin Nina, mit der er nur auf einem Hügel über dem Dorf via Mobilephon Kontakt aufnehmen kann. Muss man sich entscheiden zwischen Familie und neuem Leben? Zwischen Altem und Neuem?

Ich habe eine Zeitlang behauptet, ich hätte meinen Studienort ausgewählt, indem ich einen Zirkel in mein Heimatdorf gesteckt und einen Kreis von 200km (im Massstab) darum gezogen hätte. Das habe ich natürlich nicht, aber ich denke, ein bisschen Abstand kann nicht schaden, um sich von seinen Wurzeln zu emanzipieren. Das gehört wohl zum Erwachsenwerden und kann eigentlich nur gut sein für das Verhältnis zur eigenen Familie. Stephan fehlt hier das Mass, erst stürzt er sich rücksichtslos ganz ins Neue, dann kehrt er zurück, gepeinigt von seinem schlechten Gewissen, weil er den Kontakt mit dem jüngeren Bruder hat schleifen lassen – und das führt ihn in den Untergang.

© Vera Thielen

Jochen Veit wurde 1992 geboren. Er studierte Philosophie und Komparatistik in Mainz und Wien. Im Jahr 2016 war er Stipendiat der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung in Edenkoben und 2018 nahm er am Literaturkurs in Klagenfurt teil. Seine Texte erschienen in mehreren Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a. in KRACHKULTUR und STILL. Er lebt in Köln.

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Jochen Veit

Peter Höner «HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt», Edition Howeg

Der neue Roman „HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt“ von Peter Höner ist ein gewagter, frivoler und sehr eigenwilliger Roman eines Autors, der sich weder schubladisieren noch von den gegenwärtigen Strömungen beirren lässt. Ein irisierendes Kunstwerk, das tut, was nur Kunst kann; imaginieren!

Salvador hat die Pflichtschulzeit hinter sich und erst einmal genug von Zwängen, Stundenplänen und Pflichten. Er sitzt zuhause in seinem Zimmer, nur durch eine Tür von seiner Mutter entfernt und huldigt seiner Spielleidenschaft an Tastatur und Konsole. Bis sich HG neunzehn meldet, die Stimme aus dem Off, und ihn nach Frankreich auf ein Schloss lockt. Eine Reise beginnt, eine Reise zwischen die Wirklichkeiten.

Dem Roman vorangestellt ist die Frage «War ich jemals wirklich wach?». Liest man Peter Höners neusten Roman mit dieser Frage im Kopf, ist der Text genau das: die dauernde Suche nach den Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen analog und digital, zwischen real und künstlich. Salvador, der Gamer, hat ganz offensichtlich Mühe, die verschiedenen Welten auseinander zu halten. Sind es Traumzustände, die ihn halluzinieren lassen oder spielt die Realität Katz und Maus mit einem der nicht mehr zu unterscheiden weiss? Wer ist der geheimnisvolle Absender HG neunzehn, der stets zu wissen scheint, wo Salvador ist, der ihm stets so viel digitale Brosamen vor die Füsse wirft, dass Salvador die Flinte an diesem rätselhaften Ort nicht ins Korn wirft.

Seltsame Figuren begegnen ihm, ein Schloss voller Figuren, manchmal real, manchmal in seltsamer Ferne, manchmal von einer anderen Welt. Auf dem Nachbargrundstück, das hinter einer hohen Mauer nur durch eine verborgene Lücke zu erreichen ist, tummeln sich noch viel fremdere Gestalten; Kleinwüchsige mit putzigen Kappen, eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren oder grosse Hunde mit rollenden Augen, auf denen man reiten kann.

Nach seinem beim Limmat Verlag erschienen Krimi «Kenia Leak» bewegt sich Peter Höner in einer diametral anderen Ecke des Erzählens. Was im Krimi einer Logik zu folgen hat, sprengt in seinem neuen Roman fast alle Grenzen. Was im Krimi nie über die Grenzen der vorstellbaren Realität hinauswachsen sollte, ist in HG neunzehn völlig losgelassen. Peter Höner fabuliert, schwadroniert und legt ebenso verwirrende Fährten wie HG neunzehn mit seiner digitalen Schnitzeljagd. Wer bereit ist, sich bei seiner Lektüre auf ein Abenteuer einzulassen, ist bestens unterhalten, reichlich belohnt.

Peter Höner schwelgt in Bildern, so als hätte er für dieses Buch allein einer Gamewelt erschaffen; klar realistisch erscheinende Bilder, die sich mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernen. Nicht einmal die Grenzen des Lebens, das Sterben und der Tod sind für diesen Ritt von einem «Level» zum nächsten unüberwindbar. Es wird in kleinen und grossen Toden reichlich gestorben, üppig und cineastisch. Da stellt sich die Frage durchaus, ob man je wach war, er während des Schreibens, ich während des Lesens, wir während des Lebens. Aber Literatur soll und muss sich nicht begrenzen lassen, darf Grenzen lustvoll überschreiten. Und das tut Peter Höner in jugendlicher Frische, als hätte er in dieses Buch alles hineinbringen wollen, was er schon längst einmal beabsichtigte; grenzenloses Sprachspiel.

Ein paar Fragen an den Autor:

In einem Alter, in dem sich andere Autoren in ihrem „Spätwerk“ noch einmal von grossen Gefühlen einholen lassen, tust du das auch. Aber ganz anders. Zumindest ich spüre bei der Lektüre deine Lust, deine Schreibfreude, deinen Schalk und deine Absicht, jetzt erst recht mit der „grossen Kelle“ anzurühren. War dieser Roman auch eine Befreiung?

Die Befreiung besteht wohl in erster Linie darin, dass die Geschichte von Salvador erzählt und geschrieben ist. Ich habe mehr als zwanzig Jahre daran gearbeitet, nicht ununterbrochen, in den zwanzig Jahren sind ja noch andere Bücher entstanden, aber immer wieder, weil mich der Stoff nicht losgelassen hat, weil ich dem Schelm Salvador nicht Meister wurde.

Salvador Patrick Fischer ist jung, hormongesättigt und lebt in einer Welt zwischen Realität und Digitalem. Der Mutter gelingt es längst nicht mehr, den Sohn von der Konsole zu locken. Als Schriftsteller mit Jahrgang 47 nicht unbedingt jene Welt, die man ihm am nächsten stellt. Steckt da eine Spielernatur oder ist dieses Buch nach langer Recherche durch die digitale Welt entstanden?

Vor zwanzig Jahren haben mich die Bilder und Welten der frühen Computerspiele tatsächlich zum Spielen verleitet, ich wollte dahinterkommen, wie so etwas gemacht wird, und ich fand dieses interaktive Geschichtenerzählen so spannend, dass ich es gern beherrscht hätte. Mit ein paar Schriftstellerkollegen habe ich 2002 sogar ein Projekt für die Schweizerische Landesausstellung eingegeben, in dem die Besucher als Avatare mitspielen konnten. Eines der vielen Projekte, das dann aber nicht realisiert wurde.

