In seinem ebenso berührenden wie brisanten Roman «delfin» verpackt Ralf Bruggmann hochaktuelle Debatten in poetische Gespräche und innere Monologe, die nichts ungerührt lassen. Selbst – oder vielmehr vor allem – den Kern des Menschlichen. Auch mit den Augen kann man in die Geschichte eintauchen. Die Illustratorin Lea Le untermalt die Lesung mit analogen Zeichnungen. Ein Panorama, das während der Lesung aufgedeckt und ergänzt wird.
Ralf Bruggmann Der gebürtige Herisauer Ralf Bruggmann schreibt kurze und lange Geschichten, Fragmente und Prosatexte und arbeitet in einer Werbeagentur. 2016 gewann er den Jury- und den Publikumspreis des Ausserrhoder Schreibwettbewerbs «Literaturland». Nach der Prosasammlung «Hornhaut» im Jahr 2017 erschien im Herbst 2024 sein erster Roman «delfin» im orte Verlag. Weitere Informationen zum Autor Ralf Bruggmann
Lea Le Lea Le lebt und arbeitet als freischaffende Illustratorin und Comic-Autorin in St.Gallen. Neben Auftragsarbeiten hat sie diverse Comics in Magazinen und Zeitungen veröffentlicht. Weitere Informationen zur Illustratorin Lea Le
Zum Buch
Ralf Bruggmann «delfin», orte Verlag, 2024, CHF ca. 36.90, 264 Seiten ISBN 978-3-85830-323-3
An einem Strand findet ein Delfin den Tod. Und auch die Menschen, die in der unteren und oberen Stadt wohnen, sehen sich mit Enden aller Art konfrontiert. Da ist zum Beispiel Nina, die ihren Sohn allein großzieht und sich abmüht, ein Zuhause aufrechtzuerhalten, das langsam, aber sicher vom Meer verschlungen wird. Und da ist Milly, die das Unmögliche versucht, um den Verlust ihres Lebenspartners zu verdrängen. Als sich die ungleichen Frauen in einem kleinen Restaurant an der Küste kennenlernen, keimt aus Einsamkeit eine unerwartete Freundschaft. Gemeinsam scheinen die beiden, sich den Wogen des Lebens stellen und Trost im Untröstlichen finden zu können. Doch das Ende lässt sich nicht aufhalten. Bleibt die Frage: Was kommt danach?
Das nicht alles ist, wie es scheint, wird uns immer und immer wieder ins Bewusstsein geprügelt. Dass das Gewusel auf der Oberfläche nicht mit den Fäden im Untergrund übereinstimmt, wissen wir ebenfalls. Isabelle Lehn brilliert mit ihrem Roman „Die Spielerin“ derart überraschend, fundiert, sachkundig und dramaturgisch geschickt, dass man sich während des Lesens die Augen reibt.
Wir sehen sie überall, die Erfolgreichen. Sie parkieren im Halteverbot mit ihren aufgemotzten Karossen, sie bebildern die Sozialen Medien mit ihrem permanent glamurösen Auftritt, mit Botox und Silikon bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen oder spielen zumindest diesen, auch wenn das Bankkonto im Hintergrund so gar nicht widerspiegelt, was an der Oberfläche glitzert und glänzt. Aber da gibt es auch noch die anderen; jene ganz und gar Unaufälligen, die im Hintergrund die Fäden ziehen und ihre Genugtuung mit der Zufriedenheit nähren, dass die Marionetten im Scheinwerferlicht nach ihrer Fasson tanzen.
Isabelle Lehn beschreibt genau das, das Wirken einer Frau, der man wenig zutraut, die unscheinbar im Hintergrund wirkt, die weiss, wie sie Exponenten instrumentalisiert, wie das grosse Geld wie auf einer grossen Wippe mit minimaler Geste und maximaler Wirkung in ihre Richtung rutscht. Eine Frau, im Roman nur mit A. genannt, als ob alles Individuelle bei der eigentlichen Protagonistin keine Rolle spielen würde, wächst in beschaulichen Verhältnissen auf, macht trotz Widerstand ihres Vaters eine Banklehre in der niedersächsischen Provinz, widmet sich ganz ihrer Aufgabe, blendet alles andere aus, steigt auf in ein angesehenes Bankhaus in Zürich, macht sich durch Fleiss, Beharrlichkeit und gespielter Unterwürfigkeit in einem ziemlich sexistischen Machoumfeld bald unentbehrlich. Man schenkt ihr mehr und mehr Vertrauen und A. lernt schnell, dass Geldfluss und Moral alles andere als miteinander gekoppelt sein müssen. Von den vermeintlichen Strippenziehern (meistens männlich) unterschätzt, missachtet und vergessen wird sie zur Schaltstelle eines mafiösen Schattensystems.
Isabelle Lehn «Die Spielerin», S. Fischer, 272 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-10-397202-3
Im ersten Teil ihres spektakulären Romans schildert Isabelle Lehn die Schieflagen, Auswirkungen, die A. mit ihren Verbindungen, Versprechen und Zusagen bewirkt. Wie sehr man besiegeltem Papier glaubt. Wie sehr man in der Not auf Rettung hofft und jeden noch so dünnen Strohhalm als rettendes Floss sieht. Irgendwann steht A. vor Gericht und nach und nach wird klar, wie sehr sich Biographien und Schicksale durch die Agitation dieser unscheinbaren Schattenfrau an die Ränder ihrer Existenz bewegten – oder darüber hinaus. Faszinierend ist, wie nicht nur für die „Opfer“ damals die Frau im Hintergrund schemenhaft bleibt, sondern auch mich als Leser eine Schattenfrau. Eine Frau, über deren Motivation und Beweggründe man ellenlang diskutieren könnte, die vielleicht einfach nur durch die Gelegenheit zur «Diebin» wurde.
