Daniel Sonder «Liebe Sarah», Plattform Gegenzauber

Briefe haben die lästige Eigenart, einem erste Sätze abzuverlangen. Die beiden folgenden Varianten habe ich erwogen und dann verworfen:

(1) Wie du bereits bemerkt haben dürftest, ist ein Mail von mir zu dir gelangt. Ich habe dir geschrieben und soweit wir unseren Wahrnehmungen trauen können, bist du jetzt gerade dabei, es zu lesen.
(2) Noch ist nichts, zumindest, wenn davon abgesehen wird, dass «noch ist nichts» streng genommen nicht nichts ist. Inzwischen jedoch ist auf jeden Fall etwas.

Der Entscheid ist schließlich zugunsten dessen gefallen, was du bisher eben gelesen hast. Zu beachten ist, dass es immerhin um die ersten Sätze eines Briefes geht, der seinerseits ein erster ist von mir an dich. Sätze am Anfang bergen ein geradezu beängstigendes Zerstörungspotenzial. Schlagartig lassen sie Optionsräume von freiheitsrauschender Weite kollabieren zu erbärmlich engen Verschlägen, die auch noch den zaghaftesten Flügelschlag verwehren. Nur sind sie, sofern überhaupt etwas gesagt werden soll, kaum zu vermeiden, die ersten Sätze. Denn – müßig darauf hinzuweisen – Sätze über erste Sätze sind, so sie denn am Anfang stehen, auch erste Sätze.

Dir wird nicht entgehen, dass ich mich ein bisschen winde, bemüht bin, möglichst keine Gestalt anzunehmen, in der Gegend herumschillere und gleichsam zur Gasförmigkeit tendiere. Ich bitte um Nachsicht, da ich ja absolut null Ahnung habe, wie du diesem Brief, der nun real geworden ist, gegenübergestanden hast, solange er bloß als unscheinbarer Keimling im Raume der Möglichkeiten vor sich hindämmerte, d. h. während der Zeitspanne zwischen der Bekanntgabe deiner Mailadresse und jetzt. Restlos offen für mich die Frage, ob du meine Aussage, ich würde dir schreiben, gleich wieder vergessen hast oder seither mit hoher Frequenz deine Mailbox einsiehst, hoffend oder fürchtend, da könnte was von mir drin liegen, oder ob dir die beiden Alternativen gleichwertig sind, du aber neugierig bist, welche eintreten würde, oder ob nicht mal das oder einfach gar nichts. 
Aber genug nun des Herumdümpelns in seichten Gewässern, hinaus aufs offene Meer und hinabgehorcht in die dunklen Tiefen (Schaumkronen an der Oberfläche werden ignoriert, mögen sie auch Inspiration versprechen).

Folgendem Tagtraum habe ich mich neulich hingegeben: zu zweit loszufahren mit dem Auto Richtung Sizilien, Gibraltar, egal, wohin auch immer. Dabei kein Gedanke an die gängigen Zwecke einer solchen Reise. Weder ginge es darum, sich durch Kunst und Kultur beeindrucken zu lassen, noch um das Erleben kulinarischer Höhenflüge und ebenso wenig auch um Faulenzereien am Strand. 
Nein, Ziel wäre das Unterwegssein, das Niemandsland der Autobahnen. Von einer Kapsel umfangen, gleichsam in uteraler Geborgenheit durch die Welt zu gleiten in dieser drin und doch ihrem Zugriff entzogen. Auf sich selbst zurückgeworfen und darin miteinander verbunden zu sein. Sich dann Geschichten zu erzählen, erlebte und erfundene, Debatten zu führen, es eskalieren zu lassen, zu streiten, Einblicke zu gewähren und Ausblicke zu entwerfen, verlegen zu werden, zu lügen und sich dazu zu bekennen, sich zu fürchten, sich geborgen zu fühlen, sich zu berühren (gutesittenkonform – oder auch nicht), zu lachen und zu weinen, Rätsel zu lösen, zu tratschen, zu dösen, zu schweigen, dem anderen vorzulesen, aufschäumendes Cola zum Mund zu führen, den Vorder- oder Hintermann Arschloch zu nennen, Kaffee reinzukippen in verlassenen oder belebten Raststätten und gleich weiterzuziehen, zu fragen, was das alles überhaupt soll etc. – darum ginge es und das ausgedehnt und sich erstreckend, eindringlich und verwandelnd.

Was ist das? Eine Fantasterei, kultiviert und zur Blüte gebracht neulich allein im Auto auf einer langen Fahrt nach Hause. Der Urheber: ein verhinderter Romantiker, dem bisweilen ein Mutschub beschieden ist, der ihn sein Haupt erheben lässt, hinaus über die Schatten werfenden Mauern des Zynismus und der Melancholie. Ein flüchtiges Gebilde zunächst, umlauert von Zweifeln, in labilem Gleichgewicht, am Rande der Auflösung. Jetzt aber zu Papier gebracht, von Sarah gelesen und damit nun auch in ihrem Bewusstsein.
Beizufügen bleibt, dass ich beim Personal dieser Reise an dich und mich gedacht habe.

Zurück in unserer Stadt (ich unterstelle mal, dass es so weit kommen würde) ginge es dann so weiter: Es ist Nacht, schon spät, kaum jemand ist mehr unterwegs. Wir befinden uns auf der Brücke, dort, wo der See in den Fluss übergeht, und haben heiße Marroni dabei. Kalt ist es und der Wind lässt uns die Schultern hochziehen (auch wenn jetzt alles von Frühling labert). Kauend stehen wir ans Geländer gelehnt, schmeißen die Marronischalen in die träge Strömung unter uns und sinnieren darüber, wie weit sie wohl kommen würden, bevor sie der Zersetzung anheimfallen. Dann ein leises Lächeln auf dem Gesicht von einem von uns beiden, das, vom anderen wahrgenommen, auch diesen erheitert, und Augenblicke später, tief in der Nacht, mitten zwischen den Ufern, zwei dunkle Gestalten, durchgeschüttelt von tief entspringenden, machtvollen Eruptionen der Ausgelassenheit – und es war gut, dort auf der Brücke.

Eins wissen wir nun mit Bestimmtheit: Diese Geschichte wird sich so nicht zutragen, aber Unmengen besserer haben noch jede Chance, erlebt statt erzählt zu werden (ich glaube, dass, wenn man sich etwas nur genügend intensiv ausmalt, es sehr unwahrscheinlich wird, dass es so auch tatsächlich eintritt. Es ist, als hätte es durch seine starke mentale Präsenz seinen Seinsanspruch bereits erschöpfend eingelöst. Also sollte man sich hüten, Wunscherfüllungen innerlich vorwegzunehmen – aber wie das?).

Magst du noch, Sarah? Du musst! Denn jetzt kommt noch etwas ganz Wichtiges: Damals im Anschluss an den Film, du weißt schon, habe ich dich wissen lassen, dass ich mir bisweilen unsicher wäre darin, ob deinen Nöten eher sachlich-analytisch, nach Lösungen suchend zu begegnen sei oder ob es nicht viel passender wäre, dich einfach mal in den Arm zu nehmen. Du hast dann entgegnet, dass du umarmt augenblicklich haltlos zu weinen beginnen würdest. Seither, Sarah, möchte ich dich in den Arm nehmen, damit du weinst, so lange und heftig, wie es deiner Traurigkeit gemäß ist. Ich würde dich festhalten, bis dass du ausgeweint hast und nichts mehr zu weinen übrigbliebe. Und dann würden wir ein üppiges Mahl zu uns nehmen und Wein trinken und du würdest mir begeistert von irgendwelchen schicken, zum Kaufe reizenden Schuhen erzählen.

So, jetzt hast du was zu hören gekriegt und ich würde allerhand geben für ein Guckloch in deinem Kopfe mit meinem Auge ganz nahe dran. Denn was weiß ich schon? Gerade mal so viel, dass kein Zweifel besteht, dass ich noch mehr wissen möchte.

Mit liebem Gruss W.

Daniel Sonder, 1952 geboren in Chur, studierte Psychologie und Philosophie in Zürich. Im Anschluss war er viele Jahre in der Softwareentwicklung tätig. Das Schreiben, mehr oder weniger im Verborgenen, beschäftigt ihn schon lange. Mit dem Roman «Der Schönschreiber» tritt er nun erstmals an die Öffentlichkeit. Daniel Sonder ist Vater von drei erwachsenen Töchtern und lebt in Meilen am Zürichsee.

Interview mit Daniel Sonder auf literaturblatt.ch von Urs Heinz Aerni

Peter Höner «HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt», Edition Howeg

Der neue Roman „HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt“ von Peter Höner ist ein gewagter, frivoler und sehr eigenwilliger Roman eines Autors, der sich weder schubladisieren noch von den gegenwärtigen Strömungen beirren lässt. Ein irisierendes Kunstwerk, das tut, was nur Kunst kann; imaginieren!

Salvador hat die Pflichtschulzeit hinter sich und erst einmal genug von Zwängen, Stundenplänen und Pflichten. Er sitzt zuhause in seinem Zimmer, nur durch eine Tür von seiner Mutter entfernt und huldigt seiner Spielleidenschaft an Tastatur und Konsole. Bis sich HG neunzehn meldet, die Stimme aus dem Off, und ihn nach Frankreich auf ein Schloss lockt. Eine Reise beginnt, eine Reise zwischen die Wirklichkeiten.