Noch vor zwei Jahrzehnten hätte ein Buch „Der sonderbare Ausflug in die digitale Welt“  geheissen. Dein Roman ist ein Roadtripp über die Realität hinaus, die Reise eines Nerds weg von der Konsole, begleitet nur von Herbert, seinem personifizierten Mobilephone. Dein Roman ist keine Warnung über die Auswirkungen von Spielsucht oder Weltentfremdung. Was war die Urmotivation, dieses Buch zu schreiben?

1998 besuchte ich meinen Cousin in Frankreich, der sich vorgenommen hatte, einen überwucherten Park eines Schlosses zu restaurieren. Doch  Schloss, Park, Ruinen, Orangerie, alles, was zu diesem Schloss gehörte, waren Träume eines Neureichen, der sich einen Adelssitz bauen liess, um mehr zu scheinen, als er war. – Doch von diesen Scheinwelten zu Salvadors sonderbarem Ausflug gab es mehr als einen Umweg.

So wie die digitale Welt Bilder erzeugt, tat es auch immer wieder die Kunst, die Literatur, die Malerei. In deinem Roman werden sogar Bilder lebendig, so wie „Die Sünde“ von Franz von Strunk, eine Femme fatale mit grossen Augen und viel reizender Haut. Eine Frauenfigur, die dem umherirrenden Salvador Patrick Fischer rätselhafte Begleiterin ist. Du reisst alle Grenzen nieder, machst dich auf in eine Welt zwischen Wachtraum, Realität und Künstlichkeit. Du schreibst auf einem Berg, über allem, mit Sicht bis weit in die Berge. Abgehoben?

Nein, abgehoben ganz bestimmt nicht. Salvador ist weder überheblich, noch besonders brillant, ein Schelm, unerfahren, neugierig und mit einer Aufgabe überfordert, die er erst im allerletzten Moment versteht. Ein Opfer dieses rätselhaften HG 19.

Das Buch ist nicht nur inhaltlich eine Besonderheit, sondern auch optisch und haptisch: Mehrfarbig gesetzt, mit blauer Fadenheftung gebunden, das Cover von einer eigenwilligen Künstlerin (Manuela Müller) illustriert. Warum nicht mehr bei deinem Stammverlag?

Eine der Geschichten, die im Roman vorkommen, wurde schon unter dem Titel „Die indische Prinzessin“ in der Edition Howeg veröffentlicht, da war es naheliegend mit dem Roman bei Thomas Howeg anzuklopfen, gerade weil sein Verlag für Besonderheiten, respektive schöne Bücher, berühmt ist. 

Peter Höner, 1947 in Winterthur geboren, studierte an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg, war Schauspieler u.a. in Hamburg, Bremen, Berlin, Basel, Mannheim und Baden. Seit 1981 ist er freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. 1986 bis 1990 Afrikaaufenthalt, 1997 – 2000 Präsident der Gruppe Olten, von 2000 bis 2004 wohnhaft in Wien, seit Mai 2004 wieder in der Schweiz. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern fast ausschliesslich im Limmat Verlag erschienen.

Ich danke der Künstlerin Manuela Müller für die Erlaubnis, das von ihr geschaffene Coverbild verwenden zu dürfen. Webseite der Künstlerin

Webseite des Autors

«Aufs Land gezogen» von Michèle Minelli und Peter Höner auf der Plattform Gegenzauber

Rezension zu «Kenia Leak» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Davide Enia «Schiffbruch vor Lampedusa», Wallstein

In den letzten Jahren sind Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken und ein Vielfaches davon Traumatisierte. Das sind Zahlen, Statistiken, die niemals widerspiegeln, was in jeder einzelnen dieser menschlichen Katastrophen durchlebt werden muss. Davide Enia ist mit «Schiffbruch vor Lampedusa» so nahe an die Schicksale herangegangen, wie es Respekt zulässt. Ein Buch, das Fakten und Zahlen pulverisiert und die durchlittenen Schicksale vieler ganz nah an ein inneres Auge lässt.

Wir kennen Fotos und Reportagen. Manche sind tief eingebrannt, unauslöschlich bis in die Träume hineingemischt. Und doch ist es das Wort und nur es, das es schafft, mehr als nur einen Eindruck zu stempeln. Wenn Menschen erzählen. Von ihrem Zuhause, das sie zurücklassen, ihren Familien und Freunden, einer Heimat, die sich hinter ihnen verschliesst. Von der langen Reise, den Schleppern, der Angst, den Misshandlungen, der rohen Gewalt. Von den langen, wortlosen Märschen durch die Wüste, vorbei an jenen, die für immer liegenbleiben. Vom langen Warten in Lagern, der Willkür jener, die die Macht besitzen, von Vergewaltigungen und Folter. Von den endlosen Fahrten in einem überfüllten Schlauchboot, dem langsamen Sterben, dem Hoffen auf Rettung. Vom Ertrinken, vom Verdursten, vom Wahnsinn und dem Auftauchen eines Schiffes. Von den Männern und Frauen, die ihnen bei diesem einen Schritt ins Boot, auf den Steg, auf die Mole helfen und der Odyssee die mit der Rettung erst beginnt. Von den Flüchtenden und den Rettern, den Kapitänen und Rettungstauchern, Traumatisierten wie nach einem Krieg, Mensch gegen Mensch.

© Francesco Enia

«Auf See gibt es kein Abwägen von Alternativen, jedes Leben ist heilig. Und wer Hilfe braucht, dem wird geholfen.»

Die nicht einmal zehn Kilometer lange Insel Lampedusa, mitten im Mittelmeer zwischen Tunesien und Sizilien, einst eine freundliche Touristeninsel mit nicht einmal 5000 Einheimischen, ist seit dem Arabischen Frühling die erste vorgelagerte rettende Insel auf einer unsäglich langen, für uns Europäer kaum nachvollziehbaren Flucht. Zehntausende schaffen es auf lausigen Booten über das Meer, ohne Essen, ohne Trinkwasser, meist auch mit viel zu wenig Treibstoff, hoffen auf Rettung, auf einen Funken Zukunft. Tausende schaffen es nicht, fast ausnahmslos junge Menschen, denn nur ihnen ist eine solche Strapaze zuzumuten. Kinder, schwangere Frauen, Säuglinge in den Armen ihrer Mütter.

«Ich weiss nicht, weshalb ich überlebt habe. Ich bin einer der letzten fünf, der diese Leute lebendig gesehen hat, und trotzdem wüsste ich nicht, wie ich ihren Familien, den Dorfbewohnern gegenüber ihren Tod schildern sollte. Ich war erst siebzehn Jahre alt.»

Davide Enia wollte sich selbst ein Bild von der Situation machen, jenen eine Stimme geben, die sich auf der Insel um die Gestrandeten bemühen, alleine gelassen von Politik und Bürokratie. Einheimische, die nach einem ersten Schock teilen, was sie haben, die ebenso wenig wissen wie ihnen geschieht, wie all jene Hoffnungslosen, die nach dem Ausgestandenen in metallic schimmernden Wärmedecken an der Mole sitzen. Er besucht Freunde auf der Insel, zusammen mit seinem Vater, einem ehemaligen Kardiologen, der fotografiert (-> Fotos zum Text!). Es spricht der Rettungstaucher, den Davide Enia nur den «Samurai» nennt, ein Mann, aus dessen Gesicht tausend Schicksale sprechen. Ein Mann, der den Schrecken, das Elend, den Tod wie eine unsichtbare Kette um den Hals mit sich herumträgt. Es sprechen aber auch alle die liegengebliebenen Dinge in den verlassenen Booten, die die Einheimischen in einem leeren Haus wie in einem Museum sammeln.

