Lana Lux «Jägerin und Sammlerin», Aufbau

Tanya hat ihre Heimat, die Ukraine, verlassen. Sie will vergessen. Ihre Herkunft, ihre Vergangenheit. Alisa, ihre Tochter, hat nicht nur im Leben ihrer Mutter keinen Platz. Sie versucht zu korrigieren, zu kompensieren, den Tritt zu fassen in einem Leben, das keinen Halt findet. „Jägerin und Sammlerin“ ist der Lebenskampf zweier Frauen, von Mutter und Tochter, der unterschiedlicher nicht sein könnte.

Suchen wir uns unsere Probleme aus oder werden wir von ihnen aus- oder heimgesucht? Alisa wird in kein einfaches Leben hineingeboren. Ihre Mutter Tanya und ihr viel älterer Vater suchen ein neues Leben in Deutschland, als jüdische Kontingentflüchtlinge und lassen die Ukraine hinter sich. Die Tochter Alisa wächst in Deutschland auf, wenig geliebt und umsorgt von einer arbeitenden, „jagenden“ Mutter und einem enttäuschten, immer griesgrämiger werdenden Vater. Ein Zuhause, das in lauten und unnachgiebig geführten Streitereien zu ersticken droht, das weit weg ist von Nestwärme und Geborgenheit.

Obwohl Alisa alles tun möchte, um ihrer Mutter zu gefallen, ein Lächeln der Zufriedenheit zu provozieren, genügt sie nie; zu hässlich, zu ungeschickt, zu lasch, zu faul. Obwohl Alisa in der Schule beste Noten zeigt, orientiert sich die Mutter ganz an den aus ihrer Sicht offensichtlichen Mängel der Tochter; keine Freunde, und wenn, dann die falschen, kein Talent fürs Ballet, obwohl die hübsche und zierliche Mascha aus der Nachbarschaft, ebenfalls aus der Ukraine, vormacht, was durch Selbstdisziplin zu erreichen wäre.

Lana Lux «Jägerin und Sammlerin», Aufbau, 2020, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-351-03798-7

Tanya ist nicht nur mit ihrer Tochter Alisa nicht zufrieden. Sie ist mit ihrem ganzen Leben, der Welt und den Brosamen, die man ihr lässt nicht zufrieden. Von Familie und Pflichten daran gehindert, das zu werden und zu sein, was eigentlich in ihr steckt, sich dauernd mit den falschen Männern herumschlagend, von allen missverstanden und nie belohnt für das, was sie tut, wird Tanya nicht nur für ihre Tochter zur Tretmine. So sehr Tanya die Schlechtigkeit der Welt für ihr Unglück verantwortlich macht, so sehr leidet ihre Tochter Alisa darunter, dass sie sich das Glück schlicht nicht zutraut.

Was man ihr einimpft, bewahrheitet sich. Obwohl Alisa ein halbes Leben lang zeichnet, stempelt ihre Mutter dies bloss Unsinn. Obwohl Alisa über Jahre nach der Schule einkauft, putzt und kocht, obwohl sie der Mutter in ihrer Ausbildung hilft, Bewerbungen für die Arbeitsämter schreibt, genügt sie nie. Tanya kritisiert gnadenlos die Mängel ihrer Tochter. Alles, was Alisa tut, wird nach Nützlichkeit taxiert. Und so werden aus den Zeichen der Tochter, eines pubertierenden Körpers, den zunehmenden Schwierigkeiten mit Essen, der Figur, dem Gewicht, den Pickeln im Gesicht keine Zeichen, die einer Mutter sagen würden, dass sie helfen müsste, sondern das infernale Schlachtfeld der Tochter ganz allein.

„Ich bin die geborene Jägerin“, sagt Mutter Tanya ganz am Schluss des zweiten Romans der Schriftstellerin Lana Lux und meint damit eigentlich ihre Tochter Alisa, von der sie im gleichen Atemzug sagt: „Sie hat keinen Biss. Sie hat keinen Jagdtrieb.“ Ohne dass Tanya ihre Tochter klassifiziert, ist sie doch die, die die Probleme sammelt, eben eine Sammlerin. Niemand, der die Probleme beim Namen nennt, der die Probleme anpackt, sie besiegt.
Dabei ist das Leben der Mutter alles andere als eine Siegerstrasse. 

Man kann „Jägerin und Sammlerin“ auf den Lebenskampf zweier Frauen reduzieren. Auf den Kampf einer jungen Frau, der Tochter, einen unsäglichen Kampf gegen den eigenen Körper, das eigene Ungenügen, die Angst vor dem Verlust letzter Selbstkontrolle. Den Kampf einer noch immer jungen Frau gegen die Angst an den Versprechungen des Lebens nicht teilhaben zu können, vom Unglück und allgegenwärtigen Missverständnis verfolgt zu sein. Manchmal sind beide Lebenskämpfe bei der Lektüre kaum auszuhalten. Jener der Tochter in dem ihr selbst zugeführten Schmerz, jener der Mutter in der offensichtlichen Empathielosigkeit. Aber es sind zwei Schlachtfelder der Gegenwart, Schlachtfelder von Ursache und Resultat.

In „Jägerin und Sammlerin“ erzählen Mutter und Tochter. Und es wird deutlich, wie unvereinbar Wahrheiten sein können, die auf die Schnelle betrachtet fast deckungsgleich sein könnten. Der Roman zeigt, wie sehr Empfindung und Wahrnehmung, Ursache und Wirkung auseinanderdriften können, selbst in allergrösster „Nähe“, zwischen Mutter und Tochter, Tochter und Mutter. Der Roman ist eine Schlacht, eine der vielen Schlachten der Gegenwart. Der Roman spiegelt die Welt zwischen Konsum, Rausch, Sehnsucht und Erwartungen.

© Joachim Gern

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr vielbeachtetes Debüt «Kukolka», das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 ihr neuer Roman «Jägerin und Sammlerin».

Beitragsbild © Lea Frei

Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa

Das Reich unter Kaiser Wilhelm II ist zerschunden, der Krieg verloren, ein Land, Berlin im Ausnahmezustand. Tim Krohn erzählt in seinem neuen Roman „Die heilige Henni der Hinterhöfe“ die Geschichte einer jungen Wilden in einer wilden Zeit. Und Tim Krohn erzählt die Geschichte Berlins inmitten politischer Tumulte und wirtschaftlicher Miseren. Ein grosses Panorama der Kleinen!

Henni kommt am 29. November 1902 in Berlin zur Welt. Im Kaiserdeutschland. Als der erste Weltkrieg zu Ende ist, der Krieg, der doch eigentlich eine klare Sache war und nur ein paar Wochen hätte dauern sollen, ein Krieg, den man hätte gewinnen sollen, ist Henni ein Mädchen in einer Stadt, die von den Wirren des Krieges ins Chaos der Nachkriegszeit hinübertorkelt, in der die Hurrarufe verstummten und die wenigen Männer mit Arm- und Beinstümpfen dem Leben hinterherhumpeln. Henni, von der man schon in jungen Jahren sagte, „sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“ schafft es wirklich hoch hinaus, nur nicht dorthin, wo sie sich in ihren Träumen gerne hingehoben hätte.

Hennis Vater, Arthur Binneweis, arbeitet bei der Post, eine Staatsstelle. Aber weil das staatliche Zerbröckeln mit dem verlorenen Krieg nicht zu Ende ist und die Jahre danach durch Wirtschafts- und Währungskrisen ebenso beschleunigt werden wie durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, ist alles, was einst sicher war, auf Sand gebaut. Von Umzug zu Umzug werden die Wohnungen der Familie Binneweis am Prenzlauer Berg mit jedem Mal enger, bis Henni gezwungen ist, unter der Treppe im Stiegenhaus zu schlafen, bis klar ist, dass sie ihr junges Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Henni will tanzen. So wie es im Berlin der Nachkriegszeit viele wollen. Henni ist hübsch, Henni ziert sich nicht. Und in der Stadt kocht das Leben und die Sehnsucht nach Zerstreuung. Was im Vorkriegsdeutschland Sitte und Anstand war, Tradition und Ehre, danach scheint im Berlin der Nachkriegszeit niemand mehr zu rufen. Dafür ruft jeder und jede nach seiner Fasson, die einen nach einer neuen kommunistischen Weltordnung, die andern nach einem judenfreien, sauberen Nationalstaat oder nach Freikörperkultur, sei es in entsprechenden Etablissements oder in Ringeltänzen unter Gleichgesinnten auf freiem Feld.

Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa, 2020, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-311-10026-3

Tim Krohn breitet ein Nachkriegspanorama der kleinen Leute aus, taucht mit mir an seiner Seite in eine Stadt ab, die in einem Vakuum zu sein scheint. Tim Krohns Henni kämpft sich durch den Grossstadtdschungel, hangelt sich von Misere zu Misere. Tim Krohn schafft es, dass das Berlin der Nachkriegsjahre vor mir zu leben beginnt. Die Lektüre benebelt meine Sinne, berauscht mich sprachlich, steigt mir durch die Nase tief ins Hirn. Was Tim Krohn schafft, schaffen nur ganz wenige. Sein Berlin ist nicht einfach Kulisse einer wilden, verrückten Geschichte. Sein Berlin ist durchdrungen von seiner Imaginationskraft. Ich begleite Henni durch einen wilden Strauss von Ereignissen, tauche mit ihr ein in den Strudel dieser Stadt, eine Zeit, in der die Weltordnung auseinandergebrochen ist. Es sind die kleinen Leute und kleinen Geschichten, die sich zu einem feinmaschigen Teppich verweben, einem Flickenteppich mit Löchern und Maschen, über die man stolpert, mit Rissen und Verwerfungen, die nicht verbergen, was darunter liegt. Tim Krohn lässt mich ein- und abtauchen, ganz unmittelbar, auf eine eigentliche Zeitreise, eine Historienreise in ein Innen, das man sich hundert Jahre später gar nicht mehr vorstellen kann. Aber Tim Krohn kann es, spinnt ein Netz, das verblüfft, taucht in Tiefen ein, die einem verwirren. Und wenn der gebürtige Nordrhein-Westfale, der im Kanton Glarus aufgewachsen ist und heute im Val Müstair, am äussersten Zipfel der Schweiz ein Leben führt, das sich in maximaler Distanz zu einer urbanen Stadtexistenz zu verorten scheint, mit berliner Schnauze sein Personal im Roman sprechen lässt, dann ist perfekt, was sonst nur ganz wenigen gelingt; absolute Authentizität!

„Die heilige Henni der Hinterhöfe“ ist ein Familien- und Gesellschaftsroman, ein Sittengemälde der Sonderklasse. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich durch Sodom und Gomorrah kämpft, auf der Suche nach sich selbst, ihrem Glück und dem Glück ihrer Familie, die zu zerbrechen droht. In einer Stadt, in der Hakenkreuzfahnen zu flattern beginnen und „Jude“ mehr als ein Schimpfwort wird. In einer Gesellschaft, die sich zu finden hofft, die sich im Schmerz zudröhnt, die torkelt und fällt. In einem Land, in dem ein Machtvakuum von allen möglichen und unmöglichen Strömungen eingenommen werden will, in der der Zerfall von der Institution bis in die Familien wirkt.

„Sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“, sagt ganz zu Beginn des Romans ein Feuerwehrmann zu Hennis Vater Arthur Binneweis. Der Feuermann bekommt Recht, in mehrfacher Hinsicht!

© Nina Mann

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane»Quatemberkinder» (1998), «Irinas Buch der leichtfertigen Liebe» (2000), «Vrenelis Gärtli» (2007) und «Ans Meer» (2009), die Erzählbände «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart» (2014) und «Nachts in Vals» (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum «Einsiedler Welttheater 2013». Seine Romane «Herr Brechbühl sucht eine Katze» und «Erich Wyss übt den freien Fall» erschienen beide 2017. 2018 erschien «Julia Sommer sät aus». Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung 

Rezension von «Der See der Seelen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Georg M. Oswald «Vorleben», Piper

Lockte schon einmal die Versuchung, das Mobilphone ihrer Partnerin oder ihres Partners zu durchsuchen, die Briefe in der Schachtel ganz unten im Kleiderschrank, die Tagebücher aus der Zeit vorher? Wieviel wissen sie von der Geschichte derer, die sie lieben? Passierte es ihnen schon einmal, dass sie sich in Spekulationen darüber verloren, was Vorstellungskraft, offene Fragen und nagende Neugier in ihr Denken frassen?

Sophias vielversprechender Beginn einer Journalistinnenkarriere ist ins Straucheln geraten. Nicht weil sie die Fähigkeiten dazu verloren hätte, sondern weil man sie irgendwie zu übersehen scheint, obwohl alles an ihr am rechten Fleck ist. Sie hadert. Bis eine Freundin ihr zu einem Job verhilft, von dem sie sich mehr als nur ein Stück Sicherheit verspricht. Sie soll das Staatliche Symphonieorchester München und ihre MusikerInnen bei ihren Proben und Konzertreisen begleiten und dabei das Programmheft der kommenden Saison mit ihren Texten bestücken. Texte, die den Blick von Aussen auf Musik, Interpretation und KünstlerInnen richten, die nicht fachsimpeln, sondern literarischen Kontrapunkt zu den Klängen auf der Bühne liefern sollen. Schreiben, von dem sich Sophia viel verspricht, zumal sich der Cellist Daniel fast von Beginn weg nicht nur für ihre Aufgabe zu interessieren scheint.

Die Ereignisse überstürzen sich. Eben noch voller Zweifel ebnet sich alles. Sophia mag den charmanten Cellisten, der sie von Anfang an auf Händen trägt, der sie dazu verleitet, ihr Zimmer in einer WG aufzugeben und in seine grosse, mondäne Dachwohnung in der Münchner Innenstadt zu ziehen. Während Daniel ausserhalb probt, soll die Wohnung, an der alles Souveränität und Stabilität ausstrahlt, ihr neues Zuhause, ihr Arbeits- und Musseort werden. 

Georg M. Oswald «Vorleben», Piper, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, IBAN 978-3-492-05567-3

Aber nachdem das Programmheft gedruckt ist und nichts mehr darüber hinwegtäuscht, dass ihr Beitrag darin trotz fürstlicher Bezahlung nicht mehr als Text ist, macht sich erneut jene Leere breit, die Sophia zweifeln lässt, ob das Schreiben wirklich ihr Weg ist. Daniel macht ihr zwar Mut und drängt sie zu nichts. Aber jeder Tag in der grossen Wohnung wird zu einer immer verzweifelteren Suche nach ihrer Bestimmung. Er, der seine Bestimmung gefunden hat, sie, die in Selbstzweifeln und Verunsicherung den dünnen Boden unter den Füssen zu verlieren droht. Bis Sophia aus lauter Neugier in einem weissen Fotoalbum ganz hinten ein paar lose Polaroidfotos findet; eine junge Frau darauf mit farbigen Haaren und wilder Kleidung. Fast gleichzeitig stösst sie in der Buchhandlung ums Eck auf einen „Reiseführer für Eingeborene“ und darin auf einen Artikel mit der Überschrift „Die Schlange beim Tanze – das schöne und schreckliche Leben der Nadja Perlmann“.

Was sie wie ein Blitz trifft und sich zu wilden Spekulationen auftürmt, bietet ihr mit einem Mal das, wonach sie hoffte; Stoff. Eine Geschichte, die sich ihr auftut, in die sie sich schreibend verlieren kann. Gleichzeitig droht der Verrat an dem Mann, der ihr alles entgegenbringt, was sich wie wirkliche Liebe anfühlt. Und als Sophia in ihrer Witterung nach der grossen Geschichte, der Wahrheit und einer finsteren Vergangenheit nicht mehr zu halten ist und in Daniels Kellerabteil einen Sack mit weiteren schriftlichen Indizien findet, die offenbaren, dass das propere Leben, die Fassade ihre Mutmassungen zu bestätigen scheinen, kommt es zum „Showdown“.

Georg M. Oswalds Roman ist die Suche nach Bestimmung, ein Roman über die Macht der Leidenschaft, der Spekulation, den Kampf gegen die Vergangenheit. Georg M. Oswalds Romane sind kluge Unterhaltung, flirrende Arrangements von Figuren, die ganz nahe an der Wirklichkeit sind.

© Peter von Felbert

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman „Alles was zählt“, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman „Vom Geist der Gesetze“ und der Band „Wie war dein Tag, Schatz?“.

Rezension von Georg M. Oswalds Roman «Alle, die du liebst» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche

Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Dem kleinen Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht.