Dem Roman vorangestellt ist die Frage «War ich jemals wirklich wach?». Liest man Peter Höners neusten Roman mit dieser Frage im Kopf, ist der Text genau das: die dauernde Suche nach den Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen analog und digital, zwischen real und künstlich. Salvador, der Gamer, hat ganz offensichtlich Mühe, die verschiedenen Welten auseinander zu halten. Sind es Traumzustände, die ihn halluzinieren lassen oder spielt die Realität Katz und Maus mit einem der nicht mehr zu unterscheiden weiss? Wer ist der geheimnisvolle Absender HG neunzehn, der stets zu wissen scheint, wo Salvador ist, der ihm stets so viel digitale Brosamen vor die Füsse wirft, dass Salvador die Flinte an diesem rätselhaften Ort nicht ins Korn wirft.

Seltsame Figuren begegnen ihm, ein Schloss voller Figuren, manchmal real, manchmal in seltsamer Ferne, manchmal von einer anderen Welt. Auf dem Nachbargrundstück, das hinter einer hohen Mauer nur durch eine verborgene Lücke zu erreichen ist, tummeln sich noch viel fremdere Gestalten; Kleinwüchsige mit putzigen Kappen, eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren oder grosse Hunde mit rollenden Augen, auf denen man reiten kann.

Nach seinem beim Limmat Verlag erschienen Krimi «Kenia Leak» bewegt sich Peter Höner in einer diametral anderen Ecke des Erzählens. Was im Krimi einer Logik zu folgen hat, sprengt in seinem neuen Roman fast alle Grenzen. Was im Krimi nie über die Grenzen der vorstellbaren Realität hinauswachsen sollte, ist in HG neunzehn völlig losgelassen. Peter Höner fabuliert, schwadroniert und legt ebenso verwirrende Fährten wie HG neunzehn mit seiner digitalen Schnitzeljagd. Wer bereit ist, sich bei seiner Lektüre auf ein Abenteuer einzulassen, ist bestens unterhalten, reichlich belohnt.

Peter Höner schwelgt in Bildern, so als hätte er für dieses Buch allein einer Gamewelt erschaffen; klar realistisch erscheinende Bilder, die sich mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernen. Nicht einmal die Grenzen des Lebens, das Sterben und der Tod sind für diesen Ritt von einem «Level» zum nächsten unüberwindbar. Es wird in kleinen und grossen Toden reichlich gestorben, üppig und cineastisch. Da stellt sich die Frage durchaus, ob man je wach war, er während des Schreibens, ich während des Lesens, wir während des Lebens. Aber Literatur soll und muss sich nicht begrenzen lassen, darf Grenzen lustvoll überschreiten. Und das tut Peter Höner in jugendlicher Frische, als hätte er in dieses Buch alles hineinbringen wollen, was er schon längst einmal beabsichtigte; grenzenloses Sprachspiel.

Ein paar Fragen an den Autor:

In einem Alter, in dem sich andere Autoren in ihrem „Spätwerk“ noch einmal von grossen Gefühlen einholen lassen, tust du das auch. Aber ganz anders. Zumindest ich spüre bei der Lektüre deine Lust, deine Schreibfreude, deinen Schalk und deine Absicht, jetzt erst recht mit der „grossen Kelle“ anzurühren. War dieser Roman auch eine Befreiung?

Die Befreiung besteht wohl in erster Linie darin, dass die Geschichte von Salvador erzählt und geschrieben ist. Ich habe mehr als zwanzig Jahre daran gearbeitet, nicht ununterbrochen, in den zwanzig Jahren sind ja noch andere Bücher entstanden, aber immer wieder, weil mich der Stoff nicht losgelassen hat, weil ich dem Schelm Salvador nicht Meister wurde.

Salvador Patrick Fischer ist jung, hormongesättigt und lebt in einer Welt zwischen Realität und Digitalem. Der Mutter gelingt es längst nicht mehr, den Sohn von der Konsole zu locken. Als Schriftsteller mit Jahrgang 47 nicht unbedingt jene Welt, die man ihm am nächsten stellt. Steckt da eine Spielernatur oder ist dieses Buch nach langer Recherche durch die digitale Welt entstanden?

Vor zwanzig Jahren haben mich die Bilder und Welten der frühen Computerspiele tatsächlich zum Spielen verleitet, ich wollte dahinterkommen, wie so etwas gemacht wird, und ich fand dieses interaktive Geschichtenerzählen so spannend, dass ich es gern beherrscht hätte. Mit ein paar Schriftstellerkollegen habe ich 2002 sogar ein Projekt für die Schweizerische Landesausstellung eingegeben, in dem die Besucher als Avatare mitspielen konnten. Eines der vielen Projekte, das dann aber nicht realisiert wurde.

Noch vor zwei Jahrzehnten hätte ein Buch „Der sonderbare Ausflug in die digitale Welt“  geheissen. Dein Roman ist ein Roadtripp über die Realität hinaus, die Reise eines Nerds weg von der Konsole, begleitet nur von Herbert, seinem personifizierten Mobilephone. Dein Roman ist keine Warnung über die Auswirkungen von Spielsucht oder Weltentfremdung. Was war die Urmotivation, dieses Buch zu schreiben?

1998 besuchte ich meinen Cousin in Frankreich, der sich vorgenommen hatte, einen überwucherten Park eines Schlosses zu restaurieren. Doch  Schloss, Park, Ruinen, Orangerie, alles, was zu diesem Schloss gehörte, waren Träume eines Neureichen, der sich einen Adelssitz bauen liess, um mehr zu scheinen, als er war. – Doch von diesen Scheinwelten zu Salvadors sonderbarem Ausflug gab es mehr als einen Umweg.

So wie die digitale Welt Bilder erzeugt, tat es auch immer wieder die Kunst, die Literatur, die Malerei. In deinem Roman werden sogar Bilder lebendig, so wie „Die Sünde“ von Franz von Strunk, eine Femme fatale mit grossen Augen und viel reizender Haut. Eine Frauenfigur, die dem umherirrenden Salvador Patrick Fischer rätselhafte Begleiterin ist. Du reisst alle Grenzen nieder, machst dich auf in eine Welt zwischen Wachtraum, Realität und Künstlichkeit. Du schreibst auf einem Berg, über allem, mit Sicht bis weit in die Berge. Abgehoben?

Nein, abgehoben ganz bestimmt nicht. Salvador ist weder überheblich, noch besonders brillant, ein Schelm, unerfahren, neugierig und mit einer Aufgabe überfordert, die er erst im allerletzten Moment versteht. Ein Opfer dieses rätselhaften HG 19.

Das Buch ist nicht nur inhaltlich eine Besonderheit, sondern auch optisch und haptisch: Mehrfarbig gesetzt, mit blauer Fadenheftung gebunden, das Cover von einer eigenwilligen Künstlerin (Manuela Müller) illustriert. Warum nicht mehr bei deinem Stammverlag?

Eine der Geschichten, die im Roman vorkommen, wurde schon unter dem Titel „Die indische Prinzessin“ in der Edition Howeg veröffentlicht, da war es naheliegend mit dem Roman bei Thomas Howeg anzuklopfen, gerade weil sein Verlag für Besonderheiten, respektive schöne Bücher, berühmt ist. 

Peter Höner, 1947 in Winterthur geboren, studierte an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg, war Schauspieler u.a. in Hamburg, Bremen, Berlin, Basel, Mannheim und Baden. Seit 1981 ist er freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. 1986 bis 1990 Afrikaaufenthalt, 1997 – 2000 Präsident der Gruppe Olten, von 2000 bis 2004 wohnhaft in Wien, seit Mai 2004 wieder in der Schweiz. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern fast ausschliesslich im Limmat Verlag erschienen.

Ich danke der Künstlerin Manuela Müller für die Erlaubnis, das von ihr geschaffene Coverbild verwenden zu dürfen. Webseite der Künstlerin

Webseite des Autors

«Aufs Land gezogen» von Michèle Minelli und Peter Höner auf der Plattform Gegenzauber

Rezension zu «Kenia Leak» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Davide Enia «Schiffbruch vor Lampedusa», Wallstein

In den letzten Jahren sind Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken und ein Vielfaches davon Traumatisierte. Das sind Zahlen, Statistiken, die niemals widerspiegeln, was in jeder einzelnen dieser menschlichen Katastrophen durchlebt werden muss. Davide Enia ist mit «Schiffbruch vor Lampedusa» so nahe an die Schicksale herangegangen, wie es Respekt zulässt. Ein Buch, das Fakten und Zahlen pulverisiert und die durchlittenen Schicksale vieler ganz nah an ein inneres Auge lässt.

Wir kennen Fotos und Reportagen. Manche sind tief eingebrannt, unauslöschlich bis in die Träume hineingemischt. Und doch ist es das Wort und nur es, das es schafft, mehr als nur einen Eindruck zu stempeln. Wenn Menschen erzählen. Von ihrem Zuhause, das sie zurücklassen, ihren Familien und Freunden, einer Heimat, die sich hinter ihnen verschliesst. Von der langen Reise, den Schleppern, der Angst, den Misshandlungen, der rohen Gewalt. Von den langen, wortlosen Märschen durch die Wüste, vorbei an jenen, die für immer liegenbleiben. Vom langen Warten in Lagern, der Willkür jener, die die Macht besitzen, von Vergewaltigungen und Folter. Von den endlosen Fahrten in einem überfüllten Schlauchboot, dem langsamen Sterben, dem Hoffen auf Rettung. Vom Ertrinken, vom Verdursten, vom Wahnsinn und dem Auftauchen eines Schiffes. Von den Männern und Frauen, die ihnen bei diesem einen Schritt ins Boot, auf den Steg, auf die Mole helfen und der Odyssee die mit der Rettung erst beginnt. Von den Flüchtenden und den Rettern, den Kapitänen und Rettungstauchern, Traumatisierten wie nach einem Krieg, Mensch gegen Mensch.

