Es sind wenig mehr als Gedanken, die ich hier notiere, weil sie mir beim Lesen unentwegt durch den Kopf gesprungen sind. Ich bin angenehm überrascht, dass solch ein ungewöhnliches – im sprachlich-formalen und thematischen Sinne – Buch den deutschen Buchpreis erhalten hat, was mich doch noch an die Vernunft der Vergabepraxis glauben lässt.
Heldinnen früher und heute Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder
Ich ärgerte mich über so manchen Feuilletonisten, der meinte, mit der Form, also eine Biografie in Versform, hätte Anne Weber den Stoff arg tief gehängt. Dabei ist es gerade diese Form, die Ambivalenz eines Heldinnenlebens in wenigen Worten und mit einer stupenden Präzision zu verdichten, um damit gleichsam die Widersprüche dieses Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen. Jedes weitere und unnötige Wort würde ihr Ansinnen verwässern.
Doch ich rätselte mitunter, warum dieser Titel – von der Autorin? Vom Verlag? – gewählt wurde, denn ist Anne Beaumanoir wirklich eine Heldin? Eine vermeintliche, eine verblendete? Die Heldin folgt dem Prinzip Gleichheit und Gleichberechtigung, und wegen dieses Prinzips ist sie immer mal wieder auf dem einen Auge oder gleich beiden blind. Was auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn Zweifel im «Sand der Gegenwart», dem algerischen wohlgemerkt, vergraben werden. Anne Beaumanoir sieht dieser Wahrheit erst spät ins Gesicht, als sie sich monatelang in einem Keller verstecken muss: «Die Wahrheit ist, dass sie für einen souveränen Staat (den algerischen A.d.R.), der binnen kurzer Zeit zu einem Militärregime mutiert ist, alles eingebüßt hat.» Vor allem unter dem Verlust ihrer drei Kinder leidet die Frau, die sie jahrelang nicht sehen durfte, denn um einer zehnjährigen Haftstrafe in Frankreich zu entgehen, floh sie auf Umwegen nach Tunesien.
Man mache es sich zu leicht, schreibt Anne Weber, aus der Vergangenheit zurückzublicken und zu kritisieren, man bedenke indes, dass dies ungerecht sei, denn wenn man im Nebel stecke, sehe man die Möglichkeiten nicht unbedingt, die sich erst Jahre später herausschälen. Die Autorin blendet ihre Zweifel nicht aus, gräbt tief, fragt nach, hinterfragt die einstigen Ideale, will diese schillernde Persönlichkeit verstehen, die so viel aufgegeben hat, um am Ende ihres Lebens am Fuss eines Berges zu stehen und einen Stein hinaufrollen zu wollen. Wer nun an Camus‘ Sisyphos denkt, denkt richtig, denn mit ihm schliesst dieses Versepos: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu grossen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.»
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Büchern schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.
«Schreiben erweitert Horizont» Sabine Meisel veröffentlichte Erzählungen mit Tipps fürs Schreiben und gibt Auskunft, wann die Arbeit am Text als gelungen gilt. Ein Interview von Urs Heinz Aerni mit der Autorin:
Urs Heinz Aerni: Frau Meisel, darf ich Ihnen meinen Lieblingssatz aus Ihrem neuen Buch vorlesen?
Sabine Meisel: Natürlich, ich bin gespannt, welchen Sie ausgewählt haben.
Aerni: Er steht auf Seite 69: «Die kleinen Muskeln, die die Haare aufrichten, werden morgen bestimmt Muskelkater haben.» Ein witziges Bild und so porös nah. Denken Sie an die Leserin und den Leser beim Schreiben?
Meisel: Porös nah, über dieses Bild könnten wir auch diskutieren. Bei der ersten Fassung denke ich nie an die Lesenden, da bleibe ich im Flow der Geschichte. Bei den weiteren Überarbeitungen denke ich sicherlich an die Lesenden.
Aerni: In Ihrem zweiten Buch «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen» lassen sich originelle Erzählungen lesen, mit viel ironischem Unterton. Hand aufs Herz, Ihre Wurzeln aus Hanau bei Frankfurt am Main brachten diesen Sound mit, oder?
Meisel: Wurzeln kann ich und will ich gar nicht verleugnen. Wissen Sie, auf was ich richtig stolz bin?
Aerni: Bin gespannt…
Meisel: Dass ich jetzt «geprüfte» Schweizerin bin, nicht erleichtert eingebürgert, sondern geprüft, mit dem Heimatort Winterthur.
Aerni: Sie nahmen früher Teil an Workshops zu Kreativem Schreiben, schreiben heute Kolumnen sowie Bücher und geben wiederum auch Seminare für Schreibfreudige. Unter uns: gibt es hoffnungslose Fälle?
Meisel: Oh Herr Aerni, ich habe einen Hochschulabschluss, einen Master in Biografisch-Kreativem Schreiben, damit unterscheide ich mich von ganz vielen, die wirklich nur ein «Kürsle» gemacht haben und jetzt diesen Markt entdecken.
Aerni: Das heisst?
Meisel: Schreiben vereint Kognition und Emotion. In Schreibgruppen erweitern sich die Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte, Schreibblockaden können aufgelöst werden.
Aerni: Wie viel Wettbewerb tut der eigenen Kreativität gut?
Meisel: Es werden pro Jahr 100 000 deutschsprachige Werke auf den Markt geworfen, die Konkurrenz ist riesig. Vergleich ist Gift, ich schreibe, weil es beglückt.
Aerni: In Ihrem Buch geben Sie Tipps zu Methodik, Stilistik aber sogar auch mal den Rat, es an anderen Tageszeiten zu versuchen, wie zum Beispiel in der Nacht bei gedimmtem Licht. Haben Sie für sich das richtige Ritual gefunden?
Sabine Meisel «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen», KaMeRu, 2020, 200 Seiten, CHF 17.90, ISBN 978-3-906082-67-7
Meisel: Ja sicher, ich schreibe am liebsten morgens im Bett, kuschelig, warm, denn ich bekomme schnell kalte Füsse beim Schreiben, real, nicht im doppelten Sinne! Aber nach tagelangem morgendlichem Schreiben, muss ich wieder unter Menschen, dann schreibe ich im Zug, allerdings nicht zu Stosszeiten und auf längeren Strecken.
Aerni: Die Lesekultur sowie die Sprachkompetenz sollen in der Krise stecken, ist oft zu vernehmen. Doch die Schreibkurse sind gut ausgebucht. Wie gehen Sie mit diesem Kippzustand um?
Meisel: Überspitzt würde ich sagen. Jeder möchte sich mitteilen, aber keiner mehr zuhören und lesen. Kommentarspalten in den Online Medien sind ein Beispiel dafür.
Aerni: Elke Heidenreich sagte mal in einem Interview, dass das eigene Leben der größte «Steinbruch» für den Stoff des Schreibens sei. Wie sehen Sie das?
Meisel: «Den Steinbruch Leben» konkretisiere ich mit der subjektiven Wahrnehmung. Peter Stamm sagte einmal zu mir, vielleicht würde er auch mal irgendwann biografisch schreiben. Unser Hirn nimmt unbewusst wahr, wir laufen doch nicht blind, taub, ohne Erfahrungen durch die Welt. Oftmals ist uns nicht bewusst, woher plötzlich das letzte Puzzleteil der Geschichte kommt.