© Francesco Enia

«Meine Freunde sind alle da draussen.»

Davide Enia berichtet und erzählt und gibt den Menschen eine Stimme. Auch wenn er die Flüchtenden nur selten sprechen lässt. Was Gesichter, die Blicke, das Leid im Leben der Rettenden hinterlassen, genügt. Und weil der Autor gleichzeitig von seiner Familie erzählt, der Annäherung an seinen wortkargen Vater und seinen sterbenden Onkel, weil es auf beiden «Schauplätzen» um Heimat, Entfremdung und darum geht, ob man diesen einen, unsagbar grossen Schritt wagt, sind die Schilderungen in «Schiffbruch vor Lampedusa» erträglich. Davide Enia nähert sich behutsam, genauso wie sein Vater mit dem Objektiv.

Lampedusa, «europäisches» Territorium, gehört eigentlich zum afrikanischen Kontinent. Die Flucht ist noch lange nicht ausgestanden, auch wenn die Geflohenen mit letzter Kraft den Boden unter ihren Füssen küssen. Entkommen sind sie noch lange nicht.

© Francesco Enia

Warum ein solches Buch lesen? Weil Davide Enia etwas schafft, was angesichts der Zahlen, Statistiken, Fakten und endlosen politischen Debatten unsichtbar wird; der Schrecken, die Menschen, die Schicksale und die Tatsache, dass niemand einen solchen Fluchtweg riskiert, der nicht radikal in seiner Existenz bedroht ist. Dabei von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen, ist angesichts der Lebensqualität von Millionen Europäern ein Hohn.

Davide Enia, geb. 1974, ist Dramatiker, Schauspieler und Autor mehrerer Romane. Für seine dramatischen Texte, die er teilweise selbst inszeniert und aufführt, hat er bedeutende italienische Theaterpreise gewonnen. Sein erster Roman «Così in terra» (2012) wurde in bisher achtzehn Sprachen übersetzt.

© Tony Gentile

Nachwort: Albert Ostermaier

Die Übersetzerin Susanne Van Volxem, geboren 1965, ist Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Sie lebt mit Mann und Kind in Frankfurt am Main. Olaf Matthias Roth, geb. 1965, studierte Romanistik und Germanistik. Er übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, außerdem arbeitet er als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Kiel.

Webseite des Autors

Alle Fotos © Francesco Enia / Webseite

Ich danke Francesco Enia für die freundliche Erlaubnis, seine Fotos in meinen Text einfügen zu dürfen!

John Ironmonger «Der Wal und das Ende der Welt», S. Fischer

Man findet ihn nackt am Strand, nicht weit von St. Pirat, einem kleinen Fischerdorf in Cornwall. Ein junger Mann, dessen Auto im Dorf am Hafen steht – nackt. Wenig später strandet am selben Strand ein Wal, ein Finnwal. Und ausgerechnet dieser junge Mann, Joe Haak, ist es, durch dessen Initiative es das kleine Dorf schafft, den Riesen zurück ins Meer zu schaffen. Es ist der Beginn einer Geschichte, die das Ende des Ganzen bedeuten kann.

«Der Wal und das Ende der Welt» ist wieder ein Buch, das ich nicht gelesen hätte, wäre es nicht in einer meiner Leserunden, die sich zehn Mal im Jahr trifft, vorgeschlagen gewesen. Ich mochte den Titel nicht, was sich auch nach dem Ende der Lektüre nicht geändert hatte. Ich mag weder Filme noch Bücher, die den Untergang der Welt mit der grossen Kelle inszenieren. Und schon gar nicht solche, die im Titel zu viel verraten. Nichts gegen Dystopien, die in den letzten Jahren zu einer eigenen Gattung geworden sind und sich mit Romanen wie «The road» von Cormac McCarthy ins Bewusstsein von Lesenden eingebrannt haben. Aber «Der Wal und das Ende der Welt» überraschten und belohnten mich.

Joe Haak ist Analyst einer Londoner Bank, die sich darauf spezialisierte, dann die grossen Gewinne zu verzeichnen, wenn alle andern in Panik ihre Aktien abstossen. Zusammen mit einem Team entwickelt er «Cassie», ein Programm, das mit Hilfe von Algorhithmen aus dem Meer von Netzinformationen Vorhersagen generiert, die die Bank stets einen Schritt voraus reagieren lassen. Ein Programm, das riesige Gewinne erzielen soll. Aber als dem jungen Mathematiker bewusst wird, welche Auswirkungen ein solcher Rechner haben kann und erste Ergebnisse ihn das Fürchten lehren, kappt er das Wenige, was ihn in jener Welt hält, fährt los bis zu dem kleinen Fischerdorf, an dem die Strasse am Meer endet.

In das kleine Fischerdorf, in dem man an nur ganz wenigen Stellen eine Internetverbindung findet, in dem Jon Haak als Retter des Wals vom ersten Tag an als Fremder einen Sonderstatus innehat, dringen immer mehr Meldungen vor, wie eine Grippepandemie das globale Gleichgewicht durcheinanderbringt. Und weil Joe Haak mehr weiss als alle anderen im Dorf und er ein Versprechen mit sich herumträgt, kauft er mit dem, was er auf seinem Bankkonto verflüssigen kann, einen Nahrungsmittelvorrat, den er mit Hilfe von Eingeweihten im Turm der Kirche des Dorfes einlagern kann. Lebensmittel für 300 Dorfbewohner, die ein paar Wochen Aufschub leisten können. Während sich ein globales Desaster wie ein Flächenbrand auszubreiten beginnt, rüstet sich ein Dorf an der Küste gegen die drohende Anarchie nach einem «Kollaps».

«Der Wal und das Ende der Welt» ist zum einen die Geschichte dieses jungen Mannes, der die Büchse der Pandora öffnete und jene eines kleinen Dorfes und ihrer Mechanismen. Ein Buch über Hoffnung und Ängste, dass sich Menschlichkeit und Unmenschlichkeit nicht vorhersagen lassen. Ein grosser Teil des Buches beschreibt jene Wochen, in denen sich der Analyst Joe Haak zusammen mit dem Pastor Alvin Hocking in der Kirche nach dem Kontakt mit einer an der Grippe Sterbenden einschliessen, eine selbst gewählte Quarantäne. Der Mathematiker und der Theologe, beide Hüter von Geheimnissen, Analysten der Zukunft. Während sie hoffen und bangen, in den kommenden Tagen nicht von der aggressiven Grippe oder einer anderen Welle der Gewalt dahingerafft zu werden, entwickeln sich zwischen all den Kisten, Schachteln und Säcken voller Nahrungsmittelvorräte Gespräche über Existenzielles. Ein fein komponiertes Kammerspiel einer Annäherung.

Urteil der Leserunde: 4 Stimmen sind angetan bis begeistert. 2 Stimmen gaben beim Lesen auf.

«Der Wal und das Ende der Welt» ist bestens erzählte Unterhaltung, gütlich das Ende, von einem Optimisten geschrieben.

