Die Schweizer Literatur ist ein einziges Kleinod! Für die Abrundung dieser Würdigung braucht es dann noch die Begriffe pingelig, verschmitzt-kindlich und unschuldig-intellektuell. Die ideale Erzählposition für die Schweizer Literatur ist immer noch das Traumpaar Heidi-Oheim. Die eine fragt klug, und der andere antwortet altklug.
Gastbeitrag von Helmut Schönauer, Innsbruck
Urs Heinz Aerni ist ein Buchbesessener, der mit Händen und Füssen Themen zusammenträgt, um daraus ein Buch zusammenzustellen. Seine Genre-Beschreibung für dieses Tun nennt er «eine Art Feuilleton oder Sammelsurium als Buch». Da Literatur zudem überall auftreten kann, wird man ihrer nur Herr, wenn man mit ihr eine Lesereise plant. «Lugano – Konstanz» ist also eine Art Fahrplan für Lektüre. Aufregend, dass dabei das stille Leseörtchen Innsbruck dabei ist.
Einem Buchfan macht es nichts aus, wenn man die angebotenen Bücher mit starken Wörtern auffrisiert, ja selbst das Klischee nimmt er in Kauf, wenn dadurch jemand ins Innere eines Buches gelockt werden kann. Auch hier gilt die kluge Schweizer Tugend: Promotion darf wie ein Schweizermesser alles, wenn dadurch ein überdimensioniertes Ganzes in menschlich kleine Portionen zerlegt werden kann.
Urs Heinz Aerni hat gewissermassen eine eigene Literaturform erfunden. Es handelt sich dabei um einen essayistischen Kurzimpuls, der verlässlich in einen Buchtipp mündet. «Wann immer der Vortragende vorne den Mund aufmacht, kommt hinten ein Buch heraus», lachen die Kenner seiner Vorgehensweise.
Urs Heinz Aerni «Lugano – Konstanz. Mit Umwegen nach Innsbruck, Lenzerheide, Nonnenhorn und…», 2020, 154 Seiten. EUR 14.90, ISBN 978-3-9504833-3-8.
Öffentliches Telefonieren, Gespräche bei einer Zugspanne, Orientierungslosigkeit in einer Grossbuchhandlung, Nebenbemerkungen zu einem Jazzabend oder Suche nach einem verlorenen Buchstaben: Eine Begebenheit kann im Sinne Robert Walsers nicht klein genug sein, dass sich nicht daraus jene feine Stimmung komponieren liesse, mit der im Herbst ein Blatt zu Boden segelt. Diese ‘Verniedlichungsmethode’ hat den Vorteil, dass auch grosse Unglücke dadurch erträglich werden und Menschen unterschiedlichsten Charakters miteinander ins Gespräch kommen. Denn sollte der Diskurs nicht in Gang kommen, ist bei der Kleinheit des Themas nichts verloren.
Mit diesem Denkansatz unterscheidet sich der Autor vehement von den germanistischen Grossanalysten, die immer erst eine Stunde lang Hegel oder Heidegger zitieren, ehe dann daraus ein Sprachproblem herausgefiltert wird, dass verlässlich nichts mit der Menschheit zu tun hat. Innsbruck kommt durch diese Zuneigung des Büchernarren zu einer Würdigung, die seiner intellektuellen Grösse entspricht. Der Autor zitiert nämlich: «Soeben komme ich zurück aus Innsbruck!» Dann hört man nichts mehr von der Stadt. Es wirkt, als sei der Autor froh, daraus entflohen zu sein, um wieder etwas Vernünftiges denken zu können. «Digitales Grüssen» etwa, mit passendem Buchtipp.
An seine Grenzen kommt der Schweizer Allrounder freilich, als er dem Witz etwas Positives abgewinnen soll. Ein Buch namens «Soll das ein Witz sein?» bringt Aerni an den Rand des Gelächters. Er versucht, den Witz für die Schweiz zu retten, indem er ihn zur Kunst erklärt. In einem Bonus-Track gibt es Ausschnitte aus früheren Archiven. Als ob Archive nicht immer früher angelegt sein müssten, die Zukunftsarchive wären nämlich für die Literaturbranche ziemlich harte Kost. Aus der Vergangenheit werden einige Interviews hervorgeholt, worin die längst verstummten Autoren um die Jahrhundertwende herum noch einmal eine Stimme kriegen, ehe dann der hintere Buchdeckel kommt und alles verstummen lässt.