Wer bei «Literatur am Tisch» mit Jens Steiner bereits um 18 Uhr dabei sein will, sollte das Buch gelesen haben und sich unter sekretariat@bodmanhaus.ch anmelden. Die Platzzahl ist beschränkt!

Ob es die Autoposer sind in Hamburg oder Rorschach; vielleicht manifestiert sich auch in ihrem Verhalten die Lust nach Allmacht, nach unbegrenzter Kraft. Vielleicht auch ein bisschen bei all jenen, die sich eine Drohne anschaffen und irgendwo am Stadtrand mit zaghaften Flugversuchen beginnen; Verborgenes sehen, grenzenlosen Ein- und Durchblick. Bei all jenen, die sich ihr Brenn- und Vergrösserungsglas mit YouTube zu Nutze machen, denen man nichts mehr zu erklären braucht, weil sie die Allmacht ihres Wissens wie einen schwarzen Sack über die Welt stülpen.

Toni Manfredi wohnt in der 18. Etage in einem Hochhaus in Bethlehem. Dieses Bethlehem liegt nicht im Westjordanland, sondern im Westen Berns, eine Beton gewordene Ausgeburt der Nachkriegszeit. Toni lebt allein, seit seine Mutter gestorben ist. Und obwohl er schon eine ganze Weile in Rente ist und seine Mutter nicht mehr da, ist alles so geblieben, auch wenn das eine oder andere liegen bleiben darf. So wie die Holzspäne seiner Schnitzereien. Wenn er sich ein weiteres Mal an die heilige Familie macht, mit Ochs und Esel begonnen und final auf den Höhepunkt zusteuernd, wenn er sich an Maria mit dem Kindlein macht. Aufregen ist nicht seine Art. Aber er spürt sehr gut, dass sich da etwas zusammenbraut. Toni spürt das kommende Verderben. Auch wenn sein verkorktes Leben eines voller Fehltritte und Versäumnisse war. Ihm macht niemand mehr etwas vor. Nicht nach dem Banküberfall in Romanshorn, der Schiesserei in der Autobahnraststätte Würenlos und dem Verkehrschaos auf der Autobahn, nachdem bündelweise Banknoten auf die Fahrbahn flogen und der Verkehrsfluss zum Erliegen kam.

Auch Raffi spürt das, der Junge, der abhaut und den Weg der beiden kreuzt, die die Banknoten auf die Fahrbahn streuten. Er hat eine Mission. Er ist ein Abenteuerbeobachter, ein Nichtvergesser. Der Waldläufer und die Indianerin, bei denen er mit einem Mal auf der Rückbank des gestohlenen Autos sitzt, werden zu Figuren dessen, was ihm endlich die Welt erklären soll.
Regina taugt dazu nicht. Regina ist seine Mutter, eine, die nie Zeit hat, sich überall engagiert und nirgends richtig dabei ist. Nicht einmal als Mutter. Denn sie merkt erst nach zwei Tagen, dass der Inhalt des Kühlschranks unberührt bleibt und Raffis Bett kalt. Die Suche beginnt erst, als Raffi sich im Schweif des Waldläufers und der Indianerin eingerichtet hat. 

„Die Gegenwart hat sich darauf spezialisiert, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Und wenn sie dann merkt, dass der Elefant alles zertrampelt, ist es längst zu spät.“

Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche, 2020, 240 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7160-2790-5

Auch Jacques Rance spürt es, der alte Mann in seiner Villa über dem Genfersee, von den eigenen Kindern ebenso vergessen wie von der Geschichte. An den einen Tagen schafft er es noch von einem ins andere Zimmer, an anderen nicht einmal aus dem Bett. Einzig seine Haushälterin ist noch da. Die letzte in einer ganzen Reihe. Er hasst sie. So wie das Leben, das sich nicht mehr in Ordnung organisieren lässt. Trotz der Versuche, trotz seines Geldes, trotz aller Zahlungen. Er hat vor einer Weile einen Brief geschrieben. Aber weil ihn auch seine Erinnerung verlässt, weiss er nicht einmal mehr an wen und worum es ging. Er weiss einfach nur, dass es sein letzter Versuch war, Ordnung in sein Leben zu bringen.

So wie Martin versucht, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zum Beispiel mit einer Einkaufstour ins nahe Ausland. Nach Konstanz. Shoppen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Weg vom Chaos, das sich in seinem Leben auszubreiten beginnt. Bei der Arbeit, den Blicken auf den gespannten Stoff der Neuen im Büro. In der Familie, in der er seinen Sohn in einem ungewollten Moment in Frauenkleidern erwischt. In dem Moment, als sein Chef ein unerwartetes Mitarbeitergespräch einfordert. Und erst recht seit sich eine Blase in sein Gesichtsfeld drängt, ein undefinierbares Etwas, das ihm die Klarsicht raubt. Etwas ganz links, das immer zerspringt, wenn er danach sehen will.

Jens Steiner beginnt seinen Teppich von den Rändern her zu knüpfen. Vieles fügt sich erst mit fortschreitender Lektüre zusammen, Entscheidendes erst auf den letzten Seiten. Alles hängt mit allem zusammen. Zerrt man am einen Strang, wickelt sich die Schlaufe um einen andern. Und wie schon in seinen vorangegangenen Romanen webt Jens Steiner subtile Gesellschaftskritik und beissenden Witz in sein Erzählen. Ich liebe Jens Steiners Art zu erzählen. Er fordert mich heraus und nimmt mich gleichzeitig mit. Er spiegelt das Leben, aber spielt nicht mit mir als Leser. Und wenn er seinen Roman dann auch noch im meiner unmittelbaren Umgebung spielen lässt, von Romanshorn über Weinfelden in der Ostschweiz, am Würenloser Fressbalken und den Wohntempeln in Bethlehem vorbei bis in die nach Wohlstand stinkenden Hänge über dem Genfersee durch die ganze Schweiz zieht, bekommt die Lektüre noch eine Würze mehr.

Köstlich!

© privat

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Im Arche Literatur Verlag erschien 2017 sein Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» sowie 2018 der Kurzgeschichtenband «Weihnachten könnte so schön sein».

«Das Gleichgewicht der Welt», Kurzgeschichte von Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser

Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit ihrem Schreiben nichts mehr beweisen müssen, weder mit einer Story, die sich in ihrer Mehrschichtigkeit überschlägt, noch in der Dramaturgie, die sich in konstruierter Spannung verheddert und schon gar nicht in Sachen Sprache, Sound und Bildern. Monika Helfer kann es, absolut überzeugend, so leichtfüssig, als wäre Schreiben ganz einfach.

Schon der Titel „Die Bagage“ ist ein Glücksgriff. Bagage ist das Gepäck, das man mit sich herumschleppt, jenes auf Reisen, jenes in seinem Leben. Das Gepäck, das einem zuweilen durch sein Gewicht, seine Last, seine Grösse niederdrückt, bremst, fesselt. Gepäck, das man nicht einfach zurücklassen kann, selbst wenn es das scheinbar Einfachste wäre. Gepäck, das mit seinen Riemen und Schnallen tiefe Schrunden in Haut und Fleisch reisst, Wunden, die nie heilen können, immer schmerzen, nie loslassen.
Bagage ist aber auch ein abschätziger Begriff für eine Randgruppe. Einst waren es die Tschinggen, die italienischen „Gast“-arbeiter, heute sind es Flüchtlinge, Randständige, die, die nicht dazugehören, die das Bild einer harmonischen Gesellschaft, des sozialen Friedens zu stören scheinen.

In Monika Helfers Roman schimpft man aber die Leute ganz hinten im Tal, die Armen, jene, deren Leben nur aus Überlebenskampf, Arbeit, Sorgen und Not besteht „Bagage“. Jene, die von den Auswirkungen des ersten Weltkriegs bis in den Hungertod getrieben werden, obwohl und gerade wegen immer unmenschlicher werdender Mühsal.