John Ironmonger kennt Cornwall und die ganze Welt. Er wuchs in Nairobi auf und zog im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern in den kleinen englischen Küstenort, aus dem seine Mutter stammte. John promovierte in Zoologie; nach Lehraufträgen wechselte er in die internationale IT-Branche. Schon immer hat er geschrieben; seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt. Inspiriert zu «Der Wal und das Ende der Welt» haben ihn unter anderem die biblische Geschichte von Jonas und dem Walfisch, das Werk des Gesellschaftsphilosophen Thomas Hobbes, Jared Diamonds Sachbuch «Kollaps» und viele andere Quellen der Phantasie und des Zeitgeschehens. John Ironmonger lebt heute in einem kleinen Ort in Cheshire, nicht weit von der Küste. Er ist mit der Zoologin Sue Newnes verheiratet; das Paar hat zwei erwachsene Kinder und zwei kleine Enkel. John Ironmongers Leidenschaft ist die Literatur – und das Reisen auf alle Kontinente.

John Ironmongers Blog

Eine Empfehlung für einen wunderschönen Sommerabend am Bodensee: «Haus zum Schiff«, ein mit viel Herzblut geführtes Restaurant direkt am See.

Beitragsbild © Andrew Richardson

Alina Bronsky «Der Zopf meiner Grossmutter», Kiwi

Alina Bronsky erzählt mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Der Roman über eine russische Flüchtlings- und Patchworkfamilie in Deutschland sprüht vor Leidenschaft in alle erdenklichen Richtungen, verbindet Witz und Schalk mit hintergründigen Zwischenmenschlichkeiten.

Der kleine Max kommt mit seinen Grosseltern als Kontingentflüchtling in einer deutschen Kleinstadt an. Er lebt zusammen mit ihnen auf engstem Raum in einem ehemaligen Hotel und kommt nur zaghaft in Kontakt mit der neuen Welt, weil die Grossmutter den scheinbar kränklichen Enkel vor allem Unbill, sei er auch noch so an den Haaren herbeigezogen, schützen will. Grossmutter ist überzeugt, dass der kleine Wurm vor der Welt geschützt werden muss, damit er sich an ihr nicht verätzt, verbrennt, verliert und verwundet. Selbst der Grossvater hat das Aufbegehren längst eingestellt, verliert, wenn er zuhause ist, kaum ein Wort, weiss, dass er gegen die Allmacht und das Allwissen seiner dominanten Frau nichts auszurichten hat, zumindest in den vier Wänden des engen Zuhauses.

In der gleichen Siedlung, auf Sichtweite, zieht Nina ein, auch aus Russland, zusammen mit ihrer Tochter Vera, die gleich alt wie Mäxchen ist, nur eben nicht missraten, kein kleiner Scheisser, kein Schrumpfkopf oder Krüppel. Grossvater steht am Fenster und schaut, für seine Frau ein Indiz, dass auch ihr Mann dem Wahn im fremden Land verfallen ist. Er bleibt immer öfter fern. Zum einen, weil er es ist, der eine Arbeit findet, zum andern, weil er die Nächte viel lieber auswärts bei der zarten Frau in der Nachbarschaft verbringt. Maxens Grossmutter nimmt es hin, so wie sie es überhaupt versteht, die Welt nach ihrem Gutdünken zu interpretieren oder gar zu drehen. Sie weiss, wie alles funktioniert, niemand macht ihr etwas vor, schon gar nicht der nichtsnutzige Enkel, den sie an jedem Tag seines kurzen Lebens vom Tod errettet hat.

Selbst als Nina schwanger wird und ein Kind zur Welt bringt, selbst als alles an dem kleinen Wicht die Verwandtschaft verrät, selbst als Nina mit dem Kind schwermütig in ihr enges Zuhause einzieht, selbst als Max offensichtlich genug in der Schule seine Fesseln ablegt und beweist, dass er alles andere als ein Nichtsnutz und Krüppel ist, dreht sich die Welt der Grossmutter in ihren Bahnen weiter. Sie, die stets behauptet, früher einmal eine gefeierte Tänzerin gewesen zu sein, schafft es gar, eine Tanzschule zu eröffnen, die von hoffnungsvollen Flüchtlingsfamilien, die überall Türen sehen, überrannt wird.

Alina Bronsky erzählt die Geschichte von Max, einem Jungen, der sich von der Welt ferngehalten diese zu erklären versucht. Von einer allmächtigen Grossmutter, die den kleinen Jungen nicht nur vor den Gefahren, sondern vor dem Leben überhaupt fernhält. Auch fern von den Geheimnissen in der Familie, von seiner Mutter, von der niemand etwas erzählt, von seinem Vater, der wie ein Gespenst zwischen den Zeilen flackert, von einer Schuld, von der niemand sprechen will. Max erkämpft sich einen Weg durch die Schutzwälle seiner Grossmutter, emanzipiert sich und ist schlussendlich der, der alles zusammenhält. Indirekt erzählt Alina Bronsky wohl auch viel von ihrem Ankommen in Deutschland als Kontingentflüchtling, von all den Beobachtungen an Familien, die wohl von Russland flohen, im neuen, fremden Land aber nie ankommen wollten. Und ganz nebenbei von der Sorte Eltern, die sich fast infektiös zu verbreiten scheinen: Helicopter Parents!

Ich las das Buch mit grösstem Vergnügen!

© Julia Zimmermann

Alina Bronsky, geboren 1978 in Jekaterinburg/Russland, lebt seit Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland. Ihr Debütroman «Scherbenpark» wurde zum Bestseller, fürs Kino verfilmt und ist inzwischen beliebte Lektüre im Deutschunterricht. Es folgten die Romane «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» und «Nenn mich einfach Superheld». «Baba Dunjas letzte Liebe» wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein grosser Publikumserfolg. Die Rechte an Alina Bronskys Romanen wurden in zwanzig Länder verkauft. Sie lebt in Berlin.

Rezension von Alina Bronskys «Baba Dunjas letzte Liebe» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Yishai Sarid «Monster», Kein & Aber

«Monster» ist der Bericht eines Mannes, der als Tourguide im ehemaligen Konzentrationslager Treblinka einen Dokumentarfilmer, den er durch die Anlage führt, mit einem Faustschlag niederstreckt. «Monster» ist ein Buch über den Ehrgeiz, der den Inhalt vergisst, von all den Monstern, die einen Mann innerlich zerfleischen, bis sie zubeissen. Der Bericht an den Vorgesetzten, die Erklärungen eines „falsch Verstandenen“.

Das Buch trifft, betrifft! Die Faszination, die einem beim Lesen packt, entlarvt, beschämt und verunsichert zugleich. «Monster» ist nichts für «schwache Nerven», nichts zur blossen Unterhaltung, keine Geschichte, sondern Geschichte. Geschichte dessen, was die Abstraktion des Bösen mit denen macht, die sich acht Stunden und länger jeden Tag mit den menschlichen Abscheulichkeiten beschäftigen.

