Arja Lobsiger «Das grüne Haus», am 8. September Gast im Theater 111, St. Gallen

Sina hat also recht gehabt: Hier am Ende eines Forstwegs befindet sich das grüne Haus. Es steht leicht schief, als wolle es sich an einen der Bäume lehnen. Ich schätze, es ist etwa fünfzig Quadratmeter gross und hat Baujahr siebenundsechzig. So genau weiss ich das natürlich nicht. Aber ich mag es, Dinge mit Zahlen zu beschreiben. Immer wenn ich jemand kennenlerne, überlege ich als erstes, wie alt und gross diese Person ist. Ist es eine unsympathische Frau, schätze ich, wie schwer sie ist. Es hat sich schon oft später herausgestellt, dass ich richtig lag. Wind rauscht durch die Bäume. Ich fühle mich beobachtet.
Das rostige Gartentor quietscht, als ich es öffne. Unsicher schaue ich mich um. Eine Amsel raschelt im Laub. Ich frage mich: „Warum braucht es mitten im Wald ein Gartentor?“ Wahrscheinlich war es früher ein Wochenendhaus für Städter, die nicht von ihren Gewohnheiten abweichen konnten. Aber jetzt wohnt hier Jannik. Um den Garten hat er sich bisher nicht gekümmert. Es ist ein Wald im Wald. Das Haus sieht nicht bewohnt aus. Hat sich Sina vielleicht doch geirrt? Dann entdecke ich neben der Tür den blauen Aschenbecher. Er überquillt vor Kippen.
Fünfhundertdreiundsiebzig Mal habe ich in den vergangenen Jahren diesen blauen Aschenbecher, der auf unserem Balkon stand, geleert. Ich hasse Zigarettengestank, aber geküsst habe ich Jannik trotzdem. Auch wenn ich zu Beginn unserer Beziehung behauptet hatte, ich würde ihn nicht küssen, wenn er geraucht hat. Damals habe ich gedacht, mich damit interessant zu machen. Unbemerkt hat sich dann mein Bestreben, interessant für Jannik zu sein, davongeschlichen.
Ich trete näher ans Haus heran und schaue durchs Fenster neben der Tür. Ich weiss, Jannik ist nicht da. Ein Anruf in seinem Büro hat genügt. Trotzdem habe ich das Gefühl, seinen Blick auf meinem Rücken zu spüren. Durchs Fenster kann ich nicht viel erkennen, weil es im Haus dunkel ist. Aber ich sehe einige vertraute Möbel.
Ich lege die Hand auf die Türklinke, zittere leicht. Meinen schnellen Herzschlag spüre ich im ganzen Körper. Ich versuche, mich daran zu erinnern, weshalb ich hergekommen bin. Tatsächlich gibt mir das die nötige Entschlossenheit. Ich drücke die Klinke. Die Tür öffnet sich. Typisch Jannik. Trotzdem bin ich überrascht.
Im Haus ist es kühler als draussen und es riecht nach Schatten und Laub. Der Holzboden knarrt. Auf dem Tisch steht einsam eine Tasse. Etwa ein Deziliter Kaffee ist noch drin. Mir fällt auf, dass es der Rest eines Milchkaffees ist. Jannik aber trinkt seinen Kaffee schwarz. Er sagte immer: „Schwarzer Kaffee passt zu meinem Humor.“ Die Wahrheit ist, dass er eine Laktoseintoleranz hat. Was mich nicht erstaunte hatte, als er es mir erzählte. Janniks Haut ist weiss und weich wie Vollrahm. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie der Körper das Verhalten des Menschen regiert.
Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. Der Kaffee schmeckt sauer und ist kalt. Ich suche den Tassenrand nach Spuren von Lippenstift ab. Nichts. „Vielleicht hat Jannik für sich laktosefreie Milch gekauft?“, überlege ich weiter. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Jannik ist ein Alles-oder-Nichts-Typ. Das wird sich nicht geändert haben, trotz Umzug in den Wald. Auch dazu, bin ich überzeugt, hat ihn diese Lebenseinstellung getrieben. Gleich zu Beginn unserer Beziehung hat er gesagt: „Solange wir es gut zusammen haben, bleibe ich bei dir.“ Den Folgesatz hat er zwar nie ausgesprochen, aber ich weiss, dass dieser für ihn viel wichtiger gewesen ist.
Ich bemerke, dass ich mich am Griff der Kaffeetasse festklammere und meine Knöchel schon ganz weiss geworden sind. Gerade als ich die Tasse wieder an ihren Platz zurückstellen will, entdecke ich den Kaffeering auf dem Tisch. Ich stelle sie nicht mehr dorthin zurück.
Die zwei Holzstühle haben wir gemeinsam gekauft. Zwei gleiche Holzstühle stehen in unserer alten Wohnung. Über der einen Stuhllehne hängt Janniks blaue Trainingsjacke.
An der Wand steht ein altes Ledersofa, auf dem eine zusammengefaltete Militärwolldecke liegt. Unsere Sofadecke hat er nie so ordentlich zusammengefaltet. Mir ist etwas schwindlig und ich zittere. Ich versuche, mich zu beruhigen und rede mir ein, dass es wegen der Kälte ist.
Das Klingeln eines Telefons durchbricht die Stille. Erschrocken öffne ich die Augen, schaue mich um und fühle mich ertappt. Das Klingeln ist laut und schrill. Ich habe das Gefühl, es klingelt durch den ganzen Wald. Es hört nicht auf.
Rasch stehe ich auf, entdecke neben dem Eingang der Küche ein schwarzes, altes Wandtelefon mit Wählscheibe. Ich strecke meine Hand nach dem Hörer aus. Gerade noch rechzeitig besinne ich mich aber: Ich habe keine Ahnung, wer hier anruft. Und was soll ich denn sagen?
Ich lasse das Telefon ausklingeln. Was macht Jannik, wenn ein Baum auf die Freileitung fällt? Neben dem Telefon hängt eine Liste mit zwölf Nummern. Ich entdecke einige Namen aus unserem Freundeskreis, ein paar seiner Bürokollegen, seine Eltern und Valerie. Ich kenne keine Valerie und Jannik hat mir nie von ihr erzählt.
Meine Telefonnummer steht nicht auf der Liste. Ich nehme den Hörer ab, wähle meine Nummer. Das Handy klingelt in meiner Tasche und ich lege den Hörer zurück. Später werde ich die Nummer abspeichern. Ich schaue mich weiter im Wohnzimmer um. Die dunkle Holzdecke wirkt erdrückend. Die Möbel sehen aus, als stammten sie vom Trödelmarkt. Der staubige Fernseher steht auf einer niedrigen Backsteinmauer. Keine Deko, nichts, was den Raum schöner macht. Nur der grüne Kachelofen neben dem Sofa strahlt eine gewisse Eleganz aus. Auf dem Bücherregal steht die Hälfte der Bücher, die mein Regal so leer erscheinen lässt. Ich zähle zweiundvierzig Stück und studiere dabei die Bücherrücken, suche mir drei Romane aus. Sie verschwinden in meiner Tasche. Die Lücken, die sie im Regal hinterlassen, bleiben.
In der kleinen Einzeiler-Küche sehe ich nichts Neues. Auch sie stammt aus den Sechzigern. Das Erstaunlichste ist eine Teekanne auf dem Herd, die als Vase dient.
Auch hier gibt es kein Bild, kein Foto, keine Erinnerung. Ich frage mich, ob Jannik mich, uns bereits vergessen hat. Ich schaue aus dem Fenster. Kein Blick in die Ferne. Nur Eichen- und Fichtenstämme. Vermisst er nicht die Menschen?
Ich gehe weiter ins Schlafzimmer. Unser Doppelbett füllt fast den ganzen Raum aus. Nur für einen Kleiderschrank, gibt es noch Platz. Auf der zerwühlten Bettdecke liegt Janniks Laptop. Die zwei Kopfkissen sehen durchlegen aus. Ich bin mir sicher, in diesem Bett hat Jannik letzte Nacht nicht allein geschlafen. Ob Valerie hier gewesen ist?
Ich öffne den Kleiderschrank, entdecke nichts Auffälliges. Keine Frauenkleider. Ich schiebe den Laptop und die Decke zur Seite. Auch auf dem Bett keine Spuren. Jannik aber spüre ich in diesem Raum ganz deutlich. Ich lege mich ins Bett, atme tief ein und rieche nicht nur ihn, sondern auch mich. Alles ist wieder da. Die Stille ist laut.
Ich stehe auf, lasse meinen Abdruck auf der Matratze zurück und gehe hinaus. Draussen scheint die Sonne und ich lasse die Haustür offen stehen. Das Gartentor schliesse ich hinter mir.