«Du hast die Wahl, ob du unbewaffnet in diesen Kampf ziehen willst, gegen einen übermächtigen Gegner. Oder ob du Gebrauch von deiner Superkraft machst, dich von anderen unterschätzen zu lassen.»
Dem Roman zum Vorbild dient ein realer Fall aus dem Jahre 2004, als die Nachrichtenagentur ddp, die Insolvenz anmelden musste, in Schieflage einem kriminellen Investor auf den Leim ging, vermittelt durch eine ddp-Mitarbeiterin, die ein Doppelleben führte, Strippenzieherin und unscheinbare Mitarbeiterin. Das Spannende an diesem Roman ist aber nicht die Aufarbeitung eines realen Geschehens, nicht einmal „Enthüllungen“, wie weit sich mafiöse Strukturen ausgerechnet in die Medienwelt hineinfressen können. Das Geniale an diesem Roman ist seine lakonische Erzählweise, dass die Autorin nicht prahlt mit ihrem Wissen, ihrem Durchblick, nicht einmal, dass sie mich blossstellt in meiner Ahnungslosigkeit. Es ist die Dramaturgie, der Bau der Geschichte. Die Art, mit welcher Selbstverständlichkeit sich nicht nur A. im Geschehen, sondern Isabelle Lehn in der Materie bewegt. Ich reibe mir während der Lektüre immer und immer wieder die Augen, staune und wundere mich.
Dass dieser Roman „feministisch“ sein soll, entzieht sich meinem Empfinden. Er zeigt, wie leicht man sich hinter Unauffälligkeit verstecken und verbergen kann. Wie leicht man(n) sein Gegenüber aufgrund des Aussehens und des Verhaltens unterschätzt. Ein ungeheuer gut gestrickter Roman, der allerdings nicht warm gibt, sondern Frösteln verursacht.
Isabelle Lehn, geboren 1979 in Bonn, lebt heute in Leipzig und schreibt erzählende und essayistische Prosa. Sie ist promovierte Rhetorikerin, Autorin des mehrfach ausgezeichneten Debütromans «Binde zwei Vögel zusammen» und zuletzt des Romans «Frühlingserwachen». Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis für ihren Aufsatz «Weibliches Schreiben» (S. Fischer hundertvierzehn), der sich mit der geschlechtsspezifischen Rolle von Autor:innen im Literaturbetrieb auseinandersetzt.
Endlich macht Thierry mit Vanessa und ihrer gemeinsamen Tochter Evie Urlaub. Sogar die Katze Pizza ist dabei. Ein Urlaub ohne Pizza geht nicht. Ein Urlaub in einem Luxusressort in den Bergen. Ein Urlaub, der sich letztlich aber gar nicht als das entpuppt, was er zuerst zu sein scheint.
Thierry arbeitet mit seinem Chef und Freund an einem Film. „Theorie von allem“. Ein Film, der sich mit der Formel des Lebens beschäftigt, der klären soll. Selbst jetzt in seinen Familienferien kann er nicht von dem lassen, was ihn schon seit langem einnimmt und beschäftigt, einlullt und nicht mehr loslässt. Ob wir die Dinge in Einklang bringen können. Warum scheint alles im Chaos zu enden? Wann beginnt das Chaos? Thierry hat seinen Computer nicht zuhause gelassen, auch sein Mobilphone nicht. Es meldet sich immer wieder.
„Ich habe in diesem Augenblick das Gefühl, dass ich auf etwas zuhalte, dem ich nicht ausweichen kann.“
Michèle Minelli «Wie es endet», lectorbooks, 2024, 144 Seiten, CHF. ca. 32.90, ISBN 978-3-906913-46-9
Während sich in dem mit allem Luxus ausgestatteten Chalet in den verschneiten Bergen, mit beeindruckender Aussicht, auch nachts auf einen kolossalen Sternenhimmel, mit einer Jurte und einem Jakuzzi vor dem Haus, überfreundlichen jungen Frauen an der Rezeption im Hotel, die jede Konversation mit der Frage, ob sie noch etwas Gutes für sie tun können, anfangen oder enden, langsam etwas wie Alltag zu entfalten beginnt, häufen sich Zeichen, dass etwas zu kippen droht. Thierry weiss, wie brüchig sein Leben geworden ist, wie nahe die Familie am Auseinanderbrechen war und ist. Erst recht, als man ihm mitteilt, dass eine drohende Lawine ganz in der Nähe nicht ungefährlich sein könnte. Und noch viel mehr, als die Katze in einem Moment der Unaufmerksamkeit durch ein Fenster nach draussen entwischt.
«Ich rede weiter von Dingen, die nicht mehr zueinanderfinden, die auseinanderbröseln, expandieren.»
Äussere Anzeichen der Bedrohung. Ein Mobilphone, dass sich dauernd meldet, Telefonate, die man an der Rezeption ausrichtet und ihn um Rückruf bittet. Und eine Ehefrau mit Kind, die sich zwar im gleichen Gebäude befinden, aber abgekoppelt von ihm die Stunden verbringen. Vanessa ist erfolgreiche Schauspielerin. Während sie mit ihrer Tochter den Urlaub zu geniessen scheint, verschiebt sich Thierrys Wahrnehmung immer mehr in einen Zustand der Entrücktheit. Thierry versucht alles, um die Kontrolle über ein Leben in zunehmender Schieflage zurückzugewinnen.