Ein israelischer Historiker, verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes, verdient sein Geld nicht in Israel, wo er studiert hatte und die kleine Familie wohnt, sondern in den vielen jüdischen Gedenkstätten in Europa, wo er sein Publikum durch das dokumentierte Grauen der Judenvernichtung führt. Er, der über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Arbeitsmethoden deutscher Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg doktorierte und nichts mehr wünschte, als sich in Ruhe und Gelassenheit mit abgeschlossener Geschichte zu beschäftigen, der mit fundiertem Wissen und fachmännischem Rat zur Seite stehen könnte, sieht die Pferde, auf die er gesetzt hatte, davonrennen. Seine Karriere stockt, die Menschen funktionieren nicht so, wie es seiner Reputation helfen würde, seine finanziellen Sorgen verschwinden nur kurzzeitig  und sein kleiner Sohn weit weg von seiner Arbeit kämpft erfolglos gegen die Monster in seiner Welt.

Er schildert den Apparat des Grauens, stellt Fragen und gibt Antworten. Aber so nah ihm die Fakten sind, so sehr entfernen sich die Millionen, die in diesem Apparat vernichtet wurden, die keine Chance hatten. Es blühen Blumen dort, wo damals Tausende erschossen wurden, die Nachwelt forscht mit der gleichen Akribie wie damals der Vernichtungsapparat die Ziele der Wannseekonferenz umsetzte. Angesichts seiner Studien und Forschungen über das absolute Grauen kann der fleissige Historiker in euphorische Verzückung geraten. Er wird zum Soldat seines Auftrags, fasziniert von der Perfektion der Vernichtung, der fast makellos sauberen Effizienz einer Entsorgungsmaschinerie. Im krassen Gegensatz zur Szenerie um seinen Sohn Ido, der in seinem Kindergarten gemobbt wird. Wo er als Vater auftritt, um Probleme zu erledigen. Nur mit Gewalt kommt man gegen Gewalt an.

In meinem lesenden Umfeld stelle ich immer wieder fest, dass Bücher, Romane, die sich mit dem letzten Weltkrieg, der Shoa, dem Holocaust beschäftigen, schnell schon vorab auf Ablehnung stossen. Nicht nur bei Viellesern aus Deutschland, denen man eine gewisse Schädigung aus der Schulzeit anmerkt, sondern auch bei jenen, die Schule und Ausbildung ähnlich wie ich durchliefen. Keine Ahnung, ob es damit zusammenhängt, dass man im Unterbewussten genau spürt, dass dieses Monster mit dem Ende des Krieges, nicht einmal mit der mehr oder weniger intensiven Aufarbeitungen der Geschehnisse begraben ist. Dieses Monster lauert weiter, sowohl in der gegenwärtigen Geschichte, in der Politik, die immer unverhohlener mit Verbalattacken aus dem Wortschatz der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie auffahren, auf Schulhausplätzen, im Zug und ganz bestimmt im www.

«Monster» taugt nicht zur Unterhaltung, ist keine Lektüre für einen verregneten Nachmittag, weil einem die Lektüre im Regen stehen lässt. Keine Strandlektüre, weil die Sonne auf der Haut und die Lektüre auf der Seele brennt. Und trotzdem soll und muss man «Monster» lesen, weil Yishai Sarid die Banalität des Grauenhaften zeigt, von der «Banalität des Bösen» (Hannah Arendt) erzählt, es schafft, dass es mir bei der Lektüre schlecht werden kann, weil ich den Gegensatz zwischen Grauen und Banalität kaum ertrage. Ein Gegensatz, den man angesichts der Bilder in Presse und Medien schon längst mit aller Coolness ertragen gelernt hat, wenn einem Bilder von einem ertrunkenen Kind an einem Mittelmeerstrand gezeigt werden, von vergewaltigten Mädchen im Sudan, fast im gleichen Augenblick wie die vom Kampf gegen Bauchfett oder über Abstiegskatastrophen in der Fussballbundesliga.

Yishai Sarid wurde 1965 in Tel Aviv geboren, wo er bis heute lebt. Nachdem er als Nachrichtenoffizier in der israelischen Armee tätig war, studierte er in Jerusalem und Harvard und arbeitete später als Staatsanwalt. Heute ist er als Rechtsanwalt tätig, und er veröffentlicht Artikel in diversen Zeitungen. Bei Kein & Aber erschienen bislang seine Romane «Limassol» und «Alles andere als ein Kinderspiel».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Marion Brasch «Lieber woanders», S. Fischer

Wenn einem die Vergangenheit überholt, überrollt. Wenn sich Gegenwart vernichtend kreuzt, wo man doch eigentlich gerne aussteigen würde, aus dem Zug, der ohne Halt durch die Zeit rast. Der schmale aber gewichtige Roman von Marion Brasch tritt leichtfüssig auf, um im Verlaufe seines Erzählens zu beweisen, was Leben und erst recht die Literatur zu erschaffen vermag.

Ein grossartiges Buch. Vielleicht schon deshalb, weil es mich am Anfang der Lektüre auf eine «falsche» Fährte führte und ich geneigt war, es auf die Seite zu legen. Weil sich ein scheinbar leicht durchschaubares Konzept als viel verflochtener erweist. Weil es einem bei der Lektüre bewusst macht, wie sehr man sich in seinem Leben mit dem eigenen beschäftigt, angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig Milliarden anderer Leben passieren, jedes mit dem Anspruch, der Mittelpunkt eines Kosmos zu sein. Weil das Szenario wie ein Film von schnellen Schnitten lebt, alles andere als behäbig erzählt und einem die Personen trotz aller Leerstellen im Scheinwerferlicht des Moments erstaunlich nahe kommen. Weil das Buch mit seinen 154 Seiten suggeriert, dass man es an einem Abend so leicht weglesen kann.

Manchmal spielt uns die Erinnerung einen Streich, schlägt uns ein Schnippchen, gaukelt uns etwas vor.

Toni und Alex. Die beiden kennen sich nicht und doch sind ihre Leben miteinander verzahnt. Toni lebt in einem Wohnwagen irgendwo auf dem Land. Sie ist jung, zeichnet und hofft, damit ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Alex ist Roadie einer Band, schafft das Equipment von einem Spielort zum andern, ist nie zuhause bei Frau und Kind, wenn man ihn braucht und hat eine andere Frau, die er ebenso liebt, wie seine eigene Frau. Toni macht sich auf den Weg zu einer Verlegerin, die ihr verspricht, aus ihren Zeichnungen ein Buch zu machen, macht sich auf den Weg, irgendwann nach Neuseeland zu fahren zu Oli, ihrem einzigen Freund, der es dort geschafft hat. Alex macht sich auf den Weg zu seiner kleinen Tochter, die nach einer Blinddarmoperation im Spital liegt, zu seiner Frau, die genau das Gegenteil von dem ist, was die andere Frau für ihn ist, auf den Weg nach Hause, das er aber schon lange verloren hat.

«Aus dem Irgendwann wurde ein Nirgendwann. Und im Nirgendwann hingen sie dann fest.»