Arja Lobsiger, geboren 1985, Schriftstellerin und  Lehrerin, lebt in Nidau (Schweiz). Sie studierte am Literaturinstitut in Biel. Anschliessend absolvierte sie an der Pädagogischen Hochschule Bern die Ausbildung zur Sekundarlehrerin. Arja Lobsiger veröffentlichte Essays, Gedichte und Kurzgeschichten in Zeitschriften und schrieb für den Zürcher Tagesanzeiger einen Literaturblog. Sie ist Gewinnerin verschiedener Literaturwettbewerbe, unter anderem des Berner Kurzgeschichtenwettbewerbs. Für ihren Debüt-Roman „Jonas bleibt« erhielt sie mehrere Förderbeiträge von Berner Gemeinden, der Erziehungsdirektion des Kantons Bern sowie Migros Kulturprozent.

Arja Lobsiger liest in der Reihe Wortklang – Klangwort am Samstag, den 8. September 2018, um 20 Uhr im Theater 111, St. Gallen: «Jonas bleibt», Ein berührender Roman über drei Menschen auf der Suche nach ihrem Weg aus der vermeintlichen Ausweglosigkeit. Der tragische Unfall eines Jungen verändert die Familie, und das Gefüge droht auseinanderzubrechen. Die Schwester fühlt sich am Tod des Bruders mitschuldig, die Mutter fällt in eine Depression, und der Vater verfängt sich in Wünschen und Vorwürfen. Eines Tages bricht die Mutter auf und sucht ihr Glück auf einer Insel im Mittelmeer. Taugt dieser Ort als Paradies ohne Erinnerungen?

Beitragsbild © Carmen Wueest

Enzensberger – Hesse – Grass im Forum Würth, Rorschach

«Forum Würth Rorschach» stellt vom 24. August 2018 bis 28. April 2019 in der Ausstellung «Literatur kann man sehen» Werke aus dem Bildnerischen Schaffen der drei grossen Literaten Hans Magnus Enzensberger, Hermann Hesse und Günter Grass aus.

«In der Ausstellung begegnen wir drei berühmten Literatenaus aus einer anderen Perspektive. Denn nicht ihr international anerkanntes schriftstellerisches Oeuvre steht im Blickpunkt, sondern das weniger bekannte, bildnerische Werk der drei Schriftsteller. Die jeweiligen Hintergründe für dieses künstlerische Schaffen sind dabei durchaus verschieden. 

Für Hans Magnus Enzensberger sind seine Literatur- und Sprachautomaten – sein WortSpielZeug, wie er es nennt – eine Art spielerischer Exkurs, der – so der Literat – «Tänze der Sprache» möglich werden lässt.

Günter Grass, der seine Laufbahn mit einem Kunststudium begann, bewertete seine Tätigkeit als bildender Künstler von jeher gleichrangig zu seinem literarischen Schaffen und verwebte beides Zeit seines Lebens in zahlreichen seiner Werke.

