Michael Kleeberg «Abschied von einem Apfelbaum», Plattform Gegenzauber

Sein Stamm ist auf dem ersten Meter zweimal in sich verdreht, als hätten zwei gewaltige Hände ihn in seiner Jugend ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Seine Rinde ist backsteinbraun, rostbraun geschuppt, erinnert an Echsenhaut, an Krokodilleder. Auf der Sonnenseite des schräg aufstrebenden Stamms breitet sich ein goldengrüner, feinst gefiederter Moosteppich aus, bei dessen Berührung man das Gefühl hat, die Mähne eines Pferdes zu streicheln. Die Unterseite des Stamms wirkt schiefergrau, erst beim längeren Hinsehen macht man einen leichten Mauveschimmer aus. Je höher es hinaufgeht, je dünner die Äste werden, desto weniger Schuppenrinde ist zu sehen, desto glatter wird die Oberfläche des Holzes, ein hellgeschecktes Grau mit dem in der Sonne gelblich leuchtenden Grünspan von Flechten.

Auf Kniehöhe hat auch der Stamm ein erstes Knie, bis zu dem er recht gerade aus der Erde wächst. In der Kniekehle imitieren zwei starke in den Stamm eingelassene Stränge Sehnen. Oberhalb der an einer Kniescheibe erinnernden Ausbuchtung neigt sich der Winkel auf sechzig Grad, und die Wuchsrichtung dreht sich um ein Achtel. Ein zweiter Knick auf Hüfthöhe verschiebt die Wuchsrichtung wieder um 30 Grad zurück. Auf zweieinhalb Metern Höhe gabelt sich der Stamm, zwei Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt, in drei Hauptäste.

Der stärkste Ast strebt in der Kurve einer Kettenlinie nach oben – zwei weitere Äste gehen von ihm ab, einer davon fast vier Meter weit waagrecht ausgreifend –, um sich in der Krone in zwei weidenartig überhängende Kuppeläste zu gabeln. Der zweite Hauptast wächst, sich verjüngend, flacher hinauf, verzweigt sich an seinem Scheitelpunkt, von wo aus das Gewicht der Zweige sie in einer Art Kreuzrippengewölbe nach unten biegt. Der Dritte beschreibt einen kommunistischen Gruß: Nach einem knappen Meter waagerechten Wachstums zwingt ein angewinkelter Ellbogen ihn in die Senkrechte, drei Meter weit. Die Krone des Baums hat auf einer Höhe von vielleicht sechs Metern einen Durchmesser von wenigstens acht. Geformt ist er wie ein riesiger Sonnenschirm auf schiefem Fuß. In der Erntezeit hängen manche Zweige voller Früchte fast bis zum Boden hinab, ebenso im Januar, wenn nasser Schnee auf ihnen lastet und der Stamm schwarz schimmert wie das Fell eines Rappen.
Am Bizeps des einen Hauptastes ist ein steinerner Nistkasten aufgehängt, den ein Blaumeisenpaar zum Überwintern und im Frühjahr zum Nestbau nutzt. Außer den Meisen finden sich regelmäßig Amseln, Spottdrosseln, Kleiber, Zaunkönige im Baum, seltener Spatzen. Im Winter werden die Meisenknödel täglich auch von einem kopfüber an ihre Unterseite gekrallten Buntspecht aufgesucht, ab und an klingt das schrille Gekecker eines großen, blaubraun leuchtenden, nesträuberischen Eichelhähers aus der Krone, das Hunderte von Metern entfernt im Wald wieder aufgenommen und weitergetragen wird. Seit einigen Jahren sieht man zur Blütezeit immer weniger Bienen im Baum, während die Zahl der Hummeln konstant zu bleiben scheint. Zur Fruchtzeit zieht es die Wespen ins Geäst, manchmal hört man wie ein weit entferntes Moped das sonore Gebrumm der Hornissen, von dem sich einem die Nackenhärchen aufstellen, bevor man noch die erschreckend langen Körper rund um den Stamm auf und ab kreisen sieht.

Im Oktober trägt er mittelgroße Äpfel, deren Grundfarbe gelb ist, manchmal gesprenkelt wie von Sommersprossen, viele von ihnen mit errötenden oder sogar feuerroten Wangen, einige mit wie aufgebatikten grünen Flecken. Vierzig Kilo davon ernten wir in jedem Herbst, der Teleskop-Käscher muss in ganzer Länge ausgezogen werden, um die obersten, wie Glühbirnen leuchtenden aus der Krone zu greifen. In Wäschekörben bringen wir sie dann zu der in einem Hinterhof in Weißensee verborgenen Mosterei Neubert, wo neben verwilderten Gärtchen und rostigen Zäunen die große grünlackierte Presse brummt, über deren Rand die Äpfel direkt in das schäumende Gebrodel gekippt werden.

Gegen Ende März eröffnen die beiden Sauerkirschbäume, deren wie Chilischoten geformte Früchte im August zu Tausenden auf den Platten zerplatzen und rote Schlieren und Schmierspuren hinterlassen, die an die Überbleibsel eines Unfalls oder Massakers erinnern, mit ihrer blassgelben, seltsam unkörperlichen, pusteblumenhaften Blüte, den Frühlingsreigen. Sie hält sich nicht lange, ist schon schlaff und welk, wenn der Mirabellenbaum Anfang April sein christosches Zauberkunststück vollführt und seine noch winterlich kahlen Äste plötzlich mit einer vibrierenden weißen Schmetterlingswolke umhüllt, die jeden Tag weißer und dichter wird, so dass man selbst an grauen Tagen, am Stamm stehend und in die Krone hinaufblickend, die Augen zusammenkneift vor soviel flirrender Helligkeit. Die unvermeidlichen Regengüsse setzen dem Traum nach kaum zwei Wochen ein etwas schäbiges Ende in Form eines Konfettiregens. Immerhin bleiben als Hoffnungsboten die grünen, noch eingerollten Blätter. Es folgt, ebenso kurzatmig, so schön wie steril, das Erblühen der im Schatten des Hauses violett schimmernden Zierkirsche. Der Baum, rotbräunlich gefärbt, verströmt, wenn die Knospen sich öffnen, ein zartrosa Licht, das nach einer Woche schon schwächer wird und erlischt, um die Bühne freizugeben für die Pflaumenbäume. Währenddessen blenden die Forsythien die Augen wie strahlende, vom Himmel in den Garten gefallene Sonnen. Aber erst wenn sie von oben her ihre Blätter zu treiben beginnen und das bonnardsche Mimosengelb sich in den folgenden Wochen in Absinthgrün verwandelt, erst in den allerletzten Apriltagen, ermutigt von einer warmen

Woche, manchmal noch später, wie aus alter, in den Genen liegender Erfahrung manches Jahr erst nach den Eisheiligen, zeitgleich mit der Mauser der geduldigen Hainbuche, die seit November ihr pergamentenes, rohrzuckerbraunes, welkes Laub festhält, um dann innerhalb von zwei Tagen, vom Wipfel bis zum Boden, alle toten Blätter abzuschütteln und ebenfalls vom Wipfel her die lanzettspitzen Knospen innerhalb weiterer zweier Tage zu stark gemasertem, flaumiggrünem Frühlingslaub auszurollen, erst dann kommt die Stunde des Apfelbaums.

Er hat sich vorbereitet, langsam, geduldig. Anders als die Pflaumenbäume, die erst ihr Blütenfeuerwerk versprühen, um dann zu grünen, die rasch ihr Pulver verschossen haben, beginnt er mit einem grünen Schimmer der Kelchblätter, der einen Anflug von Frühling in die Winterschwärze des Baums setzt, und aus dem das dunkle, stark durchblutete Rosa der Knospenköpfe verheißungsvoll blinkt. Auch jetzt noch lässt er sich Zeit, eine Woche, um sich zu entfalten, eine Woche, um im Entfalten die rosige Außenseite des Blütenblattes nach unten und außer Sicht zu drehen und die schneeweißen Innenseiten zu präsentieren.

Die Fünf ist die Ordnungszahl der Apfelblüte, fünf Blütenblätter bilden einen Kranz, in dessen Zwischenräumen weitere fünf rosige Nebenblüten knospen. Haben sie sich alle geöffnet, wiegen sich mokkatassengroße Blütengebinde auf den Enden der Zweige, das Rosa ist fast ganz verschwunden, scheinbar verblasst in der Anstrengung des Wachsens und Sich- Öffnens, und nur noch hier und da eher zu ahnen als zu sehen, mehr eine Erinnerung auf der eigenen Netzhaut als eine tatsächliche Farbe. Meist sind es auf den Innenseiten der Blütenblätter nur hingehauchte Gouache-Flecken entlang der Längsmaserung des kapillarenfeinen Aderwerks.

Diese Blütenblätter sind nicht ganz glatt, sondern ein wenig verknittert wie die ungebügelten Ärmel eines Seidenhemds. Im Entfalten umschließen sie zunächst die Mitte noch schalenartig, biegen sich dann jedoch immer weiter nach außen, um in einer fast obszönen Geste der Entblößung Staubgefäße und Stempel nicht nur zugänglicher zu machen, sondern sie gleichsam nach oben zu pressen, fast so, als ob eine Frau ihre Schamlippen auseinanderzöge, um ihrem neugierigen Liebhaber mittels ein wenig Drucks aus dem Beckenboden ihre Klitoris zu offenbaren.

Im Innern der Blüte rankt sich feinstes Kabelwerk, hellgrün, das sich dann zu einem Strauß aus herzförmigen, blassgelben Staubgefäßen und höher aufragenden Stempeln bündelt und öffnet, meist fünf an der Zahl. Die Stiele und Kelchblätter unter den Blüten sind flaumig behaart wie Jungmädchenarme, so dass es fast wie Nebel um die Stiele spielt.

Der Eindruck des zur Gänze blühenden Baums hat etwas von der Ausschüttung eines Füllhorns, von Überschwang, von Mit-vollen-Händen-Herschenken. Es ist eine bäuerliche, keine distinguierte Pracht, keine Spur von Maß oder Etikette, keine bürgerliche Reserve, kein haushaltender Wille zum Sparen, keine taktische Beschränkung. Es ist das Glück eines jungen Mädchens vom Lande, das sich von Natur aus schön weiß, sich zu festlichem Anlass zu putzen, etwas anachronistisches, eine alte Weise.
Seine äußersten Zweige berühren dann fast die höchsten des Fliederbuschs, und es wirkt als werde durch den Kontakt, den manchmal ein Windstoß hervorruft, das Kommando zum Erblühen von dem weißleuchtenden Obstbaum an die noch dunkel verschlossenen Knospen des Strauches weitergeleitet, der dann sozusagen den Staffelstab übernimmt und das hellere Violett des Blüteninneren, ihren Duft freigebend, offenbart, wenn von der Pracht des Apfelbaums nur noch weißer Hochzeitsreis auf dem Rasen übriggeblieben ist und er selbst eine bräunlich-gelbliche Färbung annimmt wie ein angeschnittener Apfel, der zu lange an der Luft gelegen hat, denn nur noch Staubgefäße und Stempel stehen wie miniaturisierte Springbrunnen auf den leeren Blütenständen, unter denen das Laub mächtig wächst.
Wenn man unter ihm sitzt, scheint das vielstimmige Vogelgezwitscher aus ihm zu kommen, scheint der Baum zu singen, als sei er eine Art Orgel: Die tieferen Töne entströmen dem Stamm, die höchsten dem feinen Gezweig der Krone. Das gequetscht Quietschende der Grasmücken und Finken, die gepfiffenen Koloraturen der Amseltriller, dazwischen rhythmisches Morsen.
An einem windigen, warmen 30. April studiere ich seine Bewegungen: Ein leises, würdiges Wiegen der weit ausgreifenden Äste, Pendelschläge der dünneren Zweige. Die Blüten schütteln sich, das Laub vibriert, als überliefe es eine Gänsehaut, oszilliert im Sonnenlicht. Konzentriert man den Blick auf Einzelheiten, sieht man das Elektronenrasen der Insekten, bei dem man Standort und Geschwindigkeit nie genau unterscheiden kann, so dass der Eindruck eines Flimmerns der vom Baum überwölbten Luft entsteht. Bei Sturm schüttelt er sich wie ein Tier, dem der Wind durchs Fell oder die Mähne zaust.
Im Frühling erinnert die Blüte an die duftig auf schaumigen Mittelmeerwellen tanzenden Blumengirlanden auf Noel-Nicolas Coypels „Entführung der Europa“: Sahnebaisers des Rokoko.
Im Sommer gleicht das Licht- und Schattengeflocke unter seinem Laubdach einer elektrischen Cloisonné-Malerei, deren Zellen in unregelmäßigen Abständen aufblinken. Wässert man an heißen Spätnachmittagen den Boden rund um den Stamm, hat man das Gefühl, ein Tier zu tränken, das gierig und dankbar die Flüssigkeit aufnimmt. Im November ruft der Baum die Erinnerung an einen bretonischen Calvaire irgendwo im Norden des Finisterre zwischen Morlaix und Brest herauf: nasser schwarzer Granit, der Inbegriff von Trostlosigkeit. Zu Weihnachten, wenn die reifbedeckten Zweige in der Morgensonne zuckrig glitzern, geht etwas Heimeliges, Trautes von ihm aus, und bei seinem Anblick sage ich mir Brechts GedichtDie Vögel warten im Winter vor dem Fenster her: „Ich bin die Amsel. Kinder, ich bin am Ende …“

In den Abschiedsschmerz, der ein Vorausahnen der Tatsache ist, dass man die Präsenz des Selbstverständlichen doch erst richtig schätzen kann, wenn sie nur noch in der Erinnerung existiert, aber in der täglichen Gegenwart ein Loch, ein Fehlen sein wird, mischt sich eine Prise von Neid, den der Ruhe- und Rastlose immer gegenüber dem Sesshaften empfindet, der all das, was man anderswo sucht, schon längst zu besitzen scheint, ohne Aufhebens, ganz beiläufig, oder wie der Weise sagt: ohne je seinen Garten verlassen zu haben. Wie alt er sein mag? So alt wie das Haus, fünfzig Jahre? Oder noch älter? Was alles um ihn herum vorgegangen ist, während er stoisch und ahnungslos mit nichts als Wachsen und Früchtetragen beschäftigt war! Keine zwanzig Meter von ihm teilte die Mauer dreißig Jahre lang Berlin von seinem Umland. Zwanzig Meter weiter, und seine Äpfel wären in zwei Staaten gefallen. Aber das hätte die Grenzpolizei der DDR nicht toleriert, die im Mauerstreifen jeden Baumwuchs mit Pflanzengiften unterband. Bei starkem Westwind, berichten die Nachbarn, sind ihnen davon die Geranien eingegangen, dem Baum hat es nichts angehabt. Geschichte ficht einen Baum nicht an, sofern er ihr nicht im Wege steht.

