Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp

Valerie Fritschs neuer Roman «Herzklappen von Johnson & Johnson» ist eine sprachliche Offenbarung, kein Unterhaltungs-Kurzfutter, keine Strandlektüre für den Halbschlafmodus. Die junge Österreicherin, die neben der Schriftstellerei auch fotografiert, vereint in ihrem Roman optische und sprachliche Tiefenschärfe, dringt sowohl psychologisch, geschichtlich und formal tief in die Segmente des Lebens ein. Ein Meisterwerk.

Alma ist schon als Kind eines mit Ecken und Kanten, wächst auf in einem unterkühlten Elternhaus, fühlt sich vielmehr zu ihrer Grossmutter hingezogen, einer stolzen, lange Zigaretten rauchenden Frau, die, je älter sie wird, desto seltener ihren Kosmos zuhause verlässt. Alma saugt alles in sich auf, auch den Schmerz der Geschichte, personifiziert in der Verschwiegenheit ihres Grossvaters, der im Krieg an Gräueltaten teilnahm, lange in russischer Kriegsgefangenschaft war und nach Jahren als Versehrter in ein Leben zurückkehrte, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste. 

Alma ist eingeklemmt in die Erwartungen ihrer Umwelt, ihrer Familie und die permanente Verunsicherung, die all das ausstrahlt, was sie zu verstehen versucht; das Leben ihrer Eltern, in das sie als Mitspielerin gezwungen ist, das Schweigen ihres Grossvaters, das immer mehr zu einem tiefen Abgrund wird, dass das, was wirklich entscheidend ist und war, ausserhalb ihres Wirkungsradius passiert. «Über ihre eigene Rolle rätselte sie oft.»

Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp, 2020, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42917-4

So sehr die mondäne Grossmutter zu einem Ankerpunkt, so sehr wird der Grossvater zu einem schwarzen Loch, der Verkörperung von unterdrücktem Schmerz, nicht nur körperlich, sondern ebenso psychisch und gesellschaftlich. Alma fühlt diesen Schmerz, der sie zu bremsen scheint, den sie, je älter sie wird, desto körperlicher wahrnimmt. Eine immerwährende Verunsicherung, die sich auch nicht verflüchtigt, als sie den Fotografen Friedrich kennen und lieben lernt. «Die Zeit wirkte wie ein Brennglas für den Schmerz.» Das Haus der Grosseltern wurde zu einem Behälter eines alten, durch Schweigen haltbar gemachten Schmerzes. Ein Schmerz, der nicht zu ignorieren war. Ein Schmerz, aus dem sie es nicht schaffte herauszuwachsen.

Und dann, als Emil zur Welt kommt, «eine grundlegende Erschütterung kroch ihr durch den Laib», stellt sich auch zu ihrem Kind nicht jene Nähe ein, die Mutterglück spiegelt. Emil wird zur Störung, einer Störung, die ihre Umwelt mit Unverständnis quittiert. Friedrich sieht das Leiden, möchte Alma am liebsten schütteln, damit etwas herausfiele aus ihr. Aber statt sich mit Emils Geburt Normalität einstellt, muss Alma feststellen, dass ihr kleiner Sohn unter einem genetischen Defekt leidet. Emil empfindet keinen Schmerz. Er spürt keinen Kratzer, keinen tiefen Schnitt, kein Bauchweh, keine Verbrennung. Und so schleicht sich der Schmerz als überdimensionale Leerstelle in Almas Leben, ein Leben, das auch vor Emils Geburt dem Schmerz gehörte.

Und weil Alma spürt, dass die grossen Antworten und Einsichten nur dort zu klären sind, wo der Schmerz seinen Ursprung nahm, macht sich Alma nach dem Tod ihrer Grossmutter zusammen mit ihrer Familie auf eine grosse Reise. Eine Reise weit weg, tief hinein.

«Herzklappen von Johnson & Johnson» ist derart sprachmächtig geschrieben, dass ich unweigerlich mein Lesetempo der sprachlichen Intensität anpassen musste. So gab es Abschnitte, die ich nicht einfach ein zweites Mal las, weil ich sie inhaltlich nicht verstanden hätte, sondern weil der Genuss des Lesens, die Entfaltung des Sounds nur durch die Lesewiederholung in seiner Totale genossen werden konnte.

Interview mit Valerie Fritsch

Als ich Sie das letzte Mal an einer Lesung traf, waren sie in den Vorbereitungen für eine lange Reise gen Osten, eine Reise, die man dann in den Sozialen Medien auch immer wieder einmal mit Fotos mitverfolgen konnte. Eine Recherchereise. Wie viel von diesem Roman ging damals schon mit auf die Reise?
Die Idee einer Familiengeschichte, die in Schmerzkapseln, in Abwesenheiten und Entfernungen erzählt wird, stand damals schon, und diese Reise, die die Protagonisten gegen Ende machen, um der Kriegsvergangenheit des Grossvaters sprichwörtlich hinterherzureisen, wollte ich erleben, mir jeden Kilometer selbst zumuten, um die Distanzen ermessen zu können: 16 000 sind es geworden. 

Ein zentrales Thema in Ihrem neuen Roman ist der Schmerz, ein Zustand, ein Gefühl, mit dem sich viele Menschen nur ungern oder am liebsten gar nicht aussetzen. Erst wenn man dazu gezwungen wird, konfrontiert einem der Schmerz unweigerlich. Aber selbst dann geht es um Vermeidung, Überwindung und Kampf. Ihre sprachliche Auseinandersetzung aber klingt durchaus lustvoll. Ein Widerspruch?
Ich denke, es ist eine präzise, organische Sprache, die der Plastizität, der heimlichen und unheimlichen Wirkmächtigkeit des Schmerzes versucht gerecht zu werden, der körperlichen und der abstrakten Zerbrechlichkeit, der niemand ganz entkommt. In der Macht von Schmerz kann auch Lust stecken, zumindest aber ist es ein Begriffspaar, das jedes Leben bestimmt, in seiner Gegenüberstellung, oder in seiner Gleichzeitigkeit. 

Sie fotografieren und schreiben. Alma, die Protagonistin, zeichnet, ihr Mann Friedrich fotografiert. Alle setzen sich durch ein vertieftes Sehen mit Welt auseinander. Wie weit verändert der fotografische Blick Ihr Sehen?
Wenn man wild entschlossen und genau schaut, sieht man viel. Die Augen wachsen förmlich mit dem Sehen. Man entdeckt im Allerkleinsten Schlüssel, die in grossen Geschichten sperren. Und man kann, wenn man genug gesehen hat, hernach die Bruchteile, Einzelheiten, Texturen der Welt zu einem grossen, fühlbaren Ganzen wieder sprachlich zusammzimmern mit Buchstaben, so dass der Leser alles in Bildern wiederfindet. 

Ihr Roman ist auch ein Familienroman. Wie jede und jeder wird Alma ungefragt in eine Familie hineingeboren. Sie erzählen, als ob der Schmerz selbst die Genstruktur einer Familie Schaden nehmen würde, so sehr, dass sich an Almas Sohn Schmerzunempfindlichkeit manifestiert, ein Gendefekt. Mag sein, dass ein Zusammenhang abenteuerlich erscheint. Oder doch nicht?
Inwieweit sich Erfahrungen in den Genen zeigen, ist eine neue Wissenschaft, die noch am Anfang steht, aber oft auf Überraschendes stösst. Es gibt beispielsweise ein Experiment mit Mäusen, in denen man den Tieren beibringt, sich vor dem Geruch von Kirschblüten zu fürchten, und auch wenn man die Eltern sofort nach der Geburt von den Jungen trennt, haben diese die gleiche – erfahrungsbasierte – Angst vor dem schönen Blumenduft. Für die Herzklappen von Johnson & Johnson ist das Genphänomen ein Kunstgriff, das Kind eine Gegenfigur des Schmerzes, auch wenn es dieser Defekt, der die Schmerzrezeptoren vollständig ausschaltet und einen unempfänglich macht für jedes physische Leid, tatsächlich medizinisch beschrieben existiert. 

Alma macht sich auf eine Reise, zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Wer Antworten, Erklärungen, Deutungen sucht, macht sich immer auf die Reise, wenn auch nicht zwingend räumlich. Almas Reise ist keine Reise zur Überwindung, weder Schmerz- noch Angstüberwindung. Und doch eine Reise der Klärungen. Wie weit war das Schreiben dieses Buches eine Reise? Eine Reise in die Ungewissheit?
Jedes Buch ist eine Reise, ein rollender Zug, in dem man sich setzt, aus dem man nicht aussteigen kann, und von dem man nicht weiss, wo genau er ankommen wird. Wie herrlich!