Hermann Hesse verhalf eine Lebenskrise zum Malen. Als Autodidakt sah er sich bescheiden als «Dilettant» auf diesem Gebiet. Gleichwohl hielt er 1924 rückblickend fest: «Als Dichter wäre ich ohne das Malen nicht so weit gekommen.» Sammlung Würth

Infos unter www.forum-würth.ch

Catalin Dorian Florescu «Die Freiheit ist möglich», Residenz

«Wie kann man den Menschen befähigen, eine integrierte Persönlichkeit zu werden? Will er das überhaupt? Ist ihm der fragile Frieden, den er mit sich selbst für die Dauer seiner virtuellen Manipulationen geschlossen hat, nicht dienlicher?» Catalin Dorian Florescu hat keinen Ratgeber geschrieben, aber einen streitbaren Essayband darüber, was die unbegrenzten Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung erreichen und verhindern. Und wer das Buch zum Anlass einer Diskussion lassen will, besuche die Hauslesung vom 1. September in Amriswil!

Ob uns die «Freiheit» vom Tier unterscheidet, scheint mir unsicher. Aber ich als Mensch hätte die Fähigkeit, mir durch mein Tun und Handeln, durch mein Denken und Fragen Freiheiten zu schaffen. Nutze ich diese Möglichkeit? Oder bin ich nicht längst ein fleissiger Knecht von Gesellschaft, Konsum, Politik, Medien und allgegenwärtiger Manipulation?

Nicht nur durch sein Studium der Psychologie, auch durch sein Sehen und Schreiben, «Schreiben und bewusst Leben, sind zwei Seiten der gleichen Medaille» formuliert Catalin Dorian Florescu Fragestellungen, die nachhallen, Aufforderungen zum Tun und Handeln, denen ich mich bei der Lektüre nicht selbstgefällig entziehen kann. Sei es im Umgang mit den modernen Medien, in der Art und Weise wie ich konsumiere, wie ich mich fortbewege, wie ich reise. Oder wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalte.

Wie sehr uniformiere ich mich selbst in meinem Tun? Wie weit blende ich mich freiwillig in meiner Absicht ein Individuum zu werden, gehe den Verlockungen der virtuellen Welt auf den Leim? Bin ich einer derer, die Ökologie schätzen, aber einen grösseren, leistungsfähigeren Wagen kaufen? Bin ich gegen soziale Missstände, kaufe aber gerne bei Zalando und Amazon? Bin ich kritisch und skeptisch der Politik gegenüber, mache mich aber nicht auf, bei Wahlen und Abstimmungen mein Papier einzuwerfen?

Wir laufen Populisten mit wehenden Fahnen in ihre offenen Arme, sei es in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich. Populisten ködern uns mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen und Herausforderungen. Ob es bei diesen genügt, sich in eine kindliche Trotzhaltung zu begeben, sich abzugrenzen, abzuschotten, ist mehr als hinderlich bei der wirklichen Bewältigung anstehender Probleme.

Warum akzeptieren wir, dass wir die Welt, die uns die Werbung als Ziel vor Augen setzt, in der Roger Federer lässig seinen Kaffee schlürft und uns die Geissens die Welt erklären, nie erreichen werden, dass wir uns allerhöchstens den Billigurlaub an einem Strand in der Türkei leisten können. Von Genuss keine Spur, denn die permanente Angst vor dem Verlust der eigenen Sicherheit, der Arbeit oder Gesundheit lähmt uns viel zu sehr. Warum grassieren Depressionen, Burnouts und Selbsttötungen in einer Gesellschaft, die doch so perfekt ist? Warum liefern wir uns bei Erklärungen der Welt dem Einfachen und Polaren aus, statt zu akzeptieren, dass es schwierig ist, dass es Bewegung, Handeln, Erwachen braucht, um den tatsächlichen Problemen der modernen Gesellschaft entgegenzutreten?

Catalin Dorian Florescu stellt die Fragen, die es braucht. Er stellt sie mutig und genau. Er reisst die Kulissen herunter, die uns die Sicht verstellen, geht mit seinen Fragen so nahe ran, dass es zuweilen weh tut, wenn diese einem zur Reflexion zwingen. «Die Freiheit ist möglich» liest sich leicht, provoziert und verliert sich nicht in wissenschaftlichen, philosophischen oder gesellschaftlichen Erklärungen. Florescu hat es nicht nötig, seine Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, denn was er schreibt, ist erlebt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timisoara, Rumänien. 1982 Flucht mit den Eltern in den Westen, lebt seitdem in Zürich. Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich, 1995–2001 Arbeit als Psychologe in einem Rehabilitationszentrum fur Drogenabhängige, Weiterbildung in Gestalttherapie, seit 2001 freier Schriftsteller. Zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. Anna Seghers-Preis 2003, Schweizer Buchpreis 2011, Joseph von Eichendorff-Literaturpreis 2012. Veröffentlichungen u. a.: „Zaira“ (2008), „Jacob beschließt zu lieben“ (2011), „Der Mann, der das Glück bringt“ (2016), „Der Nabel der Welt“ (Erzählungen, 2017). Zuletzt erschienen: «Die Freiheit ist möglich. Über Verantwortung, Lebenssinn und Glück in unserer Zeit» (2018).

In der Reihe unserer Hauslesungen an der St. Gallerstrasse 21, in 8580 Amriswil, liest Catalin Dorian Florescu am 1. September 2018 aus seinem Erzählband «Der Nabel der Welt» und dem Essayband «Die Freiheit ist möglich». Die Veranstaltung beginnt um 11 Uhr. Eine Anmeldung ist unbedingt erforderlich (info@literaturblatt.ch)! Eine einmalige Gelegenheit mit dem Schriftsteller und Schweizer Buchpreisträger in Kontakt zu kommen. Ein Büchertisch ist organisiert. Weitere Informationen hier.

Webseite des Autors

Beitragsbild: Sandra Kottonau

Gianna Molinari «Hier ist noch alles möglich», Aufbau

Eine Fabrik, deren Maschinen immer mehr stillstehen. Eine junge Frau, die sich als Nachtwächterin einstellen lässt. Ein Chef, der den Wolf auf dem Firmengelände vermutet. Ein Kantinenkoch mit einem Gewehr auf dem Rücken und Fallgruben auf dem Fabriksgelände, mit denen man hofft, den Wolf zu fangen.