Sie beide tragen eine Schuld mit sich herum oder zumindest das permanente Verheeren dessen, was ein einziger Moment in ihrer beider Vergangenheit anrichtete, ein Moment, der nicht zu korrigieren, nicht auszulöschen ist. Ein Moment, der sie zu Getriebenen macht, die durch ein Leben stolpern, dass aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Toni trifft ihren unzuverlässigen Vater, das, was von ihrer Familie übrig geblieben ist, denn die Mutter dämmert und der Bruder ist tot, trifft ihn, ohne dass Versöhnung eine Chance hätte. Alex kommt zurück zu Frau und Kind und muss feststellen, dass nichts so ist, wie er es sich auf seinen Fahrten mit dem Truck zurechtgelegt hat.

«So ist das mit der Erinnerung – sie führt uns an der Nase herum.»

Toni und Alex Geschichten sind untrennbar miteinander verzahnt. Eine Tatsache, von der die Protagonisten nichts wissen, in kurzen, aufblitzenden Momenten höchstens erahnen, mehr unbewusst als bewusst. Marion Brasch erzählt einen Tag, vierundzwanzig Stunden, in denen sich die Leben mehrfach kreuzen, letztlich mit fatalen Folgen. Marion Brasch erzählt aber nicht nur einfach zwei kunstvoll ineinander verwobene Geschichten, perfekt inszeniert, spannend bis zur letzten Seite. „Lieber woanders“ schildert genau das,  was der Titel verrät. Jeder legt sich sein Leben zurecht, gibt nur soviel preis, damit das Konstrukt nicht in sich zusammenfällt. Wir leben nicht wirklich mit dem Bewusstsein, wie sehr unser Leben mit jenem vieler anderer, von denen wir keine Ahnung haben, verzahnt und verbunden ist. Wie sehr die Metapher „das Leben in die Hände zu nehmen“ über die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums hinwegtäuscht!

«In jedem steckt ein anderer. In jedem Tapferen ein Feigling, in jedem Zärtlichen ein Grobian, in jedem Ehrlichen ein Lügner, in jedem Guten ein Schlechter.»

© Holmsohn

Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. Fischer erschienen die Romane «Ab jetzt ist Ruhe», «Wunderlich fährt nach Norden» und zuletzt «Lieber woanders».

Webseite der Autorin

Ein Gespräch mit Marion Brasch über den Roman auf 3sat

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Lukas Hartmann «Der Sänger», Diogenes

Einer der grossen Namen an den 41. Solothurner Literaturtagen; Lukas Hartmann. Nach bald drei Dutzend Romanen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene brilliert der Altmeister des historischen Romans mit seinem Buch über den einst berühmten Sänger Joseph Schmidt, der sich 1933 mit «Ein Lied geht um die Welt» in die Herzen einer Generation sang und 1942 krank und vergessen in der Schweiz starb.

1942 flüchtete der einstmals gefeierte jüdische Sänger Joseph Schmidt in die Schweiz, den Ort seiner letzten Hoffnung, weil er in Zürich einen Bekannten wusste, der ihm helfen würde. Gelandet ist er in einem Auffanglager, schwer erkrankt, entkräftet, mutlos und mit schwindender Hoffnung. Im einzigen Land in Europa, das ihm Rettung versprach, eine Rettung, die ihm hinter Pflichterfüllung und latentem Antisemitismus nicht zum Überleben die Hand reichte, die ihn sterben liess, obwohl der Schritt zur Rettung und die Menschen, die es dazu gebraucht hätte, so nah waren.

Der 1904 im damals österreichischen Czernowitz (heute Ukraine) geborene und deutsch aufgewachsene Sänger, der auf Bühne und im Film berühmt und gefeiert wurde, erlebte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten einen steilen Niedergang. Der Mann, der in überbordendem Luxus von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort reiste, von den Frauen verehrt und angeschmachtet und von Musikkennern auf Händen getragen wurde, war unaufhaltsam gefallen, mit Berufsverbot stumm gemacht, wenn auch nicht aus der Erinnerung so doch aus der Zeit getilgt. Und als ob die Flucht und die Sorge um seine Familie nicht genug gewesen wären, plagen ihn eine aggressive Kehlkopfentzündung und Herzprobleme. Die wenigen Menschen, die ihm an der Seite bleiben, selber Juden sind, schaffen es nicht, gegen eidgenössische Pflichterfüllung und unverhohlenen Antisemitismus anzukämpfen. Joseph Schmidt stirbt, alleine gelassen, obwohl er nichts lieber getan hätte, als seinem Gastland seine Kraft als Gegenleistung anzubieten. Aber amtliches Misstrauen und Vorhaltungen, alle Krankheitssymptome seien blosses Simulieren, brachten den Mann schliesslich um sein Leben.

Lukas Hartmann beschränkt sich in seinem Roman auf die letzten Monate im Leben des gebrochenen Sängers. Auf Erinnerungsfetzen an seine Mutter, an Otto, den Sohn aus einer Liebschaft, den Sohn, den er gerne gehabt hätte, aber nie akzeptiert hatte. Lukas Hartmann schlüpft in gequälte Seele und Körper eines Mannes, der es gewohnt war, seine Umgebung mit seiner Stimme zu betören, dem mit dem Klang seines Singens fast alles gelang. Aber auf der Flucht vor den Nazis, krank, kraftlos, wird ausgerechnet der Hals, der Kehlkopf zum Epizentrum seines körperlichen Zerfalls.

Es wäre für den Autor ein leichtes gewesen, die Geschichte dieses Mannes episch auszubreiten. Aber Lukas Hartmann ging es ganz offensichtlich nicht in erster Linie um die Biographie eines Gestrandeten. Als die Schweiz im August 1942 ihre Grenzen für die flüchtenden Juden schloss, begründete man dies mit der Angst vor «Überfremdung», obwohl mehr als deutlich bekannt war, was mit abgewiesenen Juden passiert. Man knickte ein im vorauseilenden Gehorsam, weil man es auf keinen Fall mit dem mächtigen Grossdeutschland verspielen wollte. Heute sind «Überfremdungsängste» so aktuell wie damals. Lukas Hartmanns Buch ist die Stimme eines Mannes, der nicht ankommen kann und dabei zu Grunde geht. Keine anklagende Stimme, eine Stimme, die sich dem Schicksal ergibt. Darum ist dieses Buch ein besonderes Buch. Die Stimme eines Mannes, die abstirbt. Nicht nur weil eine Krankheit seinen Hals im Würgegriff hat, sondern weil Demütigung, Hass und «fatale Binnensicht» Tausende Existenzen vernichten.

Ein kleines Interview mit Lukas Hartmann:

Wo lag die erste Motivation, über Joseph Schmidt  zu schreiben? Wie geschieht ein solcher Findungsprozess bei all den historischen Personen, über die sie schon Romane schrieben?

Ich kann mich nicht genau erinnern. Der Name begleitete mich schon lange, aber ich wusste bloss, dass er ein berühmter Sänger gewesen war und in einem Schweizer Internierungslager starb. Aber als mir ein Musiker, mit dem ich befreundet bin, mehr über ihn erzählte, war meine Neugier oder mein literarischer Instinkt geweckt, und ich machte mich auf meinen Rechercheweg, in dessen Verlauf – er kann sehr steinig sein – ich ja auch immer etwas über mich erfahre.