Aerni: Ab wann würden Sie die Arbeit des Schreibens als erfolgreich bezeichnen?
Meisel: Die Beglückung in dem Moment des Flows. Wenn ich Menschen zum Nachdenken bringe. Diese Rückmeldungen bekam ich beim Roman «Der Tag wird langsam» von jungen Frauen und Männern, die über ihr Beziehungs- und Erziehungsverhalten nachgedacht haben. Bei Lesungen und beim Theaterspielen, ich spüre genau, wenn der Text die Menschen berührt, dies ist für mich erfolgreich!
Aerni: Für Menschen mit Lust auf Schreiben und vergnüglichen Geschichten, ist Ihr Buch das passende Geschenk. Woran lesen Sie im Moment?
Meisel: Shakespeare für das neue Stück des Schuhtheaters «Schuh in Love» und «das Kopfkissenbuch» der Dame Sei Shonagon. Die Poesie des Alltags ist wichtiger denn je!
Aerni: Würden Sie zum Schluss diesen Satz vervollständigen: «Wenn wir begännen, mit dem Schreiben aufzuhören, dann würde die Welt…»
Meisel: …sich weiterdrehen, aber «Was für eine alltägliche Übung ist das Schreiben – und doch, welche wunderbare Erfindung», dies schrieb die Dame Sei Shonagon, im Japan des 11. Jahrhunderts, deshalb wird es nicht passieren.
Sabine Meisel lebt in Winterthur, 2011 Master of Arts in Biografisch-Kreativem Schreiben. Sie unterrichtet an verschiedenen Institutionen kreatives Schreiben (ZHAW, Krebsliga, SIS). Finalistin des Literaturwettbewerbs Treibhaus. Für das Magazin des Kunsthauses Zürich schreibt sie seit 2016 Kolumnen und für den Stadtanzeiger Winterthur Beiträge über Liebenden aus zwei Kulturen. «Vom Glück, einer Vogelspinne zu begegnen» ist nach «Der Tag wird langsam» (erschien 2016) ihr zweites Buch, beide im Kameru Verlag Zürich erschienen.
Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.
Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.
Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.
Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.
Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.
Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.
Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.
Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.
aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors
Rolf Lappert liest am Donnerstag, den 14. Januar 2021 aus seinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» um 19.30 Uhr im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Moderation: Gallus Frei-Tomic
Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.
Erklären konnte ich es mir nicht. Ich nahm es hin, wie das Geräusch unseres Atems, wie das Sirren der Mücken, das Hämmern eines Spechts, das Knirschen unserer Schritte auf dem Weg. Wie die fliegenden Spinnfäden, die Tautropfen auf den Farnen, das honigfarbene Harz der Tannen (das ich nie unterließ zu berühren). Dieses Licht, das zwischen den Bäumen aufleuchtete, wenn wir lange in den Bergen blieben, tröstlich, ahnungsvoll, wie das Lodern eines Leuchtturms in der Dämmerung. Ein Fixpunkt am Horizont, der die Dunkelheit der Wälder erhöhte. Auf einer unserer Erkundungen fragte ich meinen Vater, was das für ein Licht war, und warum es immer leuchtete, wenn wir in den Bergen waren. Vater blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich der dunklen Flanke der Berge zu, die jetzt so abweisend dalagen, kein Umriss einer Tanne war zu sehen, kein Weg. Auf unserer Seite zögerndes, violettes Abendlicht. Er sagte, es sei ganz einfach: Hinter diesen Wäldern sei ein Fluss, an diesem Fluss stünde ein Haus, in diesem Haus säßen zwei Freunde. Sie waren es, sie zündeten ein Licht an, weil sie die Schritte zusammenzählten, die wir am Tag gegangen waren. Es leuchtete mir augenblicklich ein. Ein Fluss. Ein Haus. Zwei Freunde, die unsere Schritte zählten.
Ich glaubte lange an diese Geschichte. Irgendwann war sie fort. Wie die mit Kartoffelstärke behandelte Bettwäsche, die mein Bruder und ich übermütig rieben, um sie wieder weich zu machen. Meine Aufpasserdienste, wenn mein Bruder sich mit einem Mädchen traf, und ich ihn danach heimlich ins Haus ließ, sobald ein Steinchen gegen die Fensterscheibe flog. Die aufgeschichteten Matratzen im Zimmer der Großmutter, die aus einer Zeit stammten, da jederzeit Gäste zu erwarten waren, und die in meiner Erinnerung bis zur Decke reichten; nur eine Handbreit bis zum Plafond. Großmutter, die erkannte, aus welchem Brunnen im Dorf wir Wasser geholt hatten, das beste Paprikasch zubereitete, und, wenn sie die Entmutigung ankam, die oberste Matratze nahm, sie auf die Terrasse schleifte und unter freiem Himmel schlief. Sie warnte uns Brüder, keine Grimassen zu schneiden, das Gesicht bliebe sonst so, und sie sagte auch, wir sollten nicht so viel trinken vor einer Mahlzeit, sonst bekämen wir Frösche im Bauch. Und an diese Frösche glaubte ich ebenso wie an die beiden Freunde.
Schönheit kann sich nicht so gut verbergen wie die Wahrheit, sagte Vater. Er sagte es, wenn wir durch die Berge streiften, und er sagte es auch, wenn er vor Mutters Bild innehielt, das auf der Kommode neben der Eingangstür stand. Ein helles Gesicht, wellige, glänzende Haare, ein gerader, schmaler Mund. Ich fragte mich, ob er mit ihr auch so wenig gesprochen hatte. Er sehnte sich am Ende jedes Arbeitstags nach der Stille der Berge. Er konnte dem unendlichen Monolog eines Vogels zuhören, und vergessen, dass jemand bei ihm war. Beneidete jeden Fels, jede Pflanze um ihr Schweigen.
Ich bin immer durch die Türen gegangen, die offen standen. Ob es die richtigen waren, weiß ich nicht. Eine Tür führte mich in den Westen. Durch eine Tür kam Julie, und durch eine andere ging sie fort. Manche Türen blieben verschlossen, zu manchen Träumen fand ich den Eingang nicht. Manche Leute sagten, ich sei klug. Andere, ich sei egoistisch. Wiederum andere hielten mich für zugänglich. Das waren allerdings Freunde. Harro lernte ich auf einer Tagung kennen. Er setzte sich neben mich, sah aus, als bräuchte er ein frisches Hemd und gute vierundzwanzig Stunden Schlaf. Wie sich herausstellte, sah er immer so aus, als hätte er nicht geschlafen, wirres Haar, blasse Haut, Ringe unter den Augen, wasserglasgroß. Dazu die eindringlichste Stimme, tief, kratzig, melodiös, und die Gabe, das, was gesagt wurde, und das, was gesagt werden würde, zusammenzufassen oder vorwegzunehmen, je nachdem. Die Wahrheit zieht es vor, sich zu verbergen. Vielleicht tut sie uns damit einen Gefallen, vielleicht hält sie uns damit bei Laune. Sie verbirgt sich in Geschichten (auch jene, die man sich selbst gern erzählt), Glaubenssätzen, Anschuldigungen – die man nicht zurücknehmen kann, wie sehr man es auch möchte. Man meint, man sei ihr als Erwachsener näher denn als Kind. Hexen ziehen aus dem Wald aus, Gespenster aus dem Schrank, Frösche mögen keine Mägen. Karla war lange Zeit mit Anlauf ins Bett gesprungen, aus der fixen Idee heraus, es könne sich jemand darunter versteckten und nach ihren Fesseln greifen. Jona behauptete, er könne sich durchs Schlüsselloch in andere Zimmer stehlen, wenn er Hausarrest hatte. Zuletzt gehen die Dinge ineinander über, wie in das Aprilabendlicht der Berge getaucht. Hell und Dunkel sind nicht so leicht voneinander zu unterscheiden, das Überflüssige rückt fort.