„Wie es endet“ überrascht mit einer subtilen Dramaturgie. Was im ersten Teil des Romans wie ein Rettungsversuch eines Mannes aussieht, der nun endlich eingesehen hat, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht, dass eine Familie Zeit und Zuwendung braucht, Inseln, die nur ihnen gehören, erfahre ich als Leser, wie sich das Schlingern des Schiffes immer mehr aus Thierrys Wahrnehmung entfernt. Je länger ich lese, umso mehr erahne und erfahre ich, dass die drohende Katastrophe längst Realität geworden ist. Dass sie Lawine draussen Thierrys klaren Blick längst zugedeckt hat. Kursiv gedruckte Sätze zerschlagen scheinbare Realität, lassen erahnen, dass Thierrys Welt längst bloss noch ein verzweifelter Versuch ist, Normalität zu spielen.
«Menschen dringen in die Herzen von Atomen ein und erforschen die Tiefen des Weltalls, aber ihre eigenen Herzen bleiben ihnen verschlossen.»
„Wie es endet“ ist das Psychodrama eines Verlorenen. Ein Mann, der sich aus eigener Kraft längst nicht mehr zu retten weiss. Ein Mann, dessen Wahrnehmung nach seinen Maximen funktioniert, der alles auszublenden weiss, was nicht in sein Selbstverständnis passt. „Wie es endet“ taugt nicht als Strandlektüre. Nicht einmal als In-den-Schlaf-Begleitung. Man spürt, dass die Schriftstellerin weiss, wie filmisches Erzählen funktioniert. „Wie es endet“ ist ein Psychotripp, ein Alp. – Und nicht zuletzt ziemlich singulär in der Literaturlandschaft! Ein Roman mit grossen amerikanischen Paten!
Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.
Jaap hat alles erreicht. Die Welt liegt ihm zu Füssen. Er ist ein Abräumer, ein Sieger. Bis seine Tochter mit ihrem Freund auf ihrer ersten grossen Reise spurlos verschwindet. Bis Jaap erfahren muss, dass das Schicksal sich einen Deut um die Erwartungen eines Siegers kümmert. Bis ein Hund ihm den Weg zeigt.
Jaap Hollander ist ein gefragter Gehirnchirurg, wahrscheinlich einer der besten in seinem Fach. Aber so aussergewöhnlich sein Talent mit dem Skalpell, so hölzern und wenig empathisch seine Beziehungen. Frauen sind Objekte der Selbstbestätigung, Projektionsflächen seiner Libido. Kein Wunder ist es dann eine Krankenschwester, die Mutter ihrer gemeinsamen Tochter wird, eine Beziehung, die allerdings den Belastungen einer innerfamiliären Katastrophe nicht standhält. Ihre gemeinsame Tochter Lea, auf ihrer ersten grossen Reise allein mit ihrem Freund Joshua, verschwindet spurlos in Israel, weit weg von zuhause, in der Wüste Negev. Obwohl eine grossangelegte Suchaktion gestartet wird, bleibt diese erfolglos.
Erst recht nach seiner Pensionierung fährt Jaap jedes Jahr um die immer gleiche Zeit in die Wüste Negev zu dem einen Stein, auf dem er die beiden Namen der beiden spurlos Verschwundenen eingravieren liess. In das immer gleiche Hotel, auf den immer gleichen Strassen zu dem Ort, an dem sich die Spuren seiner einzigen Tochter verloren. Sein Schmerz um diesen Verlust ist ihm das einzige, das geblieben ist, das einzige, was zählt. Auch wenn er weiss, dass diese Endlosschlaufe auch das war, was seine Frau damals, die Mutter seiner Tochter, aus dem Haus vertrieb. Sie ist nicht geblieben. Stellvertretend dafür die grosse leere Villa in Holland, die trotz aller Umbauarbeiten nie zu einem Zuhause wird.
Leon de Winter «Stadt der Hunde», Diogenes, 2025, aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-257-07281-5
Bei einem dieser jährlich wiederkehrenden Ausflüge in die Wüste Negev kommt es zur Begegnung mit einem Hund, einem Wesen, das ihn aus einer anderen Welt zu betrachten scheint. Gleichzeitig, mittlerweile sind es zehn Jahre seit dem Verschwinden seiner Tochter und ihrem Freund, erreicht ihn die Bitte des israelischen Ministerpräsidenten persönlich, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er brauche seine Hilfe. Was will das israelische Staatsoberhaupt von einem pensionierten Gehirnchirurgen? In grösster Geheimhaltung wird ihm mitgeteilt, dass sie einzige Tochter des saudischen Prinzen an einer Missbildung im Gehirn leidet, die jederzeit das noch junge Leben auslöschen kann. Aber weil der saudische Prinz beabsichtigt, seine Tochter dereinst zur ersten weiblichen Nachfolgerin in seinem Land zu machen, eine Revolution von oben, ist Jaap Hollander die einzige Hoffnung, die der Zukunft der jungen Frau und ihres Heimatlandes geblieben ist. Jaap soll operieren, auch wenn die Chancen auf Erfolg verschwindend klein sind.