«Aerni: So sitze ich nun mit zwei Dinosauriern hier am Tisch. Thomas Hettche: Dass Sie hier so ein Gespräch aufzeichnen, das länger als zwei Minuten dauert, qualifiziert Sie auch als Dinosaurier.» Schreiben als Verlangsamung des Lebens! Und die finale Erkenntnis des Urs Heinz Aerni: Bücher, die nicht gelesen werden, sind so, wie wenn sie nicht da wären.
Helmut Schönauer wurde 1953 geboren und lebt heute als Autor und Dramatiker in Innsbruck.
Taiwans lyrische Welt ist vielfältig, Lyrik hat einen höheren Stellenwert, wird mehr gelesen, auch von Jüngeren, als hierzulande. Und fällt der Name Yang Mu, nickt man dazu: Die Anerkennung ist einhellig. Er gilt als erster Dichter von Rang, der seine taiwanische Herkunft und Identität in seinen Gedichten anklingen lässt, aber auch die damit einhergehende Zerrissenheit wie beispielsweise in dem Gedicht «Jemand fragt mich nach Gerechtigkeit».
von Alice Grünfelder
Neben Gedichten, für die er nicht nur in Taiwan bekannt ist, schrieb Yang Mu auch Essays (beispielsweise in «Die Spinne, das Silberfischchen und ich), ebenfalls übersetzt von Susanne Hornfeck und Wang Jue. Im März veröffentlichte die Taipei Times einen Nachruf auf Yang Mu, nachdem er im Alter von 79 Jahren nach Herz- und Lungenbeschwerden im Krankenhaus starb. Eine seiner Lebensfragen hängt seither über meinem Schreibtisch: «How to get involved without being swallowed?»
Seit 1995 setzt Ihr Euch mit dem Werk Yang Mus auseinander – weil er als bedeutendster Lyriker Taiwans gilt?
Ja, wir beschäftigen uns schon lange mit dem Autor, haben sowohl Lyrik (Patt beim Go 2002) als auch Essays („Norden“, in Neue Sirene 1995, und «Die Spinne, das Silberfischchen und ich» 2013) von ihm übersetzt und finden ihn auch deshalb so spannend, weil in seinem Werk so vieles zusammenkommt: die Tradition der chinesischen Poesie, die westliche klassische Moderne und die Einflüsse seiner taiwanischen Heimat. Tilman Spengler hat in seinem Nachruf geschrieben, wir sollten ihn in Erinnerung behalten «als einen Bewahrer der Kunst des Gesangs, von ihren Ursprüngen in China und Griechenland, seinen chinesischen Vorläufern so nahe wie den Griechen, den amerikanischen Zeitgenossen – oder dem jungen Hölderlin». Besonders froh sind wir, dass er die Nachricht von der deutschen Veröffentlichung seines letzten Gedichtbands – die erste vollständige Übersetzung in eine westliche Sprache – noch freudig zur Kenntnis nehmen konnte. Das fertige Produkt hielt er leider nicht mehr in Händen, aber am 5. September 2020 findet in der Nationalbibliothek Taipeh eine Gedenkveranstaltung statt, bei der Wissenschaftler und Weggefährten an ihn erinnern. Da wird unser Band dann auch aufliegen.
Die lyrische Welt im früheren Band «Patt beim Go» ist zugänglicher als die «Balladen», andererseits finde ich die neun Variationen über die Zittermelodie «Baldige Heimkehr» von Han Yu äussert reizvoll und gelungene Übersetzungen. Wie seid Ihr bei der Auswahl der Gedichte vorgegangen, die Ihr übersetzt habt?