Ich erinnere mich, wie Vater beim Glockenläuten an den Seilen hochgezogen wurde. Wie Großmutter die Schuhe meines Bruders versteckte, damit er abends nicht aus dem Haus konnte. Wie Polizisten die Luft aus meinen Fahrradreifen ließen und die Ventile mitnahmen, weil ich Julie auf dem Lenker ausgefahren hatte. Wie ich mit Harro an einer Bar saß, wir tranken und sahen einander kaum an. Wie Jona am Flughafen vergaß, sich umzudrehen, und Karla im letzten Moment die Hand zum Abschied hob. Ich spüre, wie lahm die Zunge im Mund lag, weil sie sich in einer anderen Sprachfärbung zurechtfinden musste, und erkenne, dass ich Vater über die Jahre ähnlich geworden bin. Die Sehnsucht nach dem Wald ist groß, dem Gleißen, Glühen, Flimmern, dem Rauschen, Summen, Vibrieren, das es nur in den Bergen gibt. Leise, weil es nicht mich meint, laut genug, um die Gedanken zu besänftigen.
Ob man mit etwas davonkommt, ist fraglich. Ich warte noch immer auf das Geräusch des Steinchens an der Fensterscheibe. Großmutter liegt auf der Terrasse und sieht in den Sternenhimmel. Wenn ich die Hand ausstrecke, berührt sie den Plafond. Julie sitzt lachend auf dem Lenker. Karla und Jona verlangen eine Geschichte. Harro füllt unsere Gläser auf. Vater betrachtet die dunkle Seite der Berge und raucht. Und wenn es Abend wird, hinter den Wäldern, zünden die beiden Freunde ein Licht an und zählen meine Schritte. Deine auch?
Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett – Cotta, 2020, 216 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-608-98326-5
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.
Die Schweizer Literatur ist ein einziges Kleinod! Für die Abrundung dieser Würdigung braucht es dann noch die Begriffe pingelig, verschmitzt-kindlich und unschuldig-intellektuell. Die ideale Erzählposition für die Schweizer Literatur ist immer noch das Traumpaar Heidi-Oheim. Die eine fragt klug, und der andere antwortet altklug.
Gastbeitrag von Helmut Schönauer, Innsbruck
Urs Heinz Aerni ist ein Buchbesessener, der mit Händen und Füssen Themen zusammenträgt, um daraus ein Buch zusammenzustellen. Seine Genre-Beschreibung für dieses Tun nennt er «eine Art Feuilleton oder Sammelsurium als Buch». Da Literatur zudem überall auftreten kann, wird man ihrer nur Herr, wenn man mit ihr eine Lesereise plant. «Lugano – Konstanz» ist also eine Art Fahrplan für Lektüre. Aufregend, dass dabei das stille Leseörtchen Innsbruck dabei ist.
Einem Buchfan macht es nichts aus, wenn man die angebotenen Bücher mit starken Wörtern auffrisiert, ja selbst das Klischee nimmt er in Kauf, wenn dadurch jemand ins Innere eines Buches gelockt werden kann. Auch hier gilt die kluge Schweizer Tugend: Promotion darf wie ein Schweizermesser alles, wenn dadurch ein überdimensioniertes Ganzes in menschlich kleine Portionen zerlegt werden kann.
Urs Heinz Aerni hat gewissermassen eine eigene Literaturform erfunden. Es handelt sich dabei um einen essayistischen Kurzimpuls, der verlässlich in einen Buchtipp mündet. «Wann immer der Vortragende vorne den Mund aufmacht, kommt hinten ein Buch heraus», lachen die Kenner seiner Vorgehensweise.
Urs Heinz Aerni «Lugano – Konstanz. Mit Umwegen nach Innsbruck, Lenzerheide, Nonnenhorn und…», 2020, 154 Seiten. EUR 14.90, ISBN 978-3-9504833-3-8.
Öffentliches Telefonieren, Gespräche bei einer Zugspanne, Orientierungslosigkeit in einer Grossbuchhandlung, Nebenbemerkungen zu einem Jazzabend oder Suche nach einem verlorenen Buchstaben: Eine Begebenheit kann im Sinne Robert Walsers nicht klein genug sein, dass sich nicht daraus jene feine Stimmung komponieren liesse, mit der im Herbst ein Blatt zu Boden segelt. Diese ‘Verniedlichungsmethode’ hat den Vorteil, dass auch grosse Unglücke dadurch erträglich werden und Menschen unterschiedlichsten Charakters miteinander ins Gespräch kommen. Denn sollte der Diskurs nicht in Gang kommen, ist bei der Kleinheit des Themas nichts verloren.
Mit diesem Denkansatz unterscheidet sich der Autor vehement von den germanistischen Grossanalysten, die immer erst eine Stunde lang Hegel oder Heidegger zitieren, ehe dann daraus ein Sprachproblem herausgefiltert wird, dass verlässlich nichts mit der Menschheit zu tun hat. Innsbruck kommt durch diese Zuneigung des Büchernarren zu einer Würdigung, die seiner intellektuellen Grösse entspricht. Der Autor zitiert nämlich: «Soeben komme ich zurück aus Innsbruck!» Dann hört man nichts mehr von der Stadt. Es wirkt, als sei der Autor froh, daraus entflohen zu sein, um wieder etwas Vernünftiges denken zu können. «Digitales Grüssen» etwa, mit passendem Buchtipp.
An seine Grenzen kommt der Schweizer Allrounder freilich, als er dem Witz etwas Positives abgewinnen soll. Ein Buch namens «Soll das ein Witz sein?» bringt Aerni an den Rand des Gelächters. Er versucht, den Witz für die Schweiz zu retten, indem er ihn zur Kunst erklärt. In einem Bonus-Track gibt es Ausschnitte aus früheren Archiven. Als ob Archive nicht immer früher angelegt sein müssten, die Zukunftsarchive wären nämlich für die Literaturbranche ziemlich harte Kost. Aus der Vergangenheit werden einige Interviews hervorgeholt, worin die längst verstummten Autoren um die Jahrhundertwende herum noch einmal eine Stimme kriegen, ehe dann der hintere Buchdeckel kommt und alles verstummen lässt.
«Aerni: So sitze ich nun mit zwei Dinosauriern hier am Tisch. Thomas Hettche: Dass Sie hier so ein Gespräch aufzeichnen, das länger als zwei Minuten dauert, qualifiziert Sie auch als Dinosaurier.» Schreiben als Verlangsamung des Lebens! Und die finale Erkenntnis des Urs Heinz Aerni: Bücher, die nicht gelesen werden, sind so, wie wenn sie nicht da wären.