© Jasmin Schuller

Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Photokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. Publikationen in Literaturmagazinen und Anthologien sowie im Rundfunk. 2015 erschien «Winters Garten» im Suhrkamp Verlag. Sie lebt in Graz und Wien.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Martin Schwarz

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa Gatsby

Hansjörg Schertenleib veröffentlichte seinen ersten Erzählband «Grip» 1982, mit 25 Jahren. Seither ist die «Bibliothek Schertenleib» auf eine stattliche Länge gewachsen, der Autor ein Eckpfeiler der CH-Literatur. Aber keines seiner Bücher ist ihm selbst so nah wie sein jüngstes, «Palast der Stille», eine Perle aus der Gatsby-Reihe des Kampa Verlags.

Mag sein, dass die Lektüre dieses Buches für all jene ein ganz anderer Genuss ist, die seine Bücher und den Autor kennen. Mag sein, dass es für die NeueinsteigerInnen in den schertenleibschen Kosmos ein Erinnerungsbuch eines in die Jahre gekommenen Schriftstellers ist, ein Begleitbuch durch einen eiskalten Wintertag in Maine USA, wo der Autor seit ein paar Jahren zusammen mit seiner Frau ein kleines Cottage direkt am Meer mit Sicht auf einen kleinen Hafen mit Lobsterbooten von Hummerfischern bewohnt. Ein Tag von vielen, ganz allein mit sich selbst, um sich der Stille hinzugeben, aus der das Schreiben erwachen soll. Dann ist dieses Buch ein Spaziergang durch das Leben des Autors, als wäre ich Zeuge davon, wie Bilder im Kopf des Autors aufploppen; Erinnerungen, Ideenfetzen, Gedanken, Erklärungen, manchmal ganz nach innen gerichtet, manchmal mit cineastischem Geschick an die grosse Leinwand gemalt.

Wer Hansjörg Schertenleib kennt, dem begegnet in diesem Buch der Autor unmittelbar, als würde er mich an der Hand nehmen. Als wolle er mir zeigen, wie es sich schreibt, irgendwo zwischen Realität und Ideal. In diesem kleinen Haus am Meer auf Spruce Head Island, das er in der gleichen Sehnsucht kaufte, wie er vor Jahren einst den Ort besuchte, wo Henry David Thoreau seine Blockhütte baute und sein heute berühmtestes Werk «Walden. Oder das Leben in den Wäldern» zu schreiben begann. Schertenleib ist ein Suchender. Und das kleine Haus in Maine mit Blick aufs Meer ein real gewordener Sehnsuchtsort. Vorläufiger Endpunkt einer langen Reise, die immer auch Flucht war, vom ersten Moment seines Schreibens weg. Keine Flucht vor sich selbst, aber stets eine aus der Enge heraus in die Sehnsucht noch Offenheit, Weite und Unabhängigkeit.

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa, 2020, 176 Seiten, CHF 24.50, ISBN 978-3-311-21013-9

Es schneit fast ununterbrochen und das Thermometer ist tief in den Minusgraden. In dem kleinen Haus mit Wohnküche, Schlafzimmer und Arbeitszimmer knacken Birkenscheiter im Ofen. Die Katze schleicht um seine Füsse, er liest, sinniert, packt sich ein, um sich einen Weg zur Garage freizuschaufeln. Ich gehe mit, wenn ihn seine Gedanken in seine Kindheit am Fusse des Uetliberg in Zürich tragen, in die Enge seiner Familie, aus der er nur in seinen Streifzügen mit seinen Freunden ausbrechen konnte. Wie aus dem geselligen Jungen plötzlich ein Einzelgänger wird, der erst spät zu lesen beginnt, dann aber unheilbar von diesem Virus befallen wird. Wie er nach einer Schriftsetzerlehre im Rausch zu schreiben beginnt und von seinem Idol Urs Widmer ermuntert wird, wie ihn die Zürcher Unruhen 1980 aus Zürich vertreiben, später für vierzehn Jahre in ein altes Schulhaus in Irland, bis in seinen Palast der Stille, den Ort, der ihm alles gibt, was sein Schreiben und Leben braucht, in maximaler Distanz.

Er verrät mir die Geschichte seines kleinen Schreibtischs, jene seiner ersten Liebe, die Geschichten seines österreichischen Onkels, der den Weltkrieg nicht abzuschütteln vermochte. Er nimmt mich mit in sein Schreiben, das permanente Reflektieren eines Künstlers, den Kampf gegen die Rechtfertigung von Müssiggang und Distanzierung in einer Welt, die nach Effizienz und Aufmerksamkeit geifert. Er nimmt mich mit und ich bin stiller Gast in seinem Haus in Maine.

Dabei hat sein Buch nichts Exhibitionistisches, strömt Stille aus, fast Beschaulichkeit. Und wenn sich die Dramaturgie des Buches am Schluss dann doch noch aufbäumt und der 4. September 1980 im Leben des Schriftstellers mehr als einen Bruch zugefügt wird, schliesst sich der Kreis und die müssige Frage, warum es Maine sein müsse.

Ich mag seine Leidenschaft, in der eine Prise Zorn mitmischt. Seine Ehrlichkeit, die kombiniert mit seiner Leidenschaft Stürme entfachen kann. Das Quantum Eitelkeit, das ihn nicht zum Übermenschen macht. Die noch immer jugendliche Kraft, die seinen Blick beseelt und ihn zu einem stolzen Ritter der Literatur macht.

© David Clough, Kampa Verlag

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seine Romane wie der Bestseller «Das Regenorchester» wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Zwanzig Jahre lang lebte Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Irland. Heute pendelt er zwischen der Schweiz und Spruce Head Island in Maine, USA. Der Transport seiner Bibliothek und Plattensammlung über den Atlantik dauerte per Containerschiff mehrere Monate. Aber literarisch sass Schertenleib in seiner neuen Heimat dennoch nicht auf dem Trockenen: The Lobster Lane Book Shop mit schätzungsweise 100 000 Büchern liegt nur eine Meile von seinem Haus entfernt.¨

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Ivana Sajko «Familienroman», Voland & Quist

Zwar gibt es die EU, eine Staatengemeinschaft, «einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb». Und doch sind die einen nicht dabei und andere springen ab, weil nationale Souveränität wichtiger scheint als das Geben und Nehmen über Nationen hinaus. Ivana Sajko schrieb mit «Familienroman» ein ganz besonderes Buch. Ein Buch, das bewusst macht, wie nah die Grenzen im eigenen Kopf gezogen sind.

Als Jugoslawien im Sommer 1991 zerfiel, war es das Ende eines durch Ideologie, Macht und Gewalt zusammengeschraubten Vielvölkergebildes und der Beginn eines zehnjährigen Krieges. Aber schon 1980 mit dem Tod des Langzeitherrschers und Staatspräsidenten Josip Brot Tito brach der Kopf eines Konstrukts weg, das sich als Bollwerk zwischen dem Westen und kommunistischen Block verstand. Tito war die Heldenfigur aus dem Partisanenkrieg gegen die faschistischen Besatzer, eine Leitfigur, die sich in ihrem Personenkult sonnte, dem man seine repressiven Methoden zum Wohle des Volkes nachzusehen schien.

Ivana Sajko «Familienroman, Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus» Voland & Quist, 2020, 172 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-86391-249-9

Ivana Sajko schrieb über genau diese Jahre, von 1941 bis 1991, ihren «Familienroman». Aber, was ich lese, ist längst nicht einfach ein Roman über drei Generationen einer Familie, solche gibt es zuhauf. Ivana Sajkos Roman ist eine Art Familienaufstellung. Nicht die Personen selbst sind im Zentrum ihres Erzählens, sondern die Beziehungen zueinander, der Raum, den sie einnehmen in einem Land, einem politischen Gefüge zwischen staatlich organisierter Tyrannei, Lagern für Staatsfeinde und tiefer Ergebenheit einer Lichtgestalt gegenüber. Die Protagonistin ihres Romans ist dieses untergegangene Land. Ein Land, zusammengehalten durch Angst, Abschottung und Repression.

Der Roman erzählt anhand politischer Ereignisse, spiegelt Leben, dass allzu leicht aus dem Bewusstsein von EuropäerInnen fallen kann. Unser Fokus in diese Zeit hängt allzu sehr an Deutschland, Frankreich und der Sowjetunion. Die Balkankriege, die mit einem Mal bewusst machten, dass Kriege bis vor unsere Haustüren rücken können (Damals gruben sich Panzer an der österreichisch-slowenischen Grenze in den Boden!), die Gräueltaten der Kriegsverbrecher und die Flüchtlinge rüttelten für eine begrenze Weile am Selbstverständnis europäischer Sicherheit, bis man die Wirren wieder zu vergessen versuchte.

«Familienroman» dreht den Blick, weg von einer sich langsam trübenden Sicht in die Vergangenheit, zurück zu jenen, die unter diesem Schleier für Generationen zu leiden hatten, die nie eine Alternative besassen, denen die Macht der Grossen das Leben wegfrass. «Familienroman» ist nicht leicht zu lesen. Zum einen weil dieses halbe Jahrhundert vom Schmerz der Menschen trieft, zum andern, weil Ivana Sajko ihren Roman nicht personifiziert. Aber wer sich dem Wagnis einer Lektüre hingibt, wird belohnt, nicht zuletzt durch die Sprache und die Liebe der Autorin für Generationen, die trotz aller Widrigkeiten jener Jahrzehnte dem Leben jenen Funken Hoffnung abtrotzen, den es zum Überleben braucht.