Wenn die Menschen und die Naturgewalten ihn lassen, müsste er länger leben als ich. Eigentlich ist er es, der sich von mir verabschieden müsste.

Orient und Okzident, Einwanderer, Auswanderer, Aussteiger, Islam, Christentum, Kapitalismus und die Suche nach dem Glück: Michael Kleeberg erzählt Geschichten und «Schicksale in einer globalisierten Welt. In diesem großen Wurf gelingt es ihm, die wichtigen Fragen unserer Zeit in packende Literatur zu verwandeln.»

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu: Bericht auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lothar Köthe

Karen Köhler «Miroloi», Hanser

Literatur ist der Schauplatz der Fantasie. Deshalb darf Literatur alles, es muss nur gut aufs Papier gebracht sein. Sprache selbst ist die Stimme. Selbst die Stimme darf in seiner Klangfarbe eine ganz eigene sein. Und wenn Idee, Geschichte und Sprache wie in Karen Köhlers erstem Roman «Miroloi» eine so ganz eigene Färbung haben, sich so sehr von allem anderen abheben, mich in eine Welt begleiten, die mich in ihren archaischen Bildern an Traumlandschaften erinnert, dann beginnt Faszination!

Miroloi (vom griechischen μοιρολόι oder μοιρολό(γ)ι) ist ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied in der griechisch-orthodoxen Tradition. «Miroloi» ist ein Roman in 128 Strophen, gesungen von einer jungen Frau ohne Namen, ohne Geschichte, ohne Zukunft. Sie lebt im Haus des Bethaus-Vaters, der sie als kleines Mädchen in einer Schachtel in Zeitungen gebettet fand und zu sich nahm. Sie erzählt von sich, dem Haus, dem einen Dorf am Hang auf der Insel, dem Meer, dem kleinen Hafen, an dem nur selten ein Schiff anlegt und jene Dinge bringt, die das Dorf und die Insel verweigern, den Klageweibern in der Kurve, dem einzigen Lokal, in dem man sie hasst, von den Kindern, die hinter ihr herrennen und «Eselstute, Nachgeburt der Hölle!» nachrufen, spucken und schlagen.

«Miroloi» ist ein wunderschön gestaltetes Buch mit einer ganz neuen Art eines Schutzumschlages. So werden Bücher aussen und innen zu Kostbarkeiten!

Sie ist nicht aus dem Dorf. Sie ist von drüben. Ohne Namen, ohne Recht. Schuld immer dann, wenn im Dorf ein Unglück geschieht. Man hasst und fürchtet sie, obwohl sie hilft und alles tut, um sich in Dorf einzufügen. Wäre der Bethaus-Vater, der im Dorf das Gesetzbuch hütet, den Tag in Zeit einteilt und als einziger viel mehr zu wissen scheint als alle andern, nicht ihr Beschützer, wäre die alte Mariah nicht, der sie zur Hand geht, die ihr das gibt, was einst mit ihr in der Schachtel lag; ein in Leder gebundenes Buch, Hefte, eine Feder, Stift und Tinte und sie in Geheimnisse einweiht, die sie zu einer Verbündeten machen, wäre die junge Frau verloren, Freiwild, Beutetier, Zielscheibe.

„Miroloi“ ist aus der Sicht der jungen Frau erzählt, der man nicht nur ein Leben in der Gemeinschaft vorenthält, sondern auch all das, was über dem grossen Meer geschieht, was von Flugzeugen mit weissen Streifen an den Himmel gezeichnet wird, was mit dem Schiff immer wieder vom Händler und vom Arzt vom Festland auf die Insel gebracht wird. Die Dorfgemeinschaft auf der Insel ist Metapher für all die abgeschotteten, in sich geschlossenen Systeme, seien sie politisch, gesellschaftlich oder religiös. Man verschliesst sich der Welt, weil man sich schützen will, weil das Böse ausserhalb geortet wird und man Veränderungen für etwas grundsätzlich Bedrohendes hält.

Karen Köhlers Schreibort

Die Dorfgemeinschaft aber bröckelt an vielen Stellen: Ein Hubschrauber kreist eines Tages über den Häusern und bringt mehr als nur den Staub auf den Strassen zum Wirbeln. Ein Beamter mit Ledermappe und Mantel besucht die Insel und verspricht, nun endlich den Fortschritt in Form von Strom auf die Insel zu bringen. Und der Händler, der mit dem Schiff jene Dinge bringt, die auf der Insel fehlen, erzählt von Maschinen, die Wäsche waschen, Brote backen. Das patriarchalisch eingerichtete System wird von jenen Frauen in Frage gestellt, die mehr oder weniger laut nach dem rufen, was ihr Leben aus Arbeiten und Pflichten erleichtern würde. Es kocht auf der Insel, als würde eine Magmakammer voller Emotionen unter dem Dorf die Insel zum Zittern bringen.

Und zwischen all den kleinen und grossen Geschichten die der jungen Frau, die ihren Makel nicht nur als steifes Bein mit sich herumzieht. Als Aussenseiterin, die überall dort arbeiten muss, wo Hilfe gebraucht wird, sieht sie in die Leben vieler. Weil sie die Ziehtochter des alten Priesters, des Bethaus-Vaters ist, bleiben Geheimnisse nicht verborgen, das, was die Männer und Frauen an einen Wunschbaum hängen. Und als Yael auftaucht, ein Bethaus-Schüler, einer, der hinter Mauern hätte verborgen bleiben müssen, genauso wie die Gefühle, die über die beiden hereinbrechen, als der Bethaus-Vater stirbt und die alte Ordnung im Dorf auseinanderbricht und Katastrophen unabwendbar werden, wird aus dem Mädchen, das von Yael endlich einen Namen erhält, eine Rebellin.

„Miroloi“ ist wie ein Theater, überzeichnet, entrückt, aus der Zeit gefallen. Das Geschehen hängen geblieben zwischen Realität und Fantasie, auf einer Insel eben. Aber genau das muss Karen Köhler interessiert haben: Was geschieht in geschlossenen Systemen, die sich der Realität entgegenstellen? „Miroloi“ entwickelt einen ungeheuren Sog, auch wenn die holzschnittartigen Figurenzeichnungen fast wie Karikaturen wirken. Doch das Buch ist voller Wirklichkeit, voller Realitätsbezüge, stellt Fragen, peitscht auf.

© Julia Klug

Karen Köhler hat Schauspiel studiert und zwölf Jahre am Theater in ihrem Beruf gearbeitet. Heute lebt sie auf St. Pauli, schreibt Theaterstücke, Drehbücher und Prosa. Ihre Theaterstücke stehen bei zahlreichen Bühnen auf dem Spielplan. 2014 erschien ihr viel beachteter Erzählungsband «Wir haben Raketen geangelt». 2017 erhielt sie für ihren Roman «Miroloi» ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, 2018 das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds.

Webseite der Autorin

Themenseite des Verlags zum Buch 

Norbert Scheuer «Winterbienen», C. H. Beck

Nicht alle in Kall in der Eifel mögen Norbert Scheuer. Und nun hat er es endlich getan, endlich «etwas Gutes» über Kall, die Gemeinde in der Eifel, geschrieben. Dabei erzählt Norbert Scheuer, dessen Bücher sich tatsächlich stets um diese Gemeinde drehen, immer von der Welt, vom Hin- und Hergerissen-Sein. Dass er mit «Winterbienen», seinem neusten Roman, einmal mehr auf einer Long- oder Shortlist zu einem grossen Preis steht, verwundert mich nicht.

Egidius ist Bienenzüchter. Neben gelegentlichen Nachhilfestunden in der städtischen Leihbibliothek in Latein ist das seine einzige offizielle Einnahmequelle in einem kleinen Städtchen in der Eifel. Die Situation ist gespannt, der Krieg 1944 für die einen verloren und die andern kurz vor der letzten siegreichen grossen Gegenoffensive. Egidius ist Epileptiker, was für den parteistrammen örtlichen Apotheker Grund genug wäre, den Bienenzüchter zu verraten, denn seit die Nationalsozialisten an der Macht sind, gelten nicht nur Epileptiker als unwertes Leben. Euthanasie kostete Zehntausenden ihr Leben.

Während Bienenvölker nur als Kollektiv funktionieren und sich Egidius fast väterlich um seine Völker kümmert, zerfällt das Tausendjährige Reich zusehends. Man macht in der Umgebung des Städtchens Jagd auf desertierte Wehrmachtssoldaten und abgeschossene amerikanische Soldaten und brüstet sich in den Gasthäusern des Städtchens damit, ordentlich aufgeräumt zu haben. 

Egidius erwartet seinen nächsten Auftrag als Flüchtlingshelfer. Während der Krieg immer unkontrollierter tobt, gibt es noch immer Verzweifelte, die über die nahe Grenze nach Belgien fliehen wollen, weg vom Epizentrum faschistischer Gräuel. Das, was Egidius für seine Fluchthilfe bekommt, braucht er, um die Medikamente beim Apotheker zu bezahlen, die ihm ein einigermassen erträgliches Leben garantieren, die die Anfälle erträglich machen und seine Einschränkung verstecken lässt. Egidius packt Flüchtlinge auf die Ladefläche seiner Kutsche und tarnt diese als zu transportierende Bienenvölker. Ein gewagtes Unternehmen an all den Kontrollen vorbei. Zumal sich Egidius als Frauenversteher- und verführer im Städtchen wohl Freundinnen macht, aber auch Feinde.

„Das Volk schrumpft zwangsläufig, denn um die kalte Jahreszeit zu überleben, braucht es nicht so viele Bienen.“ Ein Bild, das auch für die letzten Monate des sterbenden Dritten Reiches passt. Während Heerscharen von jungen und alten Männern, den Landsern, in einen sinnlosen Endsturm geschickt wurden, Minderjährige zu Kindersoldaten wurden, in Radio und Zeitungen die unmittelbare Nähe des Endsieges prophezeit wurde, starben Deutsche in Städten, Kellern, Schützengräben, U-Booten und Schiffen wie die Fliegen. Eine kalte Jahreszeit!

Der Krieg wird immer unmittelbarer. Bombentreffer, Treffer von Tieffliegern. Egidius Fluchthilfe immer riskanter. Eine junge Frau verliert ihr Neugeborenes nach seiner Fluchthilfe, weil sie vergewaltigt wird und niemand merkt, dass im Rucksack auf ihrem Rüchen ein kleines Kind versteckt ist. Ein Professor stirbt in einem seiner zur Flucht präparierten Transportbienenstöcke. Es droht Verrat überall. Seine Medikamente werden immer knapper, seine Anfälle und Aussetzer immer häufiger. Das Grosse und Kleine kollabiert.

Norbert Scheuer interessiert sich im Kleinen für das Grosse. Sein Roman ist vielschichtig, feinfühlig und von grosser Intensität. Aufgebaut wie das Tagebuch eines Bienenzüchters und -forschers, auf den Spuren von Ambrosius Arimond, einem seiner Vorfahren aus dem 15. Jahrhundert, nimmt mich Egidius Arimond an der Hand und führt mich durch das Urftland, die Gegend um die Gemeinde Kall in der Eifel, zu einer Zeit, als Köln bereits in Schutt und Asche lag und das grosse Sterben apokalyptisch wurde.