Helmut Schönauer wurde 1953 geboren und lebt heute als Autor und Dramatiker in Innsbruck.
Taiwans lyrische Welt ist vielfältig, Lyrik hat einen höheren Stellenwert, wird mehr gelesen, auch von Jüngeren, als hierzulande. Und fällt der Name Yang Mu, nickt man dazu: Die Anerkennung ist einhellig. Er gilt als erster Dichter von Rang, der seine taiwanische Herkunft und Identität in seinen Gedichten anklingen lässt, aber auch die damit einhergehende Zerrissenheit wie beispielsweise in dem Gedicht «Jemand fragt mich nach Gerechtigkeit».
von Alice Grünfelder
Neben Gedichten, für die er nicht nur in Taiwan bekannt ist, schrieb Yang Mu auch Essays (beispielsweise in «Die Spinne, das Silberfischchen und ich), ebenfalls übersetzt von Susanne Hornfeck und Wang Jue. Im März veröffentlichte die Taipei Times einen Nachruf auf Yang Mu, nachdem er im Alter von 79 Jahren nach Herz- und Lungenbeschwerden im Krankenhaus starb. Eine seiner Lebensfragen hängt seither über meinem Schreibtisch: «How to get involved without being swallowed?»
Seit 1995 setzt Ihr Euch mit dem Werk Yang Mus auseinander – weil er als bedeutendster Lyriker Taiwans gilt?
Ja, wir beschäftigen uns schon lange mit dem Autor, haben sowohl Lyrik (Patt beim Go 2002) als auch Essays („Norden“, in Neue Sirene 1995, und «Die Spinne, das Silberfischchen und ich» 2013) von ihm übersetzt und finden ihn auch deshalb so spannend, weil in seinem Werk so vieles zusammenkommt: die Tradition der chinesischen Poesie, die westliche klassische Moderne und die Einflüsse seiner taiwanischen Heimat. Tilman Spengler hat in seinem Nachruf geschrieben, wir sollten ihn in Erinnerung behalten «als einen Bewahrer der Kunst des Gesangs, von ihren Ursprüngen in China und Griechenland, seinen chinesischen Vorläufern so nahe wie den Griechen, den amerikanischen Zeitgenossen – oder dem jungen Hölderlin». Besonders froh sind wir, dass er die Nachricht von der deutschen Veröffentlichung seines letzten Gedichtbands – die erste vollständige Übersetzung in eine westliche Sprache – noch freudig zur Kenntnis nehmen konnte. Das fertige Produkt hielt er leider nicht mehr in Händen, aber am 5. September 2020 findet in der Nationalbibliothek Taipeh eine Gedenkveranstaltung statt, bei der Wissenschaftler und Weggefährten an ihn erinnern. Da wird unser Band dann auch aufliegen.
Die lyrische Welt im früheren Band «Patt beim Go» ist zugänglicher als die «Balladen», andererseits finde ich die neun Variationen über die Zittermelodie «Baldige Heimkehr» von Han Yu äussert reizvoll und gelungene Übersetzungen. Wie seid Ihr bei der Auswahl der Gedichte vorgegangen, die Ihr übersetzt habt?
«Patt beim» Go war eine Auswahl, wir haben dabei aus zahlreichen Gedichtsammlungen der Jahre 1969 bis 2000 geschöpft. Wir haben versucht, möglichst repräsentative Texte auszuwählen, aber natürlich springen einen jene an, die einem besonders nahe gehen, in die man sich gut hineindenken kann. Das ist sicher ein Grund, warum die Texte in dieser Auswahl «zugänglicher» wirken. Den Band «Lange und kurze Balladen» haben wir komplett übersetzt. Das heisst, wir mussten uns auch den Gedichten stellen, die für uns schwierig und zunächst unverständlich waren. Die «Variationen» mit ihrem wunderbaren Motto von Han Yu (768–824) sind sicher eines der leichter zugänglichen Kapitel, sie sind von der Länge her überschaubar und beschäftigen sich meist mit konkreten sinnlichen Erfahrungen.
Hat die zunehmende Verschlossenheit seiner Gedichte vielleicht auch etwas mit dem Alter zu tun? Einmal erscheint Yang Mu alterweise und wie die griechischen Götter aus der Ferne auf eine Vergangenheit zu schauen, dann wieder zur Verzweiflung getrieben wegen der «Wirkung der endlos sich dehnenden Zeit». Denke ich z.B. an das Gedicht «Vor den Panzern», das Yang Mu dem Tankmann auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewidmet ist, so muten die Gedichte in «Balladen» fast schon ätherisch an. Vom kritischen Kommentator zum feingeistigen metaphysischen Denker?
Ja, das Alterswerk, das dieser Band versammelt, ist sicher abgeklärter. Nicht umsonst taucht immer wieder das Bild der im Olymp thronenden griechischen Götter auf, aber die sind sich ja keineswegs einig, sie streiten und hadern und stiften Chaos. Und im vierten Kapitel, das Taiwan gewidmet ist, wird deutlich, dass die Insel nicht nur geologisch, sondern auch historisch/politisch in einer prekären Lage ist.
Wie übersetzt ihr? Fertigt Wang Jue zuerst eine Interlinear-Übersetzung an, die Susanne Hornfeck dann überarbeitet, oder wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen?
Ich würde mich allein nie an diese Texte heranwagen. Die Sprache changiert zwischen klassischem Chinesisch und naturwissenschaftlichen oder philosophisch abstrakten Begriffen, überall lauern Bezüge zu klassischer Lyrik. Erst in der bewährten Zusammenarbeit mit Wang Jue fühle ich mich da einigermassen sicher. Sie macht eine Interlinearversion, meist mündlich, die sie mir als mp3-Datei schickt, zusammen mit ihren erläuternden Kommentaren. Ich nehme mir dann den chinesischen Text vor und erstelle mit Hilfe ihrer Vorarbeit eine deutsche Fassung, die dann noch mehrmals hin- und hergeht. Oder wir telefonieren zu einzelnen Stellen. Leider wohnt sie nicht um die Ecke, sondern in Seattle. Zu diesem Punkt meldet sich auch Wang Jue zu Wort und verweist auf die drei Zielvorstellungen beim Übersetzen: 信 Verstehen und Treue zum Original, 達 die Gewandtheit des Ausdrucks und 雅 stilistische Eleganz. Für das erste fühlt sie sich zuständig, für die beiden letzten sieht sie mich in der Pflicht.
Was ist das Herausfordernde an Yang Mus Lyrik, was ist besonders schwierig? Wie entscheidet Ihr Euch, denn gerade bei Lyrik-Übersetzungen aus dem Chinesischen ist die Bandbreite möglicher Interpretationen enorm, das kann man auch in dem Band «19 Arten Wang Wei zu betrachten» von Eliot Weinberger nachlesen.