© Francesco Enia

«Auf See gibt es kein Abwägen von Alternativen, jedes Leben ist heilig. Und wer Hilfe braucht, dem wird geholfen.»

Die nicht einmal zehn Kilometer lange Insel Lampedusa, mitten im Mittelmeer zwischen Tunesien und Sizilien, einst eine freundliche Touristeninsel mit nicht einmal 5000 Einheimischen, ist seit dem Arabischen Frühling die erste vorgelagerte rettende Insel auf einer unsäglich langen, für uns Europäer kaum nachvollziehbaren Flucht. Zehntausende schaffen es auf lausigen Booten über das Meer, ohne Essen, ohne Trinkwasser, meist auch mit viel zu wenig Treibstoff, hoffen auf Rettung, auf einen Funken Zukunft. Tausende schaffen es nicht, fast ausnahmslos junge Menschen, denn nur ihnen ist eine solche Strapaze zuzumuten. Kinder, schwangere Frauen, Säuglinge in den Armen ihrer Mütter.

«Ich weiss nicht, weshalb ich überlebt habe. Ich bin einer der letzten fünf, der diese Leute lebendig gesehen hat, und trotzdem wüsste ich nicht, wie ich ihren Familien, den Dorfbewohnern gegenüber ihren Tod schildern sollte. Ich war erst siebzehn Jahre alt.»

Davide Enia wollte sich selbst ein Bild von der Situation machen, jenen eine Stimme geben, die sich auf der Insel um die Gestrandeten bemühen, alleine gelassen von Politik und Bürokratie. Einheimische, die nach einem ersten Schock teilen, was sie haben, die ebenso wenig wissen wie ihnen geschieht, wie all jene Hoffnungslosen, die nach dem Ausgestandenen in metallic schimmernden Wärmedecken an der Mole sitzen. Er besucht Freunde auf der Insel, zusammen mit seinem Vater, einem ehemaligen Kardiologen, der fotografiert (-> Fotos zum Text!). Es spricht der Rettungstaucher, den Davide Enia nur den «Samurai» nennt, ein Mann, aus dessen Gesicht tausend Schicksale sprechen. Ein Mann, der den Schrecken, das Elend, den Tod wie eine unsichtbare Kette um den Hals mit sich herumträgt. Es sprechen aber auch alle die liegengebliebenen Dinge in den verlassenen Booten, die die Einheimischen in einem leeren Haus wie in einem Museum sammeln.

© Francesco Enia

«Meine Freunde sind alle da draussen.»

Davide Enia berichtet und erzählt und gibt den Menschen eine Stimme. Auch wenn er die Flüchtenden nur selten sprechen lässt. Was Gesichter, die Blicke, das Leid im Leben der Rettenden hinterlassen, genügt. Und weil der Autor gleichzeitig von seiner Familie erzählt, der Annäherung an seinen wortkargen Vater und seinen sterbenden Onkel, weil es auf beiden «Schauplätzen» um Heimat, Entfremdung und darum geht, ob man diesen einen, unsagbar grossen Schritt wagt, sind die Schilderungen in «Schiffbruch vor Lampedusa» erträglich. Davide Enia nähert sich behutsam, genauso wie sein Vater mit dem Objektiv.

Lampedusa, «europäisches» Territorium, gehört eigentlich zum afrikanischen Kontinent. Die Flucht ist noch lange nicht ausgestanden, auch wenn die Geflohenen mit letzter Kraft den Boden unter ihren Füssen küssen. Entkommen sind sie noch lange nicht.

© Francesco Enia

Warum ein solches Buch lesen? Weil Davide Enia etwas schafft, was angesichts der Zahlen, Statistiken, Fakten und endlosen politischen Debatten unsichtbar wird; der Schrecken, die Menschen, die Schicksale und die Tatsache, dass niemand einen solchen Fluchtweg riskiert, der nicht radikal in seiner Existenz bedroht ist. Dabei von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen, ist angesichts der Lebensqualität von Millionen Europäern ein Hohn.

Davide Enia, geb. 1974, ist Dramatiker, Schauspieler und Autor mehrerer Romane. Für seine dramatischen Texte, die er teilweise selbst inszeniert und aufführt, hat er bedeutende italienische Theaterpreise gewonnen. Sein erster Roman «Così in terra» (2012) wurde in bisher achtzehn Sprachen übersetzt.

© Tony Gentile

Nachwort: Albert Ostermaier

Die Übersetzerin Susanne Van Volxem, geboren 1965, ist Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Sie lebt mit Mann und Kind in Frankfurt am Main. Olaf Matthias Roth, geb. 1965, studierte Romanistik und Germanistik. Er übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, außerdem arbeitet er als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Kiel.

Webseite des Autors

Alle Fotos © Francesco Enia / Webseite

Ich danke Francesco Enia für die freundliche Erlaubnis, seine Fotos in meinen Text einfügen zu dürfen!

John Ironmonger «Der Wal und das Ende der Welt», S. Fischer

Man findet ihn nackt am Strand, nicht weit von St. Pirat, einem kleinen Fischerdorf in Cornwall. Ein junger Mann, dessen Auto im Dorf am Hafen steht – nackt. Wenig später strandet am selben Strand ein Wal, ein Finnwal. Und ausgerechnet dieser junge Mann, Joe Haak, ist es, durch dessen Initiative es das kleine Dorf schafft, den Riesen zurück ins Meer zu schaffen. Es ist der Beginn einer Geschichte, die das Ende des Ganzen bedeuten kann.

«Der Wal und das Ende der Welt» ist wieder ein Buch, das ich nicht gelesen hätte, wäre es nicht in einer meiner Leserunden, die sich zehn Mal im Jahr trifft, vorgeschlagen gewesen. Ich mochte den Titel nicht, was sich auch nach dem Ende der Lektüre nicht geändert hatte. Ich mag weder Filme noch Bücher, die den Untergang der Welt mit der grossen Kelle inszenieren. Und schon gar nicht solche, die im Titel zu viel verraten. Nichts gegen Dystopien, die in den letzten Jahren zu einer eigenen Gattung geworden sind und sich mit Romanen wie «The road» von Cormac McCarthy ins Bewusstsein von Lesenden eingebrannt haben. Aber «Der Wal und das Ende der Welt» überraschten und belohnten mich.

Joe Haak ist Analyst einer Londoner Bank, die sich darauf spezialisierte, dann die grossen Gewinne zu verzeichnen, wenn alle andern in Panik ihre Aktien abstossen. Zusammen mit einem Team entwickelt er «Cassie», ein Programm, das mit Hilfe von Algorhithmen aus dem Meer von Netzinformationen Vorhersagen generiert, die die Bank stets einen Schritt voraus reagieren lassen. Ein Programm, das riesige Gewinne erzielen soll. Aber als dem jungen Mathematiker bewusst wird, welche Auswirkungen ein solcher Rechner haben kann und erste Ergebnisse ihn das Fürchten lehren, kappt er das Wenige, was ihn in jener Welt hält, fährt los bis zu dem kleinen Fischerdorf, an dem die Strasse am Meer endet.

In das kleine Fischerdorf, in dem man an nur ganz wenigen Stellen eine Internetverbindung findet, in dem Jon Haak als Retter des Wals vom ersten Tag an als Fremder einen Sonderstatus innehat, dringen immer mehr Meldungen vor, wie eine Grippepandemie das globale Gleichgewicht durcheinanderbringt. Und weil Joe Haak mehr weiss als alle anderen im Dorf und er ein Versprechen mit sich herumträgt, kauft er mit dem, was er auf seinem Bankkonto verflüssigen kann, einen Nahrungsmittelvorrat, den er mit Hilfe von Eingeweihten im Turm der Kirche des Dorfes einlagern kann. Lebensmittel für 300 Dorfbewohner, die ein paar Wochen Aufschub leisten können. Während sich ein globales Desaster wie ein Flächenbrand auszubreiten beginnt, rüstet sich ein Dorf an der Küste gegen die drohende Anarchie nach einem «Kollaps».

«Der Wal und das Ende der Welt» ist zum einen die Geschichte dieses jungen Mannes, der die Büchse der Pandora öffnete und jene eines kleinen Dorfes und ihrer Mechanismen. Ein Buch über Hoffnung und Ängste, dass sich Menschlichkeit und Unmenschlichkeit nicht vorhersagen lassen. Ein grosser Teil des Buches beschreibt jene Wochen, in denen sich der Analyst Joe Haak zusammen mit dem Pastor Alvin Hocking in der Kirche nach dem Kontakt mit einer an der Grippe Sterbenden einschliessen, eine selbst gewählte Quarantäne. Der Mathematiker und der Theologe, beide Hüter von Geheimnissen, Analysten der Zukunft. Während sie hoffen und bangen, in den kommenden Tagen nicht von der aggressiven Grippe oder einer anderen Welle der Gewalt dahingerafft zu werden, entwickeln sich zwischen all den Kisten, Schachteln und Säcken voller Nahrungsmittelvorräte Gespräche über Existenzielles. Ein fein komponiertes Kammerspiel einer Annäherung.

Urteil der Leserunde: 4 Stimmen sind angetan bis begeistert. 2 Stimmen gaben beim Lesen auf.

«Der Wal und das Ende der Welt» ist bestens erzählte Unterhaltung, gütlich das Ende, von einem Optimisten geschrieben.

