Robert Bussmann & Peter Weibel, zweimal 75 Jahre Leben, zweimal 40 Jahre Literatur!

Das Literaturhaus Thurgau lädt die beiden Dichter Rudolf Bussmann und Peter Weibel zusammen mit ihrer Verlegerin Judith Kaufmann zu einem Geburtstagsabend ein. Ein Feiertag für alle drei Gäste und ein Feiertag für die Literatur!

Rudolf Bussmann und Peter Weibel feiern in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag. Beide sind von Literatur durchtränkt. Beide schreiben Romane, Erzählungen, Gedichte. Und weil ihr Verlag, die edition bücherlese, heuer ihr 10jähriges Jubiläum feiert, waren dies Gründe genug, um mit Literatur und Gespräch Rudolf Bussmann, Peter Weibel und Judith Kaufmann zu feiern.

Beide Dichter, werden sowohl Passagen aus ihrer Prosa lesen wie Gedichte, die in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben wurden. Gemeinsam mit der Verlegerin Judith Kaufmann tauchen wir in den Kosmos zweier Dichter ein, denen die Leidenschaft für Literatur eine breite Spur ins Leben zeichnet.

Ein paar Stimmen:

«Ungerufen»: Hier versammelt Rudolf Bussmann an die hundert Gedichte, die in sechs Abteilungen eine breite Vielfalt an lyrischen Formen präsentieren. Der Autor lässt sich ganz auf Bilder ein, die ihm ungerufen begegnen. In der Stille erreicht ihn nur leise das Nachklingen des alltäglichen Lärmens. Gemeinsam ist diesen Gedichten eine poetische Beweglichkeit, die unterschwellig immer auch eine leise Melancholie verrät. Trotz und Demut heben sich gegenseitig auf. Der Autor hält sich, wie es einmal heisst, an all das, was ihm beim Anfassen zerfiel.
Beat Mazenauer in Viceversa 14

«Ein Duell»: Eingebettet in die Auseinandersetzung zweier Schweizer Freunde beschreibt Rudolf Bussmann auf ebenso erschütternde wie zurückhaltende Weise die letzten Lebensmonate der DDR-Autorin Irmtraud Morgner, mit der er selbst liiert war und deren Werk er postum herausgegeben hat.
Charles Linsmayer

«Der Schmetterling schläft»: Peter Weibel hat sich stets des Menschen und des Lebens angenommen. Die Worte, die er in seinen Büchern wählt, wirken wie heilende Hände. Seine Sprache ist wie Poesie, sie schafft wunderbare Bilder und ist von einer Poesie und einer Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht.
Dieter Langhart, St. Galler Tagblatt

«Schneewand»: Ein intensives Lektüreerlebnis, das mit kraftvollen Bildern existenzielle Fragen aufwirft.
Babina Cathomen über Peter Weibel, Kulturtipp

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen: „Das andere Du“ Roman (2017), „Ungerufen“ Gedichte (2019), „Herbst in Nordkorea. Annäherung an ein verschlossenes Land“ (2021) und «Der Flötenspieler» (1991/2022). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. 2019 «Schneewand«, 2021 «An den Rändern» und im kommenden Herbst die Erzählung «Akontos Berg». Peter Weibel lebt in Bern.

Die edition bücherlese wurde 2013 von Judith Kaufmann gegründet und verlegt überwiegend belletristische Werke von Schweizer AutorInnen. Als junger Verlag veröffentlichte die edition bücherlese in den letzten Jahren einige Debütromane, etwa von «Knochenlieder» von Martina Clavadetscher oder «Balg» von Tabea Steiner, aber auch Bücher von bereits etablierten Schreibenden wie Rudolf Bussmann oder Peter Weibel. Der Verlag ist seit 2018 in Luzern beheimatet. Blick in den Verlag (video, youtube)

Rudolf Bussmann «Der Flötenspieler», edition bücherlese

In „Der Flötenspieler“ geht einer weg, haut ab. Etwas, was man in der Gegenwart manchmal gerne tun würde, wenn es denn eine Chance gäbe. Thomas Waller tut es, mit fast nichts, ausser seiner Flöte und einer Vergangenheit, die sich nicht mehr mit der Gegenwart koppeln lässt. Ein Roman für AbenteurerInnen!


Rudolf Bussmann, Dichter, Romancier, Übersetzter, Herausgeber und Literaturvermittler feiert heuer seinen 75. Geburtstag. Rudolf Bussmanns Leben ist Literatur. Er ist keiner jener, die sich in ihrer stillen Kammer zurückziehen und nur dann an die Öffentlichkeit treten, wenn ihre Literatur im Fokus steht. Nichts gegen ein spitzweg’sches Dasein, nichts gegen Schreibende, die sich ganz auf ihr eigenes Tun konzentrieren (müssen). Rudolf Bussmann schreibt nicht nur Gedichte, Erzählungen und Romane, er schreibt sich mit seinem Engagement auch in die Herzen jener, die ein Gegenüber brauchen, das zuhört und versteht. Sei es als Moderator an der BuchBasel oder am Internationalen Lyrikfestival in Basel, sei es in der Lyrikgruppe Basel um Alisha Stöcklin, Claudia Gabler, Simone Lappert, Ariane von Graffenried und Wolfram Malte Fues, in der man sich regelmässig trifft, die Lyriktage vorbereitet, kuratiert und jedes Jahr den von der GGG Basel gestifteten Basler Lyrikpreis vergibt.