Wie schon gesagt, sein Vokabular ist komplex, die Zusammenhänge der oft sehr langen Perioden nicht immer leicht zu durchschauen. Da müssen erst mal die Bezüge geklärt werden. Im Deutschen muss man ja leider vieles «vereindeutigen», was im Chinesischen wunderbar vage bleiben kann. Gelegentlich habe ich Wang Jue mit Fragen wie «Wer spricht hier?» oder «Wo ist das Subjekt?» zur Verzweiflung getrieben. Und – du erwähnst das Bändchen von Eliot Weinberger – aus der Bandbreite des Interpretationsspektrums muss man sich für eine Lesart entscheiden. Wir versuchen dabei relativ eng am Text zu bleiben. Englische Übersetzungen lesen sich da oft flotter, tun sich – auch von der Sprachstruktur her – mit ihren praktischen Partizipialkonstruktionen leichter. Aber im Deutschen kann man nicht «schummeln», da muss man grammatikalisch «Farbe bekennen». Andererseits gibt es im Deutschen – darauf hat mich Wang Jue hingewiesen – die zusammengesetzten Hauptwörter, eine wunderbar kreative Form der Verknappung.
Yang Mu «Lange und kurze Balladen», Gedichte chinesisch – deutsch, iudicium, 2020, 143 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-86205-530-2
Ihr bittet im Nachwort von «Lange und kurze Balladen» um Nachsicht bei der Beurteilung Eurer Übersetzung und verweist auf die Schwierigkeiten beim Übersetzen chinesischer Lyrik, denn: «Was sich im Chinesischen elegant aneinanderreiht, muss im Deutschen in kausale und temporale Zusammenhänge gebracht werden. Wo das Chinesische auf ein Agens verzichten kann, braucht der deutsche Satz ein Subjekt.» Beide Bände, die Ihr übersetzt habt, sind zweisprachig erschienen. Scheut Ihr nicht die Reaktionen kritischer sinologischer Übersetzerkollegen oder jener, die des Chinesisch mächtig sind, die akribisch Original mit der Übersetzung vergleichen?
Natürlich macht man sich angreifbar, wenn der chinesische Text danebensteht. Und natürlich gibt es immer kritische Leser, die es besser zu wissen meinen, aber die müssen, wenn sie das Original anschauen, auch eingestehen, welch hohen Schwierigkeitsgrad diese Texte haben. Das Gedicht überhaupt zu verstehen, ist schon eine Herausforderung. Und wie gesagt, wir präsentieren hier unsere Lesart. Zweifellos gibt es andere. Weinberger spricht ja in seinem Buchtitel nicht umsonst vom «betrachten»; schon die Betrachtung kann sehr unterschiedlich sein, um wie viel mehr dann erst die Übersetzung. In jedem Fall ist es für den Leser eine Bereicherung, die chinesischen Zeichen im Blick zu haben. Wie knapp und elegant sie sind im Vergleich zu dem verbalen Aufwand, den wir betreiben müssen.
Werdet ihr weiter Gedichte von Yang Mu übersetzen, oder Euch vielleicht einem anderen Lyriker, einer Lyrikerin zuwenden?
Ja, nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Aber momentan sind wir erst mal glücklich erschöpft, das geschafft zu haben.
Die Fragen beantwortete Susanne Hornfeck in Absprache mit Wang Jue, die Fragen stellte Alice Grünfelder.
Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt Sri Lanka. Geschichten und Berichte(2014) und Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman Die Wüstengängerin (Verlag edition 8).
Susanne Hornfeck ist Germanistin und Sinologin. Sie lehrte fünf Jahre als Dozentin an der Universität Taipeh/Taiwan und arbeitet heute als Autorin und literarische Übersetzerin. Seit vielen Jahren leitet sie im Übersetzerhaus Looren bei Zürich englisch-deutsche Übersetzerwerkstätten für Jugendliche. Wang Jue stammt aus Shanghai, studierte in Taiwan klassische chinesische Literatur und war später in der Ostasiatischen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in München tätig. Heute lebt sie in Seatle und arbeitet als freiberufliche Beraterin für Museen und als literarische Übersetzerin.
Bibliografische Nachweise Yang Mu: «Patt beim Go». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 216 Seiten, A1-Verlag, 2002 Yang Mu: «Lange und kurze Balladen». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 142 Seiten, iudicium-Verlag, 2020
Christian Baron erzählt in seinem Debütroman „Ein Mann seiner Klasse“ von Armut, von seinem prügelnden Vater, seiner depressiven Mutter – und wie ihm der Aus- wie Aufstieg gelang.
Frank Keil
Von dort, was man ‚unten‘ nennt von Frank Keil
Doch, es gibt Lichtblicke. Es gibt Momente, in denen der Vater noch nicht so heillos betrunken ist, dass er hemmungslos um sich schlägt und seine Gewaltausbrüche keine Grenzen kennen. Helle Momente, in denen er vielleicht angetrunken ist, daher gut gelaunt, lustig gestimmt bald, zu Scherzen aufgelegt; wo er aus heiterem Himmel den einen oder anderen Geldschein springen lässt und dann können sich seine Kinder was kaufen, was sie grad wollen; dann umgarnt er seine Frau, auf charmante Art. Oder Momente, wo er seinem ältesten Sohn plötzlich sagt, der könne sein, wie er will, seinetwegen auch schwul – Hauptsache er sei auf das, was er sei, stolz. Richtig stolz. So wie auch sein Vater stolz auf sich sei, egal was die Nachbarn sagten oder die Polizei oder das Jugendamt. Es sind – wie gesagt – Lichtblicke. Meistens aber ist es dunkel. Sehr dunkel. Bis rabenschwarz.
Christian Baron kommt von dort, dass man „unten“ nennt, wenn man nicht von dort kommt; sondern von „oben“ oder – noch beliebter, weil unverfänglicher: „so aus der Mitte“. Er hat einen anderen Weg erst einschlagen können, nachdem das Jugendamt zugriff und dem Vater nach dem Tod seiner Frau die Kinder entzog. Er hat nicht nur die Schule abgeschlossen, er hat studiert und er ist Journalist geworden, Redakteur. Aktuell ist er beim Berliner „Der Freitag“ beschäftigt. Und als die Wochenzeitung eine Kulturbeilage zum Weltfrauentag produzierte, schreibt er für diese einen Essay: „Ganz egal, ob geprügelt und ob das Geld versoffen wurde: Ich wollte immer genau so werden wie mein Vater“, der Untertitel (www.freitag.de/autoren/cbaron/ein-mann-seiner-klasse). Die Literaturagentin Franziska Günther bekommt ihn in ihre Hände, und sie kontaktet Baron und schlägt ihm vor, genau darüber ein Buch zu schreiben. Und er setzt sich hin und schreibt seine Lebensgeschichte auf, und er hat sie vor allem literarisch geformt.
Die Kapitel heissen ZORN, GLÜCK, SCHMERZ und ÜBERRASCHUNG. Sie heissen SCHAM, STOLZ, ANGST, LIEBE, dann HASS und HOFFNUNG. Und das letzte Kapitel heisst ZWEIFEL. Jeweils in Grossbuchstaben.
Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, 2020, 288 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-546-10000-7
„Vom Laster gefallen“ murmelnd der Vater, wenn er von der Arbeit kommt und irgendetwas mit nach Hause bringt, was er sich sonst nicht leisten könnte, manchmal Spielzeug für die Kinder. Er ist kräftig und stark, der Vater, er arbeitet als Möbelpacker, der alles tragen kann, im doppelten Sinne des Wortes. Und er fürchtet sich nicht – und das hat seine guten, aber vor allem hat es seine schlechten Seiten. Von denen er durchaus weiß, die ihm nicht unbekannt sind. Dass er, der so stolz auf seine körperliche Arbeit ist, die er jeden Tag stemmt, genau davon nicht leben kann, macht die Wut aus, die ihn immer wieder packt. Hätte es einen Ausweg gegeben? Gibt es einen für einen wie ihn?
Baron, 1985 in Kaiserslautern geboren, erzählt die Geschichte seiner Kindheit einerseits gradlinig und direkt; andererseits wechselt er hin und wieder in sachte Rückblenden. Schaut sich zu wie er schaut, auf sich und seine Geschwister und die Eltern, damals. Ist aber auch unterwegs in der erzählerischen Gegenwart, sitzt dann mit seinem entsprechend erwachsenem Bruder zusammen und sie reden über das, was damals war; an das sie sich durchaus unterschiedlich erinnern, wie das so ist. Und im nächsten Moment geht es wieder zurück ins damalige Geschehen, mit einer Unmittelbarkeit, die einen packt, als sei man dabei. Im Schlechten wie im manchmal im Guten.
Und so ist sein Buch entsprechend auch keine blanke Abrechnung mit seinem Vater. Es ist kein hasserfülltes Buch, das ist es so gar nicht. Baron schreibt von dem, was damals war; schlüpft als erwachsener und als entsprechend distanzierungsfähiger Autor in die Sicht eines Kindes, dass sich seine Welt, in der es nun mal lebt, so erklären muss, dass das Leben in ihr aushaltbar bleibt. Und am besten mehr als das. Und er erzählt auch davon, dass es helfen kann, das Lebens (s)eines Vaters zu verstehen, was nichts damit zu tun hat, es zu entschuldigen oder zu billigen. Sondern: verstehen, um wichtiges für sich selbst zu erfahren. Etwa: Warum man seinen Vater, der einen schlägt, trotzdem liebt. Das es kein entweder/oder ist, als Kind. Und später dann auch nicht mehr.
Wobei wir bei alledem nicht im luftleeren Raum bleiben, sozusagen. Es gibt schliesslich auch Nachbarn, die wegschauen oder die mal gegen die Wand hauen, wenn es drüben in der kleinen Wohnung drunter und drüber geht und sie der Lärm stört. Es gibt Mitschüler, die dem Erzähler immer wieder klar machen, dass er unter ihnen nichts zu suchen hat; dass er wieder dort hingehen soll, wo er herkommt. Und dass er dort zu bleiben hat. Auch davon erzählt Baron.
Und es gibt starke Frauenfiguren, offenbar im Leben wie erst recht im Buch. Die Mutter etwa, die in ihren Jugendjahren Gedichte schrieb – und es gibt eine Szene, in denen ein Lehrer diese Gedichte vor der versammelten Klasse verhöhnt und die nun sichtbare Brutalität steht in nichts dem nach, was ihr Mann später mit ihr anrichtet, wenn er ihren Kopf greift und zuschlägt. Gewalt – auch davon erzählt Baron – sind nicht nur Schläge. Man kann auch einen Menschen niederschlagen, ohne ihn zu berühren.
Und es gibt die Tante, die zu retten versucht, was noch zu retten ist: ihre Schwester, die immer wieder in tagelange Depressionen versinkt und dann das Bett nicht verlässt; die Kinder, die in dem Wechselspiel von unerwarteter Zuneigung und plötzlich ausbrechender Gewalttätigkeit unterzugehen drohen. Wie soll man das auch verstehen, dass mit einem Mal wieder alles ganz anders wird?
Es sind denn auch immer wieder die hoffnungsvoll aufscheinenden Momente, die einen durch die Lektüre leiten und die davon erzählen, dass Menschen auch in Momenten großer Bedrängnis versuchen sich ihre Freiräume zu sichern und seien es noch so weniger: Die Mutter tanzt hingebungsvoll zur Musik der Kelly Family. Mit dem Vater spielen die beiden Jungs eine Runde Super Mario auf der Konsole, die rein zufällig vorher vom Laster gefallen ist. Und gelegentlich taucht auch ein ganz feiner Humor auf; der Humor der vordergründig Unterlegenen, die nicht daran denken, dass sie klein beigeben; die darauf bestehen, dass auch ihr Leben eine eigene Würde und immer auch Geschichte hat.
Ja, es gab Momente, in denen sass man gerne mit dem Erzähler, seinen drei Geschwistern und der Mutter in der kleinen Küche und schaute zu, was sich ergab; hörte zu, was gesprochen wurde, was gescherzt. Und wenn der Vater hinzukam, dann war das zuweilen auch okay. Eher selten, eigentlich fast nie. Aber manchmal eben doch. Und genau diese Momente versucht der Autor zu bewahren. Auch um sich zu retten, vielleicht bis heute.
Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschlandsowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.
Das Harbour Front Literaturfestival vergibt den Klaus-Michael Kühne-Preis zum elften Mal an das beste Romandebüt des Jahres. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis soll junge Literatur fördern und deren Bedeutung unterstreichen.
Die Mitglieder der Hauptjury – Felix Bayer (Spiegel), Stephanie Krawehl (Buchhandlung Lesesaal), Stephan Lohr (NDR Kultur a.D.), Maximilian Probst (Zeit) und Meike Schnitzler (Brigitte) – begründen ihre Entscheidung für Christian Baron und seinen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ (Claassen) wie folgt:
„In seinem autobiografisch angelegten literarischen Debüt «Ein Mann seiner Klasse» beschreibt Christian Baron auf sehr eindrückliche Art das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie in Armut. Die Jury hat besonders überzeugt, dass die Leserinnen und Leser in ein Milieu geführt werden, das oft nur als statistische Grösse auftaucht. Hier bekommt diese Welt eine Stimme und das in einer literarisch klug gestalteten Weise. Christian Baron verzichtet auf Klischees und ideologische Zuordnungen. Vielmehr entlarvt er die Muster gesellschaftlicher Kategorisierungen und überzeugt durch die Bestandsaufnahme eines Lebens mit einem stets betrunkenen und prügelnden Vater und einer depressiven und früh an Krebs gestorbenen Mutter – Mit allem Schrecken, mit allem Schmerz, aber auch mit den Momenten von Stolz und Glück.“
Eine Chronik ist eine geschichtliche Prosadarstellung, die die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge geordnet darstellt. Die österreichische Autorin Melitta Breznik (Jahrgang 1961) gibt ihrem neuen Roman «Mutter» den vielsagenden Untertitel «Chronik eines Abschieds». Geordnet, aber keineswegs emotionslos erzählt sie über das langsame Sterben der eigenen Mutter.