John Ironmonger kennt Cornwall und die ganze Welt. Er wuchs in Nairobi auf und zog im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern in den kleinen englischen Küstenort, aus dem seine Mutter stammte. John promovierte in Zoologie; nach Lehraufträgen wechselte er in die internationale IT-Branche. Schon immer hat er geschrieben; seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt. Inspiriert zu «Der Wal und das Ende der Welt» haben ihn unter anderem die biblische Geschichte von Jonas und dem Walfisch, das Werk des Gesellschaftsphilosophen Thomas Hobbes, Jared Diamonds Sachbuch «Kollaps» und viele andere Quellen der Phantasie und des Zeitgeschehens. John Ironmonger lebt heute in einem kleinen Ort in Cheshire, nicht weit von der Küste. Er ist mit der Zoologin Sue Newnes verheiratet; das Paar hat zwei erwachsene Kinder und zwei kleine Enkel. John Ironmongers Leidenschaft ist die Literatur – und das Reisen auf alle Kontinente.

John Ironmongers Blog

Eine Empfehlung für einen wunderschönen Sommerabend am Bodensee: «Haus zum Schiff«, ein mit viel Herzblut geführtes Restaurant direkt am See.

Beitragsbild © Andrew Richardson

Andreas Neeser «Mücken», Plattform Gegenzauber

Manchmal bin ich ausser Haus. Mitten am Tag, eine halbe Stunde, öfter abends, wenn die Mücken tanzen im Schwarm. Ich gönne mir diese kleinen Abwesenheiten, ich geniesse sie mittlerweile ohne schlechtes Gewissen. Ein kurzes Austreten, eine Art Ausgang. Wenn mir danach ist, trete ich aus mir heraus, gehe ein paar Schritte, flusswärts, bis mir leichter wird, oder hinauf zum Waldrand, immer den Mücken nach. Die Nachbarn grüssen mich, als kennten sie mich, und ich grüsse zurück, obwohl sie keinen Namen haben. Früher stand es mir auf der Stirn, von weitem sichtbar, ich ging wie ein Aus-, wie ein Ausserhäusiger, auffallend licht. Längst habe ich gelernt, mich so zu verlassen, dass keinem von uns beiden etwas anzumerken ist, nicht dem Hausherr, nicht dem Spaziergänger. Wir sind absolut unverdächtig, und es stimmt, wir haben eben noch Kaffee getrunken, Wäsche aufgehängt, die Nägel geschnitten, gleich werden wir einkaufen, guten Tag, Frau Martello – und Ihnen? Die Gewissheit, auch dann als der zu gelten, der ich war, wenn ich es nicht mehr bin, macht es mir leicht, aus dem Haus zu gehen, zur Brombeerhecke, über die klingende Kuhweide, ins sumpfige, sirrende Gehölz, wo die Schwärme tanzen bis spät in den Abend, bis weit in den Herbst. Trotzdem behalte ich es für mich, wenn ich so gehe, aus Vorsicht, aus einer nicht zu verlernenden Ängstlichkeit heraus, vielleicht.

Und dann tanzen sie, am Fluss, am Waldrand, zu Hunderten. Etwas grundloses Leichtes lässt sie schweben, lose gewirkte, von innerster Absichtslosigkeit gehaltene Lebenspunkte, dunkles, taumelndes Textil. So tanzen sie, so tanzen sie mir vor. Mehr ist da nicht.

Manchmal erschrecke ich, wenn ich mich auf dem Rückweg durch die Dorfgassen in einem der sauberen Fenster sehe. Ich zögere einen Moment, bleibe stehen. Es ist jedesmal erstaunlich, wie wenig ich auf mich gefasst bin, auf den, der ich immer auch bin, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Als schaute ich mich von aussen an, das eigene Haus. Ein unauffälliger Blick auf die unauffällige Fassade. Seltsam, heimzukommen, selbst nach so kurzer Abwesenheit, einzutreten in sich selbst wie in ein Gebäude, und so viele Zimmer, über und über voll mit abgewohntem Leben.

So komme ich zurück, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Schritt für Schritt, mit wechselndem Mut, gehe ich auf mich zu. Aber wenn ich über die Schwelle trete, bin ich so voll und so leicht, ich könnte schweben. Und ich seh sie, von innen, ich hör sie, sie singen im Ohr.

Andreas Neeser
«Zwischen zwei Wassern»
Roman
Haymon Verlag Innsbruck 2014

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Langjährige Unterrichtstätigkeit an der Alten Kantonsschule Aarau. 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Seit 2012 lebt Andreas Neeser als Schriftsteller in Suhr bei Aarau.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.
Ein neuer Roman erscheint im Januar 2020 im Haymon Verlag Innsbruck.

Rezension zu Andreas Neesers Mundartliteratur auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Éric Vuillard «14. Juli», Matthes und Seitz

14. Juli: Frankreich feiert seinen Nationalfeiertag mit Paraden, Glanz und Glorie, mit viel Militär, gibt sich macht- und selbstbewusst. Dabei war der 14. Juli 1789 genau das Gegenteil; der Untergang der Aristokratie, jener Kulminationspunkt, der mit dem Sturm auf die Bastille gipfelte und erst im in der Folge das werden liess, was sich heute Französische Revolution nennt.

Am 15. April dieses Jahres brannte Notre Dame in Paris und die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Am 14. Juli vor 240 Jahren brannte die Bastille, ein Bollwerk königlicher Macht. Nicht durch einen unglücklichen Umstand, sondern weil sich ein überschäumender Strom von Menschen durch die Strassen von Paris wälzte, hungrig, zornig, aufgeladen, mit der Absicht, keinen Stein auf dem andern zu lassen, schon gar nicht jene Steine, die die Massen hungern liessen, während der Adel sich hinter Mauern verlustierte. Frankreich war hoffnungslos verschuldet, der Staat drohte, sich mit wehenden Fahnen in den Bankrott zu reiten, während man die Löhne jener Arbeiter kürzte, denen das Geld so schon nicht mehr zum Leben reichte.

Während sich der Hof in Versailles, dieser Moloch aus gepuderten Günstlingen, Zubringern, Dienstboten, Glückssuchern, Profiteuren und Gaunern ganz dem Moment hingab und sich der Monarch in Gottes Gnaden suhlte, kochte und brodelte in der unkontrolliert gewachsenen Grossstadt Paris, damals wahrscheinlich eine der grössten Städte der Welt, das Volk. Versailles, heute strahlende Sehenswürdigkeit, mit seiner ebenso pompösen wie monströsen Infrastruktur war nicht nur riesiges Macht- und Kulturzentrum, sondern ein Abgrund, in dem sich Biographien verloren, Menschen verschwanden, die Dekadenz wilde Feste feierte und Reichtum und Armut Wand an Wand existierten.

Éric Vuillard schildert diesen einen Tag, schrieb mit «14. Juli» ein literarisches Denkmal. Nicht für Frankreich, keine Kulisse für die Paraden auf den Champs-Élysées, nicht für die wieder erstarkte Aristokratie, nicht für Eliten und Prominenz, sondern für all jene, die auch nach diesem Buch, trotz aller Geschichtsschreibung namenlos bleiben, die sich in der Verzweiflung über ein Leben ohne Perspektive mitreissen liessen, die Spiesse, rostige Scheren, Stuhlbeine und Mistgabeln mitnahmen, um ihrem grenzenlosen Unmut Luft zu verschaffen.

Éric Vuillard kann etwas, was ganz eigen ist. Er schreibt Literatur, die Geschichte zum Angelpunkt macht. Obwohl er sich chronologisch an die Geschehnisse jenes Tages hält, ist sein Blick weder wissenschaftlich noch historisch. Er widmet sich jenem Tag, dem Moment, als Tausende starben, unschuldig, im falschen Moment am falschen Ort, als das Chaos die Monarchie zum Sturz brachte, unsägliches Kulturgut ein Raub der blanken Zerstörungswut, die Anarchie der Beginn einer neuen Zeitrechnung wurde. Éric Vuillard beschreibt meisterhaft, mit welch kümmerlicher Arroganz sich die herrschende Elite dem aufgewühlten und euphorischen Mob entgegenstellte und bis zuletzt glaubte, man könne die Revolution mit einem weissen Spitzentaschentuch, Verhandlungen und militärischer Macht aufhalten oder wenigstens in kontrollierbare Bahnen lenken.

Der Autor glorifiziert nichts und niemanden, nicht einmal jene, die aus dem Moment zu «Helden» wurden. Éric Vuillard malt mit starken Farben, kraftvollen Sätzen und einer Eindringlichkeit, die mich als Leser bis ins Mark erschüttert. Was damals geschah, geschieht immer wieder. Weit weg in Venezuela und latent mit gelben Westen ganz nah. «14. Juli» ist perfekter Geschichtsunterricht!

© Melania Avanzato

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er grosse Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für «Die Tagesordnung» den renommierten Prix Goncourt.
Nicola Denis, 1972 geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

Alina Bronsky «Der Zopf meiner Grossmutter», Kiwi

Alina Bronsky erzählt mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Der Roman über eine russische Flüchtlings- und Patchworkfamilie in Deutschland sprüht vor Leidenschaft in alle erdenklichen Richtungen, verbindet Witz und Schalk mit hintergründigen Zwischenmenschlichkeiten.