Ich bin tief beeindruckt.

© Hassan Abdelghni

Ivana Sajko (geboren 1975 in Zagreb, Kroatien) ist Autorin, Regisseurin, Performerin, Mitgründerin der Theatergruppe «BAD co.» und Redaktionsmitglied des Kunstmagazins «Frakcija». Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen gehört die Chevalier de l‘ordre des Arts et Lettres. Auf Deutsch erschienen bisher «Rio Bar», «Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa», «Trilogie des Ungehorsams» und «Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution)». 2018 wurde sie für «Liebesroman» mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

Die Übersetzerin Alida Bremer wurde 1959 in Split/Kroatien geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik und promovierte im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster.  Für «Liebesroman» von Ivana Sajko wurde sie als Übersetzerin mit dem Internationalen Literaturpreis 2018 des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Victor Jestin «Hitze», Kein & Aber

Sirrende Hitze über einem Campingplatz am Meer. Lautsprecherdurchsagen, Musik einer Coverband, Zelte und Wohnwagen dichtgedrängt, Menschen überall, am Strand in den Dünen, im Meer, im Dazwischen – und mittendrin gefangen von sich und der Unausweichlichkeit des Moments der 17jährige Léonard.

Eigentlich will er nicht sein, wo er ist. Eigentlich stösst ihn all die Nähe ab. Die Nähe der Gleichaltrigen, das Triebgesteuerte seiner Campingfreunde, der Schweiss, das dauernde Fragen seiner Eltern, der Wirbel in ihm selbst, über den er längst die Kontrolle verloren hat.

Alles spitzt sich ins Unerträgliche zu, als er fast am Schluss seines Urlaubs in der zweitletzten Nacht auf einem Spielplatz Zeuge wird, wie sich Oscar stranguliert. Léonard greift nicht ein, sieht ihn sterben, ihn, der noch vor wenigen Stunden Luce geküsst hatte, jenes Mädchen, das ihm den Kopf verdreht. Léonard schleift in seiner Verzweiflung darüber, dass er ihn hat sterben lassen, den Leichnam in die Dünen und vergräbt ihn in einem Loch, buddelt es noch einmal auf, weil Oscars Handy klingelt. Er glättet den Sand über Oscar, aber nichts von dem Sturm, der in seinem Innern tobt, der alles in Frage stellt, das Innerste nach aussen zu stülpen droht.

Léonard torkelt durch die letzten Stunden seiner Ferien, durch Parties, Karaokesingen, Spielplätze, die heile Welt seiner Familie, vorbei an sonnenrotem Fleisch, inszenierter Fröhlichkeit zwischen Sonnenschirmen und Beachballfeldern.

„Geniesst es, dass sind eure besten Jahre!“, schreit man ihm nach. „Nächstes Jahr kommen wir wieder!“, klinkt wie eine Drohung, die den Alptraum ins Unendliche zieht. Léonard fühlt, wie ihm das Leben zerrinnt, dieses flüchtige Etwas, das er in Oscars Gesicht enden sah, das sich in diesem Ort am Meer, diesem Ort theatralischer Zufriedenheit wie Gift auszubreiten droht, erst recht, wenn der Moment kommen wird, wo die Polizei auftauchen wird. 

Und da ist auch noch Luce, das Mädchen, das in ihm Gefühle auslöst, mit denen er nicht zurecht kommt, ein Ziehen zwischen Anziehung und Abstossung, Hoffnung vermischt mit der Angst weggestossen zu werden.

Victor Justin «Hitze», Kein & Aber, 2020, 160 Seiten, 26.00 CHF, ISBN: 978-3-0369-5828-6

Ein Campingplatz ist eine Welt mit ganz eigenen Gesetzen. Mit der Ankunft wir man geboren, mit der Abreise stirbt alles, was in den zwei Wochen durch eine Überdosis Nähe gewachsen ist. Man schliesst Freundschaften für ein paar Tage. Herzen entflammen sich und erkalten wieder. Dramen auf engstem Raum. Victor Jestin schildert diesen Kosmos als wäre er ein Gezeichneter, ein Versehrter. Alles schreit nach Unterhaltung, Vergnügen, Körperlichkeit. Für einen Heranwachsenden wird der Campingplatz zu einem permanenten Laufsteg, auf dem man sich zu behaupten hat, will man seinen Marktwert nicht ganz verlieren. Die Gefühle zwischen Euphorie und Depression schlagen aus, wie die Zeiger eines Geigerzählers.

Victor Jestin schlüpft in das vibrierende Innere eines Jugendlichen in totaler Verunsicherung. Ein heilsamer Einblick für all die Erwachsenen, die mit zunehmendem Alter vergessen, welche Katastrophen in jener Zeit stattfinden. Nichts von Süsse, keine Romantik, keine Schmetterlinge, nur die Angst vor einem langsam rollenden Tsunami. Victor Jestins Sprache ist unmittelbar. Die Hitze des Sommers, die Glut in der Seele des jungen Mannes brennen während der Lektüre. Die Einsamkeit mitten im Gewusel eines Campingplatzes, überzogen mit dem klebrigen Schweiss eines infernalen Sommers.

Victor Jestin, 1994 geboren, verbrachte seine Kindheit in Nantes und studierte anschließend am Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle in Paris, wo er heute auch lebt. «Hitze» ist sein Romandebüt.

Sina de Malafosse, geboren 1984, lebt als Lektorin und Literaturübersetzerin in Toulouse. Sie übersetzt u. a. Adeline Dieudonné, Mathias Menegoz, Antoine Laurain und Jean-Paul Didierlaurent.

Interview

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge

Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser leuchtet aus, was sonst nur Schatten wirft.

Brunner sitzt in seiner kleinen Wohnung in der Küche an einem Holztisch, den er einst aus einer Brockenstube mitgenommen hatte. Ein Tisch voller Spuren im Holz, tiefer Kerben und Ritzen. Das Geschirr in der kleinen Küche türmt sich, er trinkt Tunesier, der im längst sauer aufstösst, sitzt da und schaut aus dem Küchenfenster. Er zweifelt und verzweifelt am Hin und Her zu einer Frau, die er liebt, aber nicht lieben kann, vielleicht nicht einmal darf. Eine Liebe, die an einer inneren Hitze zu verglühen droht, je mehr man Nähe zulässt, je mehr man sich ihr hingibt. Es ist der Schmerz, der ihn einschliesst. Ein Schmerz, der ihn nicht einmal loslässt, wenn er durch den Schnee über den Nebel stapft und in die Weite schaut und dem Alpenfisch nachhängt, der vom Blau des Himmels ins Weisse des Nebels taucht, immer wieder hinein ins Undurchsichtige, um nur ganz kurz aufzutauchen, einen Moment, einen Augenblick.

Brunner weiss, dass Kathrin eine Geschichte mit sich herumschleppt. Eine Geschichte, aus der sie sich noch immer nicht herausgewunden hat, die noch nicht einmal Vergangenheit ist. Geschichten, die ihr die Fähigkeit nahmen, Nähe zuzulassen, die tausend Anfänge zu Nichte, Brunners Liebe unmöglich, zu blossem Drängen machen. Je mehr Brunner fordert, je mehr er sich hineingibt, desto stärker wird Kathrins Widerstand.

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge, 2020, 109 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7296-5035-0

Brunner wartet. Er wartet auf einen Anruf, eine SMS, Stunden auf ihr Erscheinen, ein Zeichen, einen Anfang, ein Ende. Kathrin ist ein Fisch, der sich nicht halten lässt. Sie wohnt noch immer zuhause bei ihrem Vater, einem schwerreichen Bauunternehmer, seit dem Tod ihrer Mutter die einzige Frau im grossen Haus. Aber wenn Brunner Kathrin ausführt, wenn sie alleine sind, dann ist da immer das Gespenst, das Kathrin schon zehn Jahre mit sich herumschleppt. Dieser Mann im Haus ihres Vaters, dieser Mann, der Tochter und Vater in die Ferien begleitet. Dieser Mann, der Kathrin auch in ihren Träumen nicht in Ruhe lässt. Dieser Mann, der der jungen Frau längst den Boden unter den Füssen weggerissen hat, der sie im unendlichen Dazwischen hängen lässt, wo auch Brunner nichts auszurichten hat.

Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin. Andreas Neeser beschreibt diesen Kampf in bestechender Unmittelbarkeit. Den Kampf gegen das Schweigen, den Kampf gegen das Verlieren, den Kampf gegen die Ohnmacht.