«Hier ist noch alles möglich» – nicht nur Titel von Gianna Molinaris Debütroman, sondern Programm eines ganzen Buches. Die junge Frau, die sich als Nachtwächterin in einer Fabrik in der Verpackungsindustrie einstellen lässt, arbeitete zuvor in einer Bibliothek. Von dort ging sie weg, weil Arbeit nicht aus Sortieren von Büchern bestehen konnte. Aber auch die Nachtwache in der Frühschicht, zusammen mit Clemens, ist bloss Übergang, zeitlich befristet. Alles ist möglich. Die junge Frau erreicht, dass sie ihr Wohnquartier direkt über dem Überwachungsraum mit den Bildschirmen einrichten kann; ein Bett, ein Stuhl. Alles ist möglich. Man glaubt, dass sich ein Wolf an die Essensreste aus der fabrikeigenen Kantine hermacht, dass das wilde Tier damit zu nahe an den Innenbereich des Fabrikgeländes kommt und damit die Sicherheit gefährdet. Alles wartet auf Zeichen des Wolfes, auf die Sichtung des Tieres, lenkt ab von der Tatsache, dass hier eine Fabrik seine Maschinen gänzlich stilllegen wird und Menschen nach und nach ihre Arbeit verlieren. Man hofft auf den Wolf. Man hofft auf eine gute Wende in den Verhandlungen des umtriebigen Chefs. Alles ist möglich. In der Nähe des Fabrikgeländes ist ein Flughafen. Kein grosser, aber ein Tor zur Welt. Und nicht weit vom Fabriksgelände fiel ein Mann vom Himmel, wurde Tage später gefunden, ein Schwarzer, ein Flüchtling, wahrscheinlich aus dem Fahrwerkschacht eines Flugzeugs gefallen. Alles ist möglich. Ein Mann ohne Identität, erfroren oder an Sauerstoffmangel gestorben. Alles ist möglich.

«Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.»

Gianna Molinaris eigenwilliger Roman liest sich wie ein Kammerstück, spärlich möbliert, mit wenig Personal. Wenig ist eindeutig, vieles ist mehrdeutig. Die L-förmige Fabrik Metapher für eine Welt im Umbruch. Die Angst vor dem Wolf als Angst vor der Ungewissheit, der Unberechenbarkeit, dem Wilden, den Träumen. Clemens und die junge Frau, die beiden Nachtwächter sitzen in ihrem Überwachungsraum mit all den Bildschirmen wie in einem Cockpit eines Raumschiffs. Man sucht nach dem Feind, dem Fremden, während nicht weit von der Fabrik ein junger Mann vom Himmel fällt, beobachtet von einem Jäger, der seiner Beobachtung aber erst dann traut, nachdem die Zeitung von dem Vorfall berichtet.
Und dann spitzt sich auch noch die Situation in der Fabrik zu, nachdem die junge Nachtwächterin von der übrig gebliebenen Belegschaft mehr als eigenartig gemustert wird, nachdem im Ort, nicht weit von der Fabrik, nach einem Banküberfall, Phantombilder der Polizei auftauchen, die dem Gesicht der jungen Frau ähneln. Alles ist möglich.

Ein Buch, das von skurrilen Ideen und Einfällen lebt. Ein Buch, das inhaltlich und stilistisch aus der Reihe tanzt. Ein Buch mit Wortschöpfungen und Szenen, die ans Theater mehr erinnern als an die Wirklichkeit. Eine irgendwie entmenschte Welt, eine posthumane Welt, nicht dystopisch, aber so als hätte sich die Masse der Menschen bereits «verabschiedet». Ein Buch, das auf erfrischende Art und Weise ratlos macht. Ein Abenteuer!

Ein kleines Interview mit Gianna Molinari:

Die junge Nachtwächterin führt ein Universal-General-Lexikon, in dem sie fortlaufend neue Einträge hineinschreibt oder solche ergänzt. Ein Lexikon, das ihre Welt erklären soll. Ein Tagebuch wäre naheliegend, ein Universal-General-Lexikon so seltsam wie vieles in ihrem Roman. Wie kamen sie auf die Idee?

Ein Lexikon ist ein Instrument, um die Welt in wenigen Worten zu fassen, mittels Sprache die Welt zu definieren. Auch die Ich-Erzählerin versucht ihre Umgebung zu fassen, zu erfassen, zu ordnen. Diesem Ordnungswunsch kann sie im Ergänzen und Weiterführen des Lexikons nachgehen. Auch ist das Lexikon, im Gegensatz zum Tagebuch, das linear verläuft, vielmehr in einer Netzstruktur gebaut. Innerhalb dieses Netzes sind Bezüge und Verweise möglich. Dies entspricht sehr der Welt in diesem Roman. Auch ist der Kontrast der Lexikonsprache zur literarischen Sprache interessant. Die Sprache des Lexikons, die Fakten zusammenführt und keine Vermutungen anstellt im Gegensatz zur literarischen Sprache, die Fragen stellen kann, die Vermutungen äussert, Möglichkeiten aufzeigt, die vor allem auch die Fiktion bedienen kann. Das ist dem Lexikon, so wie wir es kennen, fremd.

Während sich ihre Protagonistin nach Unsicherheit sehnt, wird sie zur Sicherheit in und um die Fabrik eingestellt. Nichts will der Mensch heute mehr als Sicherheit. Vor nichts fürchtet er sich mehr als vor der Unsicherheit. Dem bösen Wolf der Gegenwart. Wo stehen sie?

Mir stellt sich die Frage, wer über das Gefühl von Unsicherheit und Sicherheit entscheidet. Das Gefühl der Unsicherheit wird oft von aussen hergestellt und verinnerlicht sich zu einem Gefühl der Angst. Die Frage stellt sich: Ist der Wolf tatsächlich die Unsicherheit, oder ist er nicht vielmehr derjenige, der uns über unser Gefühl der Unsicherheit nachdenken und uns unser Sicherheitsbedürfnis hinterfragen lässt? Der Wolf an sich ist ja nicht gefährlich. Er wird zu einer Bedrohung gemacht. Der Wunsch nach Sicherheit führt dazu, dass wir Grenzen aufbauen, (Fabrik)Zäune ziehen. Sperren wir damit die Bedrohung aus, oder sperren wir uns selber ein?