«In ein paar Jahren, wenn die Alten weg sind, haben wir nur noch Leute, wie wir sie brauchen, durch und durch eingespielt in die Elektronik. Zuverlässig wie die Programme.»

Rudolf Bussmann «Der Flötenspieler, edition bücherlese, 2022, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906907-57-4

Anlässlich seines 75. Geburtstags brachte sein Verlag edition bücherlese seinen 1991 bei Luchterhand erstmals erschienenen Roman „Der Flötenspieler“ erneut heraus. Ein Geschenk an den Schriftsteller, aber viel mehr an LeserInnen, denen der Zugang zu diesem schillernden Roman verwehrt geblieben wäre, hätte der Verlag den Mut nicht gehabt, dem Roman noch einmal eine Tür zu öffnen. „Der Flötenspieler“, ein gleichermassen geheimnisvoller, prophetischer und poetischer Roman.

Thomas Waller, verheiratet mit Mathilde, arbeitet bei der Perduta-Versicherung, eben umgezogen ins Limbus-Haus, einen gläsernen Palast, minothaurisch verwinkelt. Limbus, im Volksmund auch „Vorhalle“, Sitz einer Versicherungsgesellschaft, die Rationalisierung und Effizienz zur obersten Maxime macht und hinter Hochglanzfassaden seinen ArbeitnehmerInnen selbst dann ein Lächeln abringen will, wenn es rein gar nichts zu lachen gibt. Auch Thomas Waller hat nichts zu lachen. Die Enge am Arbeitsplatz schlingt sich immer heftig um ihn, schlägt auf seine Gesundheit, bis er abtaucht und verschwindet, nicht nur von seiner Arbeitsstelle, sondern auch aus seiner Ehe, die wie seine Arbeit zu einem Gefängnis wurde. Er verschwindet im Jura, im Wald, einem kleinen Dorf, in einem Hotel, das nicht wirklich offen für Gäste scheint, in einem kleinen Kosmos. Etwas, was er aus seinem alten Leben mitnimmt, ist seine Flöte, ein Instrument, dass in der Vergangenheit einst eine grosse Hoffnung in sich trug.

«Der Hass läuft ins Innere der Gesellschaft und frisst die Liebe aus ihr weg.»

Rudolf Bussmanns Geschichte ist in der Zeit nach der Tschernobyl-Katastrophe angesiedelt. Waller führt Tagebuch und jene, die sich nach seinem gänzlichen Verschwinden auf die Suche nach Waller machen, finden diese Bücher. Auch die Polizei, die einen Suizid nicht ausschliesst, aber trotz Nachforschungen keine Beweise offen legen kann, beschäftigt sich mit Wallers Verschwinden. Die Tagebücher zeigen einen sensiblen Mann, der sich durch Tschernobyl, zunehmende Umweltsorgen, den Kämpfen am Arbeitsplatz und den Verlust seiner Liebe zu seiner Frau immer mehr in eine Zwischenwelt verliert. Heute würde man bei Waller wohl von einem Burnout sprechen, damals, in den 80er, schien es ein solches nicht zu geben.

Das minotaurische Labyrinth im Limbus-Haus an seinem Arbeitsplatz spiegelt sich auch im Leben des Protagonisten. Waller findet nicht heraus. Und wenn, dann nur durch die bedingungslose Flucht. Einfaches Leben scheint nicht mehr möglich. Das Leben hat sich zu einer Vorhalle verwandelt. Eine Ansicht, die angesichts dessen, was momentan auf unserem immer kleiner werdenden Planeten an Aktualität nur gewonnen hat. Aber es ist nicht so sehr das Labyrinthische in Wallers Leben, das an „Der Flötenspieler“ interessiert und fasziniert. Es ist das Labyrinthische an der Geschichte selbst. Der Roman selbst ist ein Labyrinth, das mich als Leser immer und immer wieder zu einem Innehalten zwingt. Faszinierend, wie Geschichte und Sprache schillern und oszillieren. Rudolf Bussmanns Roman ist von kafkaesker Kraft, überzeugt mit Bildern, die ausmachen, was Menschsein bedeutet; Geheimnisse.

«Um lieben zu können, muss man eine Zukunft vor sich haben.»

Waller flieht nicht nur vor seinen Aufgaben, er flieht auch vor sich selbst, all den Unerklärlichkeiten, dem Scheitern, seiner Psyche, in der er sich verliert. „Der Flötenspieler“ ist ein Abenteuer, ein literarisches Abenteuer, dem ich auch 30 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung abenteuerliche LeserInnen wünsche!

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen: «Das andere Du» Roman (2017), «Ungerufen» Gedichte (2019), «Herbst in Nordkorea. Annäherung an ein verschlossenes Land» (2021). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel.

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Beitragsbild © Claude Giger

Leidenschaft für Politik – ein Abend mit Nora Bossong

„Demokratie ist nicht perfekt, und wir leben mit ihr nicht in der besten aller möglichen Welten; wir leben nur in einer der besten unter den bislang ermöglichten.“ Nora Bossong

Ganz zu Beginn stand eine Anfrage eines Verlags, ob Nora Bossong ein Buch über Demokratie schreiben wolle, denn das Thema beschäftigt die Autorin nicht erst mit diesem Buchprojekt, sondern weil sie sich immer wieder in politische Diskussionen, sei es nun schriftlich oder auf Bühnen, pointiert einmischt. Jetzt erst recht, wo man sie nach Veröffentlichung ihres Buches und dem Ausbruch des Ukrainekriegs immer wieder in prominente Gesprächsrunden einlädt.

Wer sich mit Literatur auseinandersetzt, wird in den letzten fast 20 Jahren unweigerlich mit dem Namen Nora Bossong konfrontiert. Sei es als Dichterin, von der 2018 der Lyrikband „Kreuzung mit Hund“ bei Suhrkamp erschien, Lyrik, die sich wie ihr ganzes Schreiben, mit der Welt verzahnt. Sei es als Romancier von der 2006 ihr Debüt „Gegend“ Wellen schlug oder 2019 „Schutzzone“, ein Roman, der im gleichen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Aber Nora Bossong ist auch Kolumnistin, Essayistin und Sachbuchautorin mit den Büchern “Rotlicht“ oder „auch morgen“.

Nora Bossong mischt sich ein, bringt sich ein, nun seit bald 20 Jahren mit wacher und deutlicher Stimme weit über den Literaturbetrieb hinaus, nimmt zu aktuellen Fragen weit über Deutschland hinaus Stellung, argumentiert mit einer Stimme, die nicht zu überhören ist.

Nora Bossong «Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens», Ullstein, 2022, 240 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-550-20200-1

Nora Bossong sprach für ihr Buch „Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens“ mit über zwei Dutzend ExponentInnen aus Politik, Forschung und Kultur, mit der Generation der heute (ungefähr) 40-jährigen, die nicht nur in Deutschland mehr und mehr das Ruder, Verantwortung übernehmen. Auch weil die Autorin selbst dieser Generation angehört, war die Auseinandersetzung mit dieser Altersgruppe, die sich zwischen „grauer Realpolitik“ und der Generation Greta Thunberg einzubringen versucht, das ideale Betrachtungsfeld, nicht zuletzt deshalb, weil es angesichts der zu bewältigen Aufgaben nur funktionieren kann, wenn sich die Gesellschaft des Werts einer funktionierenden Demokratie bewusst ist. So verknöchert die Strukturen der einen Generation erscheint, so schrill und laut gebärdet sich ein Teil der Fridays for Future-Generation. Eben jene Generation der „Geschmeidigen“ muss es sein, die verbinden soll, die die Ängste und Sorgen einer jungen Generation ebenso ernst nehmen muss, wie das Bewahrende des Gegenübers.

mit Moderatorin Cornelia Mechler

Nora Bossong ist überzeugt, dass in den jungen „MacherInnen“ nicht nur das realpolitische Tagesgeschäft und die Sorge um Wahlen spielt, sondern ebenso Visionen in eine mögliche Zukunft. Dies beweisen doch Koalitionen der Gegenwart, die in der Vergangenheit nie möglich gewesen wären. Nur Zusammenarbeit und die Fähigkeit sich an gemeinsamen Zielen zu orientieren gekoppelt mit dem ungebrochenen Glauben an die Demokratie kann mehrheitsfähig werden.

«Ein atmosphärischer Raum, ein aufmerksames Publikum und eine anregende Moderatorin auf der Bühne. Danke für den schönen Sommerabend in Gottlieben, der stimmig mit Aperó und Generationsgesprächen ausklang.» Nora Bossong

Engagierte, denkende, handelnde und reflektierende Menschen wie Nora Bossong machen Hoffnung!

Beitragsbilder © Literaturhaus Thurgau

«Schweigen ist keine Option» Sasha Filipenko mit «Die Jagd» im Literaturhaus Thurgau

Der Veranstaltungssaal unter dem Dache des Literaturhauses war bis auf den letzten Platz besetzt. Gewiss, das Thema, die Kulisse, die Geschichte seines neuen Romans «Die Jagd» ist intensiv mit den Geschehnissen des Krieges in der Ukraine verwoben. Aber der Roman macht auch schmerzhaft deutlich, wie sehr Gegenwehr im Abgrund enden kann.

Als ich in der Vorschau des Diogenes-Verlags Ende 2019 den Namen Sasha Filipenko las und die Vorankündigung seines ersten auf deutsch erscheinenden Romans „Rote Kreuze“, war meine Neugier gross: Ein Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber und Fernsehmoderator schreibt einen Roman, der die russische Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zum Thema macht. 2020 musste Sasha Filipenko seinen damaligen Wohnort St. Petersburg mit seiner Familie verlassen, Russland verlassen.

Mit seinem zweiten Roman „Der ehemalige Sohn“ traf ich den Schriftsteller mit seiner Familie im Sommer 2021 in den Walliser Bergen am Literaturfestival Leukerbad, als er im idyllischen Garten eines Hotels aus der Geschichte eines jungen Mannes las, der nach 10 Jahren Koma in einer Stadt, einem Land, in Minsk, in Weissrussland aufwacht, das nach immer weiteren Verhärtungen einer undemokratischen Ein-Mann-Regierung immer mehr in die Isolation rutscht. So gar keine Idylle in der Sonne der Walliser Berge.

Dass Sascha Filipenko zusammen mit Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen und Anya Schutzbach Kuratorin des Literaturhauses Wyborada St. Gallen, Gäste auf der Bühne in Gottlieben waren, freut mich ganz besonders. Und dass diese Veranstaltung auf so viel Interesse stiess und das zahlreiche Publikum trotz des literarischen Überangebots an diesem Wochenende im Kanton Thurgaus den Weg ins Literaturhaus fand, freut den Veranstalter gleichermassen wie den Autor, der nicht müde wird im Kampf darum, dass seine Bücher nicht einfach als spannende Geschichten gelesen werden.

So erzählte Sasha Filipenko nicht nur aus seinem Buch, sondern aus seinem wirklichen Leben, das sich in vielem kaum von dem unterscheidet, was das Buch in erschreckender Manier erzählt. Zum Beispiel von seiner Frau, deren Mutter in Russland nicht glauben wollte, das ein Plakat mit der Aufschrift «No war» in einer russischen Stadt zu einer Verhaftung reicht. Also reiste Sasha Filipenkos Frau Masha nach St. Petersburg und stand mit einem Plakat mit der Aufschrift «Meine Mutter hat behauptet, dass man mit einem Plakat mit der Aufschrift NEIN ZUM KRIEG nicht verhaftet wird» – um postwendend von Polizisten abgeführt zu werden.

Ganz besonders bedanken möchte ich mich für die unkomplizierte Kooperation zwischen den Literaturhäusern Wyborada St. Gallen und Thurgau. Anya Schutzbach stürzte sich mit Begeisterung in die Organisation und las an diesem Abend die deutschen Passagen aus dem Roman „Die Jagd“. Grosser Dank gebührt Ulrich Schmid, der sich mit Sicherheit und grosser Kompetenz in die Doppelaufgabe eines Moderators und Übersetzers gab.

Rezension «Die Jagd» und «Rote Kreuze«

«Da hinauf!» Marianne Künzle ist oben!

Marianne Künzle las im Literaturhaus Thurgau aus ihrem neuen Roman «Da hinauf», einem feinen, atmosphärisch starken Stück Literatur.

Ich lernte Marianne Künzle vor einigen Jahren bei meinen regelmässigen Besuchen am Literaturfestival in Leukerbad in den Walliser Alpen kennen. Man trifft dort immer wieder die gleichen Gesichter, beginnt ein Gespräch, und weil man sich im kommenden Sommer wieder trifft, legt sich jedes Jahr wie ein weiterer Ring um etwas, was zu einer Freundschaft wird. Damals hatte Marianne Künzle noch kein Buch und ich noch keine einige Rezension für meine Literaturwebseite geschrieben. Greenhorns.

Marianne Künzle war Buchhändlerin, Koordinatorin bei Greenpeace, engagierte sich im ökologischen Landbau und in der Flüchtlingshilfe und lebt seit ein paar Jahren als geborene Bernerin im Wallis, in einem Haus, das mit jedem Kubikzentimeter ihrer Weltanschauung entspricht. Nach einem ersten Roman über den Kräuterpfarrer Künzle, der trotz gleichem Familiennamen nicht mit ihr verwandt ist, liegt nun ihr zweiter Roman vor. Die Geschichte zweier Frauen aus zwei verschiedenen Leben, zwei verschiedenen Zeiten, deren Spuren sich am Fusse eines Gletschers kreuzen.

Wer den Klappentext des Romas liest, die Ankündigungen des Verlags, denkt unweigerlich an die Dramatik eines Moments, wenn man vor den Überresten einer Gletscherleiche steht, wenn einem Bilder von Ötzi oder ähnlichen Sensationsgeschichten in den Sinn kommen. Marianne Künzles Roman lebt aber nicht von dieser Dramatik, auch wenn es in den letzten Seiten ihres Romans noch dramatisch wird. Es ist die stille Dramatik zweier Frauenwelten, eine aus der Gegenwart, eine aus den 50ern, wörtlich eingebettet ins Eis eines Gletschers. Es sind drei ProtagonistInnen; zwei Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und die Natur, der Gletscher, die kargen Hänge, der Fels, das Wasser, der Wind.

Marianne Künzle ist mit den Geschichten, die die beiden Frauen mit sich tragen tragen, sparsam. Ihr Roman ist derart verdichtet, eingekocht, dass es mich als Leser erstaunt, wie viel Form die beiden Frauen erhalten. Marianne Künzle geht es nicht um die Sensation einer spektakulären Begegnung, sondern um die fluide Atmosphäre in einer Kulisse, die mir bewusst macht, dass ich bloss Besucher bin, dass Natur atmet, ein grosses Ganzes ist, ein Ganzes, das ächzt unter der Last ihrer Bewohner.
«Mich treibt seit langem die Frage um, was unserem (westlichen, kapitalistisch geprägten) Menschsein eigentlich fehlt und uns davon abhält, wirklich zu handeln. Wir befinden uns mitten im Klimawandel und wir tun – praktisch nichts. Menschheitsgeschichtlich gesehen stehen grösste Umwälzungen an, wenn wir wollen, dass kommende Generationen eine würdige Zukunft haben. Ich vermute, die fatale Lethargie, die uns beherrscht, hat mit unserer Haltung unserer inneren und äusseren Natur gegenüber zu tun. Ich wage die These aufzustellen: wer keinen Zugang zu seinem Selbst hat, kann auch schwerlich eine Verbindung zur Natur und zur nicht-menschlichen Welt aufbauen und bleibt paralysiert, noch schlimmer, sieht sich nicht in der Verantwortung. Diese konträren Charakterzüge zu ergründen, auch besser zu verstehen, hat mich interessiert. Daraus sind Irma und Annina sind entstanden.» 

Ganz dezent beschäftigst sich Marianne Künzle in ihrem Roman auch mit dem Frauenbild aus zwei verschiedenen Zeiten. Es geht um Emanzipation, Unabhängigkeit und Rollenhaftung. Und trotzdem sind all diese Themen nur ganz sanft angesprochen. Ebenso dezent geht es um den Gletscher selbst, Fragen der Klimaveränderungen, um unser ökologisches Bewusstsein.
«Zu plakative Geschichten, zu klischeehafte Charakteren sprechen mich weniger an. Mich interessiert das Dazwischen. Die Realität ist nie schwarz-weiss. Gelesenes klingt zumindest bei mir länger nach, wenn es mich anregt zum Nachdenken, wenn Raum für eigene Gedanken und für das Abrufen von persönlich Erlebtem Platz hat. Vermutlich ist es das, was sich auch im Schreiben niederschlägt?»

Marianne Künzles Lesung, unterstützt durch eine Tonspur, die mich wie Filmmusik tief ins Geschehen eintauchen liess, war ein Fest für die Sinne!

«Welch wunderbare Tage im Literaturhaus in Gottlieben! Eintauchen ins Buchstabenmeer und Gedankengänge an den Gestaden des Bodensees, sich besingen lassen von Kuckuck, Nachtigall, Pirol. Zum krönenden Abschluss Lesen vor tollem Publikum im Dachstock mit knarrenden Böden, Donnergrollen inklusive:-)» Marianne Künzle

Rezension «Da hinauf» auf literaturblatt.ch

Sasha Filipenko «Die Jagd», Diogenes

Lesung am 19. Mai
im Literaturhaus Thurgau

Russland ist nur ein Beispiel dafür, wozu ein von Propaganda durchsetztes Land fähig ist, was Mächtige alles tun und lassen können, ohne jemals dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sasha Filipenkos Roman „Die Jagd“ liest sich wie eine düstere Dystopie, an der man aber aushalten muss, dass sie längst bittere Realität ist. Warlords führen Kriege, ohne sich an Grenzen zu halten, seien es Landesgrenzen oder irgend welche altbackene Grenzen der Menschlichkeit.

Ein Journalist krallt sich an einer Geschichte fest, die offenbaren soll, wie einer der Allmächtigen im Land die Öffentlichkeit als Patriot an der Nase herumführt, wie er sich nach Lust und Laune durch krumme Geschäfte bereichert und nichts und niemand, schon gar nicht Väterchen Staat, ihn davon abzuhalten versucht. Eigentlich doch die hehre Aufgabe eines jeden Journalisten, der sich der Wahrheit, an seinen Kodex hält. Anton Quint versucht es wenigstens. Versucht es nicht nur als Journalist, auch als Schriftsteller.
Auch weil er Vater geworden ist und nicht zuletzt seiner kleinen Tochter gegenüber die Verpflichtung spürt, den Rausch, für etwas und jemanden da zu sein.

Oligarchen wie Wolodjan Slawin interessieren sich weder für die Wahrheit, noch für das Wohl eines Volkes, auch Menschlichkeit ist höchstens aufgesetztes Instrument. Die Welt ist eine Schlangengrube, in der man sich behaupten muss. Eine Arena, in der der Stärkere gewinnt. Und wenn die Kräfte nicht zu seinen Gunsten verteilt sind, dann soll der Bär an Beinen und Armen gefesselt werden, damit sich die Hunde in ihn verbeissen können. So setzt Slawin ein ganzes Team auf den Journalisten Anton Quint an. Eine unbarmherzige Jagd beginnt mit dem einzigen Ziel, den unbequemen und aufsässigen Journalisten dazu zu bringen, das Land zu verlassen und sich damit vor seinem eigenen Publikum zu diskreditieren.

Sasha Filipenko «Die Jagd», Diogenes, aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, 2022, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07158-0

Der Oligarch hetzt Lew und seinen alten Freund Kalo auf den Journalisten. Lew hat Schulden, Kalo hat sich längst den schmutzigen Geschäften seines Chefs verschrieben. Lew kam aus ärmlichen Verhältnissen und wurde Reporter einer bedeutenden Redaktion, bis man ihn sogar zum Chefredaktor erklärte. Ein Amt, Geld, Einfluss, das alles stieg Lew in den Kopf, erst recht, als er die Tochter des Besitzers eben jener Zeitung ehelicht und in seinem Rausch den Boden unter den Füssen gänzlich verliert. Gescheiterte Existenzen, die zurück an die Oberfläche wollen, die genau wissen, dass sie ohne undurchsichtige Hilfe nie mehr zurück an die Sonne kommen, muss alles recht sein, auch wenn zuweilen der Zweifel nagt, ob man mit seinem Tun den Bogen nicht überspannt.

Anton Quint leidet. Ich lese, wie man sich in seine Nachbarwohnung einmietet und ihm und seiner  Familie mit permanentem Lärm den Schlaf raubt, wie man ihn bedrängt und diffamiert, Falschmeldungen in Umlauf bringt, wie man ihn in TV-Talkshows zum Pädophilen erklärt, wie man in seine Wohnung eindringt und nicht nur seinen Computer knackt, wie man einen Mann mit seiner ganzen Familie zu brechen weiss. Ich lese je länger je mehr erschüttert und angeekelt. Nicht so sehr darüber, wie offen Sasha Filipenko das Grauen schildert, sondern wie leicht man den Inhalt als Pageturner aburteilen, wie leicht man Sasha Filipenko vorwerfen kann, sich bekannter Stereotypen zu bedienen, um den Horror der Gegenwart zwischen zwei sich gut verkaufende Buchdeckel zu bringen.

Klar liest man den Roman mit dem Wissen um russische Regimekritiker wie Alexej Nawalnyi oder Juri Dmitrijewdem. Klar passt der Roman vor die Kulisse eines Krieges, der allem, was russisch ist, den Krieg erklärt. Klar suggeriert der Roman Lesenden, sie hätten nach der Lektüre eine Ahnung von dem, was fern von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Russland oder vergleichbaren Staaten abgeht. Aber ich glaube nicht, dass es Sasha Filipenkos› Absicht war, Klischees zu zementieren. „Die Jagd“ ist schonungslos und unversöhnlich, clever und klug komponiert, frei von jeder Illusion, auch von der, dass Geschichten doch irgendwie gut ausgehen müssen.

Man kann „Die Jagd“ wie einen düsteren Thriller lesen, dann verursacht er ein Schaudern. Aber Sasha Filipenkos Roman ist viel mehr. Ein Buch, das den letzten Schleier niederreisst, das mir in die Magengrube schlägt. Sasha Filipenko kann nicht zurück in sein Heimatland, das im Würgegriff seines grossen Bruderstaates ist. Kann nicht zurück, weil er mit Gewalt rechnen muss gegen sich und seine Familie. Ist es da verwunderlich, dass man zur einzigen Waffe greift, die einem zur Verfügung steht? Der Literatur?

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er hat Russland verlassen und hält sich derzeit an wechselnden Wohnorten in Westeuropa auf.

Ruth Altenhofer, geboren 1979, studierte Slawistik in Wien sowie in Rostow am Don und Odessa. wurde 2012 und 2015 für Übersetzungen von Marina Zwetajewa/Boris Pasternak und von Wjatscheslaw Pjezuch mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

Rezension von «Rote Kreuze» auf literturblatt.ch

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Ohne Kaputtgehen kein Ganzwerden» Die Lyrikerin Isabella Krainer trifft die Illustratorin Lea Le

«Witzig und bissig, kurz und prägnant. Gleichsam verspielt und bodenständig, taktvoll und frech. Und ungeheuer lautverliebt und deutungsreich.» Das ist die Lyrik von Isabella Krainer. Zusammen mit der jungen Illustratorin Lea Le performten die beiden aus den Tiefen des menschlichen Seins.

Isabella Krainer lebt und wirkt seit Jahrzehnten in der Steiermark. Ihre Lyrik, erzählt sie, wurde nicht Lyrik, weil sie beabsichtigte, solche zu schreiben, sondern weil Menschen, die ihre Texte lasen, irgendwann meinten: «Isabella, du schreibst Lyrik.» Und genau das spürt man den Texten der Dichterin an. Ihre Lyrik ist ihre Auseinandersetzung mit sich selbst, ihrer Geschichte, ihrer Umgebung, der Welt. Ihre Lyrik ist der Versuch einer Antwort, einer Entgegnung, einer Erklärung. Aber sehr oft auch ein Gegenentwurf, ein Dagegenhalten.

akademische erkenntnis // noch mehr / dosenravioli / aber der blick / auf die welt / ist ein / anderer

Isabella Krainers Lyrik entspringt nicht so sehr den Kopf; ihre ganze Person, all die Erfahrungen, die sie im engen Austausch mit den Menschen ihrer Umgebung macht, wirken durch die Texte hindurch. Und so sehr die Texte körperlich werden, so sehr entspringen sie der Weisheit und Klugheit einer Frau, die mit ihrem Blick in die Tiefen des Menschseins nicht dort aufhört, wo die vermeintliche Rücksicht beginnt.

Die Tatsache, dass Lyrik den Geist und das Sehen öffnet, legt auch nahe, diese Textform und ihre Darbietung mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen zusammenzubringen. Dabei war die Kombination, das Zusammenspiel von Lyrik und Illustration gleichermassen Wagnis und Experiment.

hochzeitstag // sie hat / die Blumen / eingefrischt / Schwermut / gabs geschüttelt …


Lea Le, eben erst mit seinem Förderbeitrag des Kantons Thurgau ausgezeichnet und schon länger zeichnende Kraft im und ums Literaturhaus Thurgau, arbeitet seit zwei Jahren als selbstständige Illustratorin in ihrem Atelier in St. Gallen. Angeregt durch die kraftvollen Texte Isabella Krainers entstand die Idee, die beiden Künstlerinnen auf der Bühne zusammentreffen zu lassen.

mindestsicherheit neu // mord / ab sofort / nur noch / im alleingang / beihilfe / gekürzt

«Es war Liebe auf den ersten Blick», erzählte Isabella Krainer während eines Gesprächs, «wir trafen uns eigentlich nur einmal via Zoom zu einem gegenseitigen Beschnuppern und wussten schon nach den ersten Augenblicken, dass dieses Experiment mehr als einmalig werden würde.»

Was die BesucherInnen an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau geboten bekamen, war eine ganz besondere Art der Performance. Als würde man durch ein überdimensionales Bilder- und Textbuch des Lebens blättern, «von der Wiege bis zur Bahre». Man wurde Zeuge einer Verinnerlichung.

«mein lyrikband hat ecken, kanten und blaue flecken. kurz, er ist vom leben gezeichnet. obwohl bereits 2020 veröffentlicht, liest sich „vom kaputtgehen“ wie pandemie. dass sich das eine oder andere gedicht dennoch herausnimmt, den ernst des lebens auszulachen, hat mit trotz zu tun. viel mehr aber, mit der unbändigen freude daran, abenteuer zu erleben.
und genau das war die zusammenarbeit mit lea le, deren illustrationen am 26. april 2022, im kult-bau in st. gallen zum ersten mal meine sprache sprechen durften. lyrik & illustration, eine performance, deren experimenteller charakter in keinem passenderen rahmen zur geltung gekommen wäre.
dass unsere performance am 28. april 2022 im literaturhaus thurgau noch einmal, gestärkt durch positive rückmeldungen und die abenteuerlust des publikums wirken konnte, war fast schon kitschig. denn plötzlich war sie da, die magie. ließ gedichte aufatmen und zeichnete sie mit leben aus.
und auch die tage, die ich in der gästewohnung des literaturhauses verbringen durfte, hatten einen zauber inne. hätte lea auch diese illustriert, wäre selbst die bleistiftzeichnung bunt geworden.
gallus, herzlichen dank! deine liebe zur literatur macht aus bühnen sehnsuchtsorte.» Isabella Krainer

«Was für ein Abenteuer das war. Der Stressschweiss hat sich sowas von gelohnt!» Lea Le

Zur Information: Am 8. Juli wird diese Reihe der experimentellen Performance weitergehen: Die Schriftstellerin und Dichterin Simone Lappert wird für einen Tag mit dem Musiker Andi Bissig im Literaturhaus arbeiten. Beide werden sich an diesem Tag zum ersten Mal schöpferisch miteinander «auseinandersetzen». Am Abend dannpräsentieren die beiden, was auch den Tag entstanden ist.

Webseite Isabella Krainer

Webseite Lea Le

Beitragsfotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau
Zeichnungen © Lea Frei

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche

Zwei Frauen auf dem Gletscher. Die eine damals, als sich der weisse Koloss noch wuchtig ins Tal ergoss. Die andere heute, wo sich der Mächtige mehr und und mehr zurückzieht, sich in Wasser verwandelt, zu einem kümmerlichen Rest zu werden droht. Und weil die eine durch einen Fehltritt im Eis liegen und für Jahrzehnte eingeschlossen bleibt, kreuzen sich die Weg der beiden Frauen in Spalten an der Gletscherzunge.

Gletscher sind gefrorene Geschichte, eine Art Fingerabdruck der Zeit. So wie sich über Jahrhunderte Schicht um Schicht der Gletscher vergrösserte, so schmilzt er heute weg, gibt preis, was über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verborgen blieb. Bekanntestes Beispiel dafür ist Ötzi, eine „Gletschermumie“, die man 1991 im Südtirol fand, 5000 Jahre nach einer Nacht, die der einsame Wanderer nicht überleben sollte. Künftig wird es immer wieder vorkommen, dass das sich zurückziehende Eis, der schmelzende Permafrost Geschichten freilegen wird.

Annina ist eine junge Journalistin, noch frisch auf der Redaktion, aufgeregt auf ihr erstes grosses Interview, das nach der sonntäglichen Wanderung über den Gletscher stattfinden soll. Eigentlich war es Absicht gewesen, zusammen mit ihrer Freundin Melli die Gletscherwanderung in Angriff zu nehmen. Aber Melli musste krank zurückbleiben. Statt mit der sprudelnden Freundin in die Höhe zu steigen, wird die Wanderung nicht nur eine Wanderung in die Stille der Berge, sondern ein Einstieg in die Stimmen in ihr selbst, eine Welt, die so ganz anders ist, als jene, die sie im Tal zurückgelassen hat. Eine Wanderung zu einem Gletscher, der sich hörbar bemerkbar macht, in dem es kracht und donnert, als wäre es ein grosses Ächzen in seinem langen Sterben.

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche, 2022, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-7556-0012-1

Irma ist Jahrzehnte zuvor auf einer ganz ähnlichen Tour, sie in den Fünfzigerjahren allein unterwegs. Einem Abgrund entflohen, junge Witwe, allein am Berg, allein mit sich selbst, den Alltag hinter sich lassend.
Damals war der Gletscher ein ganz anderer, ein monströses Urgetüm, über Jahrhunderte fliessendes Eis. Irma und Annina, zwei Frauen in ganz unterschiedlichen Zeiten, an den Rändern eines Gletschers, der wie kaum ein anderes Naturphänomen zeigt, wie sehr sich die Zeit, die Fliessrichtung ändert. Was damals noch wuchs, zieht sich heute zurück. Damals ein wuchtiges Weiss, heute ein schmutzig graues Überbleibsel dessen, was es einmal war. Zwar wandern die beiden Frauen an den gleichen Bergflanken, aber was sie hinter sich liessen, unterscheidet sich ebenso diametral wie das, das sich vor ihren Augen an diesem Berg abspielt.

Marianne Künzle erzählt ganz dezent, macht sprachlich sichtbar, was der Berg verursachen kann; jene schlichte Klarheit. Marianne Künzle hätte die Geschichte dieser beiden Frauen aufblasen, jenen Fehltritt der einen dramatisieren, den Moment der Begegnung, Jahrzehnte nach dem Unfall theatralisch inszenieren können. Tat sie aber nicht. „Da hinauf“ ist der Blickwinkel zweier Frauen, die für ein paar Stunden aus ihrem Leben auftauchen wollen, die in den Bergen, an den Rändern des Gletschers die Nähe zu sich selbst suchen. Die Dramaturgie des Romans ist eine ruhige, als wäre ich als Leser der einzige Zeuge. 

Als mir die Autorin vor Monaten bei einem Spaziergang in den Walliser Bergen von ihrem Manuskript erzählte, dachte ich, sie würde die Gletscherleiche erzählen lassen. Aber die eigentliche Begegnung der beiden Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und Leben findet erst auf den letzten Seiten des Romans statt. Was den Roman zu einem grossen Lesegenuss macht, ist nicht das Drama am Eis, sondern die Stimmungen an diesem Berg, die Farben, die Spuren, das Licht, der Wind. Marianne Künzles Roman ist eine Ode an die Natur. Wie ein zärtliches Streicheln über Bergflanken, die unter den Klimaveränderungen ächzen. Die Autorin erzählt in zwei Strängen, zieht die Windungen immer enger, bis zu jenem Moment, wo klar wird, dass dort kein Holz im Eis liegt, sondern die Überreste einer Frau.

„Da hinauf“ ist gekonnt erzählt, eingetaucht in grosse Klarheit!

Marianne Künzle ist 1973 in Bern geboren. Sie ist in Schönbühl aufgewachsen, zwischen modernen Wohnblöcken und Waldrand, Intensiv-Landwirtschaft und letzten Froschhabitaten. Sie hat eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht und koordinierte viele Jahre Greenpeace-Kampagnen für eine ökologische Landwirtschaft. 2019 hat sie den 2. Oberwalliser Literaturpreis erhalten (für «Living Planet«). Sie lebt im Wallis.

Webseite der Autorin

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Dienstag, 26. April im KultBau St. Gallen und Donnerstag, 28. April im Literaturhaus Thurgau: Isabella Krainer & Lea Le «Vom Kaputtgehen», eine Performance

Zusammen mit der St. Galler Illustratorin Lea Le performt die steirische Lyrikerin Isabella Krainer. Lyrik und Illustration formen Bilder, treten in Austausch, erwidern und befragen sich. Kunstformen begegnen sich!

von wegen

vater war dafür
sagte nur
deswegen

verwegen

mutter fragte wofür
dachte nur
weswegen

verlegen

krieg vor der tür
kämpfe nur
entlegen

von wegen

An einem ganz normalen Leben entlang, von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt über Familienleben und Schulzeit bis zur Entwicklung von Geschlechterrollen, zu unvermeidlichen Kontakten mit politischer Wirklichkeit und zum Ringen um Mitmenschlichkeit spannt Isabella Krainer den Bogen einer österreichischen Jedermensch-Biografie. Immer weit am Rand der Komfortzone – oder schon jenseits davon – bewegen sich die Figuren, fühlen sich nicht zugehörig und gehindert am Weiterkommen.

Isabella Krainer «Vom Kaputtgehen», Limbus, 2020, 91 Seiten, CHF 18.90, ISBN 978-3-99039-170-9

Die österreichische Lebenswirklichkeit dringt in die Sprache dieser Gedichte, in der Krainer – unentwegt ihr enormes Sprachbewusstsein beweisend – mit Mundartelementen Heimatgefühl erzeugt, das sie mit Doppeldeutigkeiten und Konnotationen, kleinen Verschiebungen aber gleich wieder ungemütlich gestaltet. Alltägliches bekommt eine neue Bedeutung, Bekanntes wird überraschend anders, Erwartungen werden unterlaufen, Wörter treffen bis in den Kern.

„Dass Lyrik grösstes Vergnügen bereiten kann, trotzdem jene Schärfe und Würze birgt, die der Lyrik in ihrer Konzentration eigen ist und doch kunstvoll, gewieft und vielschichtig daherkommt, das beweist Isabella Krainer in ihrem ersten bei Limbus erschienen Gedichtband.“ Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, 2020

manchmal

manchmal möchten möhren
eingesetzt
vielleicht auch zu höchstleistungen
angetrieben
oder mehr noch
wegen
medial produzierter minderwertigkeitskomplexe
karotten genannt
und überhaupt
attraktiver
werden

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, verfasst Lyrik und Prosa und macht gern Theater. Bis 2017 lebte sie in Tirol, aktuell in der Steiermark und pendelt zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Förderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet. Im Rahmen des stubenrein-Festivals (steirischerherbst’19) las sie aus ihren Gedichten. Als Murauer Bezirksschreiberin sammelt sie Zuschreibungen von der Straße auf und verarbeitet, was Frauen abverlangt wird, von A bis Z.

Lea Le (1995) lebt und arbeitet in St. Gallen als selbständige Illustratorin, Event- und Comiczeichnerin. 2022 Förderbeitrag des Kantons Thurgau
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