Dass dabei die Mundart die Unmittelbarkeit noch verstärkt, liegt in der Musik Neesers Sprache, in den Worten, die mir, der ich mich sonst nur selten von Mundartliteratur verführen lasse, Resonanzen erzeugen, die sonst nur selten mitschwingen, in seiner Wärme, selbst dann, wenn sie vor Heftigkeit strotzen. Resonanzen, die durch die melodiöse Nähe der Sprache ganz unerwartet in Schwingungen geraten, die mich mehr als nur berühren. «Alpefisch» ist ein Ereignis. Auch wenn einem das Ungewohnte der Sprache zu einem anderen, viel, viel langsameren Lesen zwingt. Kein Problem bei 107 Seiten feinster Prosa!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis. Neben seiner bei Zytglogge erscheinenden Mundartliteratur glänzt Andreas Neeser bei Haymon mit seinem neusten Roman «Wie wir gehen».

Rezension von «Wie wir gehen» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autor

Beitragsbild © Lea Frei

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche

Margrit Schriber ist nicht müde. Ihre Lust am Schreiben, am Erfinden, am Fabulieren, ihre Freude am vollen Leben umarmt einem bei der Lektüre ihres neuen Romans förmlich. «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist ein Roman, der sich erfrischend wenig darum kümmert, was zu den Insignien der Literatur gezählt wird. Einfach gut erzählt!

Es ist als sässe man auf einer grossen Tribüne mitten in einem See, vielleicht dem Vierwaldstättersee, und sähe auf ein Dorf. Ein kleines Dorf im Dunst der anbrechenden Siebzigerjahre. Eine Kirche etwas erhöht über den Häusern, eine Schiffanlegestelle, die aber nicht von allen vorbeifahrenden Schiffen angesteuert wird, das Restaurant Romantica, eine Bäckerei, Häuser verstreut darum herum und etwas abseits eine grosse Villa, direkt am See, durch einen schmiedeisernen Zaun vom Dorf abgetrennt.

Dort hin sind Rosy und Charly gezogen, ein junges Ehepaar, weil er die Stelle des Organisten in der Kirche antreten konnte und ihm seine junge Frau mit ihrer Arbeit in der nahen Parfümfabrik den Rücken freihält, um an seinem grossen Meisterwerk zu arbeiten, um sich auf seinen siegreichen Feldzug durch die Welt der Musik vorzubereiten. Dort wohnt Kitty, noch Mädchen, dreizehnjährig, aber mit der Leidenschaft einer jungen, wilden Frau. Kitty singt mit sieben anderen Grazien mehrmals in der Woche auf der Empore der Kirche zu Charlys Orgelklängen. Sie ist eine der acht schmachtenden Teenager, die angespornt durch das Lob des jungen Musikers von einer glorreichen Karriere als Sängerin träumen, dereinst an der Seite des Hasy Osterwald Quartetts oder noch viel höher und weiter. Dort wohnt eine reiche, stille, vom Dorf abgewandte Frau in ihrer Villa mit Gewölbefenstern und buchsgesäumtem Kiesweg, einem rosaroten Amischlitten und eigenem Bootssteg. Nachts sind die Fenster hell erleuchtet und man sieht und hört Madame am Flügel die Luft bezaubern. Vor allem Charly, der auch tagsüber im Restaurant Romantica mit Sicht auf die Villa seinen musikalischen Fantasien nachhängt.

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche, 2020, 176 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-312-01161-2

Es ist Rosy, die erzählt. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass die Geschichte, die sie erzählt, mit einer Katastrophe endet, mit einer Waffe und einem Schuss, der abgegeben wurde. Während die acht Stimmen auf der Empore der Kirche immer klarer und heller singen, beginnt es in den Magmakammern unter dem Dorf zu rumoren. Nicht nur weil sich die ausser Rand und Band geratenen Mädchenseelen in einen Zickenkrieg begeben, die Stimmung rund um den jungen Organisten und Dirigenten zu kochen beginnt, sondern weil alle im Dorf mitbekommen, dass Unkontrollierbares einheizt. Aber weil die Familien ebenfalls in einer Mischung aus Stolz und Hoffnung den hörbaren Höhenflug ihrer Töchter verfolgen, nimmt man den Preis dafür in Kauf.

Aber «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist auch die Befreiungsgeschichte einer jungen Frau, die mit Enthusiasmus ins Abenteuer einer jungen Ehe startete, um festzustellen, dass sie wie alles im Haushalt nur Instrument bleibt. Ihr Mann sonnt sich in der Bewunderung der jungen Täubchen und schmachtet in seiner Verehrung für die geheimnisvolle, unnahbare Schöne, die die großen Fenster ihrer Villa zum grossen Fenster in eine grosse Welt macht.
Margrit Schribers Roman ist in ein eigenartig farbiges Licht getaucht. Auf der kleinen Bühne eines Dorfes am See spielen sich die grossen Dramen menschlicher Leidenschaft ab, kochen die Menschen im giftigen Dunst von Gerüchten, Wut und blankem Hass. Die Autorin sprüht vor Erzähllust, sei es in der Boshaftigkeit ihrer ProtagonistInnen oder im Witz des Moments. Ein ganzes Dorf verstrickt sich in naiver Leidenschaft, fährt mit voller Kraft hinein in die Katastrophe.

Ein köstliches Lesevergnügen!

«Aussicht gerahmt», «Ausser Saison», «Kartenhaus», «Vogel flieg», «Luftwurzeln», «Muschelgarten», «Tresorschatten», «Augenweiden», «Rauchrichter», «Schneefessel», «Von Zeit zu Zeit klingt ein Fisch»… Das sind nur einige ihrer Bücher aus einem langen Schriftstellerinnenleben. Buchtitel, die selbst eine Geschichte erzählen. Von einer Frau, die sich nicht einfach in eine Schublade einordnen lässt, die in einem halben Jahrhundert Schriftstellerei einen ganz eigenen Schreiber-Kosmos schuf, der von starken Frauen erzählt. Einer starken Frau wie sie selbst, die sich durch nichts entmutigen lässt, selbst wenn ihr Stammverlag durch Umstrukturierungen mehr als einmal den Anschein machte, ihr die Treue zu kündigen. Selbst wenn ihr die grossen Literaturpreise vorenthalten blieben, obwohl einige ihrer frühen Romane, allen voran «Schneefessel» zu den Perlen der Schweizer Literatur gehören.

Margrit Schriber ist eine klassische Erzählerin, kann einfach gute Geschichten erzählen. «Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis», schreibt Margrit Schriber. Ihre Figuren sind ihr ganz nah, nie verkopft, ihr Blick nie auf sich selbst gerichtet, auch wenn an der Grand-Dame eine gewisse Eitelkeit unübersehbar ist.

Interview mit Margrit Schriber:

Im Begleitbrief zu deinem Roman steht: „Wie Rosy musste ich einen Spottspalier durchschreiten und mich bespucken lassen.“ Rosy beginnt zu schreiben. Du begannst zu schreiben. „Es folgte Buch um Buch. Mit jedem einzelnen schrieb ich ein Stück meiner verlorenen Ehre zurück.“ Das klingt erstaunlich ehrlich, dir erstaunlich nah. Ist Schreiben nicht immer Befreiung?
Es gibt unzählige Gründe für mein Schreiben. Neugier, Abenteuerlust, Aufregung, Entdeckerfreude, Lust an der Verwandlung, an der Herausforderung und am Verwirrspiel, Freude am Konstruieren einer anderen Welt usw. Ich könnte Seiten damit füllen. Das Wichtigste aber ist es, mir ein Ziel zu setzen und alles zu geben, um dieses zu erreichen. Ich schrieb einmal, ein Mensch sollte sich in die Sterne schreiben. Es ist mein Credo! Und es stimmt für mich. Das Leben ist viel zu kurz, viel zu einmalig, um es zu verschwenden. Handelt nicht jedes meiner Bücher von der Suche nach einem Sinn? Will nicht jede meiner Figuren ihrem Leben ein Ziel geben?
Jedes Buch ist auch eine Forschungsreise ins eigene Innere. Und beim Scheiben meines letzten Romans bin ich in den tiefsten und verborgensten Winkel gedrungen, so dass mir klar wurde, wie tief Verletzungen gehen können und wie nachhaltig sie prägen. Ich wollte aus meinem dramatischen Stoff etwas Leichtes und Farbenfrohes schaffen. Der See nimmt meiner Figur Rosy alles Kummervolle ab. Zurück bleibt eine blanke Oberfläche für Neues.
Das Buch widergibt den Zeitgeist der 60er Jahre. Da hat sich eine junge Frau noch sehr auf den Partner gestützt, an dessen Karriere geglaubt, ihre Fähigkeiten womöglich zu dessen Gunsten eingesetzt und die Sehnsucht nach Anerkennung unterdrückt.
Ich selbst hatte das Glück, dass ich meinen Traum vom Schreiben realisieren konnte. Doch zuerst musste ich an mich selber glauben können. Ich. An mich. So einfach ist das aber nicht. Das ist es nie! Es war ein langer einsamer Weg. Ich würde ihn immer wieder gehen, denn ich schulde ihm mein Glück. Im Grunde ist wohl mein ganzes Werk ein Versuch, mich in die Sterne zu schreiben. 