Gastbeitrag von Cornelia Mechler
Die Mutter wohnt in einer Kleinstadt in der Steiermark. Die Autorin, die auch als Ärztin in der Schweiz tätig ist, reist an, um die Mutter auf ihrer letzten Reise nicht allein zu lassen. «Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.» Und so vergehen mehrere Wochen, intensive Stunden und Tage, in denen die Autorin in nüchterner Sprache die Veränderungen beschreibt, die sie sowohl an ihrer Mutter als auch an sich selbst wahrnimmt. Die Berichte über den jeweils tagesaktuellen Gesundheits- und Gemütszustand der Mutter gleiten in Erinnerungen ab. Eine Familiengeschichte wird erzählt, die bis zu den beiden Weltkriegen zurückreicht. Die Mutter verlor einen ihrer beiden Söhne – er starb mit nur 18 Jahren an einem Hirntumor. Dieser Verlust prägt alle übrigen Familienmitglieder, auch wenn die Autorin selbst zum Zeitpunkt des Todes noch ein kleines Kind ist. Es tauchen Fragen nach Schuld und Vergebung auf, und nach dem, was bleibt, wenn jemand stirbt.
Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand, 2020, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87506-4
Deutlich tritt auch ein weiterer, noch immer nicht abgeschlossener Konflikt zutage: Einst zwang die Mutter die damals 17-jährige Tochter zu einer Abtreibung… Das Gegengewicht zu diesen noch immer aktiven «Gespenstern der Vergangenheit» findet sich in Beschreibungen von persönlichen, ja intimen Momenten der Zweisamkeit einer im Sterben begriffenen Mutter und ihrer Tochter, die ihr – den einstigen Ereignissen zum Trotz – liebevoll zugetan ist. «Als sie mir gute Nacht wünschte, lehnte sie mit Tränen in den Augen in den Kissen. Die Tage mit mir seien traurig, aber auch schön. Dann fiel sie zufrieden in einen stillen Schlaf.»
Man leidet als Leserin schmerzhaft mit bei all den Versuchen der Autorin, es der Mutter recht zu machen, ihr ein würdiges Ende vorzubereiten. Auch die alltagspraktischen und medizinischen Schwierigkeiten einer Sterbebegleitung werden nicht ausgelassen. «Die schnelle Wirkung der Tablette verblüfft mich, und gleichzeitig frage ich mich, ob es richtig ist, Mutter mit einem Medikament davon abzuhalten, ihren Sohn zu suchen, Vielleicht hätte sie ihn ja gefunden, wie er sie im Jenseits erwartet, ihr seine Hand reicht.» Irgendwann ist die Grenze des Erträglichen für die Autorin erreicht. Die körperliche und seelische Erschöpfung lässt sie nach mehr Hilfe von aussen suchen. Eine Pflegerin unterstützt sie folglich in den letzten Wochen, in denen die Mutter zu einem Schatten ihrer selbst wird.
Gewiss: Es existieren bereits einige gute Bücher, die sich mit der Thematik des langsamen Abschieds von einem Elternteil beschäftigen – man denke beispielsweise an Michael Lentz’ «Muttersterben2 (2002) oder an Arno Geigers «Der alte König in seinem Exil» (2010). Melitta Brezniks Buch beeindruckt vor allem durch die gekonnte Darstellung der schwierigen Selbstpositionierung der Autorin. Sie ist Tochter, sie ist Ärztin und sie ist die Pflegerin der eigenen Mutter. Mal verliert sie sich fast sehnsuchtsvoll in den Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit der Mutter, mal beschreibt sie in einer vom ärztlichen Fachjargon geprägten Sprache ihre Hilfsmassnahmen für die sterbenskranke alte Frau. Eine schonungslose Ehrlichkeit durchdringt diesen tiefgründigen Roman, für Beschönigungen ist keine Zeit mehr.
«Es ist später als Du denkst», diese Inschrift eines Marmorsteins in Lass in Südtirol steht dem Buch als Motto voran. Unerbittlich konfrontiert uns die Autorin mit der Frage, wie wir selbst dem Tod begegnen möchten. Das Auf und Ab der Emotionen wird sich nicht vermeiden lassen. Aber es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass man auch mit dem unausweichlichen Verlust eines nahen Menschen seinen Frieden machen kann. Ein grosser Roman – trotz eher geringem Seitenumfang.
Melitta Breznik, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in der Schweiz im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: «Nachtdienst» (Erzählung 1995), «Figuren» (Erzählungen 1999), «Das Umstellformat» (Erzählung 2002), «Nordlicht» (Roman 2009), «Der Sommer hat lange auf sich warten lassen» (Roman 2013).
Es geht nicht immer gut aus. Manchmal ist es wenigstens knapp. Oder es steht noch nicht fest, ob sich die Sache nicht doch noch zum Guten wendet. Wie bei Bederitzky, dem Taxifahrer, der nachts unterwegs ist, weil es sich dann wenigstens ein bisschen lohnt im Gegensatz zu tagsüber, wo es sich nicht mehr lohnt. Und in dessen Taxi wir immer wieder lesend einsteigen, der uns so durch eine Berliner Nacht führt wie fährt, durch den Prenzlauer Berg, durch Charlottenburg, durch Berlin Mitte und all die Strassen dazwischen. Also, wenn neben oder hinter ihm ein Fahrgast sitzt.
Frank Keil
Stimmt so. von Frank Keil
Willkommen in Berlin – der, wenn man als Deutscher ehrlich ist – einzigen Grossstadt Deutschlands, wenn man mehr erwartet, als nur eine grosse Stadt. Und versprochen ist ein Berlin-Roman und das ist jetzt eine ganz hohe Hürde, die da genommen werden will; ist ein heikles Versprechen. Aber Thorsten Nagelschmidt schafft es, leitet er uns doch mit leichter Hand, klarem Blick und einer wortwörtlichen Unermüdlichkeit in seinem rasant-brachial-empfindsamen Roman „Arbeit“ durch die Berliner Nacht und stellt uns deren Bewohner vor: die einen schlafen, aber die anderen arbeiten. Arbeiten, damit die anderen schlafen können. Ob es sich für sie lohnt, also für die, die arbeiten? Finden sie wenigstens ein bisschen Glück?
Und dazu wieder eingestiegen bei Bederitzky (der eigentlich aus der DDR stammt, diesem anderen deutschen Staat, also, als es ihn noch gab, fest und unwidersprochen, nicht, als er schon sinnbildlich in Trümmern lag, wie wir noch erfahren werden und der auf den Vornamen Heinz-Georg hört, Heinz-Georg Bederitzky). Dabei ist gerade – Funkstille; Pause, niemand will mit, niemand will irgendwohin und Bederitzky ist dennoch unterwegs. 60 Minuten kurvt er bereits durch die Stadt, fährt durch Kreuzberg und Neukölln, schaut und sucht, aber niemand braucht ihn und dann will doch einer mit. Steigt dazu ein, riecht nach Parfüm, viertel nach Zwölf ist es auf der Uhr. Und wo will er hin, der parfümierte Fahrgast, mit einem Stück Pizza vom Pizzaschnellimbiss in der Hand? Eine weite Strecke, eine lange Strecke soll es werden. Nach Halle an der Saale, weil Zugausfall. Halle an der Saale, sieh‘ an, denkt sich Bederitzky, da warst du lange nicht mehr.