Zuhörer an der Lesung von Lukas Hartmann © Lea Frei

„Der Sänger“ ist keine Lebensgeschichte, sondern eine Leidensgeschichte, ein Passionsweg. Die Geschichte eines Mannes dem nicht nur die Stimme, sondern sein Leben geraubt wird. Sie beschränken sich beim Erzählen auf ganz ausgewählte Rückblenden, wenige Motivtafeln in dieser Passionsgeschichte. Mussten sie sich strategisch beschränken angesichts der aufregenden Biographie dieses Mannes?

Ja, Passion trifft es nicht schlecht, das war mir gar nicht bewusst. Es ist eine von unzähligen jüdischen Leidensgeschichten während der finsteren Zeit zwischen 1933 und 45. Ich wollte mich in der Tat auf die letzte Etappe von Schmidts Leben beschränken und mit atmosphärisch dichten Rückblenden arbeiten. Darum reiste ich zum Beispiel in die Gegend, in der er aufwuchs, in die Bukowina, nach Czernowitz, wo auch Paul Celan und Rose Ausländer in ihren frühen Jahren lebten.

„Überfremdungsängste“ waren es 1942, „Überfremdungsängste“ sind es heute, wo der Ruf „Das Boot ist voll!“ wieder deutlich zu hören ist. In ihrem Roman sind es die kleinen Gesten, die einem, wenn sie denn möglich sind, versöhnlich stimmen. Vielfach sind es Frauen; eine treue Freundin, eine Krankenschwester, eine Wirtin. Menschlichkeit nur noch als Form des Guerillawiderstands?

Zuhörerin an der Lesung von Lukas Hartmann © Lea Frei

Es gehört wohl zu den grausamen Epochen der Menschheitsgeschichte, dass gerade die kleinen Gesten den Glauben an die Möglichkeit des Mitmenschlichen nicht ganz erlöschen lassen. Darin zeigt sich eine Gegenkraft, die es mir ermöglicht hat, das Buch zu schreiben. Es ist nicht einfach ein billiger Trost, sondern die Überzeugung, zu der ich mich hinschrieb, dass in solchen Schicksalen die kleinen liebevollen Gesten ebenso viel zählen wie die grossen Taten. 

An der Hauswand des ehemaligen Gasthauses Waldegg in Girenbad im Kanton Zürich hängt eine Gedenktafel auf der steht: „In diesem Haus starb am 16. November 1942, achtunddreissig Jahre alt, einer der berühmtesten und beglückendsten Sänger der Welt – Joseph Schmidt – als Flüchtling und Opfer einer gnadenlosen Zeit. Dankbare Freunde“. Ihr Buch; Denk- und Mahnmal?

Sie können es so lesen, auch als Appell, den Mut zu haben, in unserer Vergangenheit die Schattenseiten der Gegenwart zu entdecken und zugleich zu erkennen, wo es damals und heute Leuchtpunkte gab und gibt.

© Bernard van Dierendonck

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen, zuletzt «Ein Bild von Lydia», regelmässig auf der Bestsellerliste.

Rezension zu «Ein passender Mieter» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild mit freundlicher Genehmigung des Joseph-Schmidt-Archivs In Dürnten im Kanton Zürich

Yoko Ogawa «Augenblicke in Bernstein», Liebeskind

Eine Mutter verliert eines ihrer Kinder. Es stirbt. Sie ortet die Schuld und versucht nun mit allen Mitteln ihre anderen Kinder vor Gefahren zu schützen, um fast jeden Preis. Was wie Mutterliebe aussieht, wird zur Besessenheit, zum Gefängnis. Yoko Ogawa, eine Grosse der japanischen Literatur, hat einen feinsinnigen, fast märchenhaften Roman über drei Geschwister im geschlossenen Garten geschrieben.

Bei einem Besuch in einem Park wird das jüngste Kind von einem grossen Hund im Gesicht abgeleckt. In der Folge stirb das Kind und für die Mutter ist klar, dass der böse Hund die Schuld am Tod ihrer kleinen Tochter trägt. Um die drei älteren Geschwister des toten Mädchens vor ähnlichem Schicksal zu schützen, zieht sich die Mutter mit ihnen in eine Villa am Rand einer Stadt zurück, ein Haus mit grossem Garten, umfangen von einer mannshohen Mauer. Die Villa gehörte dem von ihr getrennten Ehemann, einem pleite gegangenen Verleger von Enzyklopädien. Während die Mutter ihrer Arbeit als Pflegerin im Ort nachgeht, überlässt sie die Kinder im Haus sich selbst und einem ganz bestimmten Stundenplan. Sie warnt sie vor den Gefahren der Aussenwelt und befiehlt ihnen gar, ihre Namen aus dem alten Leben, ja ihre Vergangenheit zu vergessen. Zukünftig heisst die grosse Schwester Opal, die jüngeren Brüder Achat und Bernstein.

Romane aus Japan oder von AutorInnen, die mit Japan stark verbunden sind und sich mit dem Thema des „Sich Einschliessens“ beschäftigen, haben Tradition. Wohl auch deshalb, weil viele Auswirkungen gesellschaftlicher Missstände in Japan anders wahrgenommen werden, denke man nur an das Phänomen der Hikikomori (Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschliessen und den Kontakt zur Gesellschaft verweigern oder auf ein Minimum reduzieren).

Das Phänomen des sich Entziehens, Kinder um jeden Preis vor allem schützen zu wollen, ist aber beileibe kein japanisches. Medienberichte von Eltern, die ihre Kinder unter Verschluss halten, von mehr oder weniger misshandeln oder verwahrlosenKindern gibt es zuhauf. Yoko Ogawa geht es aber weder um ein Verbrechen, noch um die verstiegene Mutterliebe einer vom Wahn Getriebenen. „Augenblicke in Bernstein“ konzentriert sich auf die Geschwister im begrenzten Kosmos eines grossen Hauses mit umschlossenem Garten. Die drei Kinder sind nicht unglücklich, arrangieren sich mit ihrem Sein, nehmen Teil an der Welt im Kleinen, lernen aus den Enzyklopädien ihres Vaters und lieben sogar ihre Mutter, von der sie glauben, sie würde sie schützen.

Das jüngste der Kinder mit Namen Bernstein bekommt irgendwann eine Augenkrankheit. Über das eine Auge zieht sich ein bernsteinfarbener Schleier. Und weil der Junge in eben dieser Zeit damit beginnt, auf den Seitenrändern der Enzyklopädien, die er eifrig studiert zu zeichnen und aus diesen Zeichnungen „Daumenkinos“ entstehen, in denen die Mutter die Anwesenheit ihrer verstorbenen Tochter sieht, wird aus der Augenkrankheit eine besondere Fähigkeit, eine Art des Sehens, eine Verbindung zu einer Welt, die nicht nur ausserhalb der Mauern liegt, sondern ausserhalb der Zeit.

Yoko Ogawa beschriebt ohne psychologische Deutung, bezaubert dieses eingeschlossene Leben der drei Geschwister, die sich in grosser Liebe tragen. Ins Erzählen eingefügt sind die Vorbereitungen einer Ausstellung von Bernsteins Zeichnungen. Bernstein ist alt geworden, lebt in einer Altersresidenz. Losgelassen hat ihn diese eingeschlossene Kindheit nie, auch die tiefe Verbundenheit zu seinen drei Geschwistern.