Ein Dorf am See, eine Kirche, eine Villa, in der Nähe eine Fabrik. Ein junges Ehepaar, eine reiche abgewandte Dame, ein Pfarrer und acht nach dem Leben, der Liebe schmachtende hormongesteuerte Mädchen und Töchter, die der Kontrolle von Eltern und Institutionen zu entgleiten drohen. Liebst du das Pulverfass? Die heissen Magmakammern unter der Normalität?

Ja, ich liebe die heissen Magmakammern unter der Normalität. Ich langweile mich leicht. Ich kann nicht Monate mit einem Text verbringen, der mich nicht immer neu an die Decke springen lässt. Ich schreibe ja zu meiner eigenen Unterhaltung. Deshalb bewege ich mich auch auf überschaubarem Raum und wähle bewusst nur wenige Figuren. Ich möchte diese von nah beobachten. Ich sprenge sie in diese und jene Richtung. Wenn nicht hinter jeder Ecke etwas Unerwartetes lauert, drücke ich auf die «delate» Taste.

„Ich war ein schwarzes Loch. Wir waren ein jedes dem andern ein schwarzes Loch“, steht im Roman. Spricht daraus die Ernüchterung darüber, dass selbst Liebe und Freundschaft nie darüber hinwegtäuschen können, dass jene Sehnsucht, die so sehr nach Nähe ruft, gar nie gestillt werden kann?
Schön ist der Glaube an die Liebe. Bewegend ist die Sehnsucht und die Trauer. Glücklich wer diese Empfindungen kennt. Liebende sind einander ein Rätsel. Manchmal ist jedes dem andern ein schwarzes Loch. Liebe ist ein Geschenk. Meine Figur Rosy erhellte sich damit eine Weile ihren Traum von der Zukunft. Doch die Liebe erlischt wie eine Kerze. Das Mädchen Kitty kann nicht glauben, dass Gefühle ändern. Sie will ihre Zukunft mit der Waffe erzwingen. Rosy spürt, dass sich nichts erzwingen lässt. Sie sucht nun allein den Ort, wo ein Mensch anständig bleiben kann.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ulla Lenze «Der Empfänger», Klett-Cotta

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden in den USA über 10 000 Deutsche oder deutschstämmige AmerikanerInnen als «Enemy Aliens» klassifiziert und zeitweise interniert. Ulla Lenze liess sich vom Schicksal ihres Grossonkels Josef Klein inspirieren und schrieb einen mitreissenden Roman über einen deutschen Auswanderer, der in seiner Naivität in die Netze von Geheimdiensten gerät.

«Der Empfänger» ist weder Thriller noch Geschichtsdrama. Keine aufgeblasene Handlung, keine coolen HeldInnen, keine versteckten Fallgruben und heimtückischen Labyrinthe.
Josef Klein will 1925, während Deutschland in eine Wirtschaftskrise hineinschlittert, zusammen mit seinem Bruder Carl in die USA ausreisen, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dort endlich eine Existenz beginnen, die frei von Not und Bedrängnis ist. Aber weil Carl bei einem Arbeitsunfall ein Auge verliert, macht sich Josef alleine auf in das Land auf der anderen Seite des Ozeans. Ein Land, in dem er am liebsten verschwinden möchte, wirklich neu beginnen. Ein Land, das ihm den Einstieg aber alles andere als einfach macht. Josef vermag sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, findet aber kaum Anschluss im Nabel der Welt, in New York. Einziges Vergnügen des jungen Mannes ist sein selbst gebautes Funkgerät in seiner kleinen Wohnung in Harlem, sein Tor zur Welt, einer Welt, in der Rang und Name keine Rollen spielen. Sein Empfänger bringt ihm Stimmen in seine Nähe, die ihm in der Grossstadt verwehrt bleiben.

Aber Josef Kleins technische Fähigkeiten bleiben anderen nicht verborgen. Und weil ihn Geldsorgen empfänglich für scheinbar leicht verdientes Geld machen, sitzen mit einem Mal zwielichtige Gestalten regelmässig in seiner kleinen Wohnung, von der er verschlüsselte Mitteilungen senden muss, deren Inhalte für ihn verborgen bleiben. Mitteilungen aus den Reihen eines deutsch-, nazifreundlichen Abwehrnetzes, das sich in ihrem patriotischen Kampf für ihren Führer im aufstrebenden Deutschland bereit macht für die Weltherrschaft.

Ulla Lenze «Der Empfänger», Klett-Cotta, 2020, 302 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-608-96463-9

Durch Naivität, latente Vereinsamung, ewigen Geldmangel und sein Bedürfnis, sein Können als Funker unter Beweis zu stellen, verstrickt sich Josef Klein immer tiefer in ein Geflecht, das ihm die Ruhe nimmt. Selbst als er durch den Äther eine junge Frau kennenlernt, die wie er Amateurfunkerin ist, sie zu treffen und zu lieben beginnt. Lauren aber, die wie er die Bande zur Vergangenheit kappen will, bleibt nicht verborgen, dass sich Josef immer tiefer im Sumpf verheddert. In den Kinos werden Nachrichten von Landesverrätern in den USA gezeigt, die auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden. Josef Kleins Traum von einem ungebundenen, freien Leben scheint sich zwischen den Fronten zu zerreissen.

Ulla Lenze erzählt die Geschichte aus verschiedenen Zeitebenen. 1939 in New York, während das Misstrauen jedem Deutschsprechenden gegenüber immer grösser wird, 1949 in Neuss, als er nach Jahren in amerikanischen Internierungslagern in die Heimat abgeschoben wird, in die eng gewordene Wohnung seines Bruders Carl, wo er seine illegale Rückreise nach Amerika plant und 1953 in Costa Rica, müde geworden nach einer langen Reise, die ihn nie dorthin brachte, wo die Hoffnung ihn hinzog.
Ulla Lenze erzählt die Geschichte eines kleinen Mannes im Strudel der Geschichte. Darüber wie sich die giftigen Fäden der Geheimdienste von Kontinent zu Kontinent ausbreiten, wie Grossmachtträume von Herrenmenschen selbst den Niedergang des Deutschen Reiches nur als Zwischenstation hin zur Weltherrschaft deuten und Exnazis in Argentinien unter Perón sich nach dem Krieg neu zu formieren versuchen.
Ulla Lenze bleibt immer bei Josef Klein, der auf seiner stillen Reise auf der Suche nach seinem Glück alleine bleibt.

Interview mit Ulla Lenze 

Wir haben sie alle, die Grossonkel und Grosstanten, die Urgrossmütter und Urgrossväter, die langsam aus dem Familienbewusstsein verschwinden. Bei Ihrem Grossonkel ist es nicht so. Sie haben ihn vor dem Verschwinden gerettet, obwohl er es, so ist es zumindest im Roman erzählt, nichts lieber wollte, als zu verschwinden. Was hat Sie dazu gedrängt, diesen Roman zu schreiben?
Der familiäre Bezug als solcher spielte tatsächlich gar keine Rolle, ich bin in dieser Hinsicht recht unemotional. Aber über die Familie verdankte sich natürlich das direkte Fenster in eine ferne Welt, nämlich aufgrund der Briefe, Fotos und der Erzählungen meiner Mutter. Was mich an dem Stoff sofort fesselte, waren die aktuellen Bezüge. Themen wie Migration, Heimat, Nationalismus, Populismus waren damals bereits etabliert, wenn auch mit ganz anderen Protagonisten (etwa: Deutsche, die aufgrund wirtschaftlicher Not nach Amerika auswanderten). Jede historische Situation ist jedoch singulär. Und gerade durch die leichten Verschiebungen, etwa Nazis vor Wolkenkratzern, ergibt sich ein neuer Blick wie durch den Brechtschen Verfremdungseffekt. Ausserdem wurde dieses Thema bei uns bislang nicht behandelt, in der Wissenschaft besteht sogar ein Forschungsdefizit. Es reizte mich sehr, diese Lücke zu füllen.

Foto aus dem Archiv der Autorin

Man nannte sie in den USA „Enemy Aliens“. Feind allein hätte schon genügt. Sie wurden kollektiv verurteilt, interniert und abgeschoben. Im Einwanderungsland schlechthin (zumindest damals) ein Schicksal, das die Deutschen und Deutschstämmigen mit den Japanern nach Pearl Harbor teilen mussten. Feindbilder haben stets Konjunktur, sei es gestern oder heute, seien es die USA, Deutschland oder die Schweiz. Sind es bloss Ängste, die dahinterstecken?
Manche Ängste sind ja begründet. Das Schüren von Ängsten stört uns meist dann, wenn wir die politischen Ziele nicht teilen. Angst vor kultureller Überfremdung oder vor dem Verlust nationaler Identität scheint mir zum Beispiel substanzlos, die Angst vor den aufsteigenden Rechtspopulisten wiederum berechtigt. Zugleich stört mich heute der inflationäre Gebrauch des Wortes «Nazi», denn das verharmlost die Nazis von damals. Überhaupt: Beschimpfungen und Polemik helfen meist nicht, vernünftige Argumentation vielleicht manchmal doch.