Lose, ein Mann, der einst in der Fabrik arbeitete und als Jäger den Mann vom Himmel fallen sah, sammelt in einer Mappe alles über diesen jungen Mann (eine tatsächliche Geschichte, die im Mai 2010 durch die Presse ging). Ein Jäger, der zum Sammler wird! Im Nachwort zum Roman erzählen sie von der Inspiration dieser Geschichte, die vom Schriftsteller Christoph Keller zu einer Radiogeschichte wurde. Da ist eine junge Frau, eine Fabrik, ein Wolf und ein Mann, der vom Himmel fiel. Eine besondere Konstellation für einen Roman. Fügten sich diese Bausteine leicht zusammen?

Die Bausteine zusammenzubringen war zu Beginn nicht einfach. Der Text ist lange gewuchert und dann durch viele Streichungs- und Komprimierungsphasen gegangen. Der Prozess des Verdichtens führt den Text und somit auch die Bauteile zusammen. Die Konstellation mag besonders scheinen, die einzelnen Teile haben für mich aber sehr viel miteinander zu tun. Hier greift wiederum der Netzgedanke. Die Literatur vermag gegensätzlichste Dinge in einen Bezug zueinander zu stellen, vermag sie in einem einzigen Satz nebeneinander zu bringen. Das ist das Schöne an der Literatur, dass sie das kann.

So wie der Wolf eine ganze Fabrik und ihre Belegschaft vom eigentlichen ablenkt, braucht die Gesellschaft Dinge, Geschichten, um vom wirklich Wichtigen abzulenken. Lenken sie ab oder zeigen sie auf?

Ablenken und Aufzeigen sind in diesem Roman keine Gegensatzpaare. Sie gehen Hand in Hand. Einerseits sucht die Ich-Erzählerin in den Geschichten Zuflucht, sie geht ihnen nach und möchte Teil von ihnen sein. Andererseits haben Geschichten auch die Fähigkeit, Dinge sichtbar zu machen, die davor unsichtbar waren, Zusammenhänge herzustellen, aufzuzeigen. So ist es auch beim Wolf: Ich denke nicht, dass der Wolf eine Ablenkung ist. Vielmehr ist er ein Element, das, obwohl er selber fast unsichtbar bleibt, Dinge sichtbar macht und aufzeigt. 

Das Buch ist illustriert. Zeichnungen aus dem Universal-General-Lexikon der jungen Nachtwächterin. Zudem sind in den Roman zwei Fotofolgen eingefügt, ganzseitige Fotos, die nicht erklären, aber wie Kulissen das Leseerlebnis verstärken. War das schwierig, den Verlag für ein solches Experiment zu gewinnen?

Die Skizzen und Fotografien waren von Beginn weg wichtige Bestandteile des Romans. Wie der Text sind auch die Bilder durch einen Lektoratsprozess gelaufen. Im Gespräch mit meiner Lektorin Sarah Iwanowski stellten sich Fragen wie: Wo braucht es Kürzungen, was erzählen die Bilder, wo erzählen sie zu viel oder zu wenig? Der Verlag stand immer hinter dem Verwenden des Bildmaterials.

Ich danke Gianna Molinari für das spannende Interview.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte von 2009 bis 2012 Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa 2012 am Literarischen Colloquium Berlin und erhielt im selben Jahr den Preis sowie den Publikumspreis des 17. MDR-Literaturwettbewerbs. Bei den „Tagen der deutschen Literatur“ 2017 in Klagenfurt wurde sie für einen Auszug aus ihrem Debüt „Hier ist noch alles möglich“ mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

Buchpremiere: Gianna Molinari liest erstmals in Zürich aus ihrem Debütroman «Hier ist noch alles möglich» am 28.08.2018, Beginn: 19.00, Sphères, Hardturmstrasse 66, 8005 Zürich. Der Eintritt ist frei!

Jaroslav Rudiš «Der Besuch von Herrn Horváth», Edition Thanhäuser

Kleinstverlage wie die Edition Thanhäuser sind stille Tempel der Hingabe und Liebe zur Literatur und Kunst. Wie viele andere funktionieren sie nicht nach den sonst gültigen wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten. Dafür umso mehr, weil wie in den Büchern und Publikationen der Edition Thanhäuser glühende Leidenschaft und maximales Können gepaart sind.

Christian Thanhäuser: Allen Buchprojekten geht eine persönliche Begegnung voraus, in welchen Land auch immer, ich lasse es den Autorinnen und Autoren immer frei, auch Texte zu verfassen, die im normalen Verlagswesen kaum eine Möglichkeit hätten, verlegt zu werden. Je besser man sich kennt, bzw. je besser ich die Länder der Autorinnen und Autoren kenne, umso leichter fällt mir die Arbeit an den Illustrationen.

Acht Erzählungen des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudiš, ergänzt und mitgetragen von zwölf Fichtenholzschnitten, sogfältig gesetzt, fadengeheftet und blau eingefasst; das, was das Herz eines Büchernarren in Wallung bringt.
Das Büchlein kostet so viel wie ein Kinoeintritt in Zürich. Das Vergnügen, die Langzeitfreude und die Begeisterung, die es zumindest bei mir auslöst, lässt einen Kinobesuch, sei der Film noch so gut, aber weit im Schatten zurück. Erst recht belohnt durch die Innigkeit, wenn ich die acht Geschichten an einem kühlen Abend meiner Frau vorgelesen habe.

Jaroslav Rudiš, der seine Romane sonst in Deutsch beim Luchterhand Literaturverlag herausgibt und bei seinen Liveauftritten zum Ereignis wird, beweist in «Der Besuch von Herrn Horváth» wie witzig, tiefgründig, bodennah und schräg er erzählen kann. Auf knapp 70 Seiten findet sich alles Können, sowohl das des Schriftstellers wie jenes des Künstlers Christian Thanhäusers.