Grosse Literatur mit tiefer Wirkung, geschrieben mit einem sensorischen Gefühl für ein Leben in einer Endzeit.

Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, und «Am Grund des Universums» (2017). Sein Roman «Überm Rauschen» (2009) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war 2010 «Buch für die Stadt Köln».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Sibylle Berg «GRM Brainfuck», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/11

«GRM Brainfuck» ist die Geschichte von Don, Peter, Hannah und Karen. Sie leben in der schlimmsten, heruntergekommensten Stadt Grossbritanniens. Dort, wo niemand hin will, wo man am Ende hingespült wird. Sie leben in Zeiten der Superlativen; die Meere steigen, das Eis schmilzt, die Tiere sterben aus, alles in Rekordzeit. Sie schwören sich ewige Freundschaft, bezeugen sie mit Blut, erstellen eine Liste mit den Namen, an denen sie sich zu rächen gedenken.

© Lea Frei

Zum Beispiel die zwölfjährige Hannah. Bevor man Hannah mit ihren Eltern nach Rochdale verdammte, lebte die Familie in Liverpool. Mutter und Vater liebten Hannah und für Hannah war es, wie für die meisten, die geliebt werden, das Selbstverständlichste geliebt zu werden. In Liverpool führte Hannahs Vater ein Fotogeschäft, das aber immer weniger Geld einbrachte, bis Hannahs Vater sich mit Nebenjobs über Wasser halten musste. Und eines Tages, an dem Tag, Hannahs Vater hatte sie zu einem Fussballspiel mitgenommen (Fussball war das einzige, woran die Menschen glaubten) teilte man ihnen mit, Hannahs Mutter sei bei einer Schiesserei in die Flugbahn einer Kugel geraten. Pech. Sie starb. Und eines Tages, Hannah kam nach Hause, mittlerweile eine Absteige im Kellergeschoss einer Mietskaserne in Rochdale, lag auch ihr Vater mit aufgeschlitzten Pulsadern in der Duschkabine. Man schleppte den Vater in einem schwarzen Plastiksack weg und vergass Hannah, die mit dem Wenigen, das sie tragen konnte in ein besetztes Haus im Niemandsland zog, in die Gesellschaft von zwanzig obdachlosen Jugendlichen, Slash Kindern.

«Grime (GRM) war wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben.»

Oder Peter, der mit seiner tuntigen Mutter in einem polnischen 200-Seelen-Kaff aufwuchs, einem Ort ohne Zukunft, den alle verlassen hatten, die etwas auf sich hielten. Peter wäre gerne geblieben, denn er ist als Sonderling gerne mit sich allein. Aber seine Mutter schleppte ihn nach England, wo man den Polen Arbeit versprach, aber verschwieg, dass viele Briten sie für das Unglück des Landes verantwortlich machen. In einem Massenschlag Bett an Bett mit anderen Polen gedrängt, von der arbeitsuchenden Mutter allein gelassen, wird Peter von einem Landsmann vergewaltigt, während sich ein anderer Bettnachbar zeitgleich einen runterholt. Peter verstummt endgültig. Und schliesslich lässt ihn seine Mutter mit dem Versprechen, sie werde sich um ihn kümmern, mit seinen zwölf Jahren alleine in einer heruntergekommenen Wohnung zurück, weil der neue russische Freund mit Bentley und Millionen keinen Behinderten in seinem Haus haben will.

«Wir sind die Jugend. Die mit dem Wissen gross geworden ist, dass man, ohne sich angepasst zu verhalten, auf keinen Fall überleben wird.»

„GRM“ sind die Kürzel für GRIME, einen Musikstil, mit dem die vier Freunde, die aus der Not eine Familie wurden, in London Bedeutung und vielleicht sogar Geld verdienen wollen. Grime ist der Sound von Hass, Ernüchterung, Wut und letztem Aufbäumen. Don, Peter, Hannah und Karen leben in einer alten, verlassenen Fabrikhalle, von der Gesellschaft vergessen. Die Gegenwart erstickt im Würgegriff des sich verselbstständigten durch Algorhithmen gesteuerten Fortschritt. Auf der einen Seite die Upperclass, degeneriert durch Erfolg, Geld, Macht, Übersättigung, auf der anderen Seite das Meer von Arbeitslosen und Armen, die mit Grundeinkommen und einem automatischen Punktesystem, billigen Medikamente und Weissbrot mit Margarine ruhig gestellt werden.

Die perfekte Welt ist eine kaputte Welt. Sibylle Bergs Epos der menschlichen Dummheit und Niedertracht ist keine Dystopie, keine Fantasie, sondern längst daran, sich wie Blaualgen im Meer zu verbreiten. Eine düstere Sicht auf die Spezies Mensch und was von ihr geschaffen wurde. „GRM Brainfuck“ ist nicht leicht zu lesen, zwingt einem zur permanenten Selbstreflexion. Es gibt in dem Roman kein Personal, mit dem man sich identifizieren will. Sibylle Bergs Blick ist gnadenlos, atemlos und hoffnungslos.

«WOW, I’m the king of grime and I will
be for a very long time
Cause I go to the rave get a rewind and the second
line never sounded like the first line.
WOW, I’m the king of grime and I will
be for a very long time» 

«GRM.Brainfuck» ist auch eine Anklage gegen das Patriarchat. In Sibylle Bergs kurzfristiger Zukunft ist Männlichkeit alles. Dass diese Männlichkeit viel zerstört hat, dass männliche Dominanz noch immer zerstört, ist unbestritten. Der Roman ist auch eine Anklage gegen den Wahn eines unbegrenzten Wachstums, gegen die totale Überwachung, in vielen Bereichen freiwillig eingegangen. Gegen die Entwertung der Arbeit … die Liste wird lang.

Warum „GRM“ lesen? Weil „GRM“ mächtig ist, ein literarischer Titan. Weil „GRM“ Fragen stellt, komplexe Fragen, an deren Antworten man scheitern kann. Weil die Lektüre ein Gang durch ein Minenfeld ist, man dem Grauen ins Gesicht schaut und man sich fragt, wie eine Autorin einen solchen Titan mit sich herumschleppen konnte. „GRM“ ist mutig und grenzenlos. Wer sich nicht einfach nur einlullen lassen will durch brave Geschichten, wer riskieren will, mit der Lektüre des Buches Akzeptiertes zu hinterfragen, lese dieses Buch!

Warum gewinnt Sibylle Berg mit GRM den Schweizer Buchpreis 2019? Weil ihr Roman alles hat, was ihre vier mitnominierten Bücher auch haben, nur noch viel mehr. Sibylle Berg schaut unter die Oberflächen wie Tabea Steiner mit „Balg“. Sie konstruiert geschickt, webt einen Teppich von Geschichten wie Simone Lappert in „Der Sprung“. Sie beschreibt einen Wendepunkt, wie man durch die Zeit mitgerissen wird wie Alain Claude Sulzer in seinem Roman „Unhaltbare Zustände“. Und sie malt ein literarisches Bild wie Ivna Žic in „Die Nachkommende“, wenn auch ein apokalyptisches. Sibylle Berg provoziert dadurch, dass sie in den faulen Haufen sticht, den Eiter fliessen lässt.
Bitter für die MitkonkurrentInnen, jedes einzelne Buch, das zur Auswahl steht. Sie alle sind absolut lesenswert. Aber „GRM Brainfuck“ von Sibylle Berg ist übermächtig.

Ein kleines Interview mit Sibylle Berg:

Die Welt in „GRM Brainfuck“ ist aus den Fugen geraten. Und wer den Blick vor den Tatsachen nicht verschliesst, weiss, dass dies nicht nur für die Gegenwart und nahe Zukunft in Ihrem Buch zutrifft. Es muss erschreckt werden, um all jene aufzurütteln, die stumpf daran glauben, dass der Schnellzug im immer gleichen Tempo in immer gleicher Richtung weiterrasen kann. Liegt darin eine Ihrer Absichten?

Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich keine Absicht die Lesenden betreffend. Ausser eventuell, dass ich in sich verliebte Sätze vermeide um nicht zu langweilen, geht es mir immer darum, etwas herauszufinden. Sei es eine Versuchsanordnung, die ich erstelle oder Thesen, die ich belegen möchte. Am Beginn von GRM Brainfuck stand der Wunsch, all die unterschiedlichen, teils als bedrohlich empfundenen Entwicklungen unserer Zeit in eine Ordnung zu bringen. Das Erstarken rückwärtsgewandter politischer Strömungen, die digitalisierte Überwachung, die künstliche Intelligenz, die Verknappung der Ressourcen und die Hysterie in den sozialen Medien zum Beispiel. Ich wollte verstehen. 

Ihr Buch ist ein „Hirnfick“. Die Provokation Ihres Romas liegt in seiner Direktheit, seiner Unausweichlichkeit, in der Absicht, dass da jemand meine Augen aufreisst, mich zwingt, in eine Richtung zu schauen, der ich mich lieber verschliesse. Wer liest, kann all die Bilder nicht einfach beiseite legen. Wie war das beim Schreiben? Wie sehr war das Schreiben Kampf? Oder gar „Befreiung“?

Schreiben ist nie ein Kampf, sondern das Privileg das zu tun, was ich möchte. Weitgehend ohne jede störende Einmischung anderer Menschen. Es ging mir während des Schreibens unglaublich gut, denn jede Seite bedeutete etwas mehr Ordnung in meinem etwas zu voll gewordenen Verstand. Ich hatte ja vor Beginn zwei Jahre lang geforscht, mit Wissenschaftlerinnen geredet, fast coden gelernt, mich in England aufgehalten, es war einfach als ob man einen Stöpsel aus der Wanne zieht. 

Irgendwo in Ihrem Roman heisst es „Die Menschen sind dumm“. Angesichts der Tatsache, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, dass nicht nur in der Lage ist, seinen eigenen Lebensraum zu zerstören, sondern es auch noch tut, macht diese Aussage unbestreitbar. Tragen Sie für den Menschen, die Menschheit, die Gesellschaft noch einen Funken Hoffnung mit sich herum?

Unbedingt, denn bisher hielten sich die Innovationskraft der Menschen und ihr Wille zur Zerstörung die Waage. Ich weiss nur leider nicht, ob uns diesmal genug Zeit für eine tiefgreifende Regulierung des Systems bleibt. Der Kapitalismus, der lange Zeit durchaus Positives für die Entwicklung der Menschheit brachte, hat einen sich selbst beschleunigenden Grad an gieriger Blödheit und Wunsch nach Selbstauslöschung angenommen, das ich mir nicht sicher bin, ob die Menschheit es diesmal aus der Krise schafft. Wenn man weiss, das die meisten Superreichen nach Fluchtmöglichkeiten, sei es auf dem Mars oder auf dem Meer, suchen, könnte man daran zweifeln, dass diesmal für einen Grossteil der Menschheit alles gut ausgeht.  

Den Menschen werden die Träume genommen, den Jugendlichen, den Kindern. Nicht einmal mehr die Liebe ist einen Traum wert. Leben besteht nur noch aus Ernüchterung, aus Kampf, Hass und Wut. Sie beschreiben einen Ort, wo der Widerstand sinnlos geworden ist. Die Lektüre Ihres Roman hat alles, um sich in die Träume einzuschleichen, Stoff genug für Alpträume. Ihr Buch liest sich auch als Kampfansage gegen all die stumpfen Politköpfe, die allgegenwärtige Geilheit, den Verlust von Empathie. Wovon träumen Sie?

Träumen war noch nie meins. Ich versuche mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, aufzuklären. Oder kurzfristig Heimaten anzubieten. Und ich versuche, mich zu beruhigen, denn die allgemeine Verrohung und Gemeinheit, die Härte gegenüber finanziell Benachteiligten, der Randgruppen, setzen mir körperlich sehr zu. 

Nichts in Ihrem Roman ist „erfunden“. Die Stadt Rochdale gibt es. Suchten Sie für Ihren Roman eine entsprechende Kulisse oder war es die Stadt selbst, die Ihre Geschichte erzählt?

Rochdale ist nicht mehr als ein Stellvertreterplatz für Millionen ähnliche Orte weltweit. Fern von Touristenattraktionen, fern von Glanz und Schönheit. Ein ehrlicher Ort, in dem Menschen leben die sich nicht mit Konsum von ihrer Existenz ablenken können.

Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 25 Theaterstücke, 14 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg fungierte als Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Wolfgang-Koeppen-Preis (2008), den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (2016), den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2019) sowie den Thüringer Literaturpreis (2019).

Webseite der Autorin

Illustrationen © Lea Frei

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Planetenschreiber des Merkur zu werden. Ich wusste kaum etwas über diesen ziemlich abgelegenen Ort des Sonnensystems und hätte auch höflich abwinken können. Aber ich dachte, dass es vielleicht ganz gut wäre, ein halbes Jahr mit festen Bezügen auf der hiesigen Orbitalstation zuzubringen, um mit meinem Roman voranzukommen. Keine Ablenkung, nur die Konzentration auf das Wesentliche. Schreibtisch mit Aussicht auf das Universum. Und der Blick aus dem Panoramafenster meiner Planetenschreiberwohnung ist wirklich beeindruckend. Die Sonne schwebt riesengroß über der Sichel des Merkur. Aber spätestens nach einer Woche kennt man das natürlich und hat sich dran gewöhnt.