Josef Klein las nicht viel, aber von Henry David Thoreau „Walden“. Josef wäre am liebsten einfach ein Mensch gewesen, der atmet, isst, schläft, arbeitet, manchmal mit Frauen flirtet. Einfach sein. Aber er merkt, dass das schwierig ist, umso mehr im Schmelztiegel New York. Warum ist Josef Klein nicht in die Wälder Nordamerikas gezogen?
Der Roman-Josef, ähnlich wie der echte Josef Klein (die natürlich nicht identisch sind), bewegt sich in New York zwischen Entwurzelung und Freiheit. Er flieht als junger Mann 1925 vor der Armut und dem Chaos der Weimarer Republik nach New York. Er lebt einfach, auch bindungslos, und kann sich dadurch gut durchschlagen. Er versucht, seinen deutschen Akzent zu verbergen, denn er will nicht der Deutsche sein, sondern einfach ein Mensch. Er scheint auf seinem Recht zu beharren, unpolitisch sein zu dürfen, was in politischen Zeiten aber nicht möglich ist. Man kann vielleicht sagen, das hindert ihn, die verhängnisvolle Situation rechtzeitig zu erkennen.
In den Wäldern wäre er diesen Verstrickungen sicherlich entgangen, aber er hätte es insgesamt schwerer gehabt. Auch Thoreau ist ja nach zwei Jahren wieder zurückgekehrt. Und ausserdem ist die Weltstadt New York ja auch eine Art Wildnis.

Josef Klein sitzt irgendwann in einem FBI-Gebäude. Ihm wird bewusst, wie naiv er war, wem er aufgesessen war, wie sehr er sich benützen liess. Und doch mobilisiert Josef Klein die Kraft, an einen Ausweg zu glauben, auch wenn es Jahrzehnte dauert. Ist ihr Grossonkel mit dem Schreiben ein anderer geworden?
Ich habe im Laufe des Schreibens immer besser verstanden, warum mich gerade Josef Klein als Figur so interessiert. Anfangs war ich einfach von dem abenteuerlichen Leben des Grossonkels fasziniert, den drei Identitäten; Josef, Joe und dann Don José, auch von den exotischen Orten. Nachdem ich mich durch die Recherche immer tiefer in das Thema eingearbeitet hatte, wich meine anfängliche Nachsicht dann doch einer kritischen Distanz, auch Unverständnis. Warum liess gerade er, der in Amerika dank der Presse alles über das verbrecherische Hitlerregime wissen konnte, sich in den Dienst für Hitlerdeutschland einspannen?
Aber Menschen wie er, gerade wegen ihrer Durchschnittlichkeit, sind für die Erkenntnis eigentlich noch interessanter. Josef ist eben kein brutaler Nazi, kein abstossender Rassist, der einem die Möglichkeit gibt, sich überlegen zu fühlen und die schöne Gewissheit zu haben, man selbst hätte damals bestimmt auf der richtigen Seite gestanden. Verstrickung und Schuld fangen viel früher an, und das gilt sicher auch in unserer komplexen globalen Welt heute. Man muss sich nicht gross anstrengen, um schuldig zu sein. 

Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln, auch nicht auf einem anderen Kontinent. Die erste Szene in ihrem Roman beschreibt, wie Josef Klein 1953 in Costa Rica einen Brief seines Bruders Carl erhält, der begeistert von einer  STERN-Reportage über die Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes in Amerika berichtet. Er ist kein Held. Auch kein Opfer, aber nie irgendwo angekommen. Ein Verlorener?
Das möchte ich tatsächlich nicht beantworten. Die Frage, wer er ist, und wie schuldig er ist, diese Frage umkreist der Roman permanent und auf indirekte Weise durch die wechselnden Schauplätze und auch mittels des übrigen Romanpersonals. Es gibt nahestehende Menschen, die ihn konfrontieren, prüfen, korrigieren, und auch verraten. Mir war dabei wichtig, Josef aus der Zeit selber heraus zu schildern, möglichst ohne das Mehrwissen von heute, ohne unsere Verurteilungsreflexe, aber auch ohne Verteidigung. Der Rest ist dem Leser überlassen. Literatur ist ja immer eine Einladung, selber zu entdecken und zu einem Urteil zu finden. 

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln und veröffentlichte insgesamt vier Romane, zuletzt «Der kleine Rest des Todes» (2012) und «Die endlose Stadt» (2015). Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Für ihren neuen Roman «Der Empfänger» hat sie die Lebensgeschichte ihres Grossonkels fiktional verarbeitet. Ulla Lenze lebt in Berlin.

Webseite der Autorin

Fotos © Julien Menand

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn», Verbrecher Verlag

Grotesk sezierend könnte man die poetische Herangehensweise der Berliner Schriftstellerin Alexandra Riedel nennen. In ihrem Roman über Eltern-Kind-Beziehungen arbeitet sie sich an großen Themen wie Liebe und Grausamkeit ab. Zuletzt gewann die Autorin mit einem Auszug ihres Romans den Bayern 2-Wortspiele-Preis.

von Karsten Redmann

Vom Ende her gedacht, vom Ende her geschrieben

Mit etwas mehr als hundert Seiten ist «Sonne, Mond, Zinn» ein recht schmaler Roman, der in seiner Kunstfertigkeit Grosses versucht, an vielen Stellen auch Grosses schafft, sich hin und wieder aber auch leicht verhebt.

Die in Berlin lebende Autorin Alexandra Riedel scheint sich bei ihrem Debüt im Verbrecher Verlag einiges vorgenommen zu haben, schreibt rhythmisch, fliessend, aber auch karg und hart. Ihre Sprache ist, von kleinen Ausnahmen abgesehen, sehr reduziert, direkt, ja lakonisch – und das im besten Sinne des Wortes:

«Herr Anton Hamann, dein Vater, mein Großvater: gestorben. Und woran? Ich hatte nicht gefragt.»

Die 40-jährige Riedel, Absolventin des Masterstudiums am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig (DLL), engt ihren Ich-Erzähler, dessen Worte der eigenen Mutter gelten – insofern ist der Roman ein Briefroman – in keiner Weise ein, so dass sich sein Berichten zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten bewegt. Das an die Mutter gerichtete Schreiben ist insofern ein Erzählen in Möglichkeiten, weil der Berichtende über das, was er weiss oder zu kennen glaubt, immer wieder hinausgeht, und damit fiktive Begebenheiten, im eigenen Kopf Phantasiertes, oft auch Surreales, an tatsächlich Geschehenes koppelt. Der Ich-Erzähler schafft sich somit innere und äussere Freiräume, die er gerne und oft nutzt. Diese Art des Erzählens hat etwas Weitendes, Ausgreifendes, die Sehnsüchte des Erzählers Ausweisendes. Und in diesem narrativen Spannungsverhältnis steckt eine der Stärken des Romans.

Hier ein Beispiel:

«Vierzig Minuten schwebt eine Mondsonde über euch. Um vier Uhr morgens verschickt sie schliesslich ihre Aufnahmen per Funk. Auf siebzehn von neunundzwanzig Bildern seid ihr zu sehen. Vater und Tochter auf der Rückseite des Mondes. Kurze Zeit später taucht ihr auf allen Titelseiten der Welt auf.»

In insgesamt dreizehn Kapiteln wird die Geschichte von Esther Zinn durch ihren Sohn erzählt, nicht aus einem Guss, sondern bruchstückhaft. Dabei wirkt dieses Erzählen hin und wieder wie ein Bedienen aus dem Baukasten. Mit sehr unterschiedlichen Versatzstücken.

Zusammengehalten wird der immer wieder ins Groteske gehende Roman durch eine Rahmenhandlung: Gustav Zinn, Fluglotse auf einer Insel, reist zum Begräbnis seines ihm bis dato unbekannten Grossvaters, und berichtet im weiteren Verlauf über die unangenehme Situation, sich fremd unter den eigenen Verwandten zu fühlen, schliesslich lebte der Grossvater bis zu seinem Tod getrennt von Gustavs Mutter, Esther Zinn, und damit auch getrennt von ihm.

Was den literarischen Gestaltungswillen dieses Romandebüts angeht, machen vor allem die ersten Seiten, sowie die Kapitel ab etwa der Mitte des Buches, Eindruck. Inhaltlich und von der Form her wirken sie sehr durchdacht, konzentriert und genau gearbeitet. Man könnte sie auch als schlackenlos bezeichnen. In diesen recht gelungenen Kapiteln findet sich beispielgebend folgender Textausschnitt:

«Dinge passieren. Menschen auch, sagtest du immer, wenn du von deinem Vater sprachst.»

Auf längere Sicht etwas gekünstelt und gestelzt wirken die Passagen die im Konjunktiv verfasst sind. Auch wenn es naheliegt, diese Erzählform zu wählen, nutzt sich ihre Frische und Kunstfertigkeit mit der Zeit leider ab:

«Ich erinnere mich, wie du mir davon erzähltest. Ganz jung hattest du mit einem Mal wieder ausgesehen. Du lächeltest, strahltest wie ein Kind, schliefst irgendwann ganz ruhig ein.»