Selbst wenn die Operation nicht gelingen sollte, würde Jaap so viel Geld verdienen, dass er ein Team von Archäologen damit beauftragen könnte, das noch unerforschte Höhlensystem am Ort des Verschwindens seiner Tochter zu finanzieren, erst recht, würde die Operation gelingen. Es würde eine Chance geben, endlich Klarheit zu schaffen, der einen grossen Frage seines Lebens eine Antwort entgegenzustellen.
Mag sein, dass „Stadt der Hunde“ jenen Leserinnen und Lesern nicht genügt, die wie ich sonst mit dem Bleistift lesen, die auf der Suche sind nach Sätzen, die bleiben, Szenen, die sich einbrennen. Leon de Winter ist ein Geschichtenerzähler. Einer, der sein ganzes Können einzusetzen weiss, wie eine Geschichte gebaut werden muss, dass ich als Leser auf seiner Spur bleibe. Versteckt baut der Meister der Spannung ein, was uns durch die Medien permanent mit Wirklichkeiten konfrontiert; ein Jude im Spannungsfeld zwischen arabischer Tradition und nahöstlicher Filigranität. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, den das Schicksal prügeln muss, um sich dessen bewusst zu werden, was Leben ausmacht. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, der alles erreicht und doch nichts gewonnen hat. Aber auch ein Roman darüber, dass es Wirklichkeiten gibt, die weder mit dem Skalpell wegzuschneiden, noch mit feinster Technik lokalisierbar zu machen sind.
Wie ich mich freue über die Begegnung mit dem Schriftsteller beim Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen, weil es Leon de Winter meisterhaft versteht, mich als Leser zu überraschen, die Grenzen des Wahrscheinlichen auszuloten.
Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ›Welt‹-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für «Das Recht auf Rückkehr» ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes «Ein gutes Herz» (2013) und «Geronimo» (2016).
Stefanie Schäfer studierte Dolmetschen und Übersetzen an den Universitäten Heidelberg und Köln. Für herausragende übersetzerische Leistungen wurde sie mit dem Hieronymusring ausgezeichnet. Sie lebt in Köln.
Wir alle schlagen uns herum mit Schreckensbildern, Katastrophenszenarien oder Zukunftsängsten. Übernimmt am Ende nicht ohnehin die Künstliche Intelligenz die Weltherrschaft? Es ist schwierig, in diesen Zeiten zu hoffen, wenn wir um unsere Demokratie und unsere Erde bangen müssen. Aber es soll nicht düster bleiben, im Gegenteil: Wir sind davon überzeugt, dass es sich lohnt zu «hoffen», auch wenn derzeit viele von uns «bangen». Und wo, wenn nicht in der Literatur, können wir diese Hoffnung finden?
Mit viel Freude laden wir Autor*innen nach St.Gallen ein, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Hoffen und Bangen auseinandersetzen. Wie gelingt es uns, als Gesellschaft wieder zusammenzurücken? Nur über gutes Streiten, davon ist die Philosophin Svenja Flasspöhler überzeugt. Gemeinsam mit Barbara Bleisch und der Band Hekto Super eröffnet sie das Wortlaut 2025. Neben wunderbaren Autor*innen, die am Samstag und Sonntag aus ihren Büchern lesen, setzen wir den Schwerpunkt genau darauf: auf Gespräche und den Austausch.
Peter Stamm bekommt von uns die Carte blanche. Er entschied sich für die Schriftstellerin Judith Hermann. Ein spannendes Gespräch ist garantiert! Verleger*innen diskutieren über die Zukunft des Buches. Zwei Autorinnen aus zwei Generationen geben im Rahmen eines Werkstattgesprächs Einblicke in ihr Schaffen. Eine UniSeminargruppe und eine Gymnasialklasse bestreiten jeweils eine Veranstaltung mit Autor*innen, die sie selber eingeladen haben.
Mit Buslesungen und einem literarischen Stadtspaziergang wollen wir Ihnen eine Reise ermöglichen, die ausnahmsweise nicht nur im Geiste stattfindet.
Gemeinsam werden wir an diesem Wochenende gute Gründe fin den, warum es trotz allem Anlass zur Hoffnung gibt. Wortlaut ist zurück. Wir freuen uns auf Sie, liebes Publikum!
Bestellen Sie das Programmheft oder informieren Sie sich auf wortlaut.ch!
Als das Buch zum ersten Mal 2006 erschien, war es gar kein Bestseller, obwohl es Zündstoff gehabt hätte. Obwohl die Reaktion aus Politik und Kultur zwiespältig waren, von Bewunderung bis Entrüstung. Während man auf das Buch in Deutschland und Frankreich mehrheitlich positiv reagierte, schimpfte man in der Schweiz den Schriftsteller als linken Terroristen.
Da steigt ein junger Architekt mit seiner Angebeteten in die verschneiten Berge über dem berneroberländischen Gstaad, mit einem Brecheisen und Utensilien für einen Brandanschlag in seinem Rucksack. Er steigt durch ein aufgebrochenes Fenster in ein Ferienchalet des Medienmoguls Axel Springer, von dem er überzeugt ist, er sei im Krieg Nazi gewesen oder hätte zumindest von ihnen profitiert, der Besitzer der Boulevardzeitung „Bild“, für jeden Linken Flaggschiff all dessen, was die 68er-Bewegung ins Rutschen bringen wollte. Das Chalet brannte bis auf die Grundmauern nieder. Man vermutete Zusammenhänge mit einem weiteren Brandanschlag auf Sylt, erklärte nach einer Untersuchung, man habe es hier mit Profis zu tun. Man verdächtigte ‘Elitekommandos, die aus der Kälte kamen’. De Roulet blieb unbehelligt.
Dass Daniel de Roulet 2006 mit „Ein Sonntag in den Bergen“ seine Tat öffentlich, das Buch zu einer Rechtfertigungsschrift machte, offen über seine damalige Naivität schrieb, nahm man ihm zum Teil sehr übel. Nicht zuletzt lud man den streitbaren Schriftsteller mit diesem einen Buch zu keiner einzigen Lesung in der deutschsprachigen Schweiz ein. Im Gegenteil, man forderte den Schriftsteller gar zur finanziellen Wiedergutmachung auf, was er dann in gewisser Weise auch vollzog.
Daniel de Roulet «Ein Sonntag in den Bergen», Limmat 2024, aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle, 128 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-086-7
So harmlos der Titel des Buches, so brisant der Inhalt. „Ein Sonntag in den Bergen“ ist Erklärungsversuch, Schuldeingeständnis, Rechtfertigungsversuch, Liebesgeschichte und historisches Zeugnis einer Zeit, in der in Deutschland die RAF operierte und in Europa nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Tausende auf die Strasse gingen, weil man den Staatsapparat, die Polizei mit den Machtstrukturen der Nazizeit verband.
Daniel de Roulet, Sohn eines Pfarrers, dem er immer wieder den Vorwurf machte, während der Nazizeit nicht genug für den Widerstand, für die verfolgten Juden getan zu haben, reagierte äusserst empfindlich auf den Vorwurf seiner damaligen Geliebten, auf die grossspurigen Reden endlich Taten folgen zu lassen. „Du bist nichts weiter als ein Sprücheklopfer!“, schimpft sie ihn, die Frau, die er damals als die Frau seines Lebens sah. Daniel de Roulet schiebt die Schuld nicht weiter. Aber sein Stolz, sein Selbstverständnis, schien irreparabel in Schieflage zu geraten, würde es nicht irgendwie zum Knall kommen. Und weil Roulet wusste, dass Axel Springers sperriges Chalet über Gstaad nur sehr selten bewohnt war, sollte es logisches Ziel einer Attake werden, die ‘Operation Berchtesgaden’, in Anlehnung an Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg.
Aber warum eine Neuauflage jetzt, ein halbes Jahrhundert nach der Tat? Zum einen nehmen die Jahre seit der Erstveröffentlichung viel Emotionalität aus der Tat von damals. Mitttlerweile scheint Gras über die Sache gewachsen zu sein, nicht aber über die Tatsache, dass eine Gesellschaft ganz offensichtlich Feindbilder und Schuldige braucht, dass es immer wieder brennen muss, wo Ohnmacht keine anderen Ventile findet und wie sehr Desinformation, Manipulation und Naivität lebensbedrohlich werden kann.
Interessant ist „Ein Sonntag in den Bergen“ auch deshalb, weil mit den Jahren weitere Ebenen dazugekommen sind. Neben der fatalen Geschichte eines Liebespaares, den Folgen eines Grossbrandes in den verschneiten Alpen, die zur Staatsaffäre wurde, ist das Buch Roulets ein Dialog mit seinem Gegenüber Axel Springer, einer durchaus streitbaren Figur der Nachkriegsgeschichte, die Konfrontation mit einer Tat, die den Schriftsteller nie losliess, einer Schuld, zu der er sich unbedingt bekennen musste, nicht zuletzt der endgültigen Klärung willen, einer Klärung, die Auswirkungen bis in die dortige Bevölkerung hatte.
Was einmal zwingend erschien, wird im Nachhinein zur unleugbaren Dummheit. Eine Erfahrung, die im Kleinen oder Grossen allen blüht.
Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.
Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig. Übersetzte neben Sach- und Kinderliteratur Romane, Essays, ein Hörspiel und Liedertexte französischer, Schweizer, spanischer und südamerikanischer Autoren.
Der LL/2, geleitet von Gallus Frei-Tomic, befasst sich ab Februar 2025 mit Tine Melzers «Do Re Mi Fa So», ab April mit dem neuen Roman von Urs Faes, «Sommerschatten». Start: 4. Februar.
Anmeldungen noch möglich über literaturhaus@wyborada.ch
Lesen ist das eine, aber mit andern unverkrampft über das Gelesene in Austausch treten und sich mit den entsprechendne Schriftstellerinnen und Schriftstellern austauschen ist noch viel, viel intensiver.
In diesem Lesekreis widmen sich die Teilnehmenden sich in fünf Treffen von Februar bis Juli aktuellen Neuerscheinungen. Neben Hintergrundinformationen zu den AutorInnen und ihren Büchern, informiert Gallus Frei-Tomic über weitere Perlen der Gegenwartsliteratur und Literaturrosinen im Veranstaltungskalender.
Das Besondere an diesem Lesekreis: Ein Abend mit der Autorin / dem Autor im kleinen Kreis bietet die seltene Gelegenheit zu einem quasi «privaten» Gespräch über das Buch, ihr Schreiben.
Anmeldung, Teilnahmegebühr: Um einen intensiven Austausch zu gewährleisten, ist die Anzahl der Teilnehmenden beschränkt (minimum 10 / maximal 12 Personen). Anfragen und Anmeldung über literaturhaus@wyborada.ch. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Teilnahmegebühr (5 Termine à 1.5 Std.) Fr. 200.-, zahlbar nach Anmeldung (Überweisung via Einzahlungsschein oder TWINT), vor Ort am ersten Teilnahmetermin oder in der Bibliothek Wyborada zu den Öffnungszeiten.
Termine: jeweils Dienstags, 19 Uhr im Studio der Bibliothek Wyborada. Ausnahmen: Die Veranstaltungen in Anwesenheit der Autorin, des Autors.
4. Februar
4. März
22. April (mit Tine Melzer, im Bürgerratssaal des Stadthauses)
20. Mai
1. Juli (mit Urs Faes, im Bürgerratssaal des Stadthauses)
Eva Maria Leuenbergers dritter Gedichtband war auf der SWR-Bestenliste! Schon erstaunlich für einen Gedichtband! Aber die Dichterin hat schon mit ihrem Debüt «dekarnation» mehr als nur aufmerksam auf sich gemacht. Jeder ihrer bisher erschienenen Gedichtbände ist Meilenstein der Dichtkunst, jedes ihrer Bücher ein Kunstwerk.
Man kennt die Bilder aus dem Netz: Ein Wal steigt aus dem Wasser und knallt auf eines der Boote, auf denen Touristen zu den Tieren gefahren werden. Ob eingebildet oder nicht entsteht zuweilen der Eindruck, als habe die Natur genug von der Spezies Mensch, die so gar nicht einsehen will, dass der Besitzanspruch dieser Gattung den Planeten irreparabel zu schädigen begonnen hat. Kein Wunder wird die Kunst zu einem Sprachrohr der Ohnmacht, der Verzweiflung, der Ratlosigkeit. Seien dies in der Belletristik oder im Film grassierenden Weltuntergangsszenarien oder Dystopien oder die grossflächigen Bilder eines Anselm Kiefer. Kunst, die keinen Hehl daraus macht, dass das Gefühl, im Kollektiv jene rote Linie längst überschritten zu haben, bis zur Depression und vollkommenen Lähmung führen kann.
Eva Maria Leuenberger «die spinne», Droschl, 2024, 96 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99059-164-2
In Eva Maria Leuenbergers neuem Gedichtband «die Spinne» spricht eine Stimme mit einem flügellahmen Wesen, das im Bett liegt und zur Decke starrt. Dort sitzt die Spinne, ein Wesen, das bedrohlich in der Ecke hockt, seine klebrigen Fäden spinnt, sich ins Leben, ins Denken jener Person beisst, die dort liegt, sie, im Langgedicht «flügchen» heisst. Die Spinne war schon in Gotthelfs Novelle Synonym für die Bedrohung. «flügchen», eine leuenberg’sche Wortschöpfung, ein Wesen, dem man die Flügel nahm, die Fähigkeit zu fliegen, so wie die in die Spinnfäden eingewickelten Fliegen.
Angesichts all der unleugbaren Tatsachen, dass sich die Welt in eine Richtung verändert, die in der Gegenwart und Zukunft mit zerstörerischer Kraft auf unser Tun und Unterlassen reagieren wird, ist «die spinne» seltsam milde formuliert. Eva Maria Leuenbergers Langgedicht ist weder ökopolitische Kampfschrift noch in Depression verfallene Selbsterklärung. «die spinne» beschreibt jenes Gefühl der Machtlosigkeit, der Lähmung, das sich wie eine steinerne Decke über eine ganze Generation zu legen droht, denen man die Zukunft genommen hat, eine Zukunft, in der alles offen, alles möglich ist.
«Du liegst und liegst und liegst.» Man spürt den Schmerz, die Ratlosigkeit, das Unausweichliche in diesem Gedicht, weil es zur einzigen Antwort geworden ist, auf das zu reagieren, was sich wie ein Klotz an Körper und Geist hängt. Gleichzeitig ist Eva Maria Leuenbergers Gedicht der Versuch eines «Trotzdem», denn kein Wort trifft man in ihrem Langgedicht häufiger als «trotzdem», der Kontrapunkt zu einer anderen Formulierung, die sich im Text immer und immer wieder findet: «man gewöhnt sich an alles.»
«die Spinne» ist leicht, trotz des Schwere. Ein Langgedicht, das sich laut fast wie Prosa liest. Eine eingängliche, unkomplizierte, eindringliche, verletzliche, zarte Stimme, die mich nicht herunterziehen will, die aber sehr wohl das Zeug hat, genau den Nerv zu treffen. «die spinne» ist der Beweis, wie aktuell, wie lebensnah und ungekünstelt Lyrik sein kann!
Eva Maria Leuenberger wurde 1991 in Bern geboren und lebt in Biel. Sie studierte an der Universität Bern sowie an der Hochschule der Künste Bern. Veröffentlichungen u.a. in manuskripte und in Literarischer Monat. Sie ist zweifache Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017). 2016 erhielt sie das »Weiterschreiben«-Stipendium der Stadt Bern, 2020 wird «dekarnation» – als erstes Lyrikdebüt – mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichnet. 2025 wird Eva Maria Leuenberger mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet!
Romane über Demenz oder Alzheimer sind kein leichtes Terrain. Und doch gelingt es der Literatur immer wieder, dieser Erkrankung nicht nur mit viel Verständnis und Respekt zu begegnen, sondern auch mit Humor. Der Vorarlbergerin Petra Pellini gelingt es ausnehmend gut, mit Humor über einen Zustand zu berichten, der den Schrecken nicht nimmt, aber so viel Empathie zeigt, dass man sich vor dem Feingefühl der Schriftstellerin verbeugt.
Linda, das Mädchen, das erzählt, ist fünfzehn. Schon auf der ersten Seite des Romans droht sie, sich vor ein fahrendes Auto zu werfen. Linda braucht Hilfe. Und Linda bekommt Hilfe. Nur nicht von dort, wo Hilfe herkommen müsste. Nicht von ihrer Mutter, schon gar nicht von deren neuem Freund Jürgen, dem Bestatter, und auch nicht von ihren Freundinnen. Aber von Hubert und Kevin. Hubert ist ihr Nachbar, pensionierter Bademeister aber in fortgeschrittenem Stadium an Demenz erkrankt. Dass ihm in den vierzig Jahren Bademeister nicht einmal ein Kind ertrunken ist, trägt Hubert wie einen Orden mit sich. Aber dass seine Frau Rosalie vor fast zehn Jahren gestorben ist und vom Einkaufen nicht mehr nach Hause kommt, das hat Hubert vergessen.
Linda hat sich von Huberts Tochter überreden lassen, dreimal die Woche auf Hubert aufzupassen, nachbarschaftliche Hilfe. Huberts Tochter hat dafür keine Zeit, wohnt zu weit weg. Auch zur Entlastung der polnischen Haushaltshilfe Ewa, die das Tun und Lassen ihres Patienten immer wieder mit Skepsis und einer ordentlichen Portion Unverstand kommentiert, zwar tatkräftig zupackt, aber lieber die Augen verschliesst, wenn Hubert von seiner Krankheit ins Abseits gestellt wird. Wenn er Karotten toastet und sich mit der Zahnbürste die Haare kämmen will. Linda begegnet Hubert unvoreingenommen. Hubert ist nicht jener, der er einmal war, wie für seine Tochter. Hubert ist für Linda der, der er ist.
Aus mir soll etwas werden, dabei interessiert niemanden, wer ich wirklich bin.
Petra Pellini «Der Bademeister ohne Himmel», Kindler, 2024, 320 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN: 978-3-463-00068-8
Kevin, mit dem sie sich manchmal trifft, ist wie Linda des öftern in seiner Ausweglosigkeit gefangen. Nicht nur, dass er als Nerd viel lieber in seiner abgedunkelten Höhle zuhause vor seinen Bildschirmen sitzt. Kevin sieht wenig Hoffnung für eine Welt, die längst aus den Fügen geraten ist, die irgendwann droht, die Menschheit dafür zu bestrafen. Hubert, Linda und Kevin, ein Dreigespann, dass sich lieber nicht allzu sehr mit der Zukunft beschäftigt, das genug mit sich selbst zu tun hat, das alleine gelassen wird.
Zwischen Hubert und Linda entwickelt sich eine ganz eigene Freundschaft, eine Beziehung, in der man sich weniger offenbart als in seinem Gegenüber vertraut fühlt. Zusammen mit Ewa, zu der Linda viel leichter einen Zugang findet als zu ihrer eigenen Mutter oder gar zu ihrem neuen Freund, einem weiteren in einer langen Reihe, helfen sie Hubert, sich zurechtzufinden, sei es durch den Duft aus der Küche oder ganz eigene „Spiele“, die Linda für Hubert inszeniert, Spiele, die für Hubert zu seiner Welt werden.
Nicht nur weil Ewa für ein paar Tage weg muss und eine hygienebesessene Aushilfe Huberts Pflege übernehmen soll, beginnen sich die Ereignisse um Hubert zu überstürzen. Linda spürt, dass etwas unwiederbringlich verloren geht, dass sich eine Vertrautheit und ein Stück Zuhause mit zunehmender Demenz verabschiedet.
«Hubert bist du zuhause?“, frage ich ihn und klopfe ihm auf die Schulter.
Nicht nur dass Petra Pellini als Pflegefachfrau genau weiss, wovon sie schreibt und was fortschreitende Demenz für alle Betroffenen bedeutet, die Autorin erzählt mit ungeheurer Leichtigkeit und grösstmöglichem Einfühlungsvermögen. Nicht dass sie der Krankheit den Schrecken nimmt, aber durch die Erzählperspektive einer 15jährigen, die in einer Mischung aus kindlicher Naivität und erwachsener Fürsoge instinktiv zu verstehen scheint, was ein alter Mann, der sich in seiner alten Welt mehr und mehr verliert, sucht und braucht. Gleichzeitig liegt in ihrem Erzählen so viel Leichtigkeit, Witz, Humor und Lebensweisheit, dass man sich mit der Lektüre bis zur letzten Seite diesem schleichenden Schrecken gerne aussetzt.
Petra Pellini, geboren 1970 in Vorarlberg, lebt und arbeitet in Bregenz. Sie war lange in der Pflege demenzkranker Menschen tätig. Für einen Auszug aus ihrem Roman «Der Bademeister ohne Himmel» wurde sie 2021 mit dem Vorarlberger Literaturpreis ausgezeichnet.
Die 70er irgendwo im fränkischen Süddeutschland. Roberta kehrt nach einer ernüchternden Lehre in der Stadt zurück in ihr Heimatdorf. Obwohl da einmal der Plan war, in die Welt hinauszuziehen, als Modistin ihr Glück zu finden, arbeitet sie wieder auf dem Hof ihrer Eltern und nimmt einen Faden auf, den sie nie ganz losliess.
Ewald Arenz ist ein Phänomen. Obwohl er seit fast vierzig Jahren als Schriftsteller veröffentlicht, wurde er erst mit „Alte Sorten“, seinem ersten Roman bei Dumont, einem breiten Publikum zum Fixstern. Dabei trugen bis zum Verlagswechsel schon mehr als ein Dutzend Titel seinen Namen, änderte sich eigentlich bloss der Verlag. Ewald Arenz blieb seiner Herkunftsgegend treu, dem Leben auf dem Land, einer Welt zwischen Idylle und harter Realität. Schon sein Bestseller „Alte Sorten“ ist ein Roman darüber, wie sehr uns Leben weggenommen wird und wie schwer es ist, zurückzufinden, wie sehr sich Tradition und Aufbruch reiben.
In „Zwei Leben“ versucht Roberta einen Neustart auf dem Hof ihrer Eltern. Roberta ist das einzige Kind. Sie weiss um die Verpflichtung, die unausgesprochen auf ihren Schultern liegt, erst recht jetzt, wo der eine Versuch des Ausbrechens gescheitert ist. Man macht zuhause kein grosses Aufhebens über ihre Rückkehr. Sie ist wieder da und packt an. Roberta spürt, dass der Traum, ihr ganz eigenes Leben zu finden, nicht ausgeträumt ist, dereinst selbst zu schneidern, Kleider zu entwerfen, dort zu wirken, wo Kleidung nicht bloss Mittel zum Zweck ist. Über die gebändigte Sehnsucht hilft ihr Wilhelm, mit dem sie schon eine Kindheit lang Freundschaft verbindet. Wilhelm, der Sohn des Pfarrers. Aber weil sie weiss, dass Wilhelm bald wegziehen wird, um in der fernen Stadt zu studieren, wehrt sie sich gegen ein Gefühl im Bauch, das mehr und mehr zum Elexier wird.
Ewald Arenz «Zwei Leben», Dumont, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8321-8205-2
Die Pfarrersleute sind unmittelbare Nachbarn. Man kennt sich, obwohl kein Zaun, sondern eine Mauer das Pfarrhaus umgibt, obwohl die Mutter Wilhelms einst in fernen Hamburg aufwuchs und jeder im Dorf spürt, dass die Frau, die immer die Frau Pfarrer ist, von der man nicht einmal den Vornamen kennt, nie eine Hiesige werden wird. Das spürt auch Heinrich, ihr Mann, dem der Kampf gegen das Schweigen und der latente Trotz im Dorf längst zur Lebensaufgabe geworden ist. Getrud, die Frau Pfarrer, will weg, auch wenn ausser ihrem Bruder, der in der Ferne als Wissenschaftler Erfolge feiert, niemand etwas von ihrem tiefsitzenden Schmerz erfährt. Selbst Heinrich, ihr Mann, der das Unglück seiner Frau spürt, sitzt den Schmerz aus.
Zwischen Roberta und Wilhelm entwickelt sich eine vorsichtige Liebe. Roberta weiss, dass sie ihr Herz nicht an einen zukünftigen Studenten verlieren sollte und Wilhelm drängt nicht. Robertas Eltern blenden die Bedürnisse ihrer Tochter aus und Wilhelms Eltern sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ausser Robertas Grossvater niemand merkt, was sich zwischen den beiden anbahnt. In ihrer Not erbittet Wilhelms Mutter ihren Gatten um eine Auszeit, als Begleitung einer Vortragsreise ihres Bruders. Eine Reise, die in den letzten Tagen eine ganz unerwartete Wendung bekommt und das Leben Wilhelms Mutter arg ins Wanken bringt. Aber auch im Dorf überstürzen sich die Ereignisse. Der Tod zieht wie eine schwarze Wolke über das Dorf.
Mag sein, dass die Geschichte selbst in Sachen Melodramatik etwas dick aufträgt, dass auch etwas weniger Schmerz gezeigt hätte, dass sich unter kleinen Schritten grosse Kluften aufreissen können. Was den Reiz des Buches ausmacht, ist seine Sinnlichkeit. Ewald Arenz beschreibt derart leidenschaftlich und innig, dass ich als Leser die Landschaft riechen kann. Aber auch die Sinnlichkeit in den Gefühlen des Personals, in diesen zwei Leben dieser beiden so unterschiedlichen Frauen; Roberta und Gertrud. Oder im klaffenden Gegensatz zwischen den Auswirkungen der 68er und einer bäuerlichen Tradition, die erst auf Änderungen aufsteigt, wenn es nicht zu vermeiden ist. Ewald Arenz weiss genau, wovon er schreibt. Er schöpft aus der Atmosphäre seiner eigenen Herkunft – und tut dies mit Wonne.
Die Fans werden den neuen Arenz lieben!
Ewald Arenz wurde 1965 in Nürnberg geboren und studierte nach einigen Semestern Rechtswissenschaft englische und amerikanische Literatur sowie Geschichte. Er ist einer der produktivsten und erfolgreichsten Schriftsteller Deutschlands, dessen Gesamtauflage bei über einer Million verkaufter Bücher liegt. „Alte Sorten“, „Der große Sommer“ und „Die Liebe an miesen Tagen“ waren mehrfach Jahresbestseller auf der SPIEGEL Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Arenz ist mit vielen Kulturpreisen ausgezeichnet worden.