Acht Erzählungen, die durch den Kumpel Max miteinander verbunden sind. Auch dann, wenn Max gar nicht vorkommt, dann aber, als wären sie ihm am Stammtisch erzählt. Wie jene Geschichte, die dem Buch seinen Namen gibt. Nur ein einziges Mal keucht der alte Herr Horváth das Treppenhaus hinauf zu einem Besuch beim Erzähler. Für eine Partie Schach, unablässig plaudernd. Oder auf einer Reise ins Tessin, wenn dem Erzähler, unterbrochen von den Tunnels der alten Gotthardlinie, sein Freund Max aus Prag anruft und von seinem Entschluss berichtet, seinem Leben nun endlich eine andere Richtung zu geben, mehr dem Wisent hinterher. Oder der Erzähler trifft Max in der immer gleichen Prager Kneipe «Zum ausgeschossenen Auge» (Die gibt es wirklich!) und man lamentiert über die rüde Gegenwart in der tschechischen und internationalen Politik oder die Sehnsucht nach einem dichtenden Übervater wie es Vaclav Havel einst war, einer Zeit, in der ein Dichter Staatsführer werden konnte. Oder man sitzt als Leser mit am Tisch, lauscht den Erzählungen, die die irgendwie einsamen Männer hinter ihren tschechischen Bieren mit der Runde teilen.

Jaroslav Rudiš ist ein begnadeter Erzähler. Ein Seismograph der tschechischen Gesellschaft, die sich in ihrer Unzufriedenheit durchaus grosseuropäisch gibt. «Der Besuch von Herrn Horváth» ist ein Buch, das man nach der Lektüre unmöglich so einfach in ein Regal schieben kann, denn es wächst einem ans Herz!

Jaroslav Rudiš wurde 1972 in Turnov in Böhmen geboren, Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Seine Bücher erscheinen im Luchterhand Literaturverlag und bei Voland&Quist. 2016/17 Ranitzstipendiat in Ottensheim, 2018 erhält er den Preis der Literaturhäuser.
Jaroslav Rudiš hat die Texte für dieses Buch in deutscher Sprache geschrieben.

Webseite des Autors

Christian Thanhäuser, geboren am 19. Juli 1956 in Linz, wuchs im Schiffsmeisterhaus zu Ottensheim an der Donau auf. Angeregt von H. C. Artmann gründete Christian Thanhäuser 1989 eine eigene, aus dem Holzschnitt heraus entwickelte Handpressenwerkstatt. Seit 1995 erscheint die Buchreihe RanitzDrucke. Die Drucklegung dieser zum Teil zweisprachig angelegten
Publikationen ist an Stipendienaufenthalte in Ottensheim gebunden. Herausgeber ist Ludwig Hartinger. Derzeit erscheinen pro Jahr zwei bis drei, meist zweisprachige Bücher, die in Zusammenarbeit mit der Druckerei Plöchl in Freistadt hergestellt werden. An Handpressendrucken mit Holzschnitten wird weiterhin in der Ottensheimer Werkstatt gearbeitet.

Webseite der Edition Thanhäuser

Während des 23. Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad stellt Christian Thanhäuser Insektenzeichnungen und Holzschnitte aus. Die Insektenzeichnungen sind Illustrationen zu dem vielbändigen bei Matthes & Seitz erschienen Werk «Erinnerungen eines Insektenforschers» über den «Homer der Insekten» Jean Henri Fabre.

Leukerbad

19 Autorinnen und 15 Autoren gibt es vom 29. Juni bis 1. Juli 2018 am 23. Internationalen Literaturfestival Leukerbad zu erleben. Darunter literarische Schwergewichte, eine Fülle von Poetischem und immer wieder Möglichkeiten, die Natur zu erkunden – sei es zu Fuss mit literarischer Begleitung oder zwischen den Buchdeckeln der Reihe «Naturkunden».

Mit Péter Nádas (Ungarn) und Karl Heinz Bohrer (Deutschland) sind zwei der grossen europäischen Intellektuellen zu Gast in Leukerbad. Beide werden ihre Bücher in Gesprächen näher beleuchten. Felicitas Hoppe (Deutschland) lädtuns ein auf eine amerikanische Reise, und Filip Florian (Rumänien) beleuchtet eine herzerwärmende Jungenfreundschaft.

Gesprächsreihe «Perspektiven»

Ein breites Themenfeld decken die «Perspektiven» in diesem Jahr ab: Stark besetzt ist das Gespräch über die Situation in der heutigen Türkei mit Aslı Erdogan, Murathan Mungan und Ece Temelkuran.
Karin Wieland (Deutschland) und Sasha Marianna Salzmann (Deutschland) diskutieren über weibliche Vor- und Rollenbilder im Theater.
Wolfgang Ullrich (Deutschland) schaut mit Lukas Bärfuss kritisch auf die neue Bekenntniskultur.
Und der Blick geht 50 Jahre zurück: Peter Schneider (Deutschland) und Stefan Zweifel beleuchten eine Epoche, die bis heute aktuell ist.

Natur (er)kunden

Seit fünf Jahren erscheint die Reihe «Naturkunden» im Verlag Matthes & Seitz – wunderschöne, kluge Bücher, die in Leukerbad von der Herausgeberin Judith Schalansky (Deutschland), dem Verleger Andreas Rötzer und zwei der Autoren, Josef H. Reichholf (Deutschland) und Cord Riechelmann (Deutschland), vorgestellt werden.

Schweizer Prosa

Lesung am Dalaschluchtspaziergang c Literaturfestival Leukerbad © Literaturfestival Leukerbad, Jonas Ludwig Walter

Um Krieg und Liebe, eine Nacht voller Geschichten, die Folgen der Klimaerwärmung, die Suche nach der Frau im Mond und ums Wallis geht es in den Werken der Schweizer Autorinnen und Autoren Lukas Bärfuss, Christina Viragh, Arno Camenisch, Jürg Halter und Christine Pfammatter. Monique Schwitter liest verschiedene Texte, und musikalisch von Balts Nill und Mich Gerber unterstützt wird Melinda Nadj Abonji ihre Texte vorstellen.