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn» Verbrecher Verlag, 2020, 112 Seiten. Verbrecher Verlag, CHF 28.90, ISNB 978-3-95732-423-8

Eine grosse Stärke der Autorin, die in Süddeutschland geboren und in Norddeutschland aufgewachsen ist, sind die Dialoge zwischen den Figuren. Diese sind perfekt gearbeitet, glaubwürdig und in ihrer Machart geradezu aussergewöhnlich. Insbesondere, wenn – wie beiläufig – Stimmen von Vorbeigehenden festgehalten werden. Ein derart eindrucksvolles Einfangen von Sprache klingt so:

«Wirklich schönes Wetter. Wirklich gute Idee. Nochmal die Beine vertreten. Nochmal tief durchatmen. Man fange an zu schwitzen, so ganz in Schwarz. Der heisseste Tag des Jahres. In der Kirche bestimmt angenehm kühl. Bachs Toccata werde gespielt. Da vorne sei es schon. Was? Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche. Wessen Stücke? Bachs. Wie spät? Gleich elf. Unter all den vielen Menschen finde man sie doch niemals. Doch, doch. Da, da.»

Auf den letzten Seiten kippt Riedels Text leicht ins Surreale, Traumhafte, nimmt erneut an Fahrt auf, verändert die Grundspannung. Das ist durchaus herausfordernd. Alles in allem kann man der Autorin damit gegen Ende des Buches nun wirklich nicht vorwerfen, ängstlich vorzugehen, denn sie treibt den Text – auch was das Symbolische angeht – auf den letzten Metern voran, geht ein Risiko ein, irritiert an manchen Stellen, behält die Fäden aber allzeit in der Hand. Das Poetische ihrer Sprache leuchtet auch hier immer mal wieder auf – wobei die hier genannte Textstelle das Kristalline in Riedels Sprache besonders deutlich macht:

«Das Meer an windstillen Tagen so glatt wie ein Betttuch. Der Horizont ein gerader Strich. Ob du schon mal hinter dem Strich da gewesen seist?, fragte ich dich damals.»

Dem Berliner Verbrecher Verlag ist es zu verdanken, dass mit «Sonne, Mond, Zinn» ein höchst eigensinniger Roman das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. In seiner Machart sticht der Titel unter den vielen Büchern des Frühjahrs besonders ins Auge. Und das nicht nur aufgrund seiner Kürze. Gerade wegen des künstlerischen Anspruchs, den die Schriftstellerin Alexandra Riedel formuliert, ist dem Text eine grosse Leserschaft zu wünschen.

© Nane Dieh

Alexandra Riedel, geboren 1980 in Süddeutschland und aufgewachsen in Norddeutschland, studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin. Danach folgte ein Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 war sie unter den FinalistInnen beim 22. Open Mike. Veröffentlichungen in: «Object is Meditation and Poetry», Grassi Museum für Angewandte Kunst (2017) und «Tippgemeinschaft» (2016, 2015). Alexandra Riedel lebt in Berlin. Für ihren Debütroman «Sonne Mond Zinn» wurde Riedel mit dem Bayern2-Wortspiele-Preis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Nane Dieh

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber

Ich lese, weil ich die Welt nicht aus den Augen verlieren will. Ich lese, weil sich die Welt der Gegenwart sonst in rasendem Tempo von mir entfernt. Und manchmal lese ich ein Buch, das mich daran erinnert, auch einmal jung gewesen zu sein. Kein Buch über die Unbeschwertheit, schon gar nicht die Leichtigkeit des Seins. Aber ein Buch wie das von Leona Stahlmann, das zeigt, dass es nicht erst die Welt der Erwachsenen braucht, um gefangen zu sein.

Sie lernen sich in der Schule kennen, im letzten Jahr, Mina und Vetko. Mina sieht sich nicht so wie die anderen Mädchen in der Klasse. Aber Mina sieht in Vetko, dem Aussenseiter, der alleine vorne in der ersten Reihe sitzt und um einiges älter ist alles alle andern, einen Verbündeten. Auch einen, der nicht ist wie alle andern im Dorf. Sie kommen sich näher. So nahe, dass die Spuren der Nähe auf Minas Haut unübersehbar werden. Mina sieht in der Art und Weise, wie Vetko ihr begegnet nur die immerwährend schwelende Bestätigung, dass an ihr etwas nicht stimmt. Etwas stimmt nicht, weil Vetko die Welt in unumstösslichen Sätzen zu erklären weiss, eine Welt,, die sie nicht versteht. Etwas stimmt nicht, weil sie genau spürt, dass die Bindung zu Vetko anders ist als das, was man als Liebe bezeichnet, wovon die andern Mädchen in der Klasse schwärmen. Etwas stimmt nicht, weil sich alles ineinanderfügt und sich niemand, schon gar nicht ihre Mutter oder jemand ander dem Strudel entgegenstellt, der Mina hinabzieht. Etwas stimmt nicht, weil Vetko sie permanent zu bestrafen scheint für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber, 2020, 272 Seiten, 28.00 CHF, ISBN 978-3-0369-5821-7

Die Treffen zwischen den beiden finden in aller Heimlichkeit statt, verborgen vor allen. Treffen, an denen sich Vetko mit seinem sonderbaren Paarungsverhalten immer verletzender an Mina vergeht, Mina untertan macht, sie erniedrigt, knechtet, ihr Prüfungen auferlegt, die beweisen sollen, dass nur er der ist, der versteht. Aus Minas Faszination für den schlaksigen Einzelgänger wird tief eingegrabene Abhängigkeit. Vetkos Strenge scheint die Fortsetzung der mütterlichen Strenge zu sein. Vetkos gebieterische Art die einzige Möglichkeit, ihren Defekt zu kompensieren.

Mina rutscht immer tiefer in die Abhängigkeit, tut alles, um Vetko zu genügen, fügt sich seinen Verboten und Geboten. Und obwohl sie immer wieder einmal den Versuch unternimmt, Distanz zwischen sich und Vetko zu bringen, siegt immer wieder die Angst, sie würde die letzte Orientierung, den letzten Halt verlieren.

Leona Stahlmann schildert hart. Nicht nur das, was an verletzenden Körperlichkeiten zwischen den beiden geschieht. Was ihren Roman zum Leseerlebnis macht, ist nicht die Drastik der Geschehnisse, die sie beschreibt, sondern der diametrale Kontrast ihrer Sprache zum Geschehen. Sie schreibt nicht in Grautönen, scharf gezeichnet. Sie mäandert mit der Sprache. Was sie beschreibt, sind nicht bloss die Spuren auf Minas Haut, die blauen Flecken, das Leben, das wie Säure in den Rachen rinnt. Leona beschreibt, was innen bleibt, tut das in einem Sound, der flirrend luftig rockt, der sich aufbauscht, Kapriolen schlägt. Ein Ton, der einem berauscht und betört. So sehr die Geschichte nach unten zieht, bis zum letzten Satz, so sehr erhebt sich die Sprache in ungewohnte, fast schwindelnde Höhen.

Leona Stahlmann beschreibt, wie weit weg der eigene Planet abdriften kann, wie sehr man sich auf der Suche nach Echtheit, nach seiner eigenen Kontur, nach Liebe verlieren kann. Literatur für mutige LeserInnen. Literatur, die mich nicht so leicht wieder entlässt. Ein Roman, der ein Versprechen für die Zukunft ist!

© Benjamin Gutheil

Ein Interview mit Leona Stahlmann

Was will ich mehr, als mit Literatur in Welten eintauchen. Auch in fremde Welten. Mit ihrem Roman geschieht genau das, auch wenn die Dorf-, Schul- und Landschaftskulisse vertraut ist. Umso mehr überrascht, dass Sie eine Welt ausleuchten, von der ich wenig Ahnung habe, eine Welt, die sich hinter all den Idealbildern verbirgt, die uns glauben machen, die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein sei nur ein Übergang. Ist das Aufklärung?
Aufklärung ist ein Lichtphänomen: eine eintretende Helligkeit an einer Stelle, die vorher nicht nur dunkel, sondern vielleicht sogar unsichtbar gewesen ist. Ich belichte mit diesem Buch gewohnte Bilder neu, zeige das Fremde in ihnen und darauf dem Leser, der Leserin, was dieses gefundene Fremde mit ihnen zu tun hat, wieviel von Ihnen, den Lesenden, mir, jedem Menschen im vermeintlich Abstossenden, in der Ausleuchtung der dunklen Ecke steckt.

Die Geschichte kontrastiert mit der Sprache und macht damit die Geschichte noch viel stärker. Ihr Buch erzählt nicht nur einfach vom Leiden einer jungen Frau, den Abhängigkeiten, der Suche nach dem Echten und Wirklichen. Sie erzählen in einer Sprache, die üppig und verspielt sein kann, grosse Musikalität beweist. War das die Absicht vom Beginn des Schreibens weg?
Ja, absolut. Ein Buch ist ein flexibler Container, der immer die Form seines Inhalts annehmen muss.  Das Grausame und Harte und Zerrissene kann man, muss man schön, üppig, manchmal gar schmeichelnd erzählen, damit es auf die Seele wirkt, nicht nur auf den Verstand. 