«Patt beim» Go war eine Auswahl, wir haben dabei aus zahlreichen Gedichtsammlungen der Jahre 1969 bis 2000 geschöpft. Wir haben versucht, möglichst repräsentative Texte auszuwählen, aber natürlich springen einen jene an, die einem besonders nahe gehen, in die man sich gut hineindenken kann. Das ist sicher ein Grund, warum die Texte in dieser Auswahl «zugänglicher» wirken. Den Band «Lange und kurze Balladen» haben wir komplett übersetzt. Das heisst, wir mussten uns auch den Gedichten stellen, die für uns schwierig und zunächst unverständlich waren. Die «Variationen» mit ihrem wunderbaren Motto von Han Yu (768–824) sind sicher eines der leichter zugänglichen Kapitel, sie sind von der Länge her überschaubar und beschäftigen sich meist mit konkreten sinnlichen Erfahrungen.
Hat die zunehmende Verschlossenheit seiner Gedichte vielleicht auch etwas mit dem Alter zu tun? Einmal erscheint Yang Mu alterweise und wie die griechischen Götter aus der Ferne auf eine Vergangenheit zu schauen, dann wieder zur Verzweiflung getrieben wegen der «Wirkung der endlos sich dehnenden Zeit». Denke ich z.B. an das Gedicht «Vor den Panzern», das Yang Mu dem Tankmann auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewidmet ist, so muten die Gedichte in «Balladen» fast schon ätherisch an. Vom kritischen Kommentator zum feingeistigen metaphysischen Denker?
Ja, das Alterswerk, das dieser Band versammelt, ist sicher abgeklärter. Nicht umsonst taucht immer wieder das Bild der im Olymp thronenden griechischen Götter auf, aber die sind sich ja keineswegs einig, sie streiten und hadern und stiften Chaos. Und im vierten Kapitel, das Taiwan gewidmet ist, wird deutlich, dass die Insel nicht nur geologisch, sondern auch historisch/politisch in einer prekären Lage ist.
Wie übersetzt ihr? Fertigt Wang Jue zuerst eine Interlinear-Übersetzung an, die Susanne Hornfeck dann überarbeitet, oder wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen?
Ich würde mich allein nie an diese Texte heranwagen. Die Sprache changiert zwischen klassischem Chinesisch und naturwissenschaftlichen oder philosophisch abstrakten Begriffen, überall lauern Bezüge zu klassischer Lyrik. Erst in der bewährten Zusammenarbeit mit Wang Jue fühle ich mich da einigermassen sicher. Sie macht eine Interlinearversion, meist mündlich, die sie mir als mp3-Datei schickt, zusammen mit ihren erläuternden Kommentaren. Ich nehme mir dann den chinesischen Text vor und erstelle mit Hilfe ihrer Vorarbeit eine deutsche Fassung, die dann noch mehrmals hin- und hergeht. Oder wir telefonieren zu einzelnen Stellen. Leider wohnt sie nicht um die Ecke, sondern in Seattle. Zu diesem Punkt meldet sich auch Wang Jue zu Wort und verweist auf die drei Zielvorstellungen beim Übersetzen: 信 Verstehen und Treue zum Original, 達 die Gewandtheit des Ausdrucks und 雅 stilistische Eleganz. Für das erste fühlt sie sich zuständig, für die beiden letzten sieht sie mich in der Pflicht.
Was ist das Herausfordernde an Yang Mus Lyrik, was ist besonders schwierig? Wie entscheidet Ihr Euch, denn gerade bei Lyrik-Übersetzungen aus dem Chinesischen ist die Bandbreite möglicher Interpretationen enorm, das kann man auch in dem Band «19 Arten Wang Wei zu betrachten» von Eliot Weinberger nachlesen.