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser, 2020, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-26562-2

Monika Helfer erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Sie erzählt sie ganz einfach. Schlicht, ohne fabrizierte Dramatik, ohne Verklärung, ehrlich. Die Geschichte strahlt derart viel Authentizität aus, ohne sich dafür verbürgen zu müssen, soviel Nähe zu den Ereignissen vor hundert Jahren, soviel Empathie zu den Personen, dass mich die Lektüre phasenweise fast schmerzt. Es ist eine Geschichte der Ausgrenzung, der alltäglichen menschlichen Gemeinheiten, der Deformationen in Zeiten des Umbruchs, des Niedergangs, des Krieges. Wie ausgerechnet dann, wenn der Staat vom heroischen Mut, von der selbstlosen Aufopferung seiner KämpferInnen spricht, die Menschlichkeit in den Fronten hinter dem Krieg zusammenbrechen kann. Wie die Möglichkeiten der Mächtigen und die Ohnmacht der Armen und Vergessenen ein Vakuum schaffen, in dem weder die Gesetze des Staates noch die der Menschlichkeit eine Rolle spielen.

„Die Bagage“ ist die Geschichte von Maria und Josef. Josef Moosbrugger wird 1914 in den Dienst des deutschen Kaisers einberufen. Der Sieg in diesem Krieg soll sicher und schnell sein. Maria Moosbrugger, die Grossmutter der Erzählerin, bleibt nicht nur mit ihrer Familie, den Kindern, Hof und Haus, sondern mit ihrer Schönheit ungeschützt zurück. Zwar verspricht der Bürgermeister, ein Geschäftsfreund von Josef, dem Soldaten auf seine Frau aufzupassen, aber nur um ihr ungestört und ungeniert Avancen zu machen, zu Beginn mit Geschenken und Charme, dann immer zudringlicher. Die Schönheit Marias, die eigentlich ein Geschenk sein sollte, wird zur Stigmatisierung. Ein ganzes Dorf traut ihr ein lasterhaftes Leben zu, obwohl Maria zuhinterst im Tal in dem kleinen Gehöft alle Hände voll zu tun hat im Kampf ums nackte Überleben ihrer vielköpfigen Familie.

Eines Tages aber klopft ein Mann an die Tür Marias. Ein Mann aus dem Norden, einer der Hochdeutsch spricht, ein Georg aus Hannover. Einer, der es nicht unbeobachtet schafft, an den Tisch der gebeutelten Familie zu gelangen, er ebenfalls in Not, aber mit Galanterie und offenem Herzen. Und als Maria Monate nach einem Fronturlaub ihres Mannes zeigt, dass sie schwanger ist, zerreisst sich ein ganzes Dorf den Mund darüber, wer alles möglicher Verursacher sein könnte. Allen voran der Pfarrer, der sein Gift von der Kanzel spuckt und in einem regelrechten Überfall das Kreuz von der Wand bei Maria reisst.

Als der Krieg vorbei ist, Josef als ein anderer von der Front zurückkehrt, aus dem Blitzkrieg eine infernale Niederlage wurde, ein Kaiserreich sein Ende fand, der Bürgermeister nur noch Büchsenmacher Fink ist, ist Grete da, die Mutter der Erzählerin. Ein ruhiges, braves Kind. So schön wie die Mutter. Josef aber, noch immer in der Seele verwundet, misstrauisch und launisch, misstraut auch dem Kind. Grete sein Kind? Er schaut dem Mädchen kein einziges Mal in die Augen, spricht es nicht an und nennt es in Gegenwart anderer nur „Balg“.

Monika Helfer war irgendwann einmal im Kunsthistorischen Museum in Wien und sah dort die Bauernbilder von Pieter Breugel dem Älteren: Kinder wie Erwachsene, nur kleiner. Die gleichen ernsten Gesichter, nur kleinere. „Die Bagage“ ist eine Stimme, die eine Welt auftut, die Jahrhunderte weit weg scheint. Aber sie wird dann wiederkehren, wenn sich in der Geschichte der Menschheit erneut Abgründe auftun werden.

Ein Roman, ganz leise erzählt, aber mit dröhnendem Widerhall!

Der mit 15 000 CHF dotierte Solothurner Literaturpreis 2020 geht an Monika Helfer: «Ihre Figuren zeichnet ein um keine Konvention bekümmertes Selbstbewusstsein aus, eine Ehrlichkeit der Emotionen und der Haltung», so die Jury, bestehend aus Nicola Steiner (Vorsitz), Lucas Gisi und Hanspeter Müller-Drossaart. «Ihr souveräner Umgang mit Sprache, der alle Stilregister beherrscht, macht Monika Helfers Bücher und Figuren für uns Lesende so einprägsam und nachvollziehbar.»

Interview mit Monika Helfer

Sie verarbeiten, beschreiben viel Persönliches, lassen mich als Leser in Ihre Geschichte schauen. Und auch wenn eine Schriftstellerin alle Freiheiten der Fiktion besitzt, macht es nicht den Anschein, als hätten Sie viel entfremdet. Auch der frühe Tod Ihrer Tochter ist wieder ein Thema. Etwas, was mich als Vater von Kindern berührt. Ist die Monika Helfer vor der Veröffentlichung von „Die Bagage“ eine andere Monika Helfer gewesen? Oder verändern das Schreiben, Stoffe, die so nahe an der eigenen Geschichte sind, nicht sowieso?

Für mich dauert die Wahrheit in meinem Roman maximal zehn Zeilen lang, dann galoppiert die Phantasie in die Geschichte, hält inne bei dem Unglück mit Paula, jedes Mal, ob ich will oder nicht, die Fiktion rettet mich und macht mich mutig.

Ihr Roman ist die Geschichte einer Familie am Rand, wörtlich. Ihr Roman ist aber auch ein Roman über Zeiten des Zusammenbruchs, Umwälzungen. Wie sehr jene, die schwach und angreifbar sind, in Zeiten der Unsicherheit zum Freiwild werden. Wir leben hundert Jahre nach den von Ihnen beschriebenen Geschehnissen wieder in einer Zeit, in der die Welt an vielen Orten aus den Fugen gerät. Und wieder sind es die eh schon Schwachen, die am meisten zu leiden haben, vergessen werden, sich selbst überlassen sind. Schmerzt sie die Erfahrung des Lebens nicht manchmal?

Lebenserfahrung bedeutet Freude und Schmerz, sich zu erinnern ist das Suchen nach Fetzen, die dann zusammengenäht ein Stück Stoff ergeben, der wiederum zum Roman wird.

Ihre Grossmutter Maria, ihre Mutter Grete – Sie und auch ihre Tochter. Ein Frauenbuch. Ihre Grossmutter versinnbildlicht das Leben vieler Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert; ungeschützt der männlichen Willkür ausgeliefert. Mag sein, dass wir es im begonnenen 21. Jahrhundert viel weiter gebracht haben. Aber von Gleichstellung kann noch immer keine Rede sein. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Kampfes um Privilegien. Ist es nur die Lust, eine Geschichte zu erzählen oder schwingt da auch Ihre Art der Kampfansage mit?

Ein Frauenbuch zu schreiben, ist für mich nahe liegend und notwendig, Gleichstellung rückt näher, aber nie will ich den Kampf darum aufgeben.

Was hielt Menschen, Frauen wie Ihre Grossmutter Maria Moosbrugger am Leben? War es einzig die Pflicht als sorgende Mutter. Der Glaube an einen Platz im Himmelreich konnte es unmöglich sein.

Die Sorge, der Stolz, die Kraft, dem Leben zu trotzen, geschehe was wolle, das hielt meine Grossmutter aufrecht.

Sie schreiben und ihr Mann Michael Köhlmeier schreibt. Beide sind Sie gefragte und preisgekrönte Schriftsteller. Wie weit beeinflusst das Schreiben des einen jenes des anderen? Monika Helfer und Michael Köhlmeier wären nach so vielen Jahren des Zusammenlebens wohl kaum jene, die sie geworden sind ohne die/den andere(n).

Ich sage immer wieder zu meinen Kindern, wählt einen Partner, der euren Ambitionen nahe steht, ein Glück für mich, mit einem Schriftsteller zusammen zu sein. Wir unterstützen uns gegenseitig, ohne den Einen ist der Andere allein.

© Stefan Kresser / Deuticke Verlag

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, darunter: «Kleine Fürstin» (1995), «Wenn der Bräutigam kommt» (1998), «Bestien im Frühling» (1999), «Mein Mörder» (1999), «Bevor ich schlafen kann» (2010), «Oskar und Lilli» (2011) und «Die Bar im Freien» (2012). Im Hanser Kinderbuch veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Mann Michael Köhlmeier «Rosie und der Urgroßvater» (2010). Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur und 2020 mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet. Mit dem Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede» (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

Beitragsbild © Isolde Ohlbaum

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay

Dass sich Beziehungen mit den Jahren abnützen können, die Frische verloren geht und mit der Ansammlung von Konflikten die Brüchigkeit zunimmt, dass sich Beziehungen manchmal entzweien, in Scheidung geraten, wissen wir zur Genüge. Aber wenn Mann oder Frau mit einem Mal ausbricht, am Morgen die Schlüssel nimmt und verschwindet, für immer, ist es viel mehr als eine Trennung allein.