Und auch endlich eine Fahrt durch die Nacht, die lohnt, aber so richtig, denkt er. Und dann klingelt Bederitzkys Telefon, Freisprechanlage, versteht sich. Anna ist dran, seine Liebste, die einen der legendären und besonders bei Touristen so beliebten Späti betreibt, dabei hatte sie in diesem Leben eigentlich was anderes vor, als hinter dem Tresen eines Spätverkaufs bis eben spät zu stehen, aber was will man machen. Und nun zum zweiten Mal in diesem Jahr überfallen, von so einem Bubi, einem Jugendlichen mit einem Messer, ein halbes Kind noch, aber Überfallen ist nun mal Überfallen. Sie bräuchte jetzt seine starke Schulter, selbst wenn die nicht stark ist, Hauptsache Schulter, seine. Aber er hat doch jetzt einen Bord, der nach Halle an der Saale will, für 350 Euro, immer geradeaus. Soll er den raussetzen? Und Anna schreit ins Telefon, bricht das Gespräch ab, sie wird sich schon wieder beruhigen, aber was, wenn nicht?
Ein Kapitel heißt: Sag jetzt nichts. Ein Kapitel heisst Zwölf Stunden sind kein Tag. Ein anderes hört auf den Namen Wenn’s um Geld geht Arschkarte.
Thorsten Nagelschmidt «Arbeit», S. Fischer, 2020, 336 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397411-9
So fahren wir durch die Nacht, sind mal kurz und dann mal länger bei Bederetzky ausgestiegen, keine Sorge: man trifft sich wieder. Lernen Leute kennen, die zur Nacht gehören wie die Nacht zu diesen Leuten. Felix etwa, 39 Jahre jung. Der Drogen vertickt, aber selbst keine nimmt, also er hat sich vorgenommen, dass er besser die Finger lässt von all dem Zeug, dass er da verkauft, seine Wohnung ein Drogenumschlagplatz und was sind das immer für Typen, die bei ihm in der Küche sitzen und schon mal probieren, was sie kaufen wollen oder gekauft haben in grösseren Mengen, wieso gehen die nicht wieder, wieso quatschen die sich immer fest und hocken auf seinen Küchenstühlen wie angeklebt und haben beste Laune, während seine immer schlechter wird?
Wir lernen Marcela kennen, die sich in Berlin ein besseres Leben erträumt als daheim in Kolumbien und die per Fahrrad Essen ausliefert für die, die keine Lust zum Kochen haben und keine Lust zum Einkaufen oder gleich beides, und es ist doch irre praktisch, da gibt es so eine App, da tippt man was ein und dann kommt Marcela und bringt das Gewünschte (Sushi, Italienisch, vielleicht auch was vom Spanier), hoffentlich dauert es nicht so lange und ist noch warm. Wir lernen Tanja kennen, die Rettungssanitäterin, die neben dem Studium jobbt, dabei müsste sie lernen ohne Ende, denn was studiert sie, Medizin natürlich. Weshalb sich Tarek, ihr Kollege, mehr als Sorgen macht, wie sie das schaffen soll, nachts arbeiten, tagsüber studieren und dazwischen noch lernen, das funktioniere doch nicht, sagt er ihr immer wieder, während sie unterwegs sind, mit Sondersignal, um zu retten, was noch zu retten ist, aber Tanja will das nicht hören, was wäre denn die Alternative und überhaupt: Was will Tarek von ihr? Doch nicht etwa? Oh, je! Und noch immer ist die Nacht nicht zu Ende, so eine Nacht ist lang, sie ist verdammt lang. Besonders für die, die arbeiten müssen, für die, die nicht wissen, wohin sonst.
Nagelschmidt (der gleichzeitig Musiker der Berliner Band „Muff Potter“ ist) geht nah heran, er bleibt seinen Protagonisten nah, er verlässt sie nicht und er verrät sie nicht. Egal, wie schräge sie drauf sind, wie seltsam sie mit sich umgehen und wie mit anderen, er will wissen, wie es ihnen geht und er will erkunden, warum sie tun, was sie tun und wie es ihnen dabei geht. Und er schaut nicht von oben herab auf sie herunter, er ist in einem fast schon christlichen Sinne bei ihnen, wobei man das „fast“ ruhig streichen kann.
Und das alles drückt sich auch in seiner Sprache aus: direkt, schnörkellos, alltagsnah und manchmal fast protokollhaft. Schnelle, kurze Sätze, viele und vor allem gute und sehr Dialoge. Ein stetes Ineinanderfliessen von Beobachtetem, Kommentiertem und dem, was im Moment geschieht, während die verschiedenen Protagonisten und Helden, von vielleicht Gewinnern und vielleicht Verlierern sich in dieser einen Nacht begegnen, mit einander sprechen, manchmal auch kreuzen sich nur kurz ihre Wege, ohne dass ein Wort fällt. Und nie ist der Autor derbe dabei oder obszön oder künstlerisch aufgeladen tabuverletzend, wie das oft genug vorkommt, wenn da ein Schreibender aus besserem Stall sich mal auf die Strasse wagt oder das, was er für die Strasse hält. Und dann so richtig vom Leder zieht, weil es ihm gut tut, egal, was die Menschen, über die da einer schreibt und die einer schreibend erfasst, damit anfangen können und ob es ihnen hilft oder ob es ihnen wenigstens ihre Würde lässt.
Und nicht zuletzt ist „Arbeit“ ein hochpolitischer Roman. Er fragt danach, wer des Nachts den Laden am Laufen hält, wie es heute auf neudeutsch heisst. Wer zahlt den Preis? Wer macht den Rücken krumm und macht doch immer weiter? Wer bringt uns von A nach B, wer passt auf uns auf, wer stellt im Spätverkauf rechtzeitig den Sekt kalt, damit kalter Sekt da ist, wenn uns nach kaltem Sekt ist, wer räumt den Dreck weg, die Scherben, den Müll, die Absperrbänder, rund um die Uhr und eben nachts, wenn es zwischendurch mehr als tiefdunkel ist – es ist eine nur sehr begrenzt romantische Welt, diese Nacht, für die, die dann arbeiten müssen, was immer sie auch tun und auch für die, die wenigstens in der Nacht ein wenig Halt und Schutz und Orientierung finden und haben, wenn es hell wird, wird für sie die Welt nicht unbedingt besser.
Ach ja: Ein Kapitel heisst Stimmt so. Eine Floskel, die man sich abgewöhnen sollte, dringend.
Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 im Münsterland, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher «Wo die wilden Maden graben» (2007), «Was kostet die Welt» (2010) und «Drive-By Shots» (2015). Zuletzt ist von ihm der Roman «Der Abfall der Herzen» (2018) erschienen. Thorsten Nagelschmidt lebt in Berlin und veranstaltet dort die Lesereihe «Nagel mit Köpfen».
Alice Grünfelder ist (noch) in Taiwan auf Spurensuche und schickte ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Diesmal, zum letzten Mal, versuchte sie es wieder mit Briefmarke und Stempel. Erfolglos. Dafür wieder digitanolog!
Taiwan – zum Letzten: Eine Teeaffäre: Der Alte thront vor dem Teegeschirr gießt Wasser vom Kännchen ins Schälchen klopft den Wasserhahn gerade das Wasser fließt über die Sonne geht auf, aber zu spät, wir sehen nur noch, wie sie sich über den Drachenrücken schiebt und in Wolken verschwindet er lächelt dazu und zieht erst die Augenbrauen in seinem Gesicht hoch runzligkantig, als wir ihm von einer Schlange erzählen.
Design und Typo: Hsuan Liang Lin
Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).