Elf Mal Lyrik

Elf Lyrikerinnen und Dichter bringen (auch) Verse und Gedichte an den Fuss der Gemmi: Mit Vanni Bianconi (Tessin) und Roberta Dapunt (Italien) sind zwei italienischsprachige Autoren dabei, und auch Oswald Egger (Österreich) ist in seinem aktuellen Buch in Italien unterwegs. Brigitta Falkner (Deutschland) wird ihre krabbeligen Text-Bild-Kompositionen vorstellen. Gianna Olinda Cadonau

Azouz Begag im Hotel Les Sources des Alpes © Literaturfestival Leukerbad, Ali Ghandtschi

(Schweiz) und Marina Skalova (Schweiz) springen mit uns im Projekt Poethreesome über die Sprachgrenzen Rätoromanisch–Französisch–Deutsch hinweg. Einen neuen Gedichtband bringt Esther Kinsky (Deutschland) mit, die mit Roberta Dapunt ein Gespräch über das Übersetzen von Lyrik führen wird. Mit ihren vielbeachteten Gedichtbänden im Gepäck kommen Thilo Krause (Deutschland/Schweiz) Ilma Rakusa (Schweiz) und Raphael Urweider (Schweiz). Nora Gomringer (Schweiz) schliesslich, wird in diesem Jahr Lyrisches – auch – ins Übersetzungskolloquium tragen.

Aus dem französischen Sprachraum reisen neben Marina Skalova Emmanuelle Bayamack-Tam (Frankreich) und Fanny Wobmann (Schweiz) mit ihrer Übersetzerin Lis Künzli ans Festival.

Titelfoto: Bachtyar Ali im Garten des Hotels Regina Terme© Literaturfestival Leukerbad, Hartwig Klappert

Wer will anstossen? 400 Beiträge auf literaturblatt.ch

Lesen selbst ist einsames Tun. Noch viel mehr, wenn es an dem Ort still und ruhig ist, alles andere Tun eine Atempause einlegt. Aber weil mein Lesen mehr sein soll als nur die Salbung meiner Seele, das Glätten innerer Wallung, das stille Aufreissen oder einfach gute Unterhaltung, geniesse ich es, wenn in Gesprächen, Briefwechseln, dem Austausch das Buch zum Medium wird. Wie bei einer Seance. Wenn der Tisch zu beben beginnt, wenn durch das Medium die Welt dahinter zu Wort kommt.

Nachdem ich eine Rezension online gesetzt hatte, ging es nicht lange, bis auf diese eine Reaktion anklopfte. Eine jener Reaktionen für die sich all das lohnt, wofür man auf schmächtigem Pferd und lottrigen Harnisch für die Literatur ins Feld zieht:

„Lieber Herr Frei-Tomic!

Vielen herzlichen Dank für die sehr schöne Besprechung, über die ich mich sehr gefreut habe! Sie ist auch die allererste Reaktion aus der Schweiz. Sie werden lachen, denn zu dieser Passage — «Andrea Scrima ist eine Meisterin des Sehens, vermag mit ihrer feinen Wahrnehmung Oberflächen aufzubrechen, dahinter liegende Schichten freizulegen. Genau das Gegenteilige von dem, was in der Malerei sehr oft passiert.» — muss ich sagen, das ich ungefähr genauso gemalt habe, darunterliegende Schichten freizulegen, mit anderen Worten, Ihre Beschreibung des Buches könnte genauso eine Beschreibung meiner Kunst sein. Ich grüße Sie herzlich aus Berlin. Andrea Scrima“

Nun mache ich mir mein grösstes Geschenk selber. Ich lade zusammen mit den Musikern Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler fünf junge Autorinnen nach St. Gallen ins Theater 111 ein. Dort werden sie aus ihren Büchern vorlesen und die Musiker in die Lesung eingefügt, die musikalischen Bilder dazu malen.

Wie sehr ich mich auf ein volles Theater 111 freue. Reservationen sind von Vorteil! Infos unter www.theater111.ch!

Auf bald!

Yaël Inokai liest, Christian Berger und Dominic Doppler im musikalischen Austausch

Am Samstag, den 9. Juni 2018 liest die aus Berlin angereisende Schriftstellerin Yaël Inokai (Schweizer Literaturpreis) zusammen mit dem Musikerduo STORIES aus ihrem preisgekrönten Roman „Mahlstrom“. Die Lesung im Theater 111 in St. Gallen beginnt um 20 Uhr. Türöffnung ist um 19 Uhr.

Die Lesung mit Yaël Inokai ist die erste einer ganz speziellen Reihe, die Literatur mit improvisierte Musik verbinden will. Auch in den folgenden Lesungen agiert STORIES mit Aria Lobsiger (Jakob bleibt), Dana Grigorcea (Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen), Julia Weber (Immer ist alles schön) und Noëmi Lerch (Grit) über Herbst und Winter fortgesetzt (weitere Informationen hier).

Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) sind zwei Klangforscher, die nicht bloss den literarischen Text musikalisch illustrieren. Musikimprovisation soll in einen Dialog mit dem gelesenen, vorgetragenen Text treten. Die Musik reagiert auf den Text, entgegnet ihm, Zwiespache haltend. Im Idealfall sogar soll die Musik auf das Auftreten der Autorin reagieren. Christian Berger und Dominic Doppler beschäftigen sich dabei im Vorfeld intensiv mit den gemeinsam vereinbarten Textstellen aus den jeweiligen literarischen Texten. Trotzdem bleibt viel Freiheit, viel Risiko, viel Abenteuer, sowohl für die Akteure im kleinen Theater 111, wie die Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich dem Wagnis aussetzen werden. (Wie klingt die Musik? Hören Sie hier.)

Yaël Inokai, (vormals Pieren) geboren 1989, arbeitete als Fremdenführerin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und war Hildesheimer Stadtschreiberin. Nach ihrem viel beachteten Debüt „Storchenbiss“ (2012) legte sie 2017 mit „Mahlstrom“ ihren zweiten Roman vor. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden. Mahlstrom erzählt die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Beginn der Lesereihe (Lesereise) im Theater 111, St. Gallen

Am Samstag, den 9. Juni ist es soweit. Yaël Inokai liest im Theater 111 in St. Gallen aus ihrem preisgekrönten Roman «Mahlstrom». Eine Lesung, in der sich Literatur und Musik begegnen. Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) garantieren zusammen mit der Autorin für ein besonderes Hörvergnügen!

aus der aktuellen Nummer des Ostschweizer Kulturmagazins «Saiten»

Hansjörg Schneider „Kind der Aare“, Diogenes

Ein Unikat der CH-Literatur feierte im März seinen 80.! Zu seinem Geburtstag macht er seinen Leser*innen und mir seine Autobiografie „Kind der Aare“ zum Geschenk. Zum ersten Mal begegnete ich Schneiders Werk, als man 1981 (Ich war 19!) den Fernseher ausschaltete, als bei der Ausstrahlung des Theaterstücks „Sennentuntschi“ nacktes Fleisch und rohe Lust unübersehbar wurden. Ich ging zu Bett, meine Lust auf Hansjörg Schneider aber war geweckt! 

In seiner unaufgeregt erzählten Autobiografie schreibt der mit seinen Hunkeler-Krimis zur Krimi-Ikone gewordene Schriftsteller und Dramatiker von seiner Kindheit und Jugend in der sanften Landschaft der Aare bis zu seinen Grosserfolgen mit der Figur Hunkeler, die mit dem 2015 verstorbenen Schauspieler Mathias Gnädinger zu einer Identifikationsfigur wurde.

„Ich habe geschrieben, was ich schreiben wollte.“

Warum sich 340 Seiten antun, wenn seine Prosa und Theaterstücke mitreissend und entlarvend sind und keiner Erklärung bedürfen? Hansjörg Schneiders Leben als mittlerweile längst etablierter Schriftsteller verlief alles andere als geradlinig. Wer den Autor schon einmal getroffen hat oder gar mit ihm zu tun hatte, ahnt, wie wenig sich dieser um Konventionen und Schein schert. Hansjörg Schneiders Auftreten ist direkt, eigenwillig, durchaus schüchtern und manchmal gut schweizerisch hölzern. Seien es die obligaten Bauernhemden ohne Kragen oder Schuhe mit Klettverschluss, träfe Sprüche oder die kantigen Figuren, die er mit seinen Geschichten lebendig werden lässt. So wenig, wie sich Hansjörg Schneider um Künstlichkeit bemüht, so sehr ist sein Schreiben Resultat genauer Beobachtung und erfrischender Bodenhaftung. Und noch viel mehr!

“Ich bin stets ohne Sauerstoff getaucht. Ich brauche kein Hilfsmittel ausser der Brille, ich war mir Fisch genug.“

Hansjörg Schneider ist ein Mann des Wassers. Vielleicht ist mir deshalb keines seiner Werke so sehr in Erinnerung geblieben und eingeritzt wie der Roman „Das Wasserzeichen“. Die Geschichte von Moses Binswanger, der mit einer kiemenartigen Öffnung zur Welt kommt und sich immer wieder wässern muss. Die Geschichte eines schwierigen Lebens unter Menschen, vor denen sich Moses immer mehr zurückziehen muss. Erst recht, als die Liebe die Frauen mit ihm ins Wasser zieht.

So wie der Autor aus dem Land der Aare kommt, jenem Fluss, der bei  Zusammentreffen mit dem Rhein seinen Namen verliert, obwohl sie meist mehr Wasser mit sich führt als ihr „Bruder“, so ist sein Schreiben und seine Herkunft mit dem Wasser verbunden, seien es die „Wasserzeichen“ in meinem Lieblingsroman oder die am Rhein spielenden Hunkeler-Krimis.

In seiner mit Witz und Schalk geschriebenen Autobiografie erzählt Hansjörg Schneider nicht nur von seinem Werdegang, sondern auch von den kleinen und grossen Demütigungen eines Schreibenden, der in keine Schublade passt, sich nicht in die Reihe der Intellektuellen einschleichen will und Theater schreibt, die sich keiner Modeströmung unterwerfen. Dass er damals mit seinem Theaterstück „Sennentuntschi“ einen Mehrfachskandal auslöste, zuerst im Theater und später im Fernsehen, ist nicht das Ergebnis eines wirklichen Skandalstücks, sondern der allgemeinen Prüderie.

Hansjörg Schneider, der früh seine Mutter verlor und sich einer übermächtigen Vaterfigur zu stellen hatte, der mit seiner Frau seine grosse Liebe fand und sie durch Krankheit und Tod wieder verlieren musste, erzählt aus seinem Leben, breitet nicht aus, wühlt nicht in Wunden, auch wenn der Zorn zuweilen aufblitzt. „Kind der Aare“ ist eine Hommage an eine verschwundene Welt. Das Schicksal aller, die alt werden und dabei nichts von ihrem scharfen Blick einbüssen. Bei der Lektüre fast schwarz-weiss, mit viel Bakelit und Stimmen und Bildern, die auch zu meinen Erinnerungen gehören. Hansjörg Schneider schlägt an und es schwingt mit.

Hansjörg Schneider liest anlässlich der 40. Ausgabe der Solothurner Litereraturtag an der Aare, seinem Fluss. Das Literaturfest findet vom 11. bis 13. Mai statt.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete nach dem Studium der Germanistik und einer Dissertation unter anderem als Lehrer, als Journalist und am Theater. Mit seinen Theaterstücken war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ›Hunkeler‹-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel und im Schwarzwald.

Titelfoto: Sandra Kottonau