Sind Maria und Herwig noch immer ein Paar? Als ihre Ehe noch jung war, reisten sie durch Griechenland, schlugen ihr Zelt an einer einsamen Bucht mit türkisblauem Meer auf, liessen sich vier Wochen im Lauf der Gestirne und dem Rhythmus der Gezeiten treiben, tranken geharzten Wein, sangen in die Nacht, rauchten Haschisch und liebten sich jede Nacht. Erst als der Wunsch nach einem Kind zum Zwang, eine Fehlgeburt zur Katastrophe wurde, die Nähe im Bett zu sich wiederholenden Versuchen mit ungestillter Absicht, begann sich die Liebe zu verhärten, legte sich Eis zwischen sie, wurden die Distanzen unüberbrückbar. Doch man richtete sich ein. Maria betrog Herwig, Herwig betrog Maria. 

Bis Maria aus einer Laune Herwigs Mobilphone in die Hand nimmt und die Nachricht einer anderen sieht, sie sei schwanger. Maria packt einen Rucksack mit dem Nötigsten und Herwig wundert sich noch am Morgen, dass Maria so ganz gegen ihre Gewohnheit auch ihm einen Kaffee auftischt, dass sie mit Sommerkleid, hohen Schuhen und Rucksack die Wohnung verlässt. Maria fährt zur Arbeit auf die Bank, wo sie ihrem Chef, dem man ihr vor die Nase gesetzt hatte, mit Schwung den Dienst quittiert, nachdem sie sich ihren Teil der Finanzen gesichert hatte, besteigt den Volvo ihres Mannes und fährt los, Richtung Süden. „Mit fünfundfünfzig Jahren wollte sie sehen, ob das Leben für sie noch etwas anderes bereithielt, als im Schlamm dieses trüben Karpfenteichs auf die monatliche Fütterung zu warten.“

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay, 2020, 304 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-552-05972-6

Während Herwig nicht weiss, wie ihm passiert und er sich an die Normalität seines Lehrerberufs klammert, dann auch noch sein Vater mit einem Leichenwagen aus dem Altenheim türmt und bei ihm in der Wohnung auftaucht, in der nicht zu verheimlichen ist, dass Maria abgehauen ist, kurvt Maria durch ein neues Leben. Sie fährt gen Süden, zum Meer, trifft Lisa eine junge Frau, mit der sie Monate verbringt, trifft einen Musiker, Fischer, Pilger und Mönche. Und je weiter sie sich örtlich von ihrem alten Leben wegbewegt, umso mehr löst sich die innere Verkrampfung, die latente Wut, der Knoten in ihrem harten Bauch.

Irgendwann meldet sich die Polizei bei Herwig. Man habe seinen Volvo in Saloniki gefunden. Nachdem es für Herwigs Vater Grund genug ist, sich zu zweit auf den Weg zum Auto und vielleicht zu einer Spur der Vermissten zu machen, kurvt noch ein Gespann Richtung Süden, ohne zu ahnen, wie nahe sich die Wege der vielfach Suchenden geraten.

„flüchtig“ sind sie alle und immer wieder. In Hubert Achleitners Roman ist alles in Bewegung. Frauen verflüchtigen sich, Normalität verflüchtigt sich, Sicherheiten. Maria kommt schon nicht wie andere Kinder zur Welt, sondern hoch oben über dem Tal in einer Gondel, mitten im Sturm. Man tauft sie Eva Maria Magdalena mit der Bitte um Beistand. Aber der verflüchtigt sich. Maria lernt Herwig kennen, wird schwanger; das Familienglück verflüchtigt sich. Die Liebe, die Leidenschaft verflüchtigt sich, auch jene im Beruf. Bis der einzige Weg, der einzige Ausweg die Flucht ist. Nicht die Flucht vor Herwig, nicht die Flucht vor einem verkorksten Leben, sondern die Flucht vor sich selbst. Etwas, was wohl jeder Mensch mehr oder weniger oft als Gedanke oder Wunsch mit sich herumträgt; weg, alles stehen und liegen lassen. Und während Herwig in ein Doppelleben flieht, Herwigs Vater vor dem langsamen Wegsterben, Wegdämmern im Altersheim flieht, flieht Maria in eine offene Zukunft, verschwindet, verflüchtigt sich.

„flüchtig“ ist vieles; ein Familienroman, ein Eheroman, ein Roadtripp, ein Findungsroman und mit Sicherheit auch eine Liebesgeschichte. Ein Roman mit kernigen Sätzen, überraschenden Wendungen und einer grossen Portion bissiger Klugheit. Und: Der Musiker Hubert von Goisern hat auch als Schriftsteller Hubert Achleitner Sound im Ohr!

© Konrad Fersterer

Hubert Achleitner, bekannt als Hubert von Goisern, wurde 1952 in Bad Goisern geboren. Er gilt als prononciertester Vertreter der «Neuen Volksmusik» und Erfinder des sogenannten «Alpenrock». Seine Interpretation alpenländischer Musik ist stilübergreifend und inspiriert von anderen Kulturen. Die «Linz Europa Tour 2007-2009» gilt bis heute als eines der grössten grenzübergreifenden Musikprojekte unserer Zeit. «flüchtig» ist sein erster Roman.

Webseite Hubert von Goisern

Beitragsbild © Stefan Wascher

Amir Hassan Cheheltan «Der Zirkel der Literaturliebhaber», C. H. Beck

Wie leicht ist man versucht, beim Blick in den Nahen Osten, in den Orient, in den Iran nur den grau-braunen Schleier zu sehen, den die Medien, die Geschichte, die Zerstörung, die Kriege in den vergangenen Jahren über das Land legten. Allzu leicht beschränkt sich das Bild auf Figuren wie den Schah Reza Pahlavi oder den Ajatollah Chomeini, der nach dem Sturz des Diktators zehn Jahre iranisches Staatsoberhaupt war oder Mahmud Ahmadineschād, einer der fundamentalistischen Präsidenten, die in der Drohgebärde gegen den Westen, den Iran zu einem Atomstaat machten.

Dabei ist der Iran einer der Wiegen der Kultur, wie Marco Polo berichtete; das Paradies, in dem Milch, Honig, Wein und Wasser fliessen, üppig in Vegetation und Kultur, reich an irdischen und geistigen Schätzen.

Davon erzählt Amir Hassan Cheheltan in seinem neuen Roman „Der Zirkel der Literaturliebhaber“. Amir Hassan Cheheltan, der trotz seiner unverhohlenen Kritik an der iranischen Führung, der grassierenden Ungleichheit und der Bevormundung von SchriftstellerInnen, noch immer in Teheran lebt, schildert ein kleines Stück seiner eigenen Geschichte und ein grosses Stück der Geschichte seines Landes.

Amir Hassan Cheheltan «Der Zirkel der Literaturliebhaber», übersetzt von Jutta Himmelreich, C. H. Beck, 2020, 252 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-406-75090-8

Über drei Jahrzehnte lang war das Gästezimmer in der Wohnung seiner fiktionalen Eltern Schauplatz wöchentlich stattfindender Literaturzirkel. Jeden Donnerstag besuchten die Cheheltans acht Gäste, um mit den Eltern und später auch mit dem älter werdenden Sohn über Literatur zu sprechen, Verse zu rezitieren, abzutauchen in die Jahrhunderte lange klassische, persische Literatur: Rumi, Haffs, Saadi, Ferdowsi, alles Namen, die wie Fixsterne am „persischen Literaturhimmel“ stehen und für mich (bislang noch) völlig unbekannt sind.
Mit den immer tiefgreifender werdenden Veränderungen in der iranischen Politik und Gesellschaft der Achtziger Jahre, nach dem Sturz von Schah Reza Pahlavi und der Machtergreifung der fundamentalistischen Ajatollahs wird der Zirkel im Gästezimmer der Familie immer mehr zu einer Insel, einem letzten Rückzugsort, der „Ruhe, Liebe und Frieden bot“. Aber selbst diese Insel ist nicht vor den langen Armen des Geheimdienstes SAVAK geschützt.