Wie schon gesagt, sein Vokabular ist komplex, die Zusammenhänge der oft sehr langen Perioden nicht immer leicht zu durchschauen. Da müssen erst mal die Bezüge geklärt werden. Im Deutschen muss man ja leider vieles «vereindeutigen», was im Chinesischen wunderbar vage bleiben kann. Gelegentlich habe ich Wang Jue mit Fragen wie «Wer spricht hier?» oder «Wo ist das Subjekt?» zur Verzweiflung getrieben. Und – du erwähnst das Bändchen von Eliot Weinberger – aus der Bandbreite des Interpretationsspektrums muss man sich für eine Lesart entscheiden. Wir versuchen dabei relativ eng am Text zu bleiben. Englische Übersetzungen lesen sich da oft flotter, tun sich – auch von der Sprachstruktur her – mit ihren praktischen Partizipialkonstruktionen leichter. Aber im Deutschen kann man nicht «schummeln», da muss man grammatikalisch «Farbe bekennen». Andererseits gibt es im Deutschen – darauf hat mich Wang Jue hingewiesen – die zusammengesetzten Hauptwörter, eine wunderbar kreative Form der Verknappung.
Yang Mu «Lange und kurze Balladen», Gedichte chinesisch – deutsch, iudicium, 2020, 143 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-86205-530-2
Ihr bittet im Nachwort von «Lange und kurze Balladen» um Nachsicht bei der Beurteilung Eurer Übersetzung und verweist auf die Schwierigkeiten beim Übersetzen chinesischer Lyrik, denn: «Was sich im Chinesischen elegant aneinanderreiht, muss im Deutschen in kausale und temporale Zusammenhänge gebracht werden. Wo das Chinesische auf ein Agens verzichten kann, braucht der deutsche Satz ein Subjekt.» Beide Bände, die Ihr übersetzt habt, sind zweisprachig erschienen. Scheut Ihr nicht die Reaktionen kritischer sinologischer Übersetzerkollegen oder jener, die des Chinesisch mächtig sind, die akribisch Original mit der Übersetzung vergleichen?
Natürlich macht man sich angreifbar, wenn der chinesische Text danebensteht. Und natürlich gibt es immer kritische Leser, die es besser zu wissen meinen, aber die müssen, wenn sie das Original anschauen, auch eingestehen, welch hohen Schwierigkeitsgrad diese Texte haben. Das Gedicht überhaupt zu verstehen, ist schon eine Herausforderung. Und wie gesagt, wir präsentieren hier unsere Lesart. Zweifellos gibt es andere. Weinberger spricht ja in seinem Buchtitel nicht umsonst vom «betrachten»; schon die Betrachtung kann sehr unterschiedlich sein, um wie viel mehr dann erst die Übersetzung. In jedem Fall ist es für den Leser eine Bereicherung, die chinesischen Zeichen im Blick zu haben. Wie knapp und elegant sie sind im Vergleich zu dem verbalen Aufwand, den wir betreiben müssen.
Werdet ihr weiter Gedichte von Yang Mu übersetzen, oder Euch vielleicht einem anderen Lyriker, einer Lyrikerin zuwenden?
Ja, nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Aber momentan sind wir erst mal glücklich erschöpft, das geschafft zu haben.
Die Fragen beantwortete Susanne Hornfeck in Absprache mit Wang Jue, die Fragen stellte Alice Grünfelder.
Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt Sri Lanka. Geschichten und Berichte(2014) und Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman Die Wüstengängerin (Verlag edition 8).
Susanne Hornfeck ist Germanistin und Sinologin. Sie lehrte fünf Jahre als Dozentin an der Universität Taipeh/Taiwan und arbeitet heute als Autorin und literarische Übersetzerin. Seit vielen Jahren leitet sie im Übersetzerhaus Looren bei Zürich englisch-deutsche Übersetzerwerkstätten für Jugendliche. Wang Jue stammt aus Shanghai, studierte in Taiwan klassische chinesische Literatur und war später in der Ostasiatischen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in München tätig. Heute lebt sie in Seatle und arbeitet als freiberufliche Beraterin für Museen und als literarische Übersetzerin.
Bibliografische Nachweise Yang Mu: «Patt beim Go». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 216 Seiten, A1-Verlag, 2002 Yang Mu: «Lange und kurze Balladen». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 142 Seiten, iudicium-Verlag, 2020
Christian Baron erzählt in seinem Debütroman „Ein Mann seiