Wortlaut ist das literarische Frühjahrsereignis der Ostschweiz. 2025 wird es zum 16. Mal durchgeführt und findet vom 28. bis 30. März 2025 statt. Sämtliche Veranstaltungsorte wie Lokremise, Bibliothek Hauptpost und Grabenhalle sind fussläufig erreichbar und liegen bahnhofsnah. Ziel des Literaturfestivals ist es, die vielfältige Welt der Literatur einem breiten Publikum bekanntzumachen.
Wir alle schlagen uns herum mit Schreckensbildern, Katastrophenszenarien oder Zukunftsängsten. Übernimmt am Ende nicht ohnehin die Künstliche Intelligenz die Weltherrschaft? Es ist schwierig, in diesen Zeiten zu hoffen, wenn wir um unsere Demokratie und unsere Erde bangen müssen. Aber es soll nicht düster bleiben, im Gegenteil: Wir sind davon überzeugt, dass es sich lohnt zu «hoffen», auch wenn derzeit viele von uns «bangen». Und wo, wenn nicht in der Literatur, können wir diese Hoffnung finden?
Mit viel Freude laden wir Autor*innen nach St.Gallen ein, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Hoffen und Bangen auseinandersetzen. Wie gelingt es uns, als Gesellschaft wieder zusammenzurücken? Nur über gutes Streiten, davon ist die Philosophin Svenja Flasspöhler überzeugt. Gemeinsam mit Barbara Bleisch und der Band Hekto Super eröffnet sie das Wortlaut 2025.
Neben ganz wunderbaren Autor*innen, die am Samstag und Sonntag aus ihren Büchern lesen, setzen wir den Schwerpunkt genau darauf: auf Gespräche und den Austausch. Peter Stamm bekommt von uns die Carte blanche. Verleger*innen diskutieren über die Zukunft des Buches. Zwei Autorinnen aus zwei Generationen geben im Rahmen eines Werkstattgesprächs Einblicke in ihr Schaffen. Eine Uni-Seminargruppe und eine Gymnasialklasse bestreiten jeweils eine Veranstaltung mit Autor*innen, die sie selber eingeladen haben.
Mit Buslesungen und einem literarischen Stadtspaziergang wollen wir Ihnen eine Reise ermöglichen, die ausnahmsweise nicht nur im Geiste stattfindet.
Gemeinsam werden wir an diesem Wochenende gute Gründe finden, warum es trotz allem Anlass zur Hoffnung gibt.
Wortlaut ist zurück. Wir freuen uns auf Sie, liebes Publikum!
Unter dem Titel „Biographie einer Frau“ ist „Wild nach einem wilden Traum“ der letzte Band einer Trilogie. Nach „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ über Liebe und Herkunft und «Das Vorkommnis“ über Partnerschaft und Ehe ist der dritte Teil ein Roman über die Leidenschaft, über die Liebe – vor allem über jene zum Schreiben.
Sie wird ganz überraschend, anstelle eines verhinderten Kollegen, für ein paar Wochen in eine Künstlerkolonie im Norden der USA, zwei Stunden mit dem Auto von New York, eingeladen. Fast ein Dutzend KünstlerInnen, die meisten Schriftsteller. Am ersten Abend sitzt man im geräumigen Aufenthaltsraum im Haupthaus in grosser Runde, stellt sich vor und erzählt von der Arbeit, an der man in den Tagen an diesem stillen Ort weitermachen will. In der Runde sitzt A., ein spanischer Schriftsteller, der sich aber ganz dezidiert als Catalane zu erkennen gibt, obwohl er spanisch schreibt. Ein Mann, der sie vom ersten Moment weg fasziniert und einnimmt. Obwohl sie von sich selbst behaupten würde, sie sei glücklich verheiratet, auch wenn die Schriftstellerei, das Schreiben für ihren Mann immer mehr zu einer Konkurrenz wurde.
Immer habe ich nach Worten gesucht, nach dem einen, dem richtigen. Vielleicht beginnt man deshalb zu schreiben.
Zwischen A. und ihr entwickelt sich eine Leidenschaft, ein Kippzustand zwischen den beiden Zuständen, der Hingabe an das Schreiben und jene an diesen Mann. Zwei Zustände, die sich gegenseitig beflügeln, Bilder aus der Vergangenheit provozieren, die sie vergessen glaubte. Vor allem dieses eine, als sie als Mädchen in den Streifzügen im Wald rund um die Kaserne, in der junge Rekruten stationiert waren, einen jungen Soldaten trifft, der auf einem Baumstamm sitzt und zuerst erklärt, er sammle Pilze. Das, was für mich auf den ersten Blick nach einer heiklen Begegnung aussieht, wird sowohl für den jungen Mann wie für das Mädchen eine Aneinanderreihung wichtiger Momente. Dort treffen sie sich immer wieder. Dort entsteht ein Raum, der sich von den anderen Räumen unterscheidet. So wie die Räume des Schreibens in ihrem späteren Leben auch. Zwischen den beiden wächst ein Etwas zwischen Leidenschaft und Freundschaft, eine Insel.
Julia Schoch «Wild nach einem wilden Traum», dtv, 176 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-423-28425-7
Sie, die mit keiner Vorstellung in diese Künstlerkolonie kam, worüber sie schreiben könnte, erinnert sich an den Soldaten zurück. Ihm erzählte sie von ihrem Traum, dereinst Schriftstellerin zu werden. Und er, der junge Mann, war es, der ihr sagte: Du schaffst es, bestiummt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum. Ein Satz, den er zweimal wiederholte. Ein Satz, den die Frau mantramässig in ihrem Leben immer wieder zu sich selber sagte. Ein Satz, der seine Wirkung bis in die Tage in jener Kolonie entfaltet, in ihrer Leidenschaft für den Catalanen.
Aber auch die Begegnung mit dem Catalanen ist Erinnerung. Sie schreibt sich in jene Momente, weil ihr bewusst wird, wie sehr sich alles auf ihr Schreiben auswirkte, die scheinbar einzige Entscheidung in ihrem Leben, die sie wirklich gefällt hatte. In einem Leben, in dem sie einfach immer weitergegangen war, weit weg von der Vorstellung, man stehe irgendwann an einer Gabelung oder Kreuzung und entscheide sich ganz bewusst und nach langer Überlegung für eine Richtung, für eine Richtungsänderung. Sie erinnert sich ihrer Kindheit, ihrer Herkunft. Warum die Liebe zu ihrem Mann stumpf und blass geworden ist. Warum die Hinwendung zum Schreiben, die Sehnsucht Schriftstellerin zu sein, Heimat geworden ist und die Leidenschaft zu einem Mann bloss Aufenthalt.
Jedes Menschenleben ist angefüllt mit Geschehnissen, die in den Falten des Gedächtnisses lagern. Und in jedes einzelne Geschehnis hineingehalten sind noch weitere.
Julia Schochs Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesen Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken. So wie jener eine Moment, als der junge Mann, jener Rekrut, den sie immer wieder im Wald traf und treffen wollte, sie küsste. Nicht auf den Mund, aber an ihrem Handgelenk. Eine Erinnerung, die zur Erzählung werden musste.
Julia Schochs Schreiben, ihr Erzählen, unterscheidet sich grundlegend von den meisten anderen Romanen der Gegenwart; Julia Schoch erzählt weniger eine Geschichte, als Lebenszustände, Marksteine, Innenwelten. Und das in einer Offenheit, die mich tief bewegt.
Was ich in der Trilogie erzähle? Dass wir unterschiedliche Rollen im Leben haben und nie genau wissen, was wir für andere sind. In den drei Büchern möchte ich Gerechtigkeit walten lassen. Ein Wunschtraum, vielleicht. Aber ein schöner. Julia Schoch
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in Eggesin in Mecklenburg, gilt als Virtuosin des Erinnerungserzählens (FAZ). Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Das Vorkommnis» und «Das Liebespaar des Jahrhunderts» als die ersten beiden Bände ihrer Trilogie «Biographie einer Frau». 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Sie lebt in Potsdam.
Streit ist nicht schlecht. Streit braucht es, auch den in der Liebe, in der Ehe. Und mit Sicherheit in der Gesellschaft und in der Politik. Aber dass zwischen Gegnern und Feinden ein grosser Unterschied besteht, dass Streit unter Feinden selbst dann zum Krieg wird, wenn man ihn vordergründig nur mit Worten austrägt – davon schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler leidenschaftlich und sehr persönlich.
Streitet man in Diktaturen? Wird im Kreml gestritten? Wohl kaum. Lager und Gefängnisse füllen sich schnell mit jenen, die sich dem Disput stellen. Navalny wird man so schnell nicht vergessen. Streitet man mit Trump? Stellt sich ihm in seinem engsten Kreis jemand entgegen? Traut sich dort jemand? Oder werden alle, die nur Anzeichen einer Widerrede zeigen, wegspediert, versenkt und geächtet? Wahrscheinlich ist es ein Gradmesser einer funktionierenden Demokratie, ob man den Streit aushält. Aber wo hört Streit auf? Wo beginnt verbale Vernichtungsstrategie? Die Gräben in der Politik zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv, zwischen den politischen Polen werden immer gehässiger. ExponentInnen sind immer weniger in der Lage, sich wirklich um die Probleme der Menschen zu kümmern, als um den strategischen Schlagabtausch der Streitenden, die sich stets profilieren müssen, um bei ihren Wählerinnen und Wählern nicht in Ungnade zu fallen.
Ein Streit ist nie harmlos. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.
Die Coronajahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass wir die Fähigkeit der respektvollen Auseinandersetzung zu verlieren drohen. Wie schnell wird man abgestempelt und diffamiert, ins Offside gedrängt, in eine Ecke, aus der man, einmal in einen medialen Shitstorm geraten, nicht mehr oder nur mehr schwer herausfindet. Gräben ziehen sich zwischen Freundschaften, bis in Familien. Man schweigt lieber, als sich zu streiten. Sind wir zu zimperlich geworden oder leiden wir an Harmoniesucht, die angesichts der allseitigen Bedrohungen verständlich wird?
Damit ein Streit nicht eskaliert und die Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssem die Bindungskräfte grösser sein als der Vernichtungsdrang.
Svenja Flaßpöhler «Streiten», Hanser, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28004-5
In patriarchalen Strukturen, in Ehen nach alten Mustern, galt der Streit als Schieflage. Unterwerfung schloss Widerrede aus. Anpassung war das Mass jeder funktionierenden „Partnerschaft“ zwischen Chef und Untergebenen. Nicht unähnlich einerDiktatur. Man scheut(e) den Streit. Er ist Gift. Das mag heute in vielen echten Partnerschaften ganz anders sein. Man spricht von Streitkultur. Aber dass es für solche Auseinandersetzungen Raum bräuchte, nicht zuletzt Regeln, die von Streitenden akzeptiert werden, davon ist zumindest in der Politik wenig zu spüren. Wenn es in der Schweiz immer mehr Gemeindeführungsgremien gibt, die im ausufernden Grabenkrieg handlungsunfähig werden, ist das symptomatisch und bedenklich genug.
In der Feindschaft wird dem Anderen das Existenzrecht abgesprochen.
Im Sport akzeptieren wir Regeln, SchiedsrichterInnen, weil Gegner in aller Regel keine Feinde sind. Unterlegene geben sich am Schluss die Hand, Schwinger putzen sich gegenseitig das Sägemehl von den Schultern, man gratuliert dem Sieger. Im Sport scheint zu funktionieren, was in der Politik immer schwieriger wird, in totalitären, diktatorischen Stukturen unmöglich. Gegner werden zu Feinden, die nicht nur zu besiegen sind, sondern zu vernichten. Das Vokabular solcher Brandreden ist unmissverständlich und orieniert sich schamlos am Vorbild ehemaliger Verbrecher an der Menschlichkeit.
Es steht Wille gegen Wille wie in einem Krieg, mit dem Unterschied, dass eine Niederlage akzepiert werden kann.
Svenja Flasspöhlers Buch „Streiten“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Fähigkeit, die mehr und mehr an die Ränder gedrängt wird, sei es in Parlamenten, in Wahlkämpfen oder in Talkshows, bei denen es nicht mehr um Argumente geht, sondern darum, die Gegner zu vernichten. Krieg. Svenja Flasspöhler hat in ihrem Leben genug Erfahrungen gesammelt. Sei es im öffentlich rechtlichen Rundfunk, in Talkshows, an Buchmessen, selbst in Gesprächen mit Menschen, von denen sie glaubte, sie wären ihr gut gesinnt, bis hin in eine Kindheit, als Tochter sich streitender Eltern und drohender Eskalationen. „Steiten“ ist der Versuch einer Einordnung, einer Besinnung.
Philip Kovce im Gespräch mit Svenja Flasspöhler am Montag, 18. November 2024 im Unternehmen Mitte in Basel
Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins sowie Gründerin und Co-Geschäftsführerin des neuen Berliner Philosophie-Festivals Philo.live!. Zuletzt erschienen von ihr u. a. «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren» und «Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit». Für «Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe» erhielt sie den Arthur-Koestler-Preis. Svenja Flasspöhler lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Dass die Kurzform weit mehr sein kann als einfach eine kurze Geschichte, dass sich da Abgründe auftun, dass da jemand mit Sprache wahrhaft zu spielen versteht, verschieben kann, Sprache ganz und gar wörtlich nehmen kann, mit Witz und Mehrfachböden brilliert – das beweist Judith Keller mit „Geschichten“, die alles andere als harmlos sind!
Ich erinnere mich gut an einen ganz frühen Auftritt der Schriftstellerin anlässlich der Solothurner Literaturtage im kleinen schmucken Stadttheater. Sie stand im Scheinwerferlicht und zauberte Kurztexte aus ihrem Zylinder. Schon damals Texte, die wie Feuerwerk ihren Glanz und Glitzer wohl ohne Knall, dafür mit Effekt über ZuhörerInnen ausbreiteten. Mutige Texte voller Überraschungen, weil sie nicht in erster Linie abbilden wollen, nicht einfach originelle Nacherzählungen, sondern Umwandlungen, Konzentrate, angereichert mit Gährstoffen aus Sprachspiel, Lebenserfahrungen und dem Vertrauen, dass man mit Worten weit mehr machen kann, als bloss abbilden.
Judith Keller «Ein Tag für alle» Der gesunde Menschenversand, 2024, 136 Seiten, CHF ca. 25.00, ISBN 978-3-03853-204-0
„Ich versuche, da aufzuhören, wo etwas anderes, vielleicht ein Denkvorgang, beginnt“, meinte Judith Keller damals bei einem Interview mit literaturblatt.ch. Sie spielt den Ball zu mir, dem Leser, löst mit ihrer gespielten, lockeren Naivität in der Sprache, in der Art des Erzählens Kaskaden von Assozitionen aus. Dabei sind es oft nur minimale Auslassungen oder Verschiebungen, als hätte sich ein Fehler eingeschlichen, ein „Druckfehler“, ein „Schreibfehler“, eine Luftmasche, ein Stolperer – und plötzlich öffent sich eine Tür, hallen Zwischentöne mit, deren Wirkung die Ursache um ein Vielfaches übersteigt.
Wunsch Leonore möchte emotional alle abholen. Wenn sie nur wüsste, wo sie sind.
Judith Keller nimmt die Sprache beim Wort, gibt einem Satz damit eine ganz andere, unerwartete Richtung. Eine, die sich aber nicht weniger schlüssig zeigt, wie die eigentliche Erzählrichtung, mich mit einem kleinen Schups in einen ganz anderen Zusammenhang schickt. „Ich notiere mir oft Redewendungen, die ich höre oder in der Zeitung lese und über die ich nachdenken muss“, schrieb die Schriftstellerin damals über ihr Debüt „Die Fragwürdigen“. „Ein Tag für alle“ ist Fortsetzung und Weiterführung zugleich. Judith Keller kann etwas, was vielen fehlt. Judith Keller nimmt nicht nur die Sprache beim Wort, sie nimmt es wörtlich, ganz direkt, ungeschminkt, unverschlüsselt.
Dass die Autorin damit auch Kritik mit einschliesst, ihre Beobachtungen, ihre ganz eigene Art des Interpretierens mit tänzerischer Leichtigkeit auf den Punkt bringt, beweisen Kalauer, die man auch ganz wörtlich nehmen kann:
Beweise Sobald Leopold etwas bewiesen hat, ist er sich nicht mehr sicher, ob er es bewiesen hat. Er glaubt dann, er könne erst sicher sein, wenn er es bewiesen habe. Dass er das nur glaubt, hat er oft bewiesen. Aber er glaubt nicht an Beweise.
Judith Keller hat es faustdick hinter den Ohren. Ihre Text beissen und reissen, auch wenn sie das eine oder andere Mal tiefe Weisheiten mit einschliessen, Heilsames, etwas, das rütteln und schütteln kann.
Unweigerlich erinnert man sich an Lieder von Mani Matter. Scheinbar einfache Texte mit Entblössendem, Doppelbödigem, Entlarvendem. Texte, die nie moralisieren, nie mit erhobenem Finger mahnen. Falls sie es doch tun, verraten sie nur meine eigene Interpretation.
Und wer die Autorin kennt, weiss, wie herzerwärmend ihre Performance sein kann. Ich freue mich! Sprachkunst der Extraklasse!
Judith Keller, 1985 in Lachen (SZ) geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Für ihr Debüt «Die Fragwürdigen» wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.
Im Vorsatz zu Frédéric Zwickers neustem Roman steht ein Zitat einer der Protagonistinnen: Familie, so ein harmloses Wort. Und gleichzeitig so schrecklich, dass es jeder Psychotherapeutin zuvorderst auf der Zunge hockt. Larry, Carlas Mutter, die es versäumte, wie schon ihre Mutter, mit offenen Karten zu spielen.
Frédéric Zwicker lässt in seinem dritten Roman eine junge Frau erzählen, die ihr Leben gleich auf mehreren Ebenen in Scherben sieht. Carla arbeitet als Künstlerin, als Keramikerin und soll in Hamburg in eine bedeutenden Galerie ihre neusten Arbeiten ausstellen. Ein paar Monate Zeit bleiben noch und ein nicht unbedeutender Vorschuss ist bereits bezahlt. Wenn da nur die Leere in ihrem Kopf nicht wäre, das Ausbleiben von Ideen, eine neue Spur, die nicht einfach das Begonnene fortsetzt oder Altes wieder aufnimmt. Und wenn da nicht all die Baustellen in ihrem eigenen Leben wären, die sie von dem wegreissen, dem sie sich eigentlich widmen würde.
Der Tod ihrer Grossmutter Lili im Altenheim, zu der sie sich seit ihrer Kindheit viel mehr hingezogen fühlte als zu ihrer umtriebigen Mutter Larry. Die Tatsache, dass ein Zimmer zu räumen ist, das Übrige eines Nachlasses gesichtet werden muss und Carla in einer Lade eine Schachtel mit Briefen ihres Grossvaters findet, der schon lange gestorben innerhalb der Familie zu einer Überfigur wurde, nicht zuletzt durch die konsequente Verehrung ihrer Grossmutter, weit über die Krankheit und den Tod ihres Mannes hinaus.
Frédéric Zwicker «Carlas Scherben», Zytglogge, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-7296-5172-2
Und Klaus. Klaus ist Maler, erfolgreich und immer wieder auf Reisen, so wie die letzten Monate in Kasachstan. Ob Klaus ihr Lebenspartner ist, weiss Carla nicht. In den Zeiten, in denen er verfüg- und erreichbar ist, scheint er das zu sein. Wenn er nicht da ist, monatelang auf Reisen, auf denen er sammelt, was er danach auf grosse Leinwände bannt, scheint er sie abzustreifen wie einen alten, zu schweren Mantel. Und Klaus ist dominant, scheint nicht zu verstehen, was gegenseitiger Respekt bedeuten könnte, versteht seine aus seiner Sicht grosszügigen Gesten als Zuwendung. Carla immer weniger.
Und Dawit, ihr äthiopischer Nachbar, der wegen Frau und Kind in der Schweiz um Asyl bat, seine Heimat verliess und mit der verlorenen Liebe zu seiner Frau und der darauf folgenden Scheidung auch seinen Status als „Geduldeter“. Das alles würde zur Krise reichen. Aber was Carla durch das Bündel Briefe und die bröckelnde Fassade von Familienlegenden erfährt, schüttelt sie noch viel mehr. Paul, ihr Grossvater, den sie als Kind über alles mochte, der zusammen mit der Grossmutter zumindest bis zur Pupertät jene Familie ausmachte, die ihr die alleinerziehende und ruhelose Mutter nicht geben konnte. Paul war nicht der, den ihre Grossmutter auf Fotos, mit Erzählungen und durch ihren täglichen Gang auf den Friedhof verehrte.
Was passiert, wenn sich die Familiengeschichte als zusammengeschusterte Chronik erweist? Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt? Wenn man als Künstlerin den Boden unter den Füssen verliert, alles, was Fundament war, sich in Treibsand verwandelt?
Carla wendet sich an Paul, ihren Grossvater, stellt ihn Jahrzehnte nach seinem Tod zur Rede, fordert ihn heraus, stellt auch ihrer Mutter die längst fälligen Fragen, beginnt sich tatsächlich zu emanzipieren. In den Briefen, den Liebesschwüren an Lili, als sie noch nicht verheiratet waren, der Krieg ihn zum Grenzschutz ins Tessin orderte und er mitansehen musste, wie ganze Familien an der Grenze zum faschistischen Italien auseinandergerissen wurden, wie man Menschen in den sicheren Tod zurückschicken musste und er sich nicht traute, Stellung zu beziehen, offenbart sich ein Mann ohne Rückgrat. Auch später im Dorf, als alle zu wissen schienen, dass Paul nicht nur eine Nebenfrau in der Stadt hatte, als man schon damals alles tat, um die Fassade aufrecht zu halten. Bis auf jener Reise zusammen mit ihrer Mutter, im Zug nach Hamburg, zu dieser einen grossen Ausstellung klar wird, dass auch der Mutter der Boden fehlte, bis in die Gegenwart.
Man spürt, dass Frédéric Zwicker schon seit Jahren auch als Kolumnist schreibt, im manchmal bissigen Ton, dem Beschreiben all jener Scherben, die eine gedankenlose Gesellschaft übriglässt. Carla versucht als Künstlerin mit filigranen Installationen auf das Zerbrechliche hinzuweisen. Zwickers Art zu schreiben, zu erzählen steht in einem erfrischenden Kontrast. Manchmal erinnert mich Zwicker an einen Elefanten im Porzellanladen. Aber wahrscheinlich braucht es solche polternden Elefanten, weil all die Tauben und Fastblinden sonst nichts mitbekommen.
„Carlas Scherben“ ist der Versuch des Ordnens, wenn alle Scherben ausgelegt sind.
Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Als Gitarrist, Geiger, Komponist, Texter und Sänger spielt er bei ‹Hekto Super› und ‹MusiCucina›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. In Rapperswil organisiert er als Kulturveranstalter die Kleinkunstbühne ‹Im Urlaub› und andere Formate. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. 2009 wurde er mit einem Literatur-Förderpreis der Internationalen Bodenseekonferenz ausgezeichnet, 2017 mit dem Kulturförderpreis des Kantons St. Gallen.
Die Lektüre des neuen Romans von Jonas Lüscher entlässt mich mit sehr gemischten Gefühlen. So wie ich vieles im Roman nicht einordnen kann, so kann ich nicht einmal den Titel „Verzauberte Vorbestimmung“ einordnen. Aber vielleicht ist genau das Prinzip „Einordnungsversuch“ der Schlüssel zu Jonas Lüschers Roman.
Jonas Lüscher schrammte während der Covid-Pandemie knapp am Tod vorbei. Er ist ein Gezeichneter. Ich begegnete ihm nach seiner Krankkeit in Leukerbad am dortigen Literaturfestival, wo er Auszüge aus einem Manuskript las. Als wir uns auf der Strasse begegneten, miteinander sprachen, traf ich einen ganz anderen Jonas Lüscher wie vor der Pandemie; verletzlich, dünnhäutig, vorsichtig. Damals auf der Intensivstation stand eine ganze Batterie von Maschinen um das Bett des Schriftstellers, der währnd bestimmter Phasen schon glaubte, in den Prozess des Sterbens übergegangen zu sein. Das beschreibt Jonas Lüscher in seinem Roman, wenn auch erstaunlich zurückhaltend. Er war ganz und gar abhängig von Maschinen, die lebenswichtige Körperfunktionen übernahmen. Es muss eine ganz eigene Erfahrung sein, dass man sein physisches Dasein Geräten übergeben muss, dass man in Phasen maximaler Empfindsamkeit zu einem eigentlichen „Cyborg“ wird, unfreiwillig.
„Verzauberte Vorbestimmung“ istein Konglomerat aus verschiedensten Handlungssträngen und Personen, Handlungssträngen, die sich überschneiden und solchen, die sich wieder verlieren. Personen, die über Dutzende von Seiten zentral erscheinen, dann aber nie mehr auftauchen. Einzige Konstanten in dem Buch sind der suchende Erzähler und der Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Filmemacher Peter Weiss, der sich mit seinem Spätwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ ein literarisches Denkmal setzte. Eine Figur in Lüschers Roman, die in ganz unterschiedlichen Zuständen und Erzählebenen auftaucht. Wie Lüscher selbst ein ewig Suchender, seine Kunst ein einziger Versuch des Einordnens. Eine andere Konstante in Lüschers Roman ist die Auseinandersetzung mit Technik, mit Maschinen, sei das die Maschinerie der modernen Kriegsführung, jene der Industrialisierung, der Medizin bis in die Architektur des Grossenwahns, wenn der Erzähler im Ägypten der Zukunft zwischen der perfekten Retorte und dem Realen, Vergessenen pendelt.
Das Buch beginnt mit Knall und Rauch. Ich erinnere mich an einen Kinobesuch zusammen mit meiner Frau vor vielen Jahren. Ich überredete sie zum Film „Der mit dem Wolf tanzt“, ein Streifen, der mit einem minutenlangen Schlachtgemetzel beginnt. Ich musste meine Frau während Minuten trösten, zurückhalten, beschwichtigen und besänftigen, damit die dem Kino nicht entfloh. Genauso ging es ihr mit «Verzauberte Vorbestimmung» (Übrigens ein Titel, der angesichts des Romananfangs arg strapaziert!). Jonas Lüscher beschreibt die Erlebnisse eines algerischen Soldaten während des ersten Weltkriegs in den Schützengräben gegen die Deutschen. Den ersten strategischen Giftgasangriff, das Herannahen eine beinah fluoreszierenden Wolke, in der alles grausam erstickt, Menschen mit schrecklich verzerrten Fratzen tot zusammenbrechen. Eine apokalyptische Szenerie, die eigenartig fesselt und ebenso abschreckt. Aber wer sich an die Fersen dieses algerischen Soldaten heftet, verliert ihn wieder, obwohl er Jahre später in Paris zum Postboten geworden ist. Ein Erzählstrang, der wie viele andere aus dem Meer der Möglichkeiten auftaucht und wieder versinkt. So wie die Geschichte eines anderen Postboten, des Franzosen Joseph Ferdinand Cheval, der zwischen 1879 und 1922 an seinem „Palais idéal“ baute, aus gesammelten Steinen, auf einem Grundstück weitab, einem Monument, das Künstler wie Max Ernst und Pablo Picasso faszinierte und bis heute viele Touristen lockt. Oder sie Geschichte von Ned Ludd im tschechischen Varnsdorf, einem Ort der aufblühenden Textilindustrie. Ein Aufstand der Arbeiter, einer Frauenrevolte, einem Fabrikgrossbrand. Eine Geschichte, die Lüscher in ganz eigener Sprache, beinah märchenhaft erzählt. Eine Geschichte, bei der es aber weder um das Personal noch um die Geschichte selbst geht.
„Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine literarische Auseinandersetzung. Sprachgewandt, plottabgewandt. Lüscher will weder unterhalten noch betäuben. Er nimmt mich mit in seine Odyssee, in ein Labyrinth, von dem nicht einmal er selbst das Ziel, die Mitte gefunden hat. Ein literarischer Stoffknäuel mit vielen Anfängen und Enden, ein Flickenteppich aus Fragmenten, Zuständen und Erzählebenen, der von mir alles abfordert, viel mehr, als ich bei fast allen Autorinnen und Autoren zulassen würde. Jonas Lüscher schreibt mit der Membran eines Überempfindlichen, eines Hochsensiblen, eines Verwundeten, Gezeichneten.
Ich tat mich schwer mit der Lektüre, obwohl es immer wieder lange Passagen der Beglückung gab, nicht zuletzt dank seiner Sprachkunst. Ich werde Zeuge dieser Hypersensibilität. Und wenn ich die Lektüre zu einer solchen Zeugenschaft machen kann, dann lese ich mit grösstem Interesse und unsäglichem Staunen.
***
Lieber Gallus
Ich habe bisher keinen Roman von Jonas Lüscher gelesen, aber schätze seine klugen Gespräche über unsere Gesellschaft und deren Zukunft in verschiedenen Medien.So interessierte ich mich sehr für seinen neuen Roman. Wegen einer vernichtenden Kritik in einer Innerschweizer Zeitung vor der ersten Lesung in der Schweiz war ich verunsichert, ob ich dieses Werk lesen soll, habe dann aber das Buch trotzdem gekauft. Wie reich wurde ich belohnt! Hilfreich war die Lektüre seiner Poetik-Vorlesungen von 2019 «In die Erzählung flüchten», wo das «Oszillieren zwischen mathematisch messbarer Wissenschaft und erzählender Literatur, zwischen Aufklärung und Romantik» ausführlich besprochen wird.
Obwohl die Lektüre von «Verzauberte Vorbestimmung» anspruchsvoll ist, habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Dass sich vieles nicht einordnen lässt, gefällt mir als Ausdruck der Herausforderungen und Ambivalenz des Menschen im Umgang mit Maschinen. Das in fünf Teile gegliederte Werk zeigt mehrere Erzählstränge, die abbrechen, wieder auftauchen und inkonstant durch die verschiedenen Abschnitte führen. Auch die Zeitebenen wechseln oft ohne Übergang, beginnen im Ersten Weltkrieg und enden in der Nach-Putin Ära. Die Auswirkungen der Macht der Technik und des Geldes auf die Menschen bestimmen in vielfältiger Weise den Text. Zum Beispiel die Veränderung des Ertrags der Arbeit an neuen Webstühlen in der Fabrik im Vergleich zu der an der Heimarbeit: Sein Staunen über die Zahlen, die sich da untereinander reihten, Beträge, die ihm vor kurzem noch fantastisch erschienen waren, fand kein Ende. Es war ihm, als täten sich ganz neue Möglichkeiten, eine Ahnung eines anderen Lebens, vor ihm auf, und mit diesem weiten Horizont, der aber bei genauerer Betrachtung nur aus dem Wort «mehr» bestand, einem Begriff, den er nicht in der Lage war, mit konkreten Vorstellungen zu füllen, kam die Gier in sein Leben.
Mehrere Kapitel werden durch Peter Weiss, Maler, Autor, Filmer, der als Alter Ego auftritt, miteinander vernetzt. Sein frühes Gemälde «Die Maschinen greifen die Menschen an» stellt bildhaft die Ambivalenz des Verhältnisses Mensch- Maschine dar. Mit Peter Weiss besuchen wir auch den «Palais Idéal» vom Briefträger Cheval in Hauterives und die Weber im tschechischen Varnsdorf.
In den letzten zwei Kapiteln befinden wir uns im futuristischen Ägypten mit Cyborgs, Mensch-Maschinen, und Androiden, umgeben vom grössenwahnsinnigen architektonischen Gebilde New Kairo, herausgestampft aus der Wüste, absurd und eklektisch mit einem geplanten 1000 Meter hohen Wohn-Obelisken. Vor einem Jahr war ich in Ägypten auf den Spuren der Pharaonen und deren Grabstätten, 4000 Jahre alt und noch in besten Farben leuchtend, daneben Kairo und Alessandria als verkommene Moloche voll Lärm, Armut und Müll neben hochglanzpolierten Inseln für die Touristen. Aus dem Flugzeug konnte ich damals einen Blick auf die New Administrative Capital werfen. Mich beschäftigten und belasteten diese Gegensätze sehr. Literarisch drückt Jonas Lüscher dies so aus:
Für einen Moment war ich in der Lage gewesen, die pittoreske und exotische Seite dieser mir fremden Landschaft und dieser mir fremden Menschen mit ihren mir fremden Leben zu sehen, aber bald war es nur noch die Armut, manchmal sogar die schiere Not, die sich mir aufdrängte, und die neue Stadt in der Wüste, durch die ich mich noch keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte fahren lassen, erschien mir grotesk weit weg, und doch war es dasselbe Land, unbegreiflicher noch, dieselbe Regierung, die für beides verantwortlich war, und so unbegreiflich mir dies in jenem Moment schien, so einfach zu verstehen war der ökonomische Mechanismus, der die beiden Realitäten miteinander verband, die sechzig Milliarden, die sich der Feldmarschall aus Chinaund den Golfstaaten geliehen hatte, um seinen Traum zu bauen, und der sinkende Wert des ägyptischen Pfunds, der das Elend der Menschen, die ich vor dem Fenster an mir vorbeiziehen sah, Tag für Tag vergrösserte und ein Entrinnen unwahrscheinlicher machte.
Das zentrale Thema, das Überleben seiner schweren Covid Erkrankung im wochenlangem Koma auf der Intensivstation dank neuester Technik kommt, nach kurzem Anklingen am Anfang des Buches, erst im letzten Teil zur Sprache: Ein «Gespräch» zwischen einem Taxifahrer ohne Englischkenntnisse und dem Protagonisten ohne Arabischkenntnisse mittels Google-Translater führt zum Nachdenken über die Technik-Skepsis des Autors, der als wahrer Cyborg seine Covid Erkrankung nur dank der Herz-Lungen-Maschine überleben konnte. Diese Erfahrung prägte sich tief ein, Personen die im Koma wie in einem Traum vorhanden waren, werden nach dem Aufwachen wie Verstorbene vermisst.
Dieser in seiner Struktur und in seiner Sprache einzigartige Roman umfasst die Zeitspanne von 1914 bis in die Zukunft, wo Cyborgs, also Mensch-Maschinen, ans Weltwissen angeschlossen sind. Die Beziehung von Menschen und Maschinen, deren grossartige Möglichkeiten, aber auch deren potenzielle Gefahren, zieht als roter Faden durch dieses Buch. Es endet mit hoffnungsvollem Ausblick.
Die Anregungen und die Auseinandersetzung mit diesem Buch werden mich noch lange begleiten. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser!
Herzlich
Bär
Jonas Lüscher wurde 1976 in der Schweiz geboren, er lebt in München. Seine Novelle Frühling der Barbaren war ein Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Lüschers Roman «Kraft» gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt ausserdem u.a. den Hans-Fallada-Preis, den Prix Franz Hessel und den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich. Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Herzlichen Dank an Jonas Lüscher für die Recherchefotos.
Manchmal ragen Bücher wie Monumente aus der Masse der Neuerscheinungen. Der zweite Roman von Thea Mengeler ist so einer. Ein Inselroman, ganz wörtlich. Irgendwo weit draussen eine Insel, auf der ein paar wenige ausharren und hingenommen haben, dass kein Schiff mehr die Insel ansteuert, dass man sie vergessen hat, dass die Zukunft endlich ist.
Früher brachten Fähren Touristen auf die Insel. Die Insel lebte nicht nur von ihnen, sie richtete sich nach ihnen aus. Aber es kommen schon lange keine Fähren mehr am Hafen der kleinen Insel an, auch wenn der Hafenmeister noch immer da ist, auch wenn die Hotels noch immer stehen, der Barmann noch immer öffnet und am Morgen noch immer der Duft von frischen Brötchen über den einstmals belebten Dorfplatz weht. Jene, die geblieben sind, haben sich mit der Eintönigkeit des Daseins eingerichtet. Namenlose. So wie der Hausmeister, der noch immer die Zimmer des Sommerpalasts in Ordnung hält, den Pool reinigt und sich um die Pfauen im Garten kümmert. Oder die Doktorin, die Übriggebliebene aus einem der vielen Appartements, die jeden Tag noch immer an den Strand geht. Oder die Frau des krank und dement gewordenen Generals, die ihren Mann jeden Morgen auf sein Pferd setzt, um ihn am Nachmittag wieder ins Haus zu begleiten, eine Frau, die ihren Mann pflegt und hasst. Oder den Barmann, den alten Soldaten, die Bäckerin, die Krankenschwester, der die Medikamente schon längst ausgegangen sind.
Sie alle harren und warten, wenn auch ohne Hoffnung und Illusionen, die Menschen würden dereinst wieder auf die Insel zurückkehren, auch all jene, denen die Insel damals Verdienst, Gewinn und eine Zukunft bescherte.
Thea Mengeler «Nach den Fähren», Wallstein, 2024, 175 Seiten, CHF ca. 28.90, ISBN 978-3-8353-5585-9
Thea Mengeler zeichnet die Insel mit klaren, meist kurzen Sätzen. Das Personal bleibt gewollt schemenhaft, der Alltag nur durch die Jahreszeiten, einen langen heissen Sommer und einen kurzen, kalten Winter verändert. Bis Ada auftaucht, ein Mädchen. Der Hausmeister nimmt sich ihrer an, wundert sich, weil schon so lange keine jungen Menschen auf der Insel waren, weil er sich nicht erklären kann, woher das Mädchen kommt, zu wem sie gehört. Ada stellt Fragen ohne die Fragen an sie selbst zu beantworten. Sie ist derart selbstverständlich da, dass sich der Hausmeister auch nicht wundert, wie sehr sich sein eintönig gewordenes Leben der Anwesenheit des Mädchens ausrichtet. Bis sie verschwindet wie sie aufgetaucht war. Erst jetzt merkt der Hausmeister, dass er der einzige war, dem Ada begegnete. Niemand sonst weiss von dem Mädchen, was den Hausmeister gleich mehrfach erschüttert. Wird er verrückt?
Mit einem Mal nimmt das Leben auf der still gewordenen Insel einen anderen Lauf. Die Leben, die sich kaum kreuzten, da war höchstens der Barmann, der die reifen Früchte aus dem Garten der Frau des Generals holte, oder die Begegnungen mit der Bäckerin, wenn man beim Brötchen holen noch eine Tasse von dem selbstgerösteten Kaffeeersatz trank, vermischen sich. Die Doktorin beginn zu schreiben. Der General kommt von seinem Ritt nicht zurück, seine Frau macht ein Schiff flott und trifft sich mit dem Barmann, der Hausmeister hört auf, die Zimmer in Stand zu halten, gibt ihnen einen neue Ordnung, setzt neu zusammen.
«Wir sind die Geschichten, die wir erzählen. Was haben wir mehr als das?»
Was passierte auf dem Festland, dass kein Schiff mehr die Insel anfährt? Warum sind ausgerechnet sie geblieben? Wer ist das Mädchen, von dessen Anwesenheit nur der Hausmeister weiss? War das Mädchen real oder Illusion, eine Erscheinung, eine Projektion? Wo ist bei den Übriggebliebenen die Zuversicht geblieben? Thea Mengeler beantwortet all die Fragen nicht. Umso mehr wabbern sie in mir während der Lektüre, treiben mich durch das Buch, über die Insel, zu den Menschen, die geblieben sind. Ist „Nach den Fähren“ eine Dystopie?
Dieser ungeheuer stimmungsvolle Roman ist eine kalte Decke, die sich mit Melancholie um mich schmiegt, der bis zur letzten Seite rätselhaft bleibt und zeigt, was nur Literatur kann; Thea Mengeler provoziert die Bilder in mir, starke Bilder, archaische Bilder – einen tiefen Eindruck!
Interview
Inselromane sind eine ganz eigene Gattung. Von „Robinson Crusoe“ über „Herr der Fliegen“ bis zu dem ihrigen. Aber bei den meisten Inselromanen ist die Insel bloss exotische Kulisse. Bei Ihrem Roman ist die Insel der heimliche Hauptprotagonist. Ein „wirtschaftlicher“ Organismus, dem man in gewisser Weise die Luft abdrehte, den man vom Netz nahm, den der ursprüngliche Organismus zurückholt, nach und nach. Insofern auch ein Roman über „Klimawandel“? Ich würde nicht so weit gehen, den Roman als einen Text über Klimawandel zu bezeichnen. Sicherlich ist es jedoch ein Roman über Kapitalismus und die kapitalistische Ausbeutung von Natur und Lebensraum – insofern gibt es zumindest viele Überschneidungen mit dieser Thematik.
Ich traf mich in einer Literaturrunde. Wir sprachen bei Wein über Ihren Roman. Eine grosse Frage, die uns beschäftige, war jene nach den Ursachen, warum die Fähren schon lange ausbleiben. Ich war und bin der Überzeugung, eine Dystopie gelesen zu haben, ohne dass sie als solche deklariert wäre. Vielleicht weil sie diese Portion Ungewissheit beabsichtigten? Oder weil diese Gewissheit den Roman nur ärmer machen würde? Ich kann verstehen, dass der Roman dystopisch wirkt und er ist sicherlich auch so angelegt – allerdings war es mir wichtig, dass der Grund für das Ausbleiben der Fähren nicht in einer globalen Katastrophe begründet wird. Das hätte für mich tatsächlich den Text ärmer gemacht. Ein Grund für das Ausbleiben der Fähren wird ja zumindest angedeutet: Andernorts werden neuere schönere Hotels gebaut, andere Urlaubsorte haben diesen abgelöst. Es ist ein banaler Grund, der natürlich dennoch für die Bewohner:innen dieser Insel massive Folgen hat. Es ist also eine Katastrophe im Kleinen, die vom Rest der Welt unbemerkt geschieht.
Das Personal ihres Romans gäbe Stoff für eine ganze Buchreihe. Zum Beispiel die Frau des Generals, die ihren Mann pflegt und hasst, dessen Verschwinden mit einem Mal alles möglich macht, selbst das Unmögliche. Und trotzdem zeichnen Sie Ihr Personal nur ganz durchscheinend. Ausser dem Mädchen Ada trägt niemand einen Namen. Braucht es die Namen nicht mehr, wenn man innerhalb einer Schicksalsgemeinschaft nur noch auf seine Funktion reduziert ist? Oder wollten Sie mir als Leser möglichst wenig „vorsetzen“? Für mich hatte der Verzicht auf Namen zweierlei Gründe. Einerseits ist die Insel so geografisch weniger zu verorten, andererseits werden die Figuren dadurch auf ihre Funktion bzw. ihre soziale Rolle reduziert. Gerade zu Beginn des Buches sind die Figuren ja wirklich sehr in ihren Rollen gefangen – sogar wenn diese durch das Ausbleiben der Fähren längst ihre Bedeutung verloren haben.
Ada eine Projektion? Eine Erscheinung? Ein Wahn? Ich las das Buch mit der Suche nach Antworten und wurde im Ungewissen gehalten. So wie die Fragen des Lebens nie klare Antworten geben. Und doch bringt dieses Mädchen einen Stein ins Rollen, Bewegung auf die Insel, die erstarrt ist. Auch so eine Metapher, die zu eifrigen Interpretationen einlädt. Sie wollen nicht ausleuchten, nicht klären. Was war die Urintension bei diesem Roman? Ich schreibe nicht, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, sondern um mich schreibend mit Themen oder Fragestellungen zu beschäftigen. Bei diesem Buch hat mich zuerst die Atmosphäre von Ferienorten zur Nebensaison interessiert – und dann die Frage, was mit einem solchen Ort und den dort lebenden Menschen passiert, wenn die Nebensaison zum Dauerzustand wird.
Die Doktorin schreibt. In den Schilderungen zu Ihr schreiben Sie viel über das Schreiben selbst, die Art des Sehens. Aber auch den Satz: Ich schreibe, um zu begreifen. Auch ein Schreibmotto für Sie selbst? Absolut. Schreiben ist für mich immer der Versuch einer Annäherung an Dinge, die ich selbst (noch) nicht begreife.
Thea Mengeler, geb. 1988, aufgewachsen in Krefeld, studierte Literarisches Schreiben und Kommunikationsdesign in Hildesheim, Kiel und Istanbul. Sie war Finalistin beim 28. open mike sowie Styria Artist in Residence 2022. Aktuell lebt sie als freiberufliche Autorin und Texterin in Hannover. 2022 veröffentlichte sie ihr Debüt «connect».
In seinem ebenso berührenden wie brisanten Roman «delfin» verpackt Ralf Bruggmann hochaktuelle Debatten in poetische Gespräche und innere Monologe, die nichts ungerührt lassen. Selbst – oder vielmehr vor allem – den Kern des Menschlichen. Auch mit den Augen kann man in die Geschichte eintauchen. Die Illustratorin Lea Le untermalt die Lesung mit analogen Zeichnungen. Ein Panorama, das während der Lesung aufgedeckt und ergänzt wird.
Ralf Bruggmann Der gebürtige Herisauer Ralf Bruggmann schreibt kurze und lange Geschichten, Fragmente und Prosatexte und arbeitet in einer Werbeagentur. 2016 gewann er den Jury- und den Publikumspreis des Ausserrhoder Schreibwettbewerbs «Literaturland». Nach der Prosasammlung «Hornhaut» im Jahr 2017 erschien im Herbst 2024 sein erster Roman «delfin» im orte Verlag. Weitere Informationen zum Autor Ralf Bruggmann
Lea Le Lea Le lebt und arbeitet als freischaffende Illustratorin und Comic-Autorin in St.Gallen. Neben Auftragsarbeiten hat sie diverse Comics in Magazinen und Zeitungen veröffentlicht. Weitere Informationen zur Illustratorin Lea Le
Zum Buch
Ralf Bruggmann «delfin», orte Verlag, 2024, CHF ca. 36.90, 264 Seiten ISBN 978-3-85830-323-3
An einem Strand findet ein Delfin den Tod. Und auch die Menschen, die in der unteren und oberen Stadt wohnen, sehen sich mit Enden aller Art konfrontiert. Da ist zum Beispiel Nina, die ihren Sohn allein großzieht und sich abmüht, ein Zuhause aufrechtzuerhalten, das langsam, aber sicher vom Meer verschlungen wird. Und da ist Milly, die das Unmögliche versucht, um den Verlust ihres Lebenspartners zu verdrängen. Als sich die ungleichen Frauen in einem kleinen Restaurant an der Küste kennenlernen, keimt aus Einsamkeit eine unerwartete Freundschaft. Gemeinsam scheinen die beiden, sich den Wogen des Lebens stellen und Trost im Untröstlichen finden zu können. Doch das Ende lässt sich nicht aufhalten. Bleibt die Frage: Was kommt danach?
Das nicht alles ist, wie es scheint, wird uns immer und immer wieder ins Bewusstsein geprügelt. Dass das Gewusel auf der Oberfläche nicht mit den Fäden im Untergrund übereinstimmt, wissen wir ebenfalls. Isabelle Lehn brilliert mit ihrem Roman „Die Spielerin“ derart überraschend, fundiert, sachkundig und dramaturgisch geschickt, dass man sich während des Lesens die Augen reibt.
Wir sehen sie überall, die Erfolgreichen. Sie parkieren im Halteverbot mit ihren aufgemotzten Karossen, sie bebildern die Sozialen Medien mit ihrem permanent glamurösen Auftritt, mit Botox und Silikon bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen oder spielen zumindest diesen, auch wenn das Bankkonto im Hintergrund so gar nicht widerspiegelt, was an der Oberfläche glitzert und glänzt. Aber da gibt es auch noch die anderen; jene ganz und gar Unaufälligen, die im Hintergrund die Fäden ziehen und ihre Genugtuung mit der Zufriedenheit nähren, dass die Marionetten im Scheinwerferlicht nach ihrer Fasson tanzen.
Isabelle Lehn beschreibt genau das, das Wirken einer Frau, der man wenig zutraut, die unscheinbar im Hintergrund wirkt, die weiss, wie sie Exponenten instrumentalisiert, wie das grosse Geld wie auf einer grossen Wippe mit minimaler Geste und maximaler Wirkung in ihre Richtung rutscht. Eine Frau, im Roman nur mit A. genannt, als ob alles Individuelle bei der eigentlichen Protagonistin keine Rolle spielen würde, wächst in beschaulichen Verhältnissen auf, macht trotz Widerstand ihres Vaters eine Banklehre in der niedersächsischen Provinz, widmet sich ganz ihrer Aufgabe, blendet alles andere aus, steigt auf in ein angesehenes Bankhaus in Zürich, macht sich durch Fleiss, Beharrlichkeit und gespielter Unterwürfigkeit in einem ziemlich sexistischen Machoumfeld bald unentbehrlich. Man schenkt ihr mehr und mehr Vertrauen und A. lernt schnell, dass Geldfluss und Moral alles andere als miteinander gekoppelt sein müssen. Von den vermeintlichen Strippenziehern (meistens männlich) unterschätzt, missachtet und vergessen wird sie zur Schaltstelle eines mafiösen Schattensystems.
Isabelle Lehn «Die Spielerin», S. Fischer, 272 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-10-397202-3
Im ersten Teil ihres spektakulären Romans schildert Isabelle Lehn die Schieflagen, Auswirkungen, die A. mit ihren Verbindungen, Versprechen und Zusagen bewirkt. Wie sehr man besiegeltem Papier glaubt. Wie sehr man in der Not auf Rettung hofft und jeden noch so dünnen Strohhalm als rettendes Floss sieht. Irgendwann steht A. vor Gericht und nach und nach wird klar, wie sehr sich Biographien und Schicksale durch die Agitation dieser unscheinbaren Schattenfrau an die Ränder ihrer Existenz bewegten – oder darüber hinaus. Faszinierend ist, wie nicht nur für die „Opfer“ damals die Frau im Hintergrund schemenhaft bleibt, sondern auch mich als Leser eine Schattenfrau. Eine Frau, über deren Motivation und Beweggründe man ellenlang diskutieren könnte, die vielleicht einfach nur durch die Gelegenheit zur «Diebin» wurde.
«Du hast die Wahl, ob du unbewaffnet in diesen Kampf ziehen willst, gegen einen übermächtigen Gegner. Oder ob du Gebrauch von deiner Superkraft machst, dich von anderen unterschätzen zu lassen.»
Dem Roman zum Vorbild dient ein realer Fall aus dem Jahre 2004, als die Nachrichtenagentur ddp, die Insolvenz anmelden musste, in Schieflage einem kriminellen Investor auf den Leim ging, vermittelt durch eine ddp-Mitarbeiterin, die ein Doppelleben führte, Strippenzieherin und unscheinbare Mitarbeiterin. Das Spannende an diesem Roman ist aber nicht die Aufarbeitung eines realen Geschehens, nicht einmal „Enthüllungen“, wie weit sich mafiöse Strukturen ausgerechnet in die Medienwelt hineinfressen können. Das Geniale an diesem Roman ist seine lakonische Erzählweise, dass die Autorin nicht prahlt mit ihrem Wissen, ihrem Durchblick, nicht einmal, dass sie mich blossstellt in meiner Ahnungslosigkeit. Es ist die Dramaturgie, der Bau der Geschichte. Die Art, mit welcher Selbstverständlichkeit sich nicht nur A. im Geschehen, sondern Isabelle Lehn in der Materie bewegt. Ich reibe mir während der Lektüre immer und immer wieder die Augen, staune und wundere mich.
Dass dieser Roman „feministisch“ sein soll, entzieht sich meinem Empfinden. Er zeigt, wie leicht man sich hinter Unauffälligkeit verstecken und verbergen kann. Wie leicht man(n) sein Gegenüber aufgrund des Aussehens und des Verhaltens unterschätzt. Ein ungeheuer gut gestrickter Roman, der allerdings nicht warm gibt, sondern Frösteln verursacht.
Isabelle Lehn, geboren 1979 in Bonn, lebt heute in Leipzig und schreibt erzählende und essayistische Prosa. Sie ist promovierte Rhetorikerin, Autorin des mehrfach ausgezeichneten Debütromans «Binde zwei Vögel zusammen» und zuletzt des Romans «Frühlingserwachen». Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis für ihren Aufsatz «Weibliches Schreiben» (S. Fischer hundertvierzehn), der sich mit der geschlechtsspezifischen Rolle von Autor:innen im Literaturbetrieb auseinandersetzt.
Endlich macht Thierry mit Vanessa und ihrer gemeinsamen Tochter Evie Urlaub. Sogar die Katze Pizza ist dabei. Ein Urlaub ohne Pizza geht nicht. Ein Urlaub in einem Luxusressort in den Bergen. Ein Urlaub, der sich letztlich aber gar nicht als das entpuppt, was er zuerst zu sein scheint.
Thierry arbeitet mit seinem Chef und Freund an einem Film. „Theorie von allem“. Ein Film, der sich mit der Formel des Lebens beschäftigt, der klären soll. Selbst jetzt in seinen Familienferien kann er nicht von dem lassen, was ihn schon seit langem einnimmt und beschäftigt, einlullt und nicht mehr loslässt. Ob wir die Dinge in Einklang bringen können. Warum scheint alles im Chaos zu enden? Wann beginnt das Chaos? Thierry hat seinen Computer nicht zuhause gelassen, auch sein Mobilphone nicht. Es meldet sich immer wieder.
„Ich habe in diesem Augenblick das Gefühl, dass ich auf etwas zuhalte, dem ich nicht ausweichen kann.“
Michèle Minelli «Wie es endet», lectorbooks, 2024, 144 Seiten, CHF. ca. 32.90, ISBN 978-3-906913-46-9
Während sich in dem mit allem Luxus ausgestatteten Chalet in den verschneiten Bergen, mit beeindruckender Aussicht, auch nachts auf einen kolossalen Sternenhimmel, mit einer Jurte und einem Jakuzzi vor dem Haus, überfreundlichen jungen Frauen an der Rezeption im Hotel, die jede Konversation mit der Frage, ob sie noch etwas Gutes für sie tun können, anfangen oder enden, langsam etwas wie Alltag zu entfalten beginnt, häufen sich Zeichen, dass etwas zu kippen droht. Thierry weiss, wie brüchig sein Leben geworden ist, wie nahe die Familie am Auseinanderbrechen war und ist. Erst recht, als man ihm mitteilt, dass eine drohende Lawine ganz in der Nähe nicht ungefährlich sein könnte. Und noch viel mehr, als die Katze in einem Moment der Unaufmerksamkeit durch ein Fenster nach draussen entwischt.
«Ich rede weiter von Dingen, die nicht mehr zueinanderfinden, die auseinanderbröseln, expandieren.»
Äussere Anzeichen der Bedrohung. Ein Mobilphone, dass sich dauernd meldet, Telefonate, die man an der Rezeption ausrichtet und ihn um Rückruf bittet. Und eine Ehefrau mit Kind, die sich zwar im gleichen Gebäude befinden, aber abgekoppelt von ihm die Stunden verbringen. Vanessa ist erfolgreiche Schauspielerin. Während sie mit ihrer Tochter den Urlaub zu geniessen scheint, verschiebt sich Thierrys Wahrnehmung immer mehr in einen Zustand der Entrücktheit. Thierry versucht alles, um die Kontrolle über ein Leben in zunehmender Schieflage zurückzugewinnen.
„Wie es endet“ überrascht mit einer subtilen Dramaturgie. Was im ersten Teil des Romans wie ein Rettungsversuch eines Mannes aussieht, der nun endlich eingesehen hat, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht, dass eine Familie Zeit und Zuwendung braucht, Inseln, die nur ihnen gehören, erfahre ich als Leser, wie sich das Schlingern des Schiffes immer mehr aus Thierrys Wahrnehmung entfernt. Je länger ich lese, umso mehr erahne und erfahre ich, dass die drohende Katastrophe längst Realität geworden ist. Dass sie Lawine draussen Thierrys klaren Blick längst zugedeckt hat. Kursiv gedruckte Sätze zerschlagen scheinbare Realität, lassen erahnen, dass Thierrys Welt längst bloss noch ein verzweifelter Versuch ist, Normalität zu spielen.
«Menschen dringen in die Herzen von Atomen ein und erforschen die Tiefen des Weltalls, aber ihre eigenen Herzen bleiben ihnen verschlossen.»
„Wie es endet“ ist das Psychodrama eines Verlorenen. Ein Mann, der sich aus eigener Kraft längst nicht mehr zu retten weiss. Ein Mann, dessen Wahrnehmung nach seinen Maximen funktioniert, der alles auszublenden weiss, was nicht in sein Selbstverständnis passt. „Wie es endet“ taugt nicht als Strandlektüre. Nicht einmal als In-den-Schlaf-Begleitung. Man spürt, dass die Schriftstellerin weiss, wie filmisches Erzählen funktioniert. „Wie es endet“ ist ein Psychotripp, ein Alp. – Und nicht zuletzt ziemlich singulär in der Literaturlandschaft! Ein Roman mit grossen amerikanischen Paten!
Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.