Mina ist ein Mädchen, eine junge Frau, die sucht, verzweifelt sucht. Die einen werfen sich in Ideologien oder Religionen. Mina in die Arme eines dunklen Propheten, der sie immer wieder zwingt, ihre Loyalität zu beweisen. Und doch schimmert in keiner Zeile ihres Romans eine Verurteilung durch, schlussendlich nicht einmal Hoffnung. Sind das die Auswirkungen all dessen, was durch die globalen Bedrohungen verloren geht; die romantische Hoffnung einer besseren Zukunft?
Dunkler Prophet, das gefällt mir sehr, auch wenn es ein falscher Ausdruck ist. Ich empfinde die Figur Vetko gar nicht als dunkel; er verdunkelt höchstens absichtlich einen Teil der überkomplexen Wahrheiten unserer verstrickten Zeit, um es sich einfach zu machen, sperrt einen Ausschnitt der Welt ab, der ihm passt, um ihn überschaubar zu halten. Ob das das Ende einer romantischen Hoffnung bedeutet oder ihren Anfang, habe ich bewusst offen gehalten; das mag ein anderer entscheiden, am Besten jeder Leser, jede Leserin für sich (und mir gern davon erzählen).

Vetko weiss es. Nur alle anderen wissen es nicht. Und Vetko weiss intuitiv, wieviel Angst er bei Mina mobilisieren muss, dass sie in seiner Abhängigkeit hängen bleibt. Eine Metapher für viel grössere Zusammenhänge?
Natürlich – dieses Buch funktioniert in Deutungsspiralen, die sehr gross gezogen werden können, bis zur globalen Spannweite, wenn man es möchte. Aber man muss es nicht.

Wir leiden alle unter Defekten. Die eine zerstörerischer als die andern. Ist Schreiben eine Form des Kampfes dagegen? Gegen den Defekt? Schreiben, ein fertiges Buch als ein ganz kleines Stück Paradies, das man zurückgewonnen hat?
Ein fertiges Buch ist wohl eher eine kleine Hölle, die man losgeworden ist auf ein paar hundert Seiten, sicher verstaut hinter zwei Pappdeckeln. Am Besten gehört übrigens ein Schuber drumherum, dann sind die Ungetüme darin garantiert ausbruchssicher. Beim nächsten Buch vielleicht 😉

© Pablo Heimplatz

Leona Stahlmann, geboren 1988, lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin, Journalistin und Veranstalterin. 2017 gewann sie den Hamburger Förderpreis für Literatur, 2018 war sie Stipendiatin der Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus in Berlin und gewann den ersten Wortmeldungen-Förderpreis. «Der Defekt» ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Simone Hawlisch

Dave Eggers «Die Parade», Kiwi

Irgendwann, irgendwo in nicht ferner Zukunft. Zwei Männer asphaltieren die Strasse zur Hauptstadt, voll maschinell, in wenigen Tagen. Dann soll eine Parade stattfinden. Zu Ehren der Strasse? Der neuen Regierung? Als Beginn des zu erwartenden Fortschritts? Als Startschuss nach Jahren, die das Land zerstörte? Dave Eggers schildert, was im Windschatten grosser Veränderungen stattfindet. Ein düsteres Bild ganz nah an der Wirklichkeit.

Ein langer Krieg, ein Bürgerkrieg hat das Land verwüstet, die Infrastruktur zerstört. Korruption grassiert, eine neue, unrechtmässige Regierung ist an der Macht, deckt alles zu, was an Rebellion noch immer kocht. In einem Land, das irgendwo sein könnte, einem Land, das sich an der Wirklichkeit spiegelt. Eine hochtechnisierte Firma wird beauftragt zweihundertdreissig Kilometer einer zweispurigen Strasse, die den Süden mit der Hauptstadt verbindet, zu asphaltieren und markieren. Die Zeit für die riesige Maschine, die von zwei Männern in Betrieb genommen wird, ist knapp bemessen, dass Soll exakt definiert, Verzögerungen zur Not mit Gewalt zu minimieren.

Und weil die Firma in der Vergangenheit immer wieder einmal mit Störungen und Erpressungen konfrontiert wurde, ist die riesige Asphaltiermaschine RS-80 mit allem ausgerüstet, was Eventualitäten aus dem Weg räumen könnte. Auch die beiden Arbeiter, zwei Männer, nennen sich aus Sicherheitsgründen «Vier» und «Neun», erzählen sich nichts von sich selbst.

Dave Eggers «Die Parade», Kiepenheuer & Witsch, 2020, 192 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-462-05357-9

Aber es wird schnell klar, dass die Mission unter einem noch schwierigeren Stern steht, als die Umstände es fordern. Während «Vier», der Mann im Cockpit von RS-80, ein erfahrener Mann ist, der sich strickt an die Vorgaben seiner Firma zu halten versucht, ist «Neun», der die riesige Maschine mit einem Quad begleiten soll, um die zu asphaltierende Trasse von allen Störungen zu befreien, ein unerfahrener junger Wildfang, dem die Vorschriften der Firma wenig Eindruck machen.

Während das schwarze Band mit der weissen Doppellinie in der Mitte jeden Tag fast dreissig Kilometer länger wird, die Maschine, die einen sauberen, heissen Belag hinter sich in der Landschaft liegen lässt, während links und rechts überall die Narben von Krieg und Zerstörung noch lange liegen bleiben werden, im Schritttempo von Asphaltcontainer zu Asphaltcontainer kriecht, entfacht ein Nervenkrieg. Nicht so sehr zwischen den beiden Männern, als viel mehr im Kopf von „Vier“. Er ist allein. Allein mit sich und seinen Interpretationen des Geschehens. Mehrfach tauchen Figuren auf, die nichts Gutes erwarten lassen, die dann aber doch mehr helfen als stören. „Vier“ ist im Kriegszustand mit sich selbst, seinen schlimmen Befürchtungen und Vorahnungen, die durch seine Erfahrungen befeuert werden.

Dave Eggers Roman ist die Nahaufnahme eines Mannes, der mit sich selbst zu kämpfen hat. „Vier“ hat sich ganz der Erfüllung eines Auftrags, einer Aufgabe verschrieben. Er kümmert sich nicht um deren Zusammenhang, deren Auswirkung. Er hat einen Job. Einen Job, der im Notfall ausserordentliche Massnahmen fordert. Einen Job, der im Kleinen dem Grossen seinen Platz verschafft. Ihm muss egal sein, was um ihn herum geschieht, ein soldatisches Verhalten, dass sich oft unter dem Mantel der Loyalität verbirgt.
Auf der anderen Seite die „Neun“, die Jugend, die sich einlässt, aber auch gerne auslässt, die nicht verstehen kann, dass man sich mit vorauseilendem Gehorsam den Freuden des Lebens verweigern kann.

„Die Parade“ ist aber auch eine Parabel darüber, wie sich menschliche Unordnung und Zerstörungskraft gebärdet, wie eine Strasse zum Symbol für Zukunftshoffnung, Aufbruch und Fortschritt wird. Eine Welt, die vom männlichen Prinzip der Eroberung geprägt ist, in Kriegs- und Krisenzeiten, in denen Frauen abgedrängt und zu Opfern gemacht werden. „Die Parade“ spielt im Kleinen, als spiele es fast dauernd um die riesige RS-80, an der ein kaputtes Land im Schritttempo vorbeizieht. Aber die „Parade“ macht auch ratlos, denn vieles bleibt im Schatten, im Unklaren, nur wage, nur Vermutung, so wie das dauernd wechselnde Szenario im Kopf von „Vier“. Ein verstörender Roman, dem man sich auszusetzen bereit sein muss. Und ein Tor in den Kosmos Dave Eggers!

© Brecht van Maele

Dave Eggers, geboren 1970, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Sein Werk wurde mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet. Sein Roman «Der Circle» war weltweit ein Bestseller. Der Roman «Ein Hologramm für den König» war nominiert für den National Book Award, für «Zeitoun» wurde ihm u.a. der American Book Award und der Albatros-Preis der Günter-Grass-Stiftung verliehen. Eggers ist Gründer und Herausgeber von McSweeney’s, einem unabhängigen Verlag mit Sitz in San Francisco. Eggers stammt aus Chicago und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Nordkalifornien.

Klaus Timmermann und Ulrike Wasel entdeckten noch während des Studiums die Freude am gemeinsamen Übersetzen und beschlossen nach dem Examen, den Sprung in das Leben als Literaturübersetzer zu wagen. 2012 wurden sie gemeinsam mit dem Autor Dave Eggers für ihre Übersetzung seines Roman «Zeitoun» mit dem internationalen Albatros-Literaturpreis der Günther-Grass-Stiftung Bremen ausgezeichnet.

http://www.mcsweeneys.net

Beitragsbild © Sandra Kottonau