Die Station ist klein. Es gibt ein Café und zwei, drei Läden für die alltäglichen Dinge. Einmal in der Woche kommt ein Service-Techniker vorbei und sieht nach dem Rechten. Und jeden Monat dockt ein Versorgungsschiff von der Erde an und bringt alles Notwendige für die Besatzung und die Siedler unten auf dem Planeten. Bei denen hätte ich mich als Planetenschreiber auch einquartieren können, aber sie leben am Boden eines Kraters am nördlichen Merkurpol, der ganzjährig im Schatten liegt. Logisch – im Sonnenlicht herrschen schlappe zwei- bis vierhundert Grad oder noch mehr. Da zieht man sich lieber in den Schatten zurück, auch wenn es dort mit minus zweihundert Grad ziemlich frisch ist.

Ja, so ist das – auf dem Merkur ist es unerträglich heiß, es sei denn, es ist unerträglich kalt. Die Probleme habe ich hier oben nicht. Die Station ist immer bestens temperiert, da kann ich mich nicht beschweren. Nimmt man das beeindruckende Sonne-Merkur-Panorama hinzu, auf das ich von meinem Schreibtisch aus schaue, sollte es mit der Arbeit an meinem Roman also eigentlich gut vorangehen. Aber irgendwie bringe ich nichts Gescheites zu Papier, um diese uralte Redewendung zu benutzen.

Irgendetwas lähmt mich, und allmählich habe ich die Befürchtung, es könnte der Merkur selbst sein. Auf ihm zieht sich alles unsäglich in die Länge. Ein Merkurtag dauert, wie ich inzwischen herausgefunden habe, knapp 176 Erdentage. Klar, dass man da zu nichts kommt. Man denkt immer, ich habe ja noch genug Zeit bis zum Abend, also mache ich erstmal was anderes oder gar nichts. Und eigentlich gibt es in der Station ja auch mehr oder weniger nichts zu tun. Man muss nicht putzen oder lüften oder den Rasen mähen. Und man kann auch nicht vor die Tür gehen, um mal eben frische Luft zu schnappen. Ich denke immer, das mit dem Schreiben kommt schon noch. Du musst dich erstmal akklimatisieren. Und genaugenommen werden von einem Planetenschreiber ja auch keine Wunderdinge erwartet. Der Posten ist hauptsächlich eine Art Belohnung dafür, dass wir Autoren das Fähnchen der Literatur im Universum wacker hochhalten. Gelegentlich ein kleines Stimmungsbild – ein Bericht, wie es in den Preisstatuten heißt –, das reicht schon. Und ab und an soll man sich bei öffentlichen Anlässen blicken lassen. Aber da die Anzahl solcher Anlässe auf dem Merkur sehr überschaubar ist, fällt dieser zweite Punkt kaum ins Gewicht.

Um aber doch ein kleines bisschen am sozialen Merkurleben teilzunehmen, bin ich gestern mit dem Servicetechniker runter auf die Planetenoberfläche geflogen. Ich hatte die Idee, Kontakt mit der Forschungsstation aufzunehmen, die es dort unten seit den fünfziger Jahren gibt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was die Wissenschaftler da eigentlich machen und rauszufinden hoffen. Aber ich brauche Stoff für meinen ersten Bericht, da angesichts des Schneckentempos, mit dem die Sonne über den Merkurhimmel kriecht, mit astronomischen Beobachtungen oder kosmischen Naturbeschreibungen nicht allzu viele Seiten zu füllen sind.

Der Flug hinunter zur Planetenoberfläche war auch wirklich lohnenswert. Der Servicetechniker war nämlich, wie sich herausstellte, ein begeisterter und versierter Hobbypilot und ließ es sich nicht nehmen, mit mir eine Runde über die Nordhemisphäre zu drehen, um mir ein paar der spektakulärsten Landschaftsformationen aus der Nähe zu zeigen. Er ist ein überzeugter Merkurianer, der schon seit zwanzig Jahren hier lebt. Er erklärte mir mit lokalpatriotischem Stolz, dass sämtliche Krater des Merkur nach Künstlern, Musikern, Malern und Schriftstellern benannt seien, ob ich das schon gewusst hätte? Hatte ich nicht. Und ich wunderte mich darüber: ein Planet voller Kulturschaffender – wer hätte das gedacht! Das bedeutete ja sogar, dass ich als Schriftsteller im Prinzip die Chance hatte, zum Namensgeber für einen Merkurkrater zu werden – zumal als amtierender Planetenschreiber! Allerdings mussten die Taufpaten für die Krater seit fünfzig Jahren tot und künstlerisch einhellig anerkannt sein. Ich war mir nicht sicher, ob mir das je gelingen würde. Zu sterben war dabei nicht das Problem, aber vielleicht die künstlerische Reputation, dachte ich und hatte sofort Gewissensbisse, weil ich mit meinem Roman nicht vorankam.

Wir drehten eine Runde über Tschechow, Ibsen, Rilke und Hemmingway. Das waren ziemlich gewaltige Krater von knapp hundert bis zweihundert Kilometern Durchmesser. Die kleineren hatten nicht so prominente Namensgeber. Jedenfalls hatte ich noch nie etwas von dem chinesischen Maler Qi Baishi, der maltesischen Bildhauerin Maria de Dominici oder dem isländischen Dichter Snorri Sturluson gehört. Die hatten Krater im Zehn-Kilometer-Format ergattert. Es gab aber auch solche mit weniger als einem Kilometer Durchmesser oder auch nur hundert oder zehn Metern. Das beruhigte mich etwas. Für so einen Mikrokrater, dachte ich, würde es bei mir ja vielleicht doch reichen.

Zurück zum nördlichen Pol flogen wir zuerst entlang einer enormen Abbruchkante mit einem Höhenunterschied von zwei Kilometern und danach über Caloris Planitia, einer riesigen kreisrunden, von Gebirgswällen umgebenen Ebene. Dahinter begannen die etwas gemäßigteren nördlichen Breiten mit ihren Permaschattengebieten, in denen man herumlaufen kann, ohne dass es ist, als würde man auf glühenden Kohlen wandeln. Dort hatte man die Forschungsstation, die ich besuchen wollte, unter einem großen Dach aus Glaswaben errichtet. Sie lag am Rand von Merkur-City, einer kleineren Ansammlung ganz ähnlicher Habitate, die ein Hotel, Wohnhäuser und Geschäfte, eine Kirche und den Sitz irgendwelcher Lithium- und Rubidiumexportfirmen beherbergten. Der Ort stand hartnäckig in dem Ruf, die langweiligste Planetenmetropole des Sonnensystems zu sein.

Die Wissenschaftler freuten sich über meinen Besuch. Wahrscheinlich hofften sie, dass ich als Planetenschreiber ihre Arbeit gebührend würdigen würde. Sie hatten nämlich gerade, wie sie mir mit diesem typischen kindlichen Wissenschaftlerstolz mitteilten, eine sensationelle Entdeckung gemacht! Sie führten mich in ihr zentrales Labor, das allerdings einen etwas in die Jahre gekommenen, technisch rückständigen Eindruck machte. Man spürte, dass der Merkur als Forschungsstandort nicht gerade der Nabel der wissenschaftlichen Welt war. Allerdings hatte die Entdeckung, die mir die Forscher präsentierten, mit moderner Technik auch nicht besonders viel zu tun. Sie öffneten einen gekühlten Tresor, holten eine Spezialflasche mit einer klaren Flüssigkeit heraus und stellten sie ehrfürchtig auf den Tisch. Ich würde nie darauf kommen, was das sei, meinten sie.
„Wasser?“, überlegte ich. Das enttäuschte sie. Wahrscheinlich hatten sie angenommen, ich würde als Schriftsteller zuerst an irgendeine hochprozentige Innovation denken. Es war aber wirklich Wasser, wie sie schließlich einräumten, doch ist Wasser für Wissenschaftler natürlich nicht gleich Wasser. Dieses hier, meinten sie und machten eine längere Spannungspause, um mir Zeit zu geben, mich auf die nun kommende Sensation einzustellen, dieses hier sei das älteste Wasser des Sonnensystems!
So, so, dachte ich. Und nachdem sie ihre Bombe nun hatten platzen lassen, verrieten sie mir auch die zugehörigen Details: Sie hatten den Merkurboden systematisch angebohrt und in der Tiefe mit Ultraschallsonden nach Eis gesucht. In einem kleinen Permaschattenkrater mit dem seltsamen Namen Lady Gaga waren sie schließlich fündig geworden. Fünfzehn Meter unter der Oberfläche stießen sie auf einen Eisflöz und entnahmen ihm eine Probe. Deren chemische Analyse ergab für den Flöz ein Alter von sagenhaften vier Milliarden Jahren. Damit schlugen sie vergleichbare Eisablagerungen auf dem Mond oder Enceladus um ein paar hundert Millionen Jahre.
Dieses Wasser, gerieten meine Gastgeber ins Schwärmen, stammte aus der absoluten Frühzeit des Sonnensystems, gleichsam aus seiner Embryonalphase, als noch Abermilliarden von Staub-, Fels-, und Eisbrocken um die Sonne schwirrten und durch permanente Kollisionen zu den heutigen Planeten verklumpten.
Und nachdem sie mir das alles erklärt hatten, öffneten sie die Flasche und gossen mir ein Glas von dem uralten Wasser ein. Das vermutlich älteste Getränk, das ich vordem zu mir genommen hatte, war ein ziemlich schwerer Château-Mao, Jahrgang ’84, gewesen, den mein Großvater zu seinem Hundertsten entkorkt hatte. Ich überlegte eine Sekunde, ob vier Milliarden Jahre altes Wasser überhaupt noch genießbar war, aber die Wissenschaftler machten nicht den Eindruck, als wollten sie mich vergiften. Ich trank also artig das Glas aus und nickte. Das Wasser hatte geschmeckt wie – Wasser. Erstaunlich, dachte ich, woran Wissenschaftler so ihre Freude haben.

Auf dem Rückweg zum Landeplatz des Shuttles kam mir Pastor Hsien von den Solaren Unitariern entgegen. Offenbar hatte sich mein Ausflug nach Merkur-City inzwischen herumgesprochen. Hier passiert so wenig, dass sogar ein Schriftsteller Aufmerksamkeit erregt. Pastor Hsien sprach mich an und lud mich ein, am Wochenende zu einem Gottesdienst zu kommen. Mir war nicht wohl dabei, und ich gab zu, nicht allzu viel über die Solaren Unitarier und überhaupt über die verschiedenen Glaubensströmungen im Sonnensystem zu wissen.
Pastor Hsien nickte nachsichtig, er war ein sanftmütiger, freundlicher Mann – ganz alte chinesische Schule. Die Solaren Unitarier, erklärte er mir, kämpften gegen den religiösen Geozentrismus der meisten anderen Konfessionen und Religionen. Es wäre doch purer Zufall, meinte er, dass Jesus auf der Erde erschienen sei. Würde er heutzutage sein Erlösungswerk verrichten, könnte er dies im gesamten Sonnensystem tun. Die bescheidenen Verhältnisse hier auf dem Merkur würden ja viel besser zu dem ärmlichen Stall passen, in dem Jesus einst geboren worden sei, als die Paläste auf dem Mars oder die Ballonbordelle der Venus. Und schon gar nicht könne Gott gewollt haben, dass sich das gesamte Sonnensystem bei den christlichen Festtagen nach dem Rhythmus der Erde zu richten habe. Da ein Merkurjahr nur 88 Erdentage dauerte, könnte man hier also rund alle drei Monate Weihnachten feiern, was Pastor Hsien sehr schön fand. Der Gedanke wurde von den Vertretern der römisch-katholischen Kurie und den meisten protestantischen Strömungen aber regelmäßig als lächerlich abgetan, und das ärgerte Pastor Hsien. Bei Ostern wiederum stellte sich das Problem völlig anders dar. Das irdische Ostern fand stets am Wochenende nach dem ersten Frühlingsvollmond statt. Nun hatten aber weder Merkur noch Venus einen Mond, der Mars hingegen zwei, und bei den äußeren Planeten waren nicht diese selbst, sondern die Monde bewohnt, was die Situation für eine astronomische Berechnung des Osterdatums gleichsam auf den Kopf stellte. Und als wäre das alles nicht schon kompliziert genug (ich verstand es wirklich nicht), gab es ja noch die vielen bewohnten Kleinplaneten im Asteroiden- und dem fernen Kuipergürtel, die man bei der Suche nach ihrer religiösen Identität doch auch nicht allein lassen durfte, fand Pastor Hsien.
Es gab für ihn und die Solaren Unitarier also alle Hände voll zu tun, und ich versprach ihm, mal bei einem Gottesdienst vorbeizuschauen. Besonders beliebt, hatte ich gehört, waren seine gelegentlichen Orbitalgottesdienste, die er freischwebend in einer Umlaufbahn abhielt, um darauf aufmerksam zu machen, dass es in letzter Konsequenz ja nicht nur darum ging, die Planeten in ein religiöses Gesamtsystem zu integrieren, sondern auch den Weltraum, ja das Universum als Ganzes. Das war Pastor Hsiens Mission.

Zurück auf der Orbitalstation nahm ich erstmal ein langes Sonnenbad. Der Ausflug auf die Merkuroberfläche hatte mir gefallen, aber auf Dauer, das hatte ich auch gespürt, wäre ein Leben im Permaschatten dort unten nichts für mich. Vielleicht würden die Pläne für einen im Orbit stationierten Reflektor ja einmal umgesetzt und Merkur-City durch diesen wie von einer künstlichen Sonne beleuchtet. Die merkurianischen Parlamentsabgeordneten auf Europa forderten das immer mal wieder, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Mittel dafür von der ewig zerstrittenen Planetaren Union jemals bewilligt werden würden. Die Sache war einfach zu teuer und Merkur-City zu unbedeutend.

Ein paar Tage später dockte das Versorgungsschiff von der Erde an. Ich hatte es schon längere Zeit im Teleskop wie einen heller werdenden Stern auf die Station zukommen sehen und freute mich auf die Abwechslung. Es würde zwei oder drei Tage dauern, die gesamte Ladung zu löschen und auf die Planetenoberfläche zu transportieren. Die Besatzung würde das Café beleben, und vielleicht, so dachte ich, ergab sich ab und an ein nettes Gespräch bei einem Bier. Insbesondere stellte sich heraus, dass das Schiff eine Co-Pilotin hatte. Sie war Mitte dreißig und sah ziemlich gut aus, wie ich fand. Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob sich Pilotinnen für Planetenschreiber interessieren, aber es sprach ja nichts dagegen, mein Glück bei ihr zu versuchen. Ich stellte mich ihr vor, sie hieß Sequoia. Dass es so etwas wie Planetenschreiber gab, hatte sie noch nie gehört, aber sie fand es ganz interessant.
„Und was schreiben Sie so?“, erkundigte sie sich.
„Hauptsächlich arbeite ich an einem Roman“, behauptete ich, obwohl ich in meinen ersten paar Wochen als Merkurschreiber mit diesem Projekt noch nicht eine einzige Seite weitergekommen war. „Aber eben auch über den Merkur. Was hier so läuft, meine ich, Frachtlieferungen zum Beispiel. Ist doch interessant. Und demnächst mache ich bei einem Orbitalgottesdienst mit. Ach ja, und neulich haben Wissenschaftler auf dem Merkur die ältesten Wasservorkommen des Sonnensystems entdeckt. Also wie Sie sehen, ist hier ne Menge los. Da kommt man aus dem Schreiben gar nicht raus.“
„Und der Roman, worum geht’s da?“
„Nichts Besonderes. Also ich meine, worum kann’s schon gehen heutzutage? Das Leben und so. Alles in allem bin ich da noch mehr in der Findungsphase. Ein Thema muss reifen. Und wenn man es dann hat, dann läuft es auf einmal wie am Schnürchen … Sie kommen sicher viel rum, nehme ich an.“
„Ja, schon“, sagte sie und erzählte mir, dass sie eine Zeit lang sogar auf der berühmten Neptunroute geflogen war, die aber auf Dauer nicht so spektakulär wäre, wie sich das die meisten wohl vorstellten. Klar, es gäbe da schon eine Menge zu sehen, den Asteroidengürtel, die Ringe des Saturns, den einen oder anderen Kometen, aber man sei eben auch Ewigkeiten unterwegs, und zwischen den einzelnen Highlights tue sich nun mal nicht viel. Und dann war man bei Frachtflügen ja auch immer nur kurz vor Ort und musste wegen des Kostendrucks nach dem Löschen der Ladung gleich wieder weiter.
„Das reicht dann gerade mal so eben für eine Stippvisite bei den Kryogeysiren auf Triton“, meinte sie, „und wenn man Pech hat, sind die ausgerechnet dann inaktiv und man verpasst einen Ausbruch.“
Den würde sie bei mir nicht verpassen, dachte ich spontan, aber ich war mir nicht sicher, ob ich bei ihr Chancen hatte und versuchen sollte, mit ihr anzubändeln. Je nachdem, was man von einer Beziehung erwartet, kann das Herumziehen ja Fluch und Segen sein. Ich hielt es aber für möglich, dass sie die Ungebundenheit mochte, sonst wäre sie vielleicht nicht Frachtpilotin geworden. Wir Kinder des Sonnensystems haben wegen der großen Entfernungen einen Lebensstil wiederbelebt, den es auf der Erde schon lange nicht mehr gibt: den des Vagabunden. Jedenfalls sah ich mich so, und vielleicht war sie es ja auch.
Ich hatte die Idee, sie mit den einzigen literarischen Arbeiten zu beeindrucken, die mir in meiner Zeit als Merkurschreiber bisher geglückt waren.
„Ich habe übrigens ein paar Merkurgedichte geschrieben“, sagte ich.
„Merkurgedichte?“
„Limericks, genauer gesagt. Ich bin an sich kein Lyriker, aber Limericks liegen mir. Die flutschen mir immer flott aus der Feder. Und der Merkur hat mich inspiriert. Wussten Sie, dass es dort unten entweder unerträglich heiß ist oder unerträglich kalt?“
Sie nickte neugierig, und ich ließ mich nicht lange bitten: „Erster Merkurlimerick:

War mal ein Mann in der flirrenden Wüste,
der wegen der irren Hitze düste,
auf den Merkur,
doch empfand er da nur,
die heftigsten Rückkehrgelüste.“

Sie lachte, was mich ermutigte, fortzufahren: „Zweiter Merkurlimerick:

Dachte ein Mann in der Arktis,
Ich bekomme hier, was ein Infarkt ist,
Auf dem Merkur werde ich älter,
doch war es da noch viel kälter,
so dass sein Raumschiff wieder am Nordpol geparkt ist.“

„Da kommt der Merkur ja nicht gerade gut weg“, meinte sie.
„Stimmt schon“, gab ich zu. „Dabei mag ich ihn inzwischen ganz gern.“
„Und? Gibt’s dazu auch einen Limerick.“
Ich hatte auf die Frage gehofft, zögerte aber einen Moment. Der Limerick war ein wenig heikel, doch dann nickte ich und fuhr fort: „Dritter Merkurlimerick:

Sehr kalt ist es im Permaschatten,
Doch gibt’s ja gute Wärmematten.
So kommt‘s, dass auch auf dem Merkur
Mit Blick auf die Sterne pur,
Die Pärchen sich gern begatten.“

„Na, dann …“, sagte sie.

Im Feldstecher ist ihr Frachtschiff nur noch ein kleiner heller Punkt. Ihre nächste Station ist der Mars. Da will sie zwei Wochen Urlaub machen und auf dem Olympus Mons rumkraxeln. Ich habe sie nicht gefragt, mit wem. Ich muss hier ja sowieso die Stellung halten. Ich fliege jetzt regelmäßig zur Oberfläche hinunter und spiele mit Pastor Hsien Schach. Er ist ein ausgefuchster Stratege, und ich verliere immer.
Sein Orbitalgottesdienst war ein echtes Erlebnis. Bei einem gleißenden Sonnenaufgang schwebten wir in unseren Raumanzügen über dem Merkur, und durch die Helmlautsprecher spielte Pastor Hsien nach seiner Predigt den Anfang von „Also sprach Zarathustra“. Er hat ein Händchen für dramatische Inszenierungen und besitzt sogar, wie man daran sieht, religiösen Humor. Aber ob ich Mitglied bei den Solaren Unitariern werden möchte, hat er mich noch nicht gefragt. Er ahnt wohl, dass ich bei aller Sympathie soweit nicht gehen würde.

Gestern habe ich bemerkt, dass die Sonne größer geworden ist. Es geschieht so wenig hier oben, dass es mir aufgefallen ist. Es kommt daher, habe ich mir erklären lassen, dass der Abstand zwischen Merkur und Sonne bei einem Umlauf stark schwankt. Ich notiere das, weil ich das Protokollieren solcher Merkurbesonderheiten inzwischen als meine Aufgabe ansehe. Manchmal, wenn auch nicht mehr sehr oft, denke ich noch an meinen Roman, den ich hier eigentlich hatte schreiben wollen. In der römischen Mythologie ist Merkur der Götterbote, und ich hatte irgendwie gehofft, auch mir würde hier eine wichtige Botschaft einfallen – es musste ja nicht gleich eine göttliche sein. Inzwischen finde ich es nicht mehr tragisch, dass ich diese Botschaft noch nicht gefunden habe und wohl auch nicht finden werde. Es ist auch so ganz schön, Planetenschreiber zu sein. Und in drei Wochen, was in Merkurzeit bedeutet: heute Abend, kommt das nächste Frachtschiff.

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, „Freigang“, erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt. Mit seinem Roman «Der Sommer meiner Mutter» steht Ulrich Woelk auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
«Planetenschreiber 1: Merkur» ist im Berliner Hybriden-Verlag als Künstleredition in einer sehr kleinen Auflage mit Zeichnungen von Hartmut Andryczuk erschienen. Wenn Sie neugierig sind, können Sie sich auf der Seite des Hybriden-Verlags umsehen. www.hybriden-verlag.de

literaturblatt.ch über «Der Sommer meiner Mutter» (2019)

literaturblatt.ch über «Nacht der Engel» (2017)

Autorenprotrait © Bettina Keller

Ivna Žic «Die Nachkommende», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/10

Die junge, 1986 in Zagreb geborene und in Zürich aufgewachsene Ivna Žic schrieb mit „Die Nachkommende“ einen Roman, der nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen will. Ivna Žic erzählt Bilder, die sie aus Vergangenheit und Gegenwart mit sich trägt, Bilder, die mit dem Lesen zu Geschichten werden. So wie ein Grossvater mit einem Mal zu malen aufhört und nie eine Antwort dafür gibt, warum er den Pinsel weglegte, so taucht Ivna Žic als Prosamalerin auf und malt beeindruckend.

© Lea Frei

Eine junge Frau bewegt sich hin und her, von Zürich nach Zagreb, von Zagreb zurück, nach Paris. Aber nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich. Zurück in Bildern aus ihrer Kindheit, noch weiter in das familiäre Bewusstsein einer ganzen Sippe. An die Seite eines Mannes, den sie liebte, der sie liebt, aber eine Liebe, die von beiden Seiten nicht hielt, was sie versprach. An die Seite ihrer Grossmutter, der sie als Kind das Wasser in Kübeln vom Meer auf die Veranda brachte und die ihre Füsse darin badete, ohne je einmal wieder mit ans Meer zu kommen. An die Seite des Grossvaters, des rauchenden Deda, der einmal malte, sich in die Erinnerung der Erzählten malte, tief ins Bewusstsein und nie enträtselte, warum er zu malen aufhörte.

„Warum hast du aufgehört zu malen? Es gibt anderes, sagte er dann, irgendwann, immer wieder…“

Ivna Žic erzählt vom Unterwegssein, der Unmöglichkeit, wahrhaftig an einem Ort zu sein oder an der sicheren Seite eines Menschen. Alles wandelt sich, nichts bleibt, wie es ist. Wer dort ist, soll da sein. Sie erzählt vom Verlust von Heimat, der Suche nach ihr, den Verpflichtungen und Rufen einer Sippe, dem Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen, ungebunden und doch irgendwo zuhause zu sein, der Sehnsucht all jener, die sich nach inneren Bildern sehnen, die von der Gegenwart vergessen sind. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und die Ernüchterung darüber, dass zum andern und gar zu sich selbst unüberwindbare Distanz bleibt.

„… Geschichten der letzten Generationen, die an meinem Körper kleben, dranhängen, als wären sie vergessen, und doch pochen sie jeden Tag, wandern sie jeden Tag mit…“

Die Erzählerin sitzt und liegt nachts im Zug und die ganze Sippe setzt sich im Dunkel des ratternden Gefährts an die Seite der jungen Frau, flüstert, ruft und erzählt. Die Erzählerin sitzt im Bus, 12 Stunden zurück in die Schweiz nach Zürich, ganz nah all den andern, die Geschichten und Bilder mit sich herumschleppen. Von einem Ort zum andern, wie Generationen zuvor, als Kriege und Grenzen Reisen von Süden nach Norden zu Fluchten machten. Von einem Land, das in diesem Jahrhundert mehrfach von Kriegen, verschiedensten Regimen gebeutelt wurde, in ein Land der „eingeschlafenen Körper“.

Die Protagonistin reist hin und her, getrieben von ihr selbst, von unbeantworteten Fragen, verschwiegener Geschichte, dem Gefühl nirgendwo zuhause zu sein. Unvereinbare Welten, die sie auseinanderzureissen drohen. Auf der Grossmutterinsel die stete Frage, wann sie wiederkomme und in der Stadt, in der sie wohnt, die dauernde Frage, ob sie von hier sei.

Ivna Žic erzählt und webt ein Netz in die Landschaft, dessen Bänder sich mit jedem Erzählstrang mehr und mehr zu einem grossen, ganzen Bild zusammenfügen. Sie erzählt wie ein Maler malt, nicht von links oben nach rechts unten, sondern Pinselstrich für Pinselstrich auf der Leinwand der Zeit. Zugegeben, Ivna Žics Prosa entschlüsselt sich nicht von selbst. Sie verlangt von Lesenden einiges ab. Aber wer sich auf die Musik in der Sprache der jungen Schriftstellerin einlässt, die Intensität ihrer Sprache, der wird reichlich belohnt.

«Ein Interview»:

In Ivna Žics Roman „Die Nachkommende“ stellt die namenlose Protagonistin ein paar Fragen an den Schalterbeamten Herr Zlatko.
Fragen, die ich der Autorin stellte:

Warum sind Sie gerade hier und nicht anderswo?
Jetzt gerade bin ich hier, in Zürich, und nicht anderswo, weil ich das Stück GEBROCHENES LICHT am Theater probe. Das schöne am Medium Theater ist: Man muss da sein, hier sein und kann nicht anderswo, es geht nicht digital oder per Mail, es geht nur hier und jetzt.

Warten Sie auf etwas?
Momentan nicht wirklich, die Tage sind voll, wir sind mitten in Endproben und die Première rückt von Stunde zu Stunde näher.

Was oder wer fehlt Ihnen?
Etwas Ruhe zum  Schreiben.

Haben Sie Zeit?
Ich nehme sie mir, jeden Tag aufs Neue.

Hassen Sie?
Nein.

© Lea Frei

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman »Die Nachkommende«  wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sie lebt in Zürich und Wien.

Illustrationen © Lea Frei

Tim Krohn «Der See der Seelen», Kampa

Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem Unerklärbaren, dem Mythischen, jenen Kräften in der Natur, die einem verblüffen. Vielleicht ist es die Faszination des Sagenhaften, des nur schwer Erklärbaren. Aber vielleicht die Art des Erzählens, dass da einer mit geschmeidiger Sprache und Stimme ganz nah an die Urthemen allen Denkens und Handelns kommt. «Der See der Seelen» ist ein Geschenk!

Schon in seinen früheren Büchern, allen voran «Quatemberkinder» oder «Vrenelis Gärtli», zeigte der umtriebige Schriftsteller Tim Krohn seine Nähe zur Sagenwelt. Und genauso sind in seiner neuen «Alpensaga» Geschichte, Landschaft und Figuren nicht bloss Kulisse und Personal, denn «Der See der Seelen» spielt mit der Klangfarbe jener Geschichten, die das Unerklärliche erklären wollen, dem Ton, ohne in einen antiquierten Singsang zu verfallen. «Der See der Seelen» beschäftigt sich auf 80 Seiten mit den grossen Themen des Lebens; Familie, Liebe, Freundschaft, Tod, zeitlos, in ein Szenario eingebettet, das aus der Zeit gefallen scheint, nicht abgehoben, aber entrückt, nicht weltfremd, aber vielleicht zivilisationsfremd. Vielleicht steckt hier eine der vielen Gründe meiner Faszination; die Sehnsucht nach dem Urtümlichen, dem Nicht-Technisierten, dem einzig von den Naturgewalten Abhängigen.

Niculina lebt mit ihren Eltern auf einem kleinen Hof in den Bergen. Das Leben im Dorf ist hart, die Existenz der Familie von vielem bedroht. Nicht zuletzt von der Krankheit der Nona, Niculinas Grossmutter, die im gleichen Dorf lebt und sich die Medizin, die sie bräuchte, nicht mehr kaufen will und kann. Niculina treibt jeden Morgen die Ziegen hinauf auf die Weiden über dem Dorf. Dort trifft sie Ladina, ihre Freundin, und seit diesem Sommer Peider, den Sohn des einzigen Kaufmanns im Dorf. Peider muss keine Ziegen hüten. Er hütet sein Giki Gäki in seinem sagenhaften Buch, dessen Erklärungen er den Mädchen wie die Wahrheit verkauft. Für Niculina, die durch die Krankheit der Grossmutter, durch den drohenden Tod und die Geheimnisse, die in der Natur verborgen sind nach Antworten sucht, macht sich auf, um im See der Seelen das Lebenswasser zu finden, jenes Wasser, das die Grossmutter unsterblich machen soll. Von geheimnisvollen Doppelwesen geführt bis ins Wolfstal in eine geheimnisvolle Höhle unter dem Piz Spiert.

«Der See der Seelen» ist das Schwesterbuch seiner 2010 bei Galiani erschienen Bergnovelle «Der Geist am Berg». Schon damals spielte die Geschichte an den Flanken der selben Berge. «Der See der Seelen» bezaubert in vielerlei Hinsicht. Geschichte und Sprache vereinen sich zu einem Kunstwerk. Und dass dem Kampa Verlag so viel daran lag, aus diesem Büchlein ein wahres Kleinod zu gestalten, freut den Büchernarren ganz besonders. «Der See der Seelen» erwärmt die Seele!

© Susanne Schleyer

Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane, z. B. «Quatemberkinder» (1998) oder «Vrenelis Gärtli» (2007), Erzählbände, Theaterstücke und zuletzt die Romane „Herr Brechbühl sucht eine Katze“, „Erich Wyss übt den freien Fall“ (beide 2017), «Julia Sommer sät aus» (2018) und neu bei Kampa die Krimis «Engadin Abgründe» (2018) und «Endstation Engadin» (2019) unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder.

Webseite des Autors

Zudem betreibt der Autor zusammen mit seiner Frau und Schriftstellerin Micha Friemel das Haus Parli, ein Schreibort, ein Ort für den kreativen Rückzug, eine Oase der Stille, für (fast) alle offen.

«Bäcker am Ofenpass» eine Geschichte auf gegenzauber.literaturblatt.ch von Tim Krohn

Rezension von «Herr Brechbühl übt den freien Fall» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alain Claude Sulzer «Unhaltbare Zustände», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/9

1968. Für die einen bricht ein neues Zeitalter an, für die anderen löst sich alles auf, was ein Leben lang Bestand hatte. Für die einen ist es der Startschuss für ein neues Bewusstsein, ein neues Lebensgefühl, für die andern der endgültige Zusammenbruch all dessen, worauf man baute. Der neue Roman von Alain Claude Sulzer ist ein Schaufenster in die Vergangenheit.

© Lea Frei

Seit Jahrzehnten ist Stettler der hoch angesehene Schaufensterdekorateur im Quatre Saisons, jenem Warenhaus in der Stadt, das etwas von den grossen Edelwarenhäusern der Metropolen aufleuchten lässt, aber eben immer gut schweizerisch provinziell bleibt. Die Enthüllungen seiner Schaufensterdekorationen waren Jahrzehnte eine Angelegenheit, die die ganze Stadt bewegte. Stettler in seinem Kittel der unbestrittene Monarch in den Räumen, in denen jeweils die nächste Dekoration entworfen wurde. Bis 1968. Nicht nur in den Stassen der Stadt rumort es. Auf der Münsterturmspitze weht eines Morgens eine Vietcong-Flagge und man setzt Stettler einen jungen Wilden vor das Sonnenlicht, der nach Ansicht des Chefs frischen Wind in die Schaufenster des Quatre Saisons bringen soll, Stettlers bisheriges uneinnehmbares Königreich.

© Lea Frei

Was Stettler in dieser schwierigen Zeit aufrecht bleiben lässt, ist der Briefwechsel mit Lotte Zerbst, einer Pianistin aus dem grossen Nachbarland, bekannt durch Schallplatteneinspielungen und Radiosendungen. Er, der Musik liebt, dem Radiosendungen die einzige Zerstreuung sind, seit er seine Mutter, mit der er zusammenlebte, beerdigen musste, fand eines Tages den Mut, Lotte Zerbst einen Brief voller Bewunderung zu schreiben. Und Lotte Zerbst, tief in ihrer Seele verletzt durch das dereinst schändliche Verhalten ihres grossen Lehrers, fühlt sich nicht nur geschmeichelt, sondern verstanden.

So wie Stettler ist Lotte vom Leben in ein Nischendasein gedrängt, aus der Zeit gefallen, einsam, antiquiert. Stellter, der schon in jungen Jahren spürte, dass er nicht wie die Masse tickt und Lotte, die wohl für die Masse spielt, aber abgeschottet von ihr in ihrer eigenen Welt lebt, noch entfernter als Stettler, der unmittelbar spürt, dass seine einstmals uneingeschränkte grosse Geste als Schaufensterdekorateur nicht mehr gefragt ist. Während Demonstranten vom Wasserstrahl von den Strassen gefegt werden, fegt Stettler die Zeit weg, wird Lotte von der Bühne gefegt, als man ein Klavierkonzert des sowjetrussischen Komponisten Schostakowitsch absagt, weil dieser als Repräsentant kommunistischer Weltanschauung mitverantwortlich gemacht wird für das, was die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert.

Stettler, eingesperrt in seine Rolle, seine Anschauung und seinen strickten Lebenswandel fühlt sich mehr und mehr ohnmächtig gegenüber dem Wirken der Zeit. Er, der sich ein Leben lang für einen Macher hielt, wird nicht nur ausgebremst, sondern mehr und mehr schleichend kaltgestellt.

Alain Claude Sulzers Roman ist fein gebaut, geschrieben, als läge über dem ganzen Roman ein Schimmer des Bedauerns. Bedauern darüber, dass eine Welt unterging, eine Welt, in der man am Telefon die Auskunft fragen konnte, wenn das Lexikon nicht reichte. In der man sich über fünf verschiedene Fernsehsender wunderte und ein Haarschnitt allein schon Provokation war. Alles passt an diesem Roman. Die Sprache hat genau jenen Stich ins Sepia, wie das Weltbild der beiden Protagonisten, die einem in eine fremd gewordenen Welt eintauchen lassen. Alain Claude Sulzer macht sie, die untergehende Welt damals, an zwei Polen fest; zwei Künstlern, sie durch den Äther, er nur durch ein Glas vom Geschehen der Welt getrennt.

Und unter allem klingt die Musik. Alain Claude Sulzer weiss, was mit einer Musikerin passiert, die ihr Spiel, ihr Stück, ihre Musik so sehr verinnerlicht, dass sie nicht mehr nach Noten spielt, die Klänge Teil ihrer Existenz werden. Ich spüre, wie nah der Autor seinen Protagonisten kommt, und im Falle der Musik auf ganz innige Weise.

„Unhaltbare Zustände“ ist ein köstliches Buch, ein wahrer Lesegenuss! Dass Alain Claude Sulzer mit diesem Buch mit einer Nomination für den Schweizer Buchpreis 2019 beehrt wird, ist mehr als verdient. Schon mit seinen ersten Romanen, allen voran „Urmein“ aus dem Jahr 1998, gewann er meine Bewunderung.

Ein kleines Interview mit Alain Claude Sulzer:

1968, in jenem Jahr, in dem ihr Roman spielt, waren sie 15. Vielleicht zu jung, um in irgend einer Form mitgerissen zu werden, vielleicht. 1980, als Zürich von den Opernhauskrawallen heimgesucht wurden, waren Sie 27. Was ist ihnen geblieben? Was passiert mit Ihnen, wenn Sie junge Menschen heute für das Klima und die „Rettung der Welt“ demonstrieren sehen?
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als es aus einiger Distanz zu konstatieren. An «die Rettung der Welt“ zu glauben fällt mir allerdings nicht erst seit heute schwer. Es sind schon etliche Versuche schiefgelaufen.

Stellers Antwort auf die Veränderung der Welt und seiner unmittelbaren Umgebung ist gegen sein Naturell die absolute und ultimative Provokation. Wie sehr trägt ein Schriftsteller wie Sie die Lust zur Provokation mit sich?
Provokation treibt mich weder am Schreibtisch noch „im Leben» an. 

Stettler wohnt noch immer in der Altstadtwohnung, die er Jahrzehnte mit seiner Mutter teilte. Nicht das einzige Setting Stettlers, das er eigentlich noch viel länger hätte erhalten wollen. Und vielleicht hätte Stettler das ehemalige Mutterzimmer in der Wohnung nie vollkommen entleert, wenn die Umwälzungen in der Welt und in seiner Umgebung nicht so grundlegend gewesen wären. Aber so wurde aus dem Mutterzimmer ein Fernsehzimmer, aus dem Zimmer der Rechtschaffenheit das Tor zur Moderne. Müssen wir stets aus der Komfortzone gestossen werden, damit sich Dinge ändern?
Ja, vermutlich ist das so, und dazu sind nicht unbedingt historische Umwälzungen notwendig (wie im Falle Stettlers, der sich, nicht ganz zu Unrecht, als Opfer einer solchen sieht); es genügen Veränderungen im kleinen privaten Rahmen – Tod, Krankheit, Verlust aller nur denkbaren Güter -, um die Kontinuität des bislang Gewesenen dauerhaft zu unterbrechen.

Der Schaufensterdekorateur Stettler verstand seine Arbeit am führenden Warenhaus der Stadt als Welterschaffung. Ein Schaufenster soll gefallen, dem Auge schmeicheln, die Produkte im Haus von der besten Seite zeigen, als Errungenschaft eines immer fortschreitenden Wohlstands. Sein neuer Kollege, den ihm sein Chef vor die Nase stellt und als Hoffnungsträger einer ganzen Branche feiert, versteht seine Aufgabe diametral anders. Er will provozieren. So wie heute die Kunst in vielen Bereichen, die Politik immer offensichtlicher, die Wirtschaft nicht nur in der Werbung und der Vermummte beim Samstagabendfussballspiel. Ist Ihr Roman auch ein bisschen Nostalgie? Die Trauer um eine verlorene Zeit?
Auch wenn ich selbst – anders als manche Kritiker es seltsamerweise sehen wollen – so gut wie nichts mit Stettler gemein habe (selbst mein Interesse an Schaufenstern ist eher dürftig), gibt es tatsächlich nostalgische Momente, in die der Leser/die Leserin unweigerlich versetzt werden, sofern sie sich an ähnliche Momente in ihrer Vergangenheit erinnern. Die Nostalgie dürfte bei jüngeren Lesern deutlich geringer sein. Unter Nostalgie verstehe ich aber nicht das wohlige Versinken in einer Welt, in der alles besser war, sondern einfach deren Betrachtung. Natürlich war – wie jeder weiss oder wissen kann – auch retrospektiv nichts besser als es wirklich war, und wann war es das schon?

Ein unüberlesbares Element Ihres Romans ist die Musik. Ihre Liebe für die Musik. Ist Musik ton- und klanggewordene Sehnsucht? Sehnsucht nach Harmonie? Nach Ordnung? Überschaubarkeit?
All dies, ja. Zudem ist Musik im Augenblick ihrer Ausführung einmalig, unwiederholbar, man kann sie nicht nachlesen, man kann nicht zurückblättern, man kann sich nicht länger an eine Viertelnote klammern, als sie dauert; insofern ist für Sehnsucht weniger Platz als für Gegenwart, Musik geht immer weiter.

© Lea Frei

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, zuletzt die Bestseller »Zur falschen Zeit« (KiWi 1249) und »Aus den Fugen« (KiWi 1360). Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.

Webseite des Autors

Illustrationen © Lea Frei

Zoë Jenny «Die Rache der Julia Cane», Plattform Gegenzauber

Es war ein wolkenloser Tag als Julia Cane an ihrem fünfunddreissigsten Geburtstag die Anwaltskanzlei Hemlyn & Partner in Richtung Regent Street verliess. Sie arbeitete als Assistentin in der Abteilung brand protection, die sich darauf spezialisierte, konkurrierende Modefirmen wegen Kopien und Fälschungen auf Höchstsummen zu verklagen. Sie erledigte ihre Arbeit effizient und zur vollen Zufriedenheit ihres Chefs, dessen Zustimmung ihr eine gewisse Befriedigung gab. Darüber hinaus hegte Julia keinerlei berufliche Ambitionen und erfüllte ihre Aufgaben mit einem Mindestmass an innerer Beteiligung, was man als eine gewisse Kälte und Gleichgültigkeit des Charakters hätte auslegen können – ein Eindruck, der aber durch ihre freundliche und zuvorkommende Art wett gemacht wurde. Ihre Mitmenschen und insbesondere ihre Arbeitskollegen empfanden Julia als ausgeglichen und angenehm.

Sie hatte die flachen Schuhe, die sie während der Arbeit getragen hatte, ausgetauscht gegen ein paar schwarze Louboutins, was nicht nur zu einer einer aufrechteren, eleganteren Gangart führte, sondern in ihr eine regelrechte Verwandlung auslöste. Die flachen Schuhe verstaute sie zusammen mit der Person, die sie tagsüber im Büro gespielt hatte, im Schrank und etwas anderes konnte sich in ihr regen, etwas, dass zu der schwarzen Seide und den roten Sohlen passte, die wie ein Signal aufleuchteten. Beim Austauschen der Schuhe hegte sie eine geradezu kindliche Freude, wie beim Betrachten dieser kleinen grauen Muscheln, die man ins Wasser legt und aus denen sich dann auf wundersame Weise Papierblumen entfalten.

In einem Schaufenster musterte sie beim Vorbeigehen ihr Spiegelbild. Sie sah jünger aus, kein Zweifel. Sie fand sogar, dass sie jetzt besser aussah als mit zwanzig, das hatte auch Mike bestätigt, als er einmal ein altes Foto von ihr sah. Was Mike jetzt wohl gerade machte? In Kalifornien war es jetzt früh morgens und am Lake Tahoe der Schnee noch unberührt. So stellte sie es sich jedenfalls vor, der Schnee glitzernd im hellen Morgenlicht. Eines Tages hatte er ihr aus heiterem Himmel mitgeteilt, dass man ihn für drei Monate als Skilehrer an den Lake Tahoe versetze. Alles bei Mike kam immer aus heiterem Himmel. Rätselhaft und unberechbar. Zuvor hatte er manchmal plötzlich nach Marrokko oder Tunesien reisen müssen. Sie konnte nachvollziehen, dass ein MI5 Agent in diese Länder ging, aber zum Lake Tahoe, als Skilehrer?
Das letzte Mal, als sie auf Skype gesprochen hatten, war sie überrascht gewesen, wie entspannt er aussah – braungebrannt und selbstbewusst. Seit er in Amerika war, sah er irgendwie amerikanisch aus.
Sie vermisste die Stunden in seinem Appartement in Vauxhall. Sein Appartement, das ihm vom MI5 zur Verfügung gestellt wurde, war komfortabel und unpersönlich wie ein Hotelzimmer. Im Schlafzimmer waren die Fenster stets geschlossen und die Jalousien runtergelassen. Dort verkrochen sie sich vor dem Lärm der Stadt. Mike blieb ein flüchtiges Teilchen im Gefüge ihres Alltags. Gerne hätte sie ihn öfter getroffen, sich sein Leben übergestreift wie man in ein Hemd schlüpft, das einem nicht gehört, aber dessen Geruch einen glücklich macht. Doch Mike blieb zurückhaltend.

„Es ist besser wir treffen uns nicht zu oft“, hatte er ihr einmal erklärt, als sie im Bett lagen, „wer mit mir privat viel zusammen ist, wird beschattet.“ Er machte eine Pause. „Nur kurzfristig natürlich. Du bist nicht von Interesse.“
„Was heißt beschattet?“, fragte Julia alarmiert.
„Wenn du nicht zu Hause bist, kommen sie in deine Wohnung und platzieren Wanzen.“
„Sie brechen in meine Wohnung ein?“
Im Halbdunkel setzte er sich auf und sah sie an, als ob er ihre Frage bedauere.
„Der MI5 muss nicht einbrechen. Wir haben die Schlüssel zu jedem Haus in diesem Land.“
Er lachte weil sie ihn ungläubig anschaute.
„Wir kommen wie Geister Julia, husch, husch …“, er schnippte mit dem Finger, sprang mit einem Satz vom Bett auf und ging ins Badezimmer. Sie hörte, wie er seine Zähne putzte.
Sie erinnerte sich, wie Mike ihr einmal erzählte, dass er bei der Arbeit auf dem Bildschirm zum Spaß seine Mutter beobachtete, wie sie in ihrem Garten die Wäsche aufhängte.

Als sie an diesem Abend nach Hause kam, durchsuchte Julia ihre Wohnung. Ihr Herz klopfte, als sie die Wände ihres Badezimmers abtastete. Sie holte eine Leiter und durchsuchte die Ecken an der Decke. Sie konnte nichts finden. Eine Woche später traf sie Mike in der Nähe von Thames House, wo er arbeitete. Sie war überrascht wie gross das Gebäude war, burgähnlich und abweisend. Da drinnen sitzen sie also und beobachten ihre eigenen Leute, schauen ihnen beim Sex zu, dachte sie. Haben die nichts Besseres zu tun? Alles ist zu erwarten.

Als Julia in die Regent Street einbog, konnte sie Ian schon von weitem sehen. Er kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Er roch nach Anzug, Aftershave und U-Bahn. Er schimpfte über die Jubilee Line, die wieder mal Probleme hatte, fast wäre er zu spät gekommen. Er musterte sie von oben bis unten. „Well well, birthday girl“, sagte er zustimmend, schob sie ins nächste Taxi und fuhr mit ihr ins West End.

Ian hatte Karten für Chicago. Mitte, dritte Reihe, beste Plätze. Sie schaute auf die Bühne mit halbnackten Frauen hinter Gitterstäben, Gefangene, die irgendwie freikommen mussten. Julia dachte an Mike. Beim Song All that Jazz legte Ian seine Hand auf ihr Knie. Er meinte es gut; ein Musical zu ihrem Geburtstag. Sie streichelte seine Hand, nachlässig wie man ein gutmütiges Tier streichelt, das einem irgendwann zugelaufen ist; während die andere Hand in ihre Handtasche glitt, zu ihrem Mobiltelefon, in der Hoffnung, dass es vibrierte, eine Nachricht von Mike anzeigte. Es bewegte sich nicht.
Vor ihr auf der Bühne hüpften Frauen in Strapsen herum, lasziv und verführerisch, stellvertretend für all die Frauen, die sich jetzt an Mike heranmachten. Wahrscheinlich hatte er schon längst eine andere, überlegte sie, vielleicht kam er auch gar nicht mehr nach London zurück, sondern wurde gleich wieder woanders hingeschickt. Sie ahnte es schon seit geraumer Zeit: Es wäre besser, ihn zu vergessen.

Ian hatte gut gewählt. Das Christophers war eines ihrer Lieblingsrestaurants. Sie mochte die grossen Lampen, die wie Ufos im Raum schwebten. Die beste American Brasserie der Stadt. Er bestellte Steak. Aberdeen Angus, blutig. Sie Maryland Crab cake. Rückblickend wusste sie nicht mehr, wann das Ganze eskalierte – als der Kellner das warme Schokoladentörtchen an den Tisch brachte? Es hatte ziemlich lange gedauert, ganze zwanzig Minuten, weil frisch zubereitet und Ian sagte noch während er mit der Gabelspitze vorsichtig in das Törtchen stach
„schau das ist perfekt, innen ist die Schokolade noch flüssig“, als das Wort fiel, das den Ablauf des Abends jäh veränderte: Mike.
Er wusste von ihrer „Schwärmerei“, wie er es bezeichnete. Was sie mit Mike hatte, qualifizierte sich in seinen Augen noch nicht einmal als Affäre.
„Manchmal ist es als ob ich dir beim Erwachsenwerden zuschaue, Julia.“
Sie kannte diesen mahnenden Unterton.
„Der“ – er sagte nie seinen Namen – „hat nur seine Karriere im Kopf, deshalb ist er ja jetzt auch in Kalifornien und nicht hier bei dir, hm?“ Er schaute sie dabei an, als ob sie etwas schwer von Begriff sei. Er klopfte mit dem Finger auf den Tisch: „Aber ich bin hier, nicht wahr?“
Vielleicht war es der Ton und der insistierend klopfende Finger. Er hätte ihr auch eine Ohrfeige geben können.
Nach dem Motto: Du wirst schon noch vernünftig werden. Dummerchen.
Dabei hätte sie das noch diskutiert, wenn er gewollt hätte, aber dann schoss es aus ihm heraus, so, als wären die Wörter schon lange in ihm gewesen und vorbereitet und kamen nun endlich aus dem Dunkel seiner Gedanken mitten auf den Tisch. Wie akkurat, mit perfider Präzision abgefeuerte Geschosse.
Sie sei ja jetzt nicht mehr fünfundzwanzig sondern fünfundreissig und dass sei ja ein Alter in dem sich eine Frau langsam doch Gedanken machen müsse, über ihre Zukunft.
Beim Wort „Zukunft“ sprang Julia vom Tisch auf und steuerte ohne zu zögern dem Ausgang zu. Die Treppe hinunter sich mit einer Hand am Geländer festhaltend, an der Martinibar vorbei, die jetzt voll besetzt war mit Liebespaaren, eilte auf die Strasse hinaus, wo zu ihrer Erleichterung schon eine ganze Reihe von Taxis wartete. Dort auf dem Rücksitz, in der dunklen Geborgenheit eines Londoner Taxis, erinnerte sie sich, dass sie schon das letzte Wochenende gestritten hatten.

Dabei hatte Ian seine guten Seiten. Er war Analyst bei Lehman Brothers gewesen und zufälligerweise hatte er dort sechs Monate, bevor die Bank vor den Augen der Weltöffentlichkeit kollabierte, die Kündigung eingereicht und zu Morgan Stanley gewechselt. Intuitiv ein guter move, das musste man ihm lassen.
Es war ihm erspart geblieben, wie seine Kollegen den Tisch zu räumen und bemitleidenswert vor laufender Kamera seine Habseligkeiten im Pappkarton wegtragen zu müssen. Mitleid müsse man allerdings keines haben, „denn das sind Typen, die immer wissen, wie es weiter geht“, hatte Ian gesagt und damit zweifellos auch sich selber gemeint: Auf Ian war Verlass.