„Augenblicke in Bernstein“ ist ein zauberhafter Roman, ganz wörtlich. Ein Roman, wie ihn nur Yoko Ogawa schreiben kann. Ein Roman mit Bildern, die bleiben, Geschichten, die auf unspektakuläre Weise bezaubern. Yoko Ogawa erzählt im Kleinen das Grosse.

Yoko Ogawa (1962) gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo.
Die Übersetzerin Sabine Mangold (1957) studierte Germanistik und Kunstgeschichte, arbeitete als Dozentin für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Niigata in Japan und wirkt auch als Yogalehrerin und Fotografin. Sie übersetzte Werke von Haruki Marukami, Akira Yoshimura, Hitomi Kanehara u. a.

Rezension von «Zärtliche Klagen» (2017) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ruth Erat «Im Meer treibt die Welt», Waldgut Verlag

Menton, eine Stadt an der Côte d’Azur im Spätherbst. Moritz Wandeler, selbstständiger Anlageberater, alleinstehend, nimmt sich auf unbestimmte Zeit ein Zimmer in der heruntergekommenen Pension „Vue Sur la mer“. Ein kleines Zimmer mit Meerblick; ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank. Er ist ausgestiegen. Ausgestiegen aus dem Zug, ausgestiegen aus seiner Welt, ausgestiegen aus seinem Trott.

Ein Mann standet. Er nimmt sich fast ohne Gepäck ein Zimmer, schaut aufs Meer und die Menschen in der Stadt, spaziert und lässt in seinem Bewusstsein Erinnerungen, Gedanken, Geschichten, Legenden branden. Gedanken eines Menschen, der sich nicht vom Fremden ablenken lässt. Das Smartphone ohne Akku, den Laptop im Zimmerschrank weggesperrt. Was ihn wegträgt, ist das Eigene, das was aufkommt, wenn man sich mit einem Mal Zeit und Raum gibt und lässt.

„Es war nicht zu bestreiten, Wandeler fühlt sich zunehmend wie an den Rand gespült.“

Und wer sich an den Rand gespült fühlt, von den stetigen Brandungswellen des Alltags, wenn ihn das Wasser nicht mehr erreicht und er auf der Mole, dem Fels liegenbleibt, dann sieht man das Branden mit einem Mal aus der Distanz, ist nicht mehr Teil davon.
Ruth Erat lässt offen, warum sich ihr Protagonist in jene Situation brachte. So wie es im Leben oft offen bleibt, warum ist, wie es ist. Ruth Erat will nicht erklären, nicht ergründen. Sie geht mit Moritz Wandeler mit.
Je mehr sich Wandeler seinen Gedanken, seinen Erinnerungen hingibt, desto mehr verliert er sich, setzt sich von seiner Umgebung ab, wird zum Sonderling.

Die einzige Person im Leben Wandelers, die er an den Stand, an den Ort am Meer mitnimmt, ist seine Mutter. Schon lange gestorben. Eine Malerin, von der er die Namen und Gerüche der Farben noch immer in Ohren und Nase hat, von der er gelernt hat, die Dinge auch anders zu sehen. Wie sie sang, französisch. Er kauft sich ein Heft und beginnt zu schreiben, im Zimmer oder auf der Bank mit Blick aufs Meer, manchmal Gedanken, manchmal auch nur die Farben, die Gerüche.

Und dazwischen immer wieder das Wort „Assez“, als wolle sich Wandeler vor der Auflösung schützen, dass ihn einer der Brecher zerschlägt, dass ihn Erinnerungen und Gedanken zurückholen, dorthin, von wo er sich mit seinem Aussteigen abgekoppelt hatte. Er macht Ordnung, Inventur in seinem Leben, legt aus. „Assez!“

Ruth Erat malt, wenn sie schreibt. Ihre Prosa wirkt wie Standbilder, ein gemaltes Bild nach dem andern. Es ist nicht die Geschichte, die vorantreibt, ein sich aufbauender Plott. So sehr Moritz Wandeler sinniert, reflektiert und seine Gedanken treiben lässt, so sehr malt Ruth Erat literarisch dichte Bilder, mischt Klangfarben, hebt mit Formulierungen Gedankengänge hervor, koloriert innere wie äussere Bilder eines Menschen, der aus seinem Rahmen hinausgetreten ist. Was wenig erstaunt, wenn man das Schaffen der Künstlerin kennt. Ruth Erat malt seit Jahrzehnten, verfasst Gedichte, zeichnet.
Ganz offensichtlich geht es der Autorin nicht darum, eine Geschichte zu erzählen. Der Text um Moritz Wandeler sind ihre Leinwände, eine lange Serie von Bildern, die sowohl von Nahem wie aus der Ferne zu betrachten sind. Wer die Erzählung „Im Meer treibt die Welt“ lesen und geniessen will, muss auf anderes neugierig sein als auf eine Story. Selbst die Figur Wandeler bleibt während des Lesens in seltsamer Distanz, erschliesst sich nie ganz, bleibt ein Rätsel. Wer sich von ihrem Erzählen mitnehmen lassen will, muss sich wie bei den Bildern der Malerin Ruth Erat hineinlesen, einlassen in eine Komposition, in ihre kunstvolle, zarte Sprache, den zuweilen mäandernden Erzählfluss.
Man bleibt allein mit Moritz Wandeler, geht mit ihm zwischen Meer und Land herum, sieht andere Menschen, ohne je wirklich mit ihnen in Kontakt zu kommen. „Im Meer treibt die Welt“ ist der Roman eines Gestrandeten, dessen Gedanken wie Brandung über sein Innerstes schwappen.

Eigen ist auch die Erzählperspektive, denn Ruth Erat wechselt von einer Erzählstimme, aus der Er-Perspektive immer wieder zum Selbstgespräch. Und dann spricht Wandeler zu sich selbst in der Du-Form, treibt sich an, kommentiert, gibt sich eine sprachliche Spur, sucht nach Sinn und Muster, nach Antworten und Klarheit.

„Kein Wunder, stellte Wandeler fest, dass der Mensch am Ende derart ermüdet.“

Und dass „Im Meer treibt die Welt“ im Waldgut Verlag von der Dichterin Irène Bourquin herausgegeben wurde, verbindet drei Sprachwelten, jene des Verlags, der Herausgeberin und jene Ruth Erats; die Welten, die sprachlich verschwistert sind, die sich nur der Sprache verpflichtet fühlen.

Ruth Erat wuchs in Bern und Arbon auf, wurde Lehrerin, studierte an der Universität Zürich und promovierte mit einer Arbeit über Mechthild von Magdeburg. Sie engagierte sie sich politisch und wurde 2015 ins Stadtparlament von Arbon gewählt. Daneben war und ist sie als Malerin, Zeichnerin und Schriftstellerin tätig. 1999 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Im gleichen Jahr erschien bei Suhrkamp ihre Erzählung «Moosbrand». Ruth Erat ist Verfasserin von erzählenden, lyrischen und dramatischen Werken, zeichnet, malt und gestaltet Installationen.

Rezension zu «Zum Trocknen aufgehängte Flügel» (Waldgut Verlag) auf literaturblatt.ch

Webseite der Malerin und Autorin

Beitragsbild © Ruth Erat «Zum Rand hin», Gouache und Kohle