Der kleine Max kommt mit seinen Grosseltern als Kontingentflüchtling in einer deutschen Kleinstadt an. Er lebt zusammen mit ihnen auf engstem Raum in einem ehemaligen Hotel und kommt nur zaghaft in Kontakt mit der neuen Welt, weil die Grossmutter den scheinbar kränklichen Enkel vor allem Unbill, sei er auch noch so an den Haaren herbeigezogen, schützen will. Grossmutter ist überzeugt, dass der kleine Wurm vor der Welt geschützt werden muss, damit er sich an ihr nicht verätzt, verbrennt, verliert und verwundet. Selbst der Grossvater hat das Aufbegehren längst eingestellt, verliert, wenn er zuhause ist, kaum ein Wort, weiss, dass er gegen die Allmacht und das Allwissen seiner dominanten Frau nichts auszurichten hat, zumindest in den vier Wänden des engen Zuhauses.

In der gleichen Siedlung, auf Sichtweite, zieht Nina ein, auch aus Russland, zusammen mit ihrer Tochter Vera, die gleich alt wie Mäxchen ist, nur eben nicht missraten, kein kleiner Scheisser, kein Schrumpfkopf oder Krüppel. Grossvater steht am Fenster und schaut, für seine Frau ein Indiz, dass auch ihr Mann dem Wahn im fremden Land verfallen ist. Er bleibt immer öfter fern. Zum einen, weil er es ist, der eine Arbeit findet, zum andern, weil er die Nächte viel lieber auswärts bei der zarten Frau in der Nachbarschaft verbringt. Maxens Grossmutter nimmt es hin, so wie sie es überhaupt versteht, die Welt nach ihrem Gutdünken zu interpretieren oder gar zu drehen. Sie weiss, wie alles funktioniert, niemand macht ihr etwas vor, schon gar nicht der nichtsnutzige Enkel, den sie an jedem Tag seines kurzen Lebens vom Tod errettet hat.

Selbst als Nina schwanger wird und ein Kind zur Welt bringt, selbst als alles an dem kleinen Wicht die Verwandtschaft verrät, selbst als Nina mit dem Kind schwermütig in ihr enges Zuhause einzieht, selbst als Max offensichtlich genug in der Schule seine Fesseln ablegt und beweist, dass er alles andere als ein Nichtsnutz und Krüppel ist, dreht sich die Welt der Grossmutter in ihren Bahnen weiter. Sie, die stets behauptet, früher einmal eine gefeierte Tänzerin gewesen zu sein, schafft es gar, eine Tanzschule zu eröffnen, die von hoffnungsvollen Flüchtlingsfamilien, die überall Türen sehen, überrannt wird.

Alina Bronsky erzählt die Geschichte von Max, einem Jungen, der sich von der Welt ferngehalten diese zu erklären versucht. Von einer allmächtigen Grossmutter, die den kleinen Jungen nicht nur vor den Gefahren, sondern vor dem Leben überhaupt fernhält. Auch fern von den Geheimnissen in der Familie, von seiner Mutter, von der niemand etwas erzählt, von seinem Vater, der wie ein Gespenst zwischen den Zeilen flackert, von einer Schuld, von der niemand sprechen will. Max erkämpft sich einen Weg durch die Schutzwälle seiner Grossmutter, emanzipiert sich und ist schlussendlich der, der alles zusammenhält. Indirekt erzählt Alina Bronsky wohl auch viel von ihrem Ankommen in Deutschland als Kontingentflüchtling, von all den Beobachtungen an Familien, die wohl von Russland flohen, im neuen, fremden Land aber nie ankommen wollten. Und ganz nebenbei von der Sorte Eltern, die sich fast infektiös zu verbreiten scheinen: Helicopter Parents!

Ich las das Buch mit grösstem Vergnügen!

© Julia Zimmermann

Alina Bronsky, geboren 1978 in Jekaterinburg/Russland, lebt seit Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland. Ihr Debütroman «Scherbenpark» wurde zum Bestseller, fürs Kino verfilmt und ist inzwischen beliebte Lektüre im Deutschunterricht. Es folgten die Romane «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» und «Nenn mich einfach Superheld». «Baba Dunjas letzte Liebe» wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein grosser Publikumserfolg. Die Rechte an Alina Bronskys Romanen wurden in zwanzig Länder verkauft. Sie lebt in Berlin.

Rezension von Alina Bronskys «Baba Dunjas letzte Liebe» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Yishai Sarid «Monster», Kein & Aber

«Monster» ist der Bericht eines Mannes, der als Tourguide im ehemaligen Konzentrationslager Treblinka einen Dokumentarfilmer, den er durch die Anlage führt, mit einem Faustschlag niederstreckt. «Monster» ist ein Buch über den Ehrgeiz, der den Inhalt vergisst, von all den Monstern, die einen Mann innerlich zerfleischen, bis sie zubeissen. Der Bericht an den Vorgesetzten, die Erklärungen eines „falsch Verstandenen“.

Das Buch trifft, betrifft! Die Faszination, die einem beim Lesen packt, entlarvt, beschämt und verunsichert zugleich. «Monster» ist nichts für «schwache Nerven», nichts zur blossen Unterhaltung, keine Geschichte, sondern Geschichte. Geschichte dessen, was die Abstraktion des Bösen mit denen macht, die sich acht Stunden und länger jeden Tag mit den menschlichen Abscheulichkeiten beschäftigen.

Ein israelischer Historiker, verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes, verdient sein Geld nicht in Israel, wo er studiert hatte und die kleine Familie wohnt, sondern in den vielen jüdischen Gedenkstätten in Europa, wo er sein Publikum durch das dokumentierte Grauen der Judenvernichtung führt. Er, der über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Arbeitsmethoden deutscher Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg doktorierte und nichts mehr wünschte, als sich in Ruhe und Gelassenheit mit abgeschlossener Geschichte zu beschäftigen, der mit fundiertem Wissen und fachmännischem Rat zur Seite stehen könnte, sieht die Pferde, auf die er gesetzt hatte, davonrennen. Seine Karriere stockt, die Menschen funktionieren nicht so, wie es seiner Reputation helfen würde, seine finanziellen Sorgen verschwinden nur kurzzeitig  und sein kleiner Sohn weit weg von seiner Arbeit kämpft erfolglos gegen die Monster in seiner Welt.

Er schildert den Apparat des Grauens, stellt Fragen und gibt Antworten. Aber so nah ihm die Fakten sind, so sehr entfernen sich die Millionen, die in diesem Apparat vernichtet wurden, die keine Chance hatten. Es blühen Blumen dort, wo damals Tausende erschossen wurden, die Nachwelt forscht mit der gleichen Akribie wie damals der Vernichtungsapparat die Ziele der Wannseekonferenz umsetzte. Angesichts seiner Studien und Forschungen über das absolute Grauen kann der fleissige Historiker in euphorische Verzückung geraten. Er wird zum Soldat seines Auftrags, fasziniert von der Perfektion der Vernichtung, der fast makellos sauberen Effizienz einer Entsorgungsmaschinerie. Im krassen Gegensatz zur Szenerie um seinen Sohn Ido, der in seinem Kindergarten gemobbt wird. Wo er als Vater auftritt, um Probleme zu erledigen. Nur mit Gewalt kommt man gegen Gewalt an.

In meinem lesenden Umfeld stelle ich immer wieder fest, dass Bücher, Romane, die sich mit dem letzten Weltkrieg, der Shoa, dem Holocaust beschäftigen, schnell schon vorab auf Ablehnung stossen. Nicht nur bei Viellesern aus Deutschland, denen man eine gewisse Schädigung aus der Schulzeit anmerkt, sondern auch bei jenen, die Schule und Ausbildung ähnlich wie ich durchliefen. Keine Ahnung, ob es damit zusammenhängt, dass man im Unterbewussten genau spürt, dass dieses Monster mit dem Ende des Krieges, nicht einmal mit der mehr oder weniger intensiven Aufarbeitungen der Geschehnisse begraben ist. Dieses Monster lauert weiter, sowohl in der gegenwärtigen Geschichte, in der Politik, die immer unverhohlener mit Verbalattacken aus dem Wortschatz der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie auffahren, auf Schulhausplätzen, im Zug und ganz bestimmt im www.

«Monster» taugt nicht zur Unterhaltung, ist keine Lektüre für einen verregneten Nachmittag, weil einem die Lektüre im Regen stehen lässt. Keine Strandlektüre, weil die Sonne auf der Haut und die Lektüre auf der Seele brennt. Und trotzdem soll und muss man «Monster» lesen, weil Yishai Sarid die Banalität des Grauenhaften zeigt, von der «Banalität des Bösen» (Hannah Arendt) erzählt, es schafft, dass es mir bei der Lektüre schlecht werden kann, weil ich den Gegensatz zwischen Grauen und Banalität kaum ertrage. Ein Gegensatz, den man angesichts der Bilder in Presse und Medien schon längst mit aller Coolness ertragen gelernt hat, wenn einem Bilder von einem ertrunkenen Kind an einem Mittelmeerstrand gezeigt werden, von vergewaltigten Mädchen im Sudan, fast im gleichen Augenblick wie die vom Kampf gegen Bauchfett oder über Abstiegskatastrophen in der Fussballbundesliga.

Yishai Sarid wurde 1965 in Tel Aviv geboren, wo er bis heute lebt. Nachdem er als Nachrichtenoffizier in der israelischen Armee tätig war, studierte er in Jerusalem und Harvard und arbeitete später als Staatsanwalt. Heute ist er als Rechtsanwalt tätig, und er veröffentlicht Artikel in diversen Zeitungen. Bei Kein & Aber erschienen bislang seine Romane «Limassol» und «Alles andere als ein Kinderspiel».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Marion Brasch «Lieber woanders», S. Fischer

Wenn einem die Vergangenheit überholt, überrollt. Wenn sich Gegenwart vernichtend kreuzt, wo man doch eigentlich gerne aussteigen würde, aus dem Zug, der ohne Halt durch die Zeit rast. Der schmale aber gewichtige Roman von Marion Brasch tritt leichtfüssig auf, um im Verlaufe seines Erzählens zu beweisen, was Leben und erst recht die Literatur zu erschaffen vermag.

Ein grossartiges Buch. Vielleicht schon deshalb, weil es mich am Anfang der Lektüre auf eine «falsche» Fährte führte und ich geneigt war, es auf die Seite zu legen. Weil sich ein scheinbar leicht durchschaubares Konzept als viel verflochtener erweist. Weil es einem bei der Lektüre bewusst macht, wie sehr man sich in seinem Leben mit dem eigenen beschäftigt, angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig Milliarden anderer Leben passieren, jedes mit dem Anspruch, der Mittelpunkt eines Kosmos zu sein. Weil das Szenario wie ein Film von schnellen Schnitten lebt, alles andere als behäbig erzählt und einem die Personen trotz aller Leerstellen im Scheinwerferlicht des Moments erstaunlich nahe kommen. Weil das Buch mit seinen 154 Seiten suggeriert, dass man es an einem Abend so leicht weglesen kann.

Manchmal spielt uns die Erinnerung einen Streich, schlägt uns ein Schnippchen, gaukelt uns etwas vor.

Toni und Alex. Die beiden kennen sich nicht und doch sind ihre Leben miteinander verzahnt. Toni lebt in einem Wohnwagen irgendwo auf dem Land. Sie ist jung, zeichnet und hofft, damit ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Alex ist Roadie einer Band, schafft das Equipment von einem Spielort zum andern, ist nie zuhause bei Frau und Kind, wenn man ihn braucht und hat eine andere Frau, die er ebenso liebt, wie seine eigene Frau. Toni macht sich auf den Weg zu einer Verlegerin, die ihr verspricht, aus ihren Zeichnungen ein Buch zu machen, macht sich auf den Weg, irgendwann nach Neuseeland zu fahren zu Oli, ihrem einzigen Freund, der es dort geschafft hat. Alex macht sich auf den Weg zu seiner kleinen Tochter, die nach einer Blinddarmoperation im Spital liegt, zu seiner Frau, die genau das Gegenteil von dem ist, was die andere Frau für ihn ist, auf den Weg nach Hause, das er aber schon lange verloren hat.

«Aus dem Irgendwann wurde ein Nirgendwann. Und im Nirgendwann hingen sie dann fest.»

Sie beide tragen eine Schuld mit sich herum oder zumindest das permanente Verheeren dessen, was ein einziger Moment in ihrer beider Vergangenheit anrichtete, ein Moment, der nicht zu korrigieren, nicht auszulöschen ist. Ein Moment, der sie zu Getriebenen macht, die durch ein Leben stolpern, dass aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Toni trifft ihren unzuverlässigen Vater, das, was von ihrer Familie übrig geblieben ist, denn die Mutter dämmert und der Bruder ist tot, trifft ihn, ohne dass Versöhnung eine Chance hätte. Alex kommt zurück zu Frau und Kind und muss feststellen, dass nichts so ist, wie er es sich auf seinen Fahrten mit dem Truck zurechtgelegt hat.

«So ist das mit der Erinnerung – sie führt uns an der Nase herum.»

Toni und Alex Geschichten sind untrennbar miteinander verzahnt. Eine Tatsache, von der die Protagonisten nichts wissen, in kurzen, aufblitzenden Momenten höchstens erahnen, mehr unbewusst als bewusst. Marion Brasch erzählt einen Tag, vierundzwanzig Stunden, in denen sich die Leben mehrfach kreuzen, letztlich mit fatalen Folgen. Marion Brasch erzählt aber nicht nur einfach zwei kunstvoll ineinander verwobene Geschichten, perfekt inszeniert, spannend bis zur letzten Seite. „Lieber woanders“ schildert genau das,  was der Titel verrät. Jeder legt sich sein Leben zurecht, gibt nur soviel preis, damit das Konstrukt nicht in sich zusammenfällt. Wir leben nicht wirklich mit dem Bewusstsein, wie sehr unser Leben mit jenem vieler anderer, von denen wir keine Ahnung haben, verzahnt und verbunden ist. Wie sehr die Metapher „das Leben in die Hände zu nehmen“ über die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums hinwegtäuscht!

«In jedem steckt ein anderer. In jedem Tapferen ein Feigling, in jedem Zärtlichen ein Grobian, in jedem Ehrlichen ein Lügner, in jedem Guten ein Schlechter.»

© Holmsohn

Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. Fischer erschienen die Romane «Ab jetzt ist Ruhe», «Wunderlich fährt nach Norden» und zuletzt «Lieber woanders».

Webseite der Autorin

Ein Gespräch mit Marion Brasch über den Roman auf 3sat

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Usama Al Shahmani «Wo die Diktatur beginnt, liegt die Kultur im Sterben – Eine Kindheit zwischen dem Krieg und dem bewaffneten Frieden»

Die Weihnachtsferien sind vorbei. Ein regnerischer Morgen. Die Autos fahren langsam. Ich bin unterwegs zur Arbeit. Auf dem Weg zum Bahnhof Frauenfeld sehe ich Kinder, die in kleinen Gruppen zur Schule laufen. Sie tragen ihre Schulsäcke auf dem Rücken – praktische Taschen mit Reflektoren zur Erhöhung ihrer Sicherheit. Ihre Kleider und ihre Taschen leuchten auf den winterlichen Strassen wie ein Feuerwerk. Die Kinder gehen langsam und sprechen miteinander. Einige von ihnen halten sich an den Händen, vor allem, wenn sie die Strasse überqueren wollen. „Ach, wie schön“, denke ich und erinnere mich an meinen eigenen Schulweg.

Als ich in die Primarschule ging, war der Weg zur Schule schrecklich. Ich versuchte, vor meinen eigenen Schritten zu fliehen. Meine grosse Angst war es, in den Krieg zu geraten; den Krieg zwischen den Kindern. Aus jeder Seitenstrasse stiessen Gruppen von Kindern jeden Alters dazu. War ein Kind, das die anderen nicht kannten, alleine unterwegs, prügelten sie auf es ein. Dieses Spiel hiess das «Krieg-Spiel». Manche Kin- der trugen Stöcke mit sich und schlugen gnadenlos zu, egal wo. Hauptsache war, dass das verprügelte Kind auf die Knie fiel und um Gnade winselte. Mein Mittel gegen diese Angst war es, so schnell wie möglich durch dieses Kriegsfeld zu rennen. Der Weg zur Schule war wie ein Marathon, begleitet von ständiger Angst.

In diesem Jahr wird der dreissigste Jahrestag des Kriegsendes im Irak gefeiert. Ein Krieg, der 1980 zwischen dem Irak und dem Iran begann. Ich war damals in der 4. Klasse der Primarschule. Als er endete, hatte ich meine Matura erst seit Kurzem in der Tasche. Aber mit diesem Ende war der Krieg noch nicht wirklich fertig; es war nur eine Übergangszeit, bis der nächste ausbrach. Zufälligerweise in einem Land geboren zu werden, in dem der Krieg kein Ende nehmen will, ist ein schreckliches Schicksal. Ich gehöre zu einer Generation irakischer Kinder, die keinen friedlichen Zustand erleben durfte. Schon mit sieben Jahren erfasste ich, dass vieles nicht stimmt. Ich wuchs unter dem fürchterlichen Lärm von Bombeneinschlägen und unerwartetem Sirenengeheul auf. Als Kinder rannten wir immer zu den Orten von Schiessereien, um Patronenhülsen zum Spielen zu sammeln.

Bevor Saddam und seine Partei 1979 die Macht im Irak übernahm, wurden Kinder meistens auf der Basis von Ehrlich- und Gerechtigkeit erzogen. Doch die Situation veränderte sich schnell. Vom Beginn dieses Krieges an hielten sich die meisten Eltern meiner Generation bei der Erziehung streng an die Regeln des Regimes sowie an religiöse Vorgaben und Sitten. Alles andere mussten die Eltern verdrängen. So wuchs ich eingekerkert zwischen den drei Mauern der Religion, der Diktatur und der Sitten auf.

Dieser anhaltende Notzustand während der Kriegsjahre gab mir keine Möglichkeit, eine normale Kindheit zu leben. Alles war eingeschränkt; es gab keine freien Räume, auch gedankliche Freiheit war gefährlich. Die Wege der Träume waren steinig oder blieben ganz versperrt. Man durfte nicht davon träumen, sich frei zu machen, irgendwohin zu reisen; fast alles war verboten. Als Kind begriff ich ganz genau, dass ich nie etwas sagen durfte, ohne zuerst an die Folgen zu denken. Diese Angewohnheit schleppe ich immer noch mit mir mit. Jeder Satz will mehrmals reflektiert werden, bevor er den Weg über meine Lippen findet. In der Schule hatte ich das Schweigen und den Umgang mit Ungerechtigkeit und Unterstellung perfekt gelernt. Über alles zu reden, was man dachte, war äusserst gefährlich. Die Angst, dass ich ein Mitglied meiner engsten Familie verlieren könnte, begleitete mich ständig. Immerhin musste ich als Kind nicht arbeiten, tröste ich mich jetzt. Vieler meiner Klassenkameraden waren Strassenarbeiter; einige verkauften an Ampeln Plastiktüten oder Zigaretten, andere putzten die Windschutzscheiben der dort stehenden Autos.

Ich weiss nicht, was aus unserem Mathematiklehrer geworden ist. Er war gross und schlank, hatte eine Glatze und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seine Hemden waren fast immer zu eng. Als Kinder warteten wir ständig darauf, dass ihm ein Knopf wegspickt. Er fragte oft, ob ein Kind arbeite, wenn es die Hausaufgaben nicht richtig gemacht hatte. Er sagte: „Die Strassenverkäufer können gut rechnen, aber nie still setzen.“ Manchmal erkundigte er sich, was unsere Väter arbeiteten, als ob er eine Verbindung zwischen der Leistung eines Kindes und dessen Vaters suchte. Einmal hatte ihm ein Kind unerwartet geantwortet: „Ich habe weder Vater, noch Mutter. Ich habe sie nie gesehen. Sie sind seit Jahren im Gefängnis. Auch Angehörige habe ich nicht.“ Der Lehrer wurde rot, blieb starr. Eine schreckliche Stille erfasste das Schulzimmer der 6. Klasse. Diese Szene werde ich ein Leben lang in Erinnerung behalten. Ich hatte sie auch vor Augen, als ich nach Saddams Sturz 2003 eine Sendung im irakischen Fernsehen sah, in der ein junger Iraker seine Geschichte und das, was mit seinen Eltern passiert ist, erzählte.

Ich lebte damals in einer Holzbaracke, die für Flüchtlinge in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Baden (AG) gebaut worden war. Durch das einzige grosse Fenster dieser kleinen Baracke sah man den weiten Horizont und eine mächtige Weide, auf der im Sommer viele Kühe frei herumliefen. Oft habe ich mich vor das Fenster gesetzt und den alten Apfelbaum betrachtet, der die Mitte dieser Fläche füllte. Im Winter war der Ausblick auf diese von weisser Farbe bedeckte Weite betrübender. Drei Schlafzimmer gab es in dieser Baracke, in jedem Zimmer lebten zwei Asylbewerber. Mein Mitbewohner, ein junger Araber, war unerwartet aus der Baracke verschwunden. Mit ihm sass ich oft vor dem Fernseher, vor allem im Winter. Ich verfolgte damals die Nachrichten über den Irak mit grosser Aufmerksamkeit. Ich wollte begreifen, wie dieses Land aus der grausamen Diktatur den Weg zum Leben finden konnte. Die erwähnte Sendung schaute ich mir zusammen mit einem Jungen aus dem Tibet an. Er klagte oft über den Geruch von Cannabis, der aus dem Nachbarzimmer ströme. Seine Bewegungen erschienen mir traurig und lustlos, als ob er auf einem Friedhof wäre. Der kleine Fernsehraum war sein Zufluchtsort. Die Sendereihe erzählte von Menschen, die unter der Autorität Saddams gelitten hatten.

Bis ein 32jähriger Mann, der als Kind sämtliche Familienangehörige verloren hatte, seine Geschichte öffentlich erzählen durfte, hatte es lange gedauert. Das Schicksal seiner Eltern konnte er den Akten des irakischen Geheimdiensts nach Saddams Sturz am 9. April 2003 entnehmen. Dort war das Geschehen von der Festnahme der Eltern bis an bis hin zu ihrer Hinrichtung protokolliert. Seine Mutter war schwanger, als sie mit seinem Vater im Sommer 1981 nördlich von Bagdad bei einem militärischen Checkpoint festgenommen wurde. Die beiden wurden verdächtigt, der politischen Bewegung gegen das Regime anzugehören, was sie auch zugaben. Sie versicherten jedoch, vor einer Weile die politischen Aktivitäten eingestellt zu haben, weil sie sich nur ihrer jungen Familie und dem noch ungeborenen Kind widmen wollten.

Das Militärgericht verurteilte sie dennoch zum Tode durch Hinrichtung. Die Ehefrau ersuchte mehrmals um die Verschiebung der Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes, doch all diese Gesuche wurden abgelehnt. In einem letzten Antrag bat das Paar um einen Kaiserschnitt vor der Hinrichtung. Mit dem Satz «Der Irak braucht keinen neuen Verräter» wurde auch diese Bitte um Gnade für das unschuldige Kind abgelehnt. Am Tag der Hinrichtung stieg der Mann auf das Podest, seine Frau wartete unten. Er wurde erhängt. Als die Frau ebenfalls die Treppe hinaufgegangen war, bat sie ein allerletztes Mal um Aufschub ihrer Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes. Sie war im neunten Monat schwanger. Doch auch diese Bitte wurde nur wenige Augenblicke vor der Exekution abgelehnt. Die Henker zeigten keine Gnade. Die Frau versuchte zu pressen, um so die Wehen und die Geburt zu erzwingen, doch es gelang ihr nicht. Auch sie wurde erhängt. Als sie tot auf den Boden gelegt wurde, öffnete sie sich ihr Muttermund wie durch ein Wunder. Das Kind hatte den Weg zur Welt selbst gefunden. Das war ein Schock für alle Anwesenden. Vor Ort waren ein hoher Offizier mit seinen Mitarbeitern, ein Mann aus der Moschee und ein Arzt, der den Tod verifizieren musste. Der Offizier wollte das Kind neben seiner Mutter schreien lassen, bis es stirbt. Der Arzt und einige Mitarbeiter des Offiziers widersprachen: «Die Strafe wurde dem Vater und der Mutter auferlegt und nicht dem Kind. Dieses Lebewesen kann nicht ohne Gerichtsbeschluss getötet werden.» «Das muss unbedingt geklärt werden», sagte die rechte Hand des Offiziers. Die Beteiligten einigten sich darauf, das Kind einer Person zu übergeben, die mit den Verurteilten nicht verwandt war, bis die Angelegenheit geklärt war. «Wir haben eine Putzfrau im Gebäude», sagte ein Offizier. «Sie arbeitet seit über zehn Jahren hier. Sie ist eine alte Frau, ihr können wir vertrauen. Wir können ihr das Kind geben, ohne eine Erklärung abliefern zu müssen».

Die alte Dame reinigte den blutigen Boden. Sie wickelte das Baby in ihren Schleier und nahm es mit nach Hause. Für sie war es wie ein Geschenk Gottes. Die Frau war Mitte fünfzig und lebte kinderlos mit ihrem behinderten Mann. Sie wohnten in der Nähe des Frauengefängnisses, wo die Hinrichtung vollstreckt worden war. Als dieser Junge, aus dem nun ein erwachsener Mann geworden war, seine Geschichte erzählte, sass seine Ziehmutter neben ihm. Die über achtzigjährige Dame war sichtlich stolz auf ihn und die Art wie er seine Geschichte erzählte. Über diese Sendung wollte der Mann herausfinden, wer seine leiblichen Eltern waren, wer seine Verwandten sind. Als ich das sah, brach eine alte Wunde in mir auf. Ich dachte, dass sie längs verheilt wäre. Aber es gibt Situationen im Leben, die immer abrufbar bleiben. Sie brauchen nur einen kleinen Auslöser, um uns wieder in Unruhe zu versetzen.

Ich sass wie versteinert da und fragte mich, was mir geholfen hat, all diese Grausamkeit zu ertragen. Solche und ähnliche Geschichten habe ich schon als Kind erfahren, sie prägten mein Leben während der Diktatur. Zum Beispiel führte unser Schulweg an grossen Bäumen vorbei, in welchen oft die Leichen von politischen Aktivisten hingen, die von den Sicherheitskräften der Diktatur erschossen worden waren. Wir Schüler hatten grosse Angst, diesen Weg zu gehen. Es gelang mir damals, in zwei Welten zu leben: der Welt der Bücher und der Welt der Gräueltaten draussen. Dank der Lektüren verlor ich die Orientierung nicht und konnte vorwärts gehen in diesen Zeiten des Rückschritts. Die Kraft der Worte half mir, lebendig zu bleiben und gegen den Strom zu schwimmen. Aber auch Lesen war in dieser Gesellschaft, in der ich aufwuchs, keine Alltagsbeschäftigung. Den grössten Teil meiner Kindheit hatte ich in einer kleinen Stadt im Süden des Iraks verbracht, wo es keine Buchhandlung gab – nur einen kleinen Kiosk auf der Hauptstrasse, welcher Zeitungen und Zeitschriften verkaufte. Bücher kaufen hätte ich sowieso nicht gekonnt, weil ich dafür kein Geld hatte. Ich erinnere mich an die erste Zeitschrift meines Lebens, die ich las, sie hiess „Meine Zeitschrift“. In dieser Zeitschrift wurde der Krieg für Kinder farbig präsentiert und der irakische Soldat als tapferer Held dargestellt, der dem grässlichen Feind gegenübersteht.

Als ich in die Schweiz kam, staunte ich über die vielen Kinder- und Jugendbücher, Buchhandlungen und Bibliotheken und darüber, dass die Leute an der Kasse Schlange stehen, um Bücher kaufen zu können. „Wie bei uns beim Amt des Militärdienstes, wo die Leute den Stempel erhalten wollen“, dachte ich mir.

In meinem Elternhaus gab es ausser dem Koran keine Bücher. Mein Vater war kein Leser, er brachte höchstens ab und zu einmal eine Zeitung mit nach Hause. Das alte Exemplar des Korans hatte meine Mutter mit einem feinen grünen Seidenstoff eingepackt und auf das Wohnzimmerregal gelegt. Man durfte es nicht berühren, bevor man die rituelle Waschung zur Reinigung verrichtet hatte. Gelesen wurde Zuhause nur für die Schule. Bücher lesen war ein gefährlicher Luxus. Lesende, gebildete und intellektuelle Menschen waren für das Regime eine Provokation. Wer die Diktatur überleben wollte, durfte sich nicht von der Masse unterscheiden. Andernfalls riskierte man sein Leben.

Die kleine Stadtbibliothek hatte nicht nur wenig Bücher, es gab auch kaum Leute, die sie aufsuchten. Für mich war sie trotzdem die Rettung, weil ich dort Lesestoff fand. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch ge- worden. Ich erinnere mich an eine grosse Menge der russischen Literatur und viele arabische Poesie, die ich dank dieser Bibliothek gelesen habe.

In der Schule gab es keine Bibliothek. Bücher zu lesen war ganz fremd. Die ersten zwei Bücher, die wir lesen mussten, erhielten wir vom Regime als Geschenk. Der Hintergrund für dieses Geschenk gründete im Pech meines Schulkameraden Haider. Wir waren in der 7. Klasse als ein Offizier des Sicherheitsdienstes ihn aus dem Klassenzimmer zum Verhör mitschleppte. Das war Anfang Sommer und im Klassenzimmer war es so heiss, dass wir kaum frische Luft bekamen. In der Pause hatte Haider mit seinem Schuh auf einen Kollegen gezielt und unglücklicherweise ein Porträt von Saddam, welches über der Tafel hing, getroffen. Auf dem Porträt sass Saddam auf einem majestätischen Sessel. Ihm hing eine kubanische Zigarre aus dem Mund, welche er mit seinen Fingern abstützte, und er starrte scharf in den Raum – das ganze Schuljahr über. Das Bild fiel auf den Boden ohne kaputt zu gehen. Eine ungeheure Stille trat ein, bis die Schüler wieder zu schwatzen begannen: „Haider hat Saddam mit einem Schuh geschlagen.“ Innerhalb von zwanzig Minuten stand der Schulleiter vor der Klasse und begann zu brüllen. Haider erschrak so fest, dass sein Gesicht aus- sah, als hätte er die Toten auferstehen sehen. Vor unseren Augen schlug der Schulleiter gnadenlos auf Haider ein, dann nahm er ihn mit in sein Büro. Der Schulleiter war gross, seine wenigen Haare waren weiss, selten haben wir ihn lächelnd gesehen. Es gab Gerüchte in der Schule, dass er schon einmal im Gefängnis gewesen sei und man ihn gefoltert habe. „Er benimmt sich wie ein Wahnsinniger“, sagte unser Mathema- tiklehrer, als er die ganze Schule an einem eiskalten Wintermorgen versammelt hatte und die Schüler zu schlagen begann, die an einem Schultag gefehlt oder ihre Fingernägel nicht geschnitten hatten. Der Schulleiter hatte militärische Ordnung und Drill in der Schule durchgesetzt. Er verprügelte Haider, zog ihn an den Haaren hoch und liess ihn auf den Boden fallen. Noch vor dem Ende der Schule kam ein Auto des Sicherheitsdienstes, um Haider abzuholen. Zwei Wochen später kehrte er wieder ins Klassenzimmer zurück. Er war bleich und sprach wenig. Auch wir hatten Angst ihn auszufragen. Meine Mutter hat mir mehrmals eingebläut, dass ich nicht neben Haider sitzen oder etwas mit ihm zu tun haben soll. „Wenn ihr euch auf der Strasse über den Weg läuft, musst du sofort die Strassenseite wechseln“, sagte mir mein Vater mit erhobener Stimme. Auch seine Augen wurden mit jedem Wort grösser mit dem er den Satz vervollständigte. Der Schulleiter und einige militärisch gekleidete Männer begleiteten Haider bei seiner Rückkehr ins Klassenzimmer. Letztere trugen glänzende Pistolen, und ihre Schuhe waren so schön sauber und poliert, dass sich ihre Gesichter darin spiegelten. Einer von ihnen, vermutlich der Chef, sagte zu uns, dass wir gute Schüler seien und den Führer und die Partei gerne hätten. Danach hielt ein anderer eine lange Rede, und jedes Mal, wenn unser Schulleiter klatschte, mussten auch wir klatschen. Am Schluss verabschiedeten sich die Männer bei jedem Schüler per Händedruck. Wir standen auf. Ich spüre immer noch den Druck ihrer Hände auf meinem Handballen. Sie übergaben jedem Schüler zwei dünne Bücher. Das eine trug den Titel „Lebe lang Generation der Partei“, das andere „Die Helden des Vaterlands“. Wir sollten diese zwei Bücher lesen und darüber einen Aufsatz schreiben. Mit diesem Auftrag verliessen diese Männer unser Klassenzimmer, Saddams Blick aber entmachtete uns weiter.

Die Lektüre von Büchern gehörte in der Primarschule und der Oberstufe nicht zum Alltag. Das änderte sich im Gymnasium, wo es eine kompakte, kleine Büchersammlung gab. Hin und wieder kamen Leute vom Geheimdienst, um die Bibliothek zu durchsuchen. Jedes Mal gingen sie mit einigen Büchern in der Hand wieder hinaus. Die Lücken in den Bücherregalen füllten sie mit Exemplaren, die Saddam und die Partei rühmten. Von diesen Büchern, die in grosser Zahl gedruckt und kostenlos an Schulen verteilt wurden, gab es Hunderte. Sie handelten von der arabischen Nation und ihren Feinden.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem alle Exemplare des Romans von Nagib Machfus „Die Kinder unseres Viertels“ aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden. Ich war damals im ersten Stu- dienjahr und sagte mir: „Diesen Roman muss ich lesen.“ Jedes Mal, wenn das Regime ein Buch bannte, löste das bei vielen den Reiz aus, das Buch erst recht zu lesen. Ich lernte, dass eine Menge verbotener Bü- cher kopiert wurden und über den Schwarzhandel ihren Weg machten. Man nannte das die „kopierte Kultur“. Es gab Geschäfte in der Nähe der Universität Bagdad, die diese Bücher verbreiteten. Ihre Händler riskierten dafür ihr Leben. Auf fast dunkles Recyclingpapier gedruckt mit einfachem Einband und Buchstaben, die entweder ganz schwarz oder kaum sichtbar waren – so sahen philosophische und literarisch wichtige Werke in dieser Parallelkultur aus; und ich konnte sie mir leisten, denn sie kosteten wenig. Meistens wurde die Titelseite des Buches nicht mitkopiert und man erhielt ein Werk ohne Titel. Freunde von mir hüllten verbotene Bücher in Einbände von Büchern des Regimes ein, um die wahre Identität des Inhaltes zu verbergen. Nach der Lektüre mussten diese kopierten Papiere so schnell wie möglich verschwinden.

„Schwöre mir, dass du diese Kopien nach der Lektüre nicht weitergibst“, sagte mir der junge Mann im Geschäft, bevor er mir das Geld abnahm. „Ja, ich verspreche es“, erwiderte ich und verstaute Machfus’ Buch, das ich ohne Nennung des Autorennamens auf A4-Blättern bekam, in meiner Tasche.

Je älter ich werde, desto intensiver nehme ich Saddams Zeitalter wahr; eine verstümmelte Zeit, die sich in meiner Erinnerung für immer festgesetzt hat.

Am Abend auf dem Heimweg von Kreuzlingen nach Frauenfeld betrachte ich die Weihnachtsdekorationen aus dem Zugfenster. Die Häuser, Strassen und Bäume leuchten hell. Einige Kinder sitzen in meiner Nähe. Sie sprechen mit ihren Grosseltern über die Geschenke, die sie zu Weihnachten erhalten haben. Die Farben ihrer Geschenke harmonieren mit dem Spektakel des Sonnenuntergangs. Die Aussicht über den Säntis, der in Ferne zu sehen ist, ist farbenprächtig. Der Berg trägt eine strahlend weisse Krone inmitten dieses Naturfeuerwerks, als ob auch er das neue Jahr auf seine Art und Weise feiert. Eines der Kinder zieht ein Buch aus seinem Rucksack heraus und fordert die Grossmutter auf, ihm daraus vorzulesen. Die Dame, sie muss über siebzig Jahre alt sein, beginnt zu lesen. Immer wieder hebt sie ihren Blick immer unter ihrer filigranen Brille, um ihr Enkelkind anzuschauen. Ich lausche still, wie sie die Geschichte vorträgt, genauso wie mir meine Grossmutter damals Geschichten erzählte. Sie hatte nie Schreiben oder Lesen gelernt, dafür konnte sie umso besser erzählen. Die Schichten ihrer traurigen Erzählungen wurden in ihren feinen Humor gewickelt und waren wie ihre köstlichen, gefüllten Weinblätter dicht und sättigend. Jede dieser Geschichten, die ich als Kind erzählt bekam, hat nicht nur meinen Geist geprägt, sondern auch meine Seele beeinflusst. Sie wa- ren für mich der erste Geistöffner oder Wegweiser, der in Richtung Hoffnung gezeigt hat.

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad, und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert und im Irak mehrere Bücher über arabische Literatur publiziert. 2002 kam er als Flüchtling in die Schweiz. Heute arbeitet Usama Al Shahmani als Autor, Kulturvermittler und Dolmetscher, und er übersetzt deutsche Literatur ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Dichter am Bahnhof» von Ivo Zanoni, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern» von Friedrich Schleiermacher. Er lebt mit seiner Familie in Frauenfeld. «In der Fremde sprechen die Bäume Arabisch» ist sein beim Limmat Verlag erschienener Roman.

Im Mai 2019 erhielt Usama Al Shahmani einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau. Er arbeitet an seinem nächsten Roman: „Im Fallen lernt die Feder fliegen».

Rezension von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» auf literaturblatt.ch