Ian hatte noch eine Kaffeetasse von Lehman Brothers, ein Gegenstand, der durch die Ereignisse plötzlich eine Bedeutung erhielt, ein Relikt wurde, und er ging damit im Wohnzimmer vor ihr auf und ab, um einen geeigneten Ort für sie zu finden. Sie hatte ihn ausgelacht: Wäre es ein Stück der Berliner Mauer – aber die Kaffeetasse einer bankrott gegangenen Investmentbank?
Doch Ian liess sich nicht beirren, murmelte etwas von „historisch“ und platzierte die Tasse schliesslich auf dem Bücherregal zwischen Ben Goldacre und seinen Pokerbüchern.

Julias Apartment war winzig, aber hatte die richtige Postleitzahl. Am äusseren Rande von Chelsea, an der Grenze zu Fulham, hatte sie das One-bedroom-Apartment gefunden und mit Hilfe ihrer Eltern kaufen können. Schliesslich hatte sie alles getan, was man von ihr verlangte. Das Studium hatte sie durchgestanden ohne genau zu wissen warum. Dafür hatte sie jetzt ein Apartment und einen guten Job.
Sie war erleichtert, als sie mit dem Lift in das oberste Stockwerk fuhr. Zweifellos würde die Immobilie im Wert steigen, eine gute Anlage für die Zukunft. Vom Küchenfenster aus konnte sie in der Ferne die Bürotürme von Canary Wharf sehen. Das Logo von Citigroup – der rote Regenschirm – schwebte leuchtend in der Nacht.
Dort wo auch Ian seine Tage verbrachte, mitten im Financial District, im ewigen Licht von London.
Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, wenn Ian aufstieg bei der Bank und zu jemandem wurde, an dessen Seite sie stolz sein konnte, würde auch er die Abende und Nächte dort verbringen. Dann, davon war Julia überzeugt, würde ein grosses Netz sich über ihr ausbreiten, eine Sicherheit, die sie einlullen und friedlich machen würde.

Julia hatte ihre Schuhe ausgezogen. Die Louboutins lagen auf dem Boden, hingeschleudert, sie wirkten verwegen und gefährlich, etwas, was sie nie sein würde. Sie holte die Zigaretten, die sie in einer Lade versteckt hielt. Julia rauchte sehr selten und dann nur heimlich, allein. Sie nahm einen tiefen Zug und ein leichter Schwindel erfasste sie.
Sie rauchte aus dem Fenster in die Nacht und einen Moment lang wünschte sie, sie könnte etwas ändern, ihre Stelle kündigen, in ein Flugzeug nach Kalifornien steigen, Mike in einem hysterischen Anfall ihre Liebe gestehen und alles verlieren. Etwas Drastisches tun, ein anderer Mensch sein, jemand der keine Angst hatte.
Die Zigarette schmeckte nicht, sie drückte sie aus nach wenigen Zügen. Sie lag im Aschenbecher wie ein gebrochenes Bein.

Sie ignorierte das Klingeln des Telefons. Einen Moment lang gab sie sich dem Machtgefühl hin, es hatte eine geradezu erotisierende Wirkung und sie hörte dem Klingeln zu wie einer Melodie, sehnsüchtig fast. Er rief jetzt abwechselnd auf dem Haustelefon und ihrem Mobiltelefon an, mit verzweifelter Hartnäckigkeit, dachte sie und lächelte. Ian lag ihr zu Füssen. Dann hörte es abrupt auf und sie wusste, es war doch nur die Stille kurz bevor er unten vor der Tür stand und Sturm läutete. Sie würde ihm öffnen, ohne zu zögern. Im Schlafzimmer zog sie die Vorhänge zu und streifte ihre Kleider ab.
Sie würde ihn im Dunkeln ins Schlafzimmer führen und sie würden Sex haben, befreiend, unkompliziert und ohne Worte. Es würde heilsam auf sie wirken, und jedes Gespräch und jeden Streit auslöschen und erübrigen.
Dabei würde sie an Mike denken, jede Sekunde in der er in sie eindrang, mit fest verschlossenen Augen. Die Versöhnung würde gleichzeitig die Rache sein. So wie es zweifellos auch in Zukunft immer sein würde, in den gemeinsamen Ehejahren, die vor ihnen lagen. Dabei würde sie kein schlechtes Gewissen hegen, vielleicht einen Hauch von Mitleid, mit dem sie dann einschlief, während ihr Kopf auf seiner Brust ruhte, die Hand in der Nähe seines Herzens.

Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren. Ihr erster Roman «Das Blütenstaubzimmer» (FVA 1997) wurde in 27 Sprachen übersetzt und zum weltweiten Bestseller. In der Frankfurter Verlagsanstalt sind ihre Romane «Der Ruf des Muschelhorns» (2000) und «Das Portrait» (2007), sowie ihre Erzählungen «Spätestens morgen» (FVA 2013) erschienen. Zoë Jenny lebt heute in Breitenfurt bei Wien.

Kirstin Höller «Schöner als überall», Suhrkamp

Im Suff bricht Noah den bronzenen Speer aus der Hand der Athene auf dem Münchner Königsplatz. Und weil Martin dabei ist, immer dabei ist, wenn Noah das Denken einstellt, sitzen die beiden in einem gemieteten Transporter, mit nichts als dem Speer auf der Ladefläche und fahren an den Ort ihrer Kindheit. Kristin Höller schrieb einen Roman voller Dramatik über die Einsicht, dass sich mit dem Erwachsenwerden gar nichts klärt.

Noah hatte Glück. Noah hat immer Glück. Durch Beziehungen kam er in ein Casting zu einem Kinostreifen, ergatterte eine der Hauptrollen, machte Kasse, prangte auf Plakaten, war Liebling auf Partys in der grossen Stadt, bis die Zeit begann, den Ruhm zu fressen und er sich die Leere danach mit einer „Auszeit“ schönredete. Martin ist mitgegangen, weg vom Dorf, weg vom Mief, weil er glaubte, sein Freund wäre das Tor zur Welt, der Schlüssel zu dem, was im Dorf ihrer Eltern verschlossen bleibt.
Und als der Alkohol sie raus aus der Party trieb, wieder eine auf Fischgrätparkett und mit Leuten, die Martin nicht kennt, ein ganzer Pulk durch München schwankt bis auf den Königsplatz, wo Noah ausgerechnet der Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes den Speer aus der Hand reisst. Nichts von Weisheit, Strategie und Kampf. Noah mietet einen Transporter, Martin muss mit, der Speer muss weg. „Ich brauch dich“, sagt Noah. Es ist mehr Befehl als Bitte.

Sie fahren in den Ort, den sie vor zwei Jahren verlassen hatten. Den Ort mit dem kleinen Bahnhof, den Reiheneinfamilienhäusern, den Carports, dem Glashaus von Noahs Eltern und dem Wohnsilo, wo Mugo wohnte. Dahin, wo sie ohne Speer nichts hingezogen hätte, das mit Speer aber die einzige Option für Noah schien. Sie versenken das bronzene Ding im Baggersee, unweit vom Ort und rufen nach scheinbar erfolgreicher Beseitigung jene zusammen, die im Dorf geblieben sind. Martin erfährt dabei, dass auch Mugo wieder hier ist, die eigentlich Maria heisst, aber ihren Namen nicht mag, dann viel lieber Mu(tter)go(ttes). So wird aus dem glamourösen Absetzen aus dem Mief der Enge und Biederkeit eine verzweifelte Bruchlandung zwischen Fassungslosigkeit und Ernüchterung.

Martin trifft Mugo im Tankstellenshop mit Käppi und passendem T-Shirt. Sie, die immer Wütende, die Kluge, die Schöne, die wie er wegwollte, von der er wegging, er nach München, sie nach Wien. Mugo, die einzige Frau, deren Küsse nach wirklichen Küssen schmeckten, die ihm die Welt erklärte, die ihm damals schon klarzumachen versuchte, dass er bloss Noahs Anhängsel war. Martin trifft seine Eltern, bei denen die Zeit stehen geblieben ist, wird eingeladen zu einer Party bei Noahs Eltern, bei der der Riss in den Kontinentalplatten aufbricht, aber nur er die Lava darunter sieht, den glutheissen Mief, der nicht nur ihm den Atem nimmt.

Kristin Höller giesst mit Vergnügen Öl ins Feuer, brennt mit sprachlichem Okular, bis es raucht. Ein Roman mit dem Esprit von Wolfgang Herrnsdorfs „Tschick“, wie ein Low-Budget-Film, der dafür umso mehr durch seine Art des Erzählers und die Schauspieler überzeugt. „Schöner als überall“, die Umkehrung von ‚Überall ist es schöner‘ erzählt von der ersten grossen Ernüchterung, den ersten wirklichen Niederlagen, dem Aufwachen, dem Erwachsenwerden. Auch Martins und Noahs Eltern sind Erwachsene, aber umgeben von Fassaden, die das Überleben in all den Kompromissen ermöglichen. „Schöner als überall“ ist das Ende einer Illusion, das Ende einer Freundschaft und der Beginn von tatsächlicher Abnabelung und dem Erkennen, dass man letztlich alleine bleibt.

Ein Buch, das durch einem hindurchzieht wie ein Sturm, maximal unterhaltsam, witzig und mit dem berauschenden Groove einer literarischen Unverbrauchtheit!

Ein kurzes Interview mit Kristin Höller:

Von München weg geht die Fahrt von Martin und Noah vorbei an Fenchelfeldern, von denen der Duft bis weit in die Landschaft hinein wirkt. Fenchel muss eine entkrampfende Wirkung haben, sonst hätte die Intuition Noah nicht automatisch zurück an den Ort seiner Kindheit gebracht. Wer versteckt schon eine „Leiche“ dort, wo man ihn kennt. Martin heilt aber nicht der Fenchel, sondern letztlich die Liebe, auch wenn sie bricht? Steckt da ein Funke Romantik?
Als Romantik würde ich das gar nicht bezeichnen – vielmehr ist es der Glaube daran, dass immer etwas Neues entsteht, wenn Dinge kaputtgehen. Ob es dadurch leichter wird, lässt sich vorher natürlich nicht sagen, aber schon die Veränderung an sich kann sehr befreiend sein. 

Ich staune über den Sog, den ihr Roman während des Lesens entwickelte, obwohl er in seiner Erzählstruktur ganz „einfach“ chronologisch aufgebaut ist. Meist sind Rückblenden in Dialoge eingebaut. Der Roman erscheint, wie in einem Guss geschrieben – war das so?
Es freut mich natürlich, dass sich diese Wirkung einstellt, tatsächlich jedoch ist das Schreiben für mich eine Arbeit wie jede andere auch – es hat sehr viel mit Regelmässigkeit zu tun und damit, es morgens vor neun aus dem Bett zu schaffen. Es gab also keinen Sturm und Drang-artigen Wahn, sondern ganz unspektakulär sehr viele Tage, an deren Ende ich jeweils zwei oder drei gute Seiten hatte.

Eine Schlüsselszene in Ihrem Roman ist die Grillparty in Noahs Elternhaus, einem grossen Glashaus zweier Architekten. Während der Hausherr vor versammelten Gästen den Toast an seine Gemahlin richtet, er durch Berührung den Kontakt zu seiner Frau sucht, bricht diese zusammen und ein Riss öffnet sich, vor dem sich die Partygesellschaft erfolgreich verschliesst. Genau das, was in der grossen Party auf unserem Planeten auch passiert. Ist Ignoranz das Übel?
Ich lasse mich ungern zu einfachen Erklärungen hinreissen. Aber ich denke schon, dass es Martins sehr genaue Beobachtungen waren, die ihn von den anderen Figuren unterscheiden und ihn daher als Erzähler überhaupt für mich interessant gemacht haben. 

Wo lag die Uridee des Romans? War es die Meldung in den Medien 2014 als man Teile des Speers und eine Bronzeschale aus den Händen der Statue am Münchner Königsplatz brach?
Vor Jahren habe ich über Freunde von den Vorkommnissen auf dem Königsplatz erfahren und einen Artikel dazu gefunden. In den Monaten darauf habe ich gemerkt: Das ist eine von diesen Meldungen, die so kurios ist, dass im Kopf direkt eine Geschichte dazu entsteht. Die Ideen haben mich einige Zeit begleitet, bis immer mehr dazu kamen und es irgendwann für einen Roman gereicht hat. 

Kirstin Höller ist Gast an der BuchBasel 2019!

© Heike Steinweg

Kristin Höller, geboren 1996, aufgewachsen in Bonn, studiert seit 2015 Sprach-, Literatur-und Kulturwissenschaften in Dresden. Freie Mitarbeit bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften, Artist in Residence beim Prosanova-Festival 2017, Gewinnerin des Publikumspreises und des Preises des Buchhandels beim 10. Poet|bewegt sowie des Preises des Schweizer Literaturfestivals Literaare 2018. Seit Oktober 2017 ist sie Mitveranstalterin von OstKap, der Dresdner Lesereihe für junge Literatur. «Schöner als überall» ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag