Olga Tokarczuk «Der liebevolle Erzähler», Kampa

Was Olga Tokarczuk und Peter Handke gemein ist, ist ein Leben, Denken und Streben, das weit über das Schreiben, die Literatur und das Buch hinausgeht. Sie beide sind durchdrungen und beide Streiter für das, was die Literatur soll und will; Türen aufmachen. Aber vielleicht ist das eine der wenigen Gemeinsamkeiten der Nobelpreisträger von 2019 und 2020. Aber während Peter Handke schon seit Jahrzehnten zum Kanon der Deutschen Literatur gehört, ist Olga Tokarczuk für viele noch zu entdecken.

Das Buch «Der liebevolle Erzähler – Vorlesung zur Verleihung der Nobelpreises für Literatur» beinhaltet nicht nur den Text des Festaktes, sondern ergänzend das Essay «Wie Übersetzer die Welt retten» und als Zugabe «eine kleine Chronologie rund um die Literaturnobelpreisverleihung». Mit Sicherheit wäre es aufschlussreich, gäbe es von Peter Handke ein ähnliches Buch. Aufschlussreich für die Welt von Olga Tokarczuk ist «Der liebevolle Erzähler» aber mit Sicherheit, denn Olga Tokarczuks Welt ist eine grosse, eine ganze, aber auch eine bedrohte, in seine Kleinheiten auseinanderfallende. 

«Die Welt ist ein Stoff, an dem wir täglich weben.»

Olga Tokarczuks Welt, ihr Stoff, ist ein grosser. Olga Tokarczuks Werk gibt einen grossen Blick frei auf eine Welt durch die Jahrhunderte. Sie weiss um die Macht der Sprache und warnt vor dem Abrutschen ins Banale. Literatur ist ein Blick hinaus. Und wenn sie sich nur noch der Nabelschau und Selbstreflexion bedient, bleibt sie auf dem Niveau von all den neuen Medien, die weder Nachhaltigkeit noch Nachhall besitzen. Olga Tokarczuk nimmt sich nicht wichtig, dafür nimmt man ihre Bücher, ihre Romane und Erzählungen nun endlich wichtig und gewichtig genug. In einer Welt, die sich von der Literatur immer weiter weg hin zu einem Markt bewegt, zu einer Kommerzialisierung, zu Planbarkeit und Einengung. Dabei soll Literatur leben, gedeihen, wachsen, sich erneuern. In einer Zeit, in der ein wilder Streit entfacht ist darüber, welche Informationen nun wahr sind oder nicht, kann die Frage aus der Öffentlichkeit, ob denn das wahr ist, was da geschrieben steht, bloss aufzeigen, wie sehr die Literatur von Kommerz und Instrumentalisierung bedroht ist. Wohl schöpft Literatur aus der Wahrheit, der Wahrnehmung. Was sie daraus macht, ist ihr frei. Literatur ist Kunst, ist Gestaltung, ist etwas Neues, etwas, was aus Erfahrung neue Horizonte generiert.

«Nur die Literatur ermöglicht es uns, tief in das Leben eines anderen Wesens einzudringen; dank ihr können wir dessen Beweggründe nachvollziehen, seine Gefühle, sein Schicksal durchleben.»

Olga Tokarczuk «Der liebevolle Erzähler» Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, Kampa, 2020, 144 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-311-10019-5

Olga Tokarczuks Blick auf die Welt ist ein liebevoller, ein sympathischer, aber auch ein kritischer, ein nach Ordnung suchender. Das zeigt auch ihr Essay über die schnell und leicht unterschätzte Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzer. Olga Tokarczuk macht sich in ihrem Essay, das sich unmittelbar an die Nobelpreisrede anschliesst, stark für ein Heer von Schreibenden, das die Welt schon mehrfach rettete, sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart. Was wäre die Welt ohne all die Übersetzer während der Abbasiden-Dynastie ab dem 8. Jahrhundert, die die Texte aus dem untergehenden Römischen Reiches ins Arabische übersetzte oder im Mittelalter, wo in Klöstern Heerscharen von Mönchen die Welt der Fremde zugänglich machten. 
ÜbersetzerInnen übersetzen nicht einfach. Wahrscheinlich gibt es keine genaueren LeserInnen als die Übersetzer. Menschen, die die Fähigkeit besitzen, sich ganz von einem Text durchdringen zu lassen, ihn ganz zu verstehen. Nur so kann es möglich sein, ein Buch auch in einer Fremdsprache zur Entfaltung zu bringen.

Vor zwei Jahrtausenden brannte die Bibliothek von Alexandria nieder. Damals vielleicht die wichtigste und bedeutendste Bibliothek. Als uns unser Geschichtslehrer während meiner Ausbildung vom Brand, vom Verlust dieser Bibliothek erzählte, begann er zu weinen. Er stand vor uns, gegen das Lehrerpult gelehnt und nestelte in den Tiefen seiner Hosentaschen, zog ein Taschentuch heraus, nahm seine Brille ab und wischte über Augen und Gläser. Wir sassen da, als hätte sich mit einem Mal der Schmerz einer ganzen Welt geöffnet. Der Mann damals wusste genau, was bei dieser Katastrophe an Welt verloren ging. Er wusste, dass in der Sprache ein Tor zu ganz vielen Welten liegt und dass sich dieses Tor für immer verschliessen kann. 
Olga Tokarczuk kämpft mit ihrem Schreiben dafür, dass sich mit den Katastrophen der Neuzeit die Tore zu ganz vielen Welten nicht verschliessen.

Und dabei nimmt sich Olga Tokarczuk selbst nicht wichtig. Sie ist und bleibt bescheiden und durch die Verleihung des Nobelpreises wahrscheinlich nicht in allen Belangen gut bedient. Das zeigt der vom Kampa Verlag selbst verfasste Text «Eine kleine Chronologie rund um die Literaturnobelpreisverleihung». Der Nobelpreis brach wie eine Tsunamiwelle in das Leben der Autorin ein. Aber weil Olga Tokarczuk Olga Tokarczuk ist, wird sie dadurch den Blick von oben auf das Ganze ebenso wenig verlieren, wie ihre Bodenhaftigkeit.

«Der liebevolle Erzähler» ist ein perfekter Einstieg in den Kosmos Olga Tokarczuk!

© Łukasz-Giza

Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten europäischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für «Die Jakobsbücher», in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie ausserdem den Man Booker International Prize für «Unrast», für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman «Der Gesang der Fledermäuse» stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Lisa Palmes, 1975 geboren, 1995–1996 Studium der Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in Wien, 1996–2001 Ausbildung zur Friseurin und anschliessende berufliche Tätigkeit in Wien und Berlin, 2001–2007 Studium der Polonistik und Germanistischen Linguistik in Berlin und Warschau. Seit Ende 2008 freiberufliche Übersetzerin für polnische Literatur, 2013 Mitorganisatorin der Gesprächsreihe mit polnischen Reportagenschreibern „Reportagen ohne Grenzen“ in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin.

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