Amir Hassan Cheheltan erzählt am Beispiel dieses Zirkels, was mit der einst aufgeschlossenen Kultur nicht nur im 20. Jahrhundert passierte. Er leuchtet in eine Tradition, eine Literatur, die sich selbst im Vergleich zur europäischen um ein Vielfaches weiser, freizügiger, lustvoller, komischer, gar subversiver gab, auch der offiziellen Sittenlehre und den gesellschaftlichen Zwängen im eigenen Land gegenüber.

Amir Hassan Cheheltan erzählt, wer den Erzähler in die Welt der Fantasie, des Erzählens einführte, von einer Grossmutter, die ihn mitnahm, Fragen mit Geschichten beantwortete. Von Eltern, die die Revolution und ihre Folgen zu ignorieren versuchten, in der Hoffnung, sich so zu retten. Von einem Vater, der eigentlich nur die Literatur liebte und das Leben in der Familie über Jahrzehnte auf den Abend am Donnerstag ausrichtete. Von den Abenden in der Leidenschaft verinnerlichter Literatur. Davon, wie sehr die politisch immer enger werdenden Zustände im Land immer unvereinbarer werden mit dem, was die Literatur an Offenheit, Freiheit und Freude offenbart.

Wer „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ liest, spürt nach, was es heisst, in der Literatur der eigenen Kultur aufzugehen. Die dortige Kultur ist von Geschichten durchzogen, Geschichten ein Schatz, der von Generation zu Generation weitergetragen wird. Sie sind im Gegensatz zur westlichen Tradition weit mehr als bloss Unterhaltung oder Kunstwerk.

„Der Zirkel der Literaturliebhaber“ ist ein Tor zu einer anderen, fremden Welt. Amir Hassan Cheheltan sein mutiger Türöffner!

Amir Hassan Cheheltan und seine Übersetzerin Jutta Himmelreich erhielten den Internationalen Literaturpreis 2020 für «Der Zirkel der Literaturliebhaber». Von Jurymitglied Verena Lueken heisst es in der Begründung:

„Dies ist ein Buch, das sich nicht von den Absteckungen der Zuschreibung ‚Roman‘ beeindrucken lässt. Ein Buch, das auf den Erinnerungen des Autors aufgebaut, also als autobiografisch im weiteren Sinn zu verstehen ist, ausser: dass der Autor seine eigene Jugend um 15 Jahre etwa verschoben hat, nämlich in die Zeit der Islamischen Revolution 1978, als er selbst bereits Anfang Zwanzig war. Im Zentrum steht die Literatur, vor allem die klassische persische, aber nicht ihre offizielle Lesart. Sondern ihre subversiven Strömungen, ihre homoerotischen, ihre pornografischen Anteile. Es ist also in mehrfacher Hinsicht ein doppelbödiges Buch, was sich auch in der Sprache spiegelt, die Jutta Himmelreich im Deutschen mal blumig, mal sarkastisch, mal völlig nüchtern übersetzt – eine Coming-of-Age-Story aus Teheran, ein literaturhistorisches Seminar, ein Nachfabulieren althergebrachter Erzählungen, eine Geschichte der historischen Umbrüche und Katastrophen, und das alles in einem Buch, das, wie alle Bücher Cheheltans der vergangenen Jahre, in seiner Originalsprache bis auf weiteres nicht erscheinen wird.“

Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, studierte in England Elektrotechnik, nahm am Irakkrieg teil und veröffentlichte in Teheran bislang Romane und Erzählungsbände. Zwei Jahre hielt er sich wegen der Bedrohung durch das Regime mit seiner Familie in Italien auf. Sein Roman «Teheran, Revolutionsstrasse» erschien 2009 als Welt-Erstveröffentlichung auf Deutsch, es folgten «Teheran, Apokalypse» und «Teheran, Stadt ohne Himmel» inzwischen liegt die gesamte Teheran-Trilogie bei C.H.Beck vor. Zuletzt erschien hier sein Roman «Der Kalligraph von Isfahan». Cheheltan veröffentlicht Essays und Feuilletons in der FAZ, der SZ, der ZEIT und anderswo.

Jutta Himmelreich studierte Romanistik, Amerikanistik und Ethnologie in Frankfurt, Tucson, Arizona und Paris. Sie ist seit 1985 als Übersetzerin und Dolmetscherin in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Farsi tätig.

Beitragsbild © Verlag C.H.Beck

Franz Hohler «Fahrplanmässiger Aufenthalt», Luchterhand

Franz Hohler ist ein Reisender in Sachen Literatur, einmal als Minnesänger, dann als Beobachter, als Erzähler, als Mahner, als Unterhalter und nicht zuletzt als eine der Identifikationsfiguren der Schweizer Literatur. In den vergangenen Jahren leuchtete der Stern Franz Hohler immer heller und wurde zu einem Fixstern, unübersehbar, als wäre er schon immer da gewesen.

Viele Geschichten aus seinem neuesten Erzählband sind auf Lesereisen weit weg und ganz nah entstanden; Sarajevo, Odessa, Kiew genauso wie Hessental, Appenzell und Tübingen. Begegnungen mit Menschen und Orten, Situationen und der Geschichte – und immer mit sich selbst. Franz Hohler ist kein Stänkerer, kein Meckerer, kein Sezierer und schon gar kein Analyst. Er richtet den Blick auf die Welt und beschreibt sie so, wie sie ihn erreicht, wie er ihr gegenübersteht, nach fast achtzig Jahren Leben und einem übergrossen Mass an Wohlwollen und Respekt. Er zeigt, was Weltanschauung bedeuten kann, wenn sie durchsetzt ist von Liebe und Empathie. Und immer, wie für einen Bühnenmann wichtig, voller Einsichten, Witz und tiefgründigem Humor; was das Alter und Altern mit einem macht, wenn einem die Endlichkeit nicht mit Schrecken in die Glieder fährt, sondern mit einem tief empfundenen Gefühl der Dankbarkeit erfüllt. Eine Dankbarkeit, die nicht ausgesprochen werden muss, die aber in seinen Geschichten, seinen Erzählungen überdeutlich wird. 

Franz Hohler «Fahrplanmäßiger Aufenthalt», Luchterhand, 2020, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87639-9

Manchmal sind es nur Augenblicke, Momentaufnahmen, ausserplanmässig, wenn ein Zug im Nirgendwo 15 Minuten stehen bleibt und Franz Hohler in der Viertelstunde Suche nach einer heissen Tasse Tee mit dem Schrecken des 20. Jahrhunderts konfrontiert wird. Oder in der Stadt Odessa am Schwarzen Meer im Süden der Ukraine, wo er an einem Literaturfestival eingeladen unweigerlich mit dem Krieg konfrontiert wird, genauso wie am Maidan-Platz in Kiew, oben die Fotos jener, die bei den Unruhen im Winter 2013/2014 umgebracht wurden, darunter Einkaufsmeile mit Hochglanz und Überfluss, Begegnungen in einer zerrissenen Gesellschaft. 

Oder in Kenia, wo einer der Söhne eine Kenianerin heiratete und sich Franz Hohler mit einem Mal in seiner Funktion als Stammesältester bewusst wird und der künftig bei Langstreckenläufen nicht mehr mit derselben Vergeblichkeit auf einen schweizer Triumph hoffen muss.
Es sind bei aller Überraschung, die der Autor noch immer zu erzeugen weiss, wenn es um Pointen und Wendungen geht, noch immer die ganz typischen Hohler-Geschichten. Wer den Autor jemals auf der Bühne, bei einer Lesung, im Radio oder im Fernsehen hörte, wird beim Lesen den Sound seiner Stimme mitschwingen hören und staunen, mit wieviel Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit er zu erzählen und zu schildern weiss. Nie verkopft, untermalt mit sanfter Moral, im Licht seiner ganz eigenen Freundlichkeit.

Wenn es Geschichten gibt, mit denen auch Erwachsene einschlafen wollen, dann sind es die Geschichten von Franz Hohler, die unbedingt eine Weile auf dem Nachttischchen liegen müssen!

«Schreiben ist eine Lebensform.»
Interview mit Franz Hohler

Nicht wenige von deinen Geschichten handeln vom Tod. Wenn du von deinem Vater erzählst, der 101 wurde, als er starb und dir im hohen Alter noch das Gefühl überliess, Vollwaise zu sein, ein Gefühl, dass jede(n) beschleicht, wenn Mutter und Vater gegangen sind. Oder bei all den Reisen in Länder, die durch Krieg und Unruhen mit dem Alp von Mord und Misshandlung gepeinigt sind. Ist es im Umgang mit Sterben und Tod immer jene Ruhe und Gelassenheit, die du und dein Schreiben ausstrahlen oder mischt manchmal nicht doch ein bisschen Angst mit?
Selbstverständlich habe ich Angst vor dem Tod, fast mehr vor dem Tod der anderen als meinem eigenen. Den Tod als Begleiter unseres Lebens wahrzunehmen und zu beschreiben, macht wohl gelassener als ihn totzuschweigen. 

Du bist ein grosser Erzähler. Wer dir irgendwann einmal zuhören kann und darf, dem wird diese Sprachreise unvergessen bleiben. Kein Wunder füllen sich Säle, wenn sich Franz Hohler ankündigt. Aber du bist weit mehr als ein Unterhalter, denn in deinen Geschichten mischt auch eine politische Überzeugung, einiges an Moral und ein festes Rückgrat mit. Deine Haltung in der aktuellen Flüchtlingsfrage ist unüberhörbar. Beschleicht dich zuweilen nicht die Resignation?
Doch, täglich. Gestern lagen in meinem Briefkasten 10 Bettelbriefe, in Worten zehn, von lauter Organisationen, die versuchen, unsere Welt zu verbessern. Alle leisten gute Arbeit. Die weltweite Bekämpfung der Armut macht, wenn man den Statistiken der Weltbank trauen darf, Fortschritte, die des Hungers auch, aber es wachsen auch die Rüstungsausgaben, es wächst überhaupt der ganze Problemberg, an dessen Fuss wir uns sehr klein und ohnmächtig vorkommen. Doch als denkende Menschen haben wir gar keine Wahl: Wir müssen uns auf die Seite des Lebens schlagen, täglich. Der Gesang der Amseln und das Lachen der Kinder helfen mir dabei.

Wenn ich mir den Reisenden Franz Hohler vorstelle, dann ist er immer ein Wanderer, ein langsam Reisender, der beobachtet, sinniert und schaut. Wenn du von Odessa, Kiew, Kenia und Moskau erzählst, fällt es mir beinahe schwer, mir einen Franz Hohler vorzustellen, der sich durch ein Gate ins Flugzeug kämpft und nach drei Stunden aus der Druckkabine steigt, in einem anderen Land. Wie sehr schmerzt die Anpassung an den Takt der Zeit?
Das Flugzeug besteige ich nur für die fernen Ziele, und jedesmal bin ich beeindruckt, dass Fliegen möglich ist und dass man derartige Distanzen in so kurzer Zeit zurücklegen kann und freue mich darüber. Allerdings beginnen sich die Länder auch immer mehr zu gleichen, und das schmerzt eigentlich mehr als die leichte Erreichbarkeit. Im «Carrefour» von Abu Dhabi findet man das ganze Sortiment der «Ricola»-Täfeli, in den Warenhäusern von Krasnojarsk wetteifern Hugo Boss und H&M um die Kundschaft, und österreichische Schneekanonen machen die Skipisten befahrbar.

Du veröffentlichst seit 50 Jahren fast ausschliesslich beim Luchterhand Verlag, einem Verlag, der sein Antlitz in diesen fünf Jahrzehnten stark veränderte. Dass ein Schriftsteller einem Verlag über so lange Zeit treu bleibt, ist immer seltener, genauso selten wie Paare, die fünf Jahrzehnte beieinander bleiben. Ist Treue ein Lebensprinzip? Und wie sehr rettet es dich?
Mein Deutschlehrer Ludwig Storz, mit dem ich ein Leben lang befreundet blieb, sagte einmal den schönen Satz: «Ich bin für lange Freundschaften gemacht.» Das gilt auch für mich. Je mehr mein Vorrat an Zukunft schmilzt, desto kostbarer werden die Verbindungen zu Menschen, die über lange Zeit Bestand hatten. 

Mit meinem Verlag bin ich durch etliche Ups and Downs gegangen und habe mich immer fürs Bleiben entschieden, auch wenn heute niemand aus der Crew von 1970 mehr dabei ist. In den letzten Jahren sind dort meine gesammelten Erzählungen («Der Geisterfahrer»), meine gesammelten kurzen Texte («Der Autostopper») und meine gesammelten Gedichte («Sommergelächter») herausgekommen. Das empfinde ich als eine Art Ernte. 

„Ich bin gerne Dichter“, steht ganz am Schluss des Buches. Du scheinst auch nicht den Willen zu bekunden, dich „pensionieren“ zu lassen, wie andere SchriftstellerInnen, die das Schreiben irgendwann einstellen, wie zum Beispiel Philipp Roth, der sich eines Tages „vom Schreiben zurückzog“. Was bedeutet das Schreiben für dich über meine Annahme hinaus, dass es längst Lebensnotwendigkeit in mehrfacher Hinsicht geworden ist?
Schreiben ist eine Lebensform. Ein Chefarzt eines Spitals wird mit 65 pensioniert, auch psychologische Praxen haben eine Altersgrenze. Diese Menschen hatten Freude an ihrer Tätigkeit, und auf einmal dürfen sie sie nicht mehr weiter ausüben, das fällt den wenigsten leicht. Dass ich niemanden zu fragen brauche, ob ich mich noch vor mein Laptop setzen darf, empfinde ich als grosses Privileg, und damit aufhören kann ich, wann ich will. Oder muss.    

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Franz Hohler liest aus «Fahrplanmässiger Aufenthalt»

«Enten» Kurzgeschichte von Franz Hohler 

Webseite des Autors

Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand

Eine Chronik ist eine geschichtliche Prosadarstellung, die die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge geordnet darstellt. Die österreichische Autorin Melitta Breznik (Jahrgang 1961) gibt ihrem neuen Roman «Mutter» den vielsagenden Untertitel «Chronik eines Abschieds». Geordnet, aber keineswegs emotionslos erzählt sie über das langsame Sterben der eigenen Mutter.

Gastbeitrag von Cornelia Mechler

Die Mutter wohnt in einer Kleinstadt in der Steiermark. Die Autorin, die auch als Ärztin in der Schweiz tätig ist, reist an, um die Mutter auf ihrer letzten Reise nicht allein zu lassen. «Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.» Und so vergehen mehrere Wochen, intensive Stunden und Tage, in denen die Autorin in nüchterner Sprache die Veränderungen beschreibt, die sie sowohl an ihrer Mutter als auch an sich selbst wahrnimmt. Die Berichte über den jeweils tagesaktuellen Gesundheits- und Gemütszustand der Mutter gleiten in Erinnerungen ab. Eine Familiengeschichte wird erzählt, die bis zu den beiden Weltkriegen zurückreicht. Die Mutter verlor einen ihrer beiden Söhne – er starb mit nur 18 Jahren an einem Hirntumor. Dieser Verlust prägt alle übrigen Familienmitglieder, auch wenn die Autorin selbst zum Zeitpunkt des Todes noch ein kleines Kind ist. Es tauchen Fragen nach Schuld und Vergebung auf, und nach dem, was bleibt, wenn jemand stirbt. 


Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand, 2020, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87506-4

Deutlich tritt auch ein weiterer, noch immer nicht abgeschlossener Konflikt zutage: Einst zwang die Mutter die damals 17-jährige Tochter zu einer Abtreibung…
Das Gegengewicht zu diesen noch immer aktiven «Gespenstern der Vergangenheit» findet sich in Beschreibungen von persönlichen, ja intimen Momenten der Zweisamkeit einer im Sterben begriffenen Mutter und ihrer Tochter, die ihr – den einstigen Ereignissen zum Trotz – liebevoll zugetan ist. «Als sie mir gute Nacht wünschte, lehnte sie mit Tränen in den Augen in den Kissen. Die Tage mit mir seien traurig, aber auch schön. Dann fiel sie zufrieden in einen stillen Schlaf.»

Man leidet als Leserin schmerzhaft mit bei all den Versuchen der Autorin, es der Mutter recht zu machen, ihr ein würdiges Ende vorzubereiten. Auch die alltagspraktischen und medizinischen Schwierigkeiten einer Sterbebegleitung werden nicht ausgelassen. «Die schnelle Wirkung der Tablette verblüfft mich, und gleichzeitig frage ich mich, ob es richtig ist, Mutter mit einem Medikament davon abzuhalten, ihren Sohn zu suchen, Vielleicht hätte sie ihn ja gefunden, wie er sie im Jenseits erwartet, ihr seine Hand reicht.» Irgendwann ist die Grenze des Erträglichen für die Autorin erreicht. Die körperliche und seelische Erschöpfung lässt sie nach mehr Hilfe von aussen suchen. Eine Pflegerin unterstützt sie folglich in den letzten Wochen, in denen die Mutter zu einem Schatten ihrer selbst wird. 


Gewiss: Es existieren bereits einige gute Bücher, die sich mit der Thematik des langsamen Abschieds von einem Elternteil beschäftigen – man denke beispielsweise an Michael Lentz’ «Muttersterben2 (2002) oder an Arno Geigers «Der alte König in seinem Exil» (2010). Melitta Brezniks Buch beeindruckt vor allem durch die gekonnte Darstellung der schwierigen Selbstpositionierung der Autorin. Sie ist Tochter, sie ist Ärztin und sie ist die Pflegerin der eigenen Mutter. Mal verliert sie sich fast sehnsuchtsvoll in den Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit der Mutter, mal beschreibt sie in einer vom ärztlichen Fachjargon geprägten Sprache ihre Hilfsmassnahmen für die sterbenskranke alte Frau. Eine schonungslose Ehrlichkeit durchdringt diesen tiefgründigen Roman, für Beschönigungen ist keine Zeit mehr.

«Es ist später als Du denkst», diese Inschrift eines Marmorsteins in Lass in Südtirol steht dem Buch als Motto voran. Unerbittlich konfrontiert uns die Autorin mit der Frage, wie wir selbst dem Tod begegnen möchten. Das Auf und Ab der Emotionen wird sich nicht vermeiden lassen. Aber es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass man auch mit dem unausweichlichen Verlust eines nahen Menschen seinen Frieden machen kann. Ein grosser Roman – trotz eher geringem Seitenumfang.

© Peter von Felbert

Melitta Breznik, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in der Schweiz im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: «Nachtdienst» (Erzählung 1995), «Figuren» (Erzählungen 1999), «Das Umstellformat» (Erzählung 2002), «Nordlicht» (Roman 2009), «Der Sommer hat lange auf sich warten lassen» (Roman 2013).

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Peter von Felbert

Oskar Roehler «Der Mangel», Ullstein

Oskar Roehlers neuer Roman ist sperrig, kantig, und gerade deshalb so empfehlenswert. Er erzählt anders, vielleicht so, wie man das von einem Filmemacher erwarten würde, der seine Geschichte nicht „einfach“ erzählen will, denn seine Bilder schwirren an der Grenze zwischen Realität und Bildern, die von traumatischer Tiefe sind. 

Zugegeben, ich kannte Oskar Roehler nicht, wohl aber einen seiner Filme; „Die Unberührbare“ mit der unvergesslichen deutschen Filmikone Hannelore Elsner. Hätte der Klappentext des Buches nichts von Oskar Roehles Filmschaffen erzählt, wäre ich auch nicht auf die Idee gekommen, es mit einem Filmemacher zu tun zu haben. Und um noch einmal etwas zuzugeben; Ullstein zählt nicht unbedingt zu meinen Jagdgründen. Aber wie sehr ich mich täuschen kann. Oskar Roehlers eigenwilliger Roman ist ein ungeschliffener Diamant. Ungeschliffen deshalb, weil er sich erfrischend vom Mainstream unterscheidet, weil die Art seines Erzählens eine Unversöhntheit an den Tag legt, die den Roman quer stehen lässt. Er will nicht verstehen, nicht besänftigen, nicht erklären oder ergründen, aber aufreissen und hineinleuchten, selbst wenn die Scheinwerfer die Farben verzerren, Tiefen verschieben.

Oskar Roehler erzählt vom Deutschland seiner Kindheit, den beginnenden 60er-Jahren, als sich die klaffenden Wunden des letzten Krieges zu schliessen begannen (auch wenn der Eiter darunter nicht verschwand!), alles mit dem Aufschwung mitgerissen wurde, Eigenheime aus dem Boden schossen, ein Auto zum Lebensinhalt werden konnte und die hierarchisch, autoritäre Ordnung ins Schwanken geriet.

Oskar Roehler «Der Mangel», Ullstein, 2020, 176 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-550-20038-0

Eine Gruppe Kinder wächst am Rande eines Dorfes auf, einer schnell hingebauten Siedlung oben auf der „Hut“, einer ewigen Baustelle schlecht gebauter Häuser, in denen die Feuchtigkeit die Wände niemals trocknen lässt. Einem Dorf, das die Zugezogenen mit Argwohn beäugt, das Kreuz am Eingang des Dorfes nicht nur Furcht einflössen sollte, sondern mit aller Deutlichkeit zeigen, wer schon immer da in diesem Dorf das Sagen hatte. Noch sind die Neubauten nicht ans Stromnetz angeschlossen, obwohl die gigantischen Masten in Sichtweite stehen. Die Väter sind an der Arbeit und wenn sie abends nach Hause gehen, dann sind sie müde und wie ihre grau gewordenen Ehefrauen damit beschäftigt, die Familie dorthin zu führen, wo Kühlschrank, Fernseher und Auto endlich zu den Insignien von Wohlstand und kleinem, persönlichen Endsieg werden müssen.

Selbst als man das Dorf zwingt, eine Schule zu erbauen, bleiben Alteingesessene und Neuzugezogene getrennt. Aber die Kinder auf der „Hut“ sind mehrfach getrennt; abgetrennt vom Dorf, von einem Nichtzuhause in Familien, die alle Energie dazu verwenden, am Wohlstand einer neuen Welt teilzuhaben. Die Kinder rotten sich zusammen und erklären den Nachbar Behrend mit seiner Bibliothek zur Leitfigur ihrer Existenz. Einer Existenz, die Kunst zum Fixstern werden lässt und sich Lichtjahre davon entfernt, eine gesicherte Existenz in der örtlichen Sparkasse zu beginnen. Eine Existenz, die den Mangel, die Armut zum Programm macht, entgegen aller Strömungen und Errungenschaften einer prosperierenden Gesellschaft. 

„Der Mangel“ ist ein Roman des Widerstands. Gegen Väter mit blitzblanken Hemden, gegen Bausparverträge, gegen ein Vertreter-Leben (in mehrdeutiger Hinsicht!). Und doch erzählt Oskar Roehler von allem anderen als Heldentum. Die Gruppe Kinder wird älter. Dichtung, Wahrhaftigkeit und Kunst brachten Armut und Hunger, hinterlassen eine Mischung von Ängsten und tiefem Trotz.
Oskar Roehler erzählt nicht nur, was ihm durch Erinnerung und Vernunft geblieben ist. Was er erzählt, ist durchsetzt von Bildern, die wie Träume, Alpträume anmuten. Von einer Kindheit weit weg von jeder Idylle und Geborgenheit, den Massstäben der Gegenwart. Von apokalyptischen Szenarien eines Sechsjährigen, der die Welt als Grube mit lehmig, glitschigen Wänden erinnert, dem schon die frühe Kindheit ein Kampf ums blosse Durchstehen und Überleben war.

Oskar Roehles Roman „Der Mangel“ tut weh und das ist gut so. Weh, weil das, was erzählt mit dem Massstab der Gegenwart kaum zu ertragen ist, weil die Gefühle der Lesenden kippen zwischen Abscheu und Faszination.

Ein Bilderrausch!

© Nadine Fraczkowski für INTERVIEW

Oskar Roehler, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Sein bislang erfolgreichster Film war «Die Unberührbare» mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle, in dem Roehler die letzten Jahre im Leben seiner Mutter erzählt. Der Film wurde mit zahlreichen Preisen, unter anderem mit dem Deutschen Filmpreis in Gold ausgezeichnet. Unter dem Titel «Herkunft» veröffentlichte er 2011 einen autobiografisch geprägten Roman, den er unter dem Titel «Quellen des Lebens» (2013) auch verfilmte. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.

Beitragsbild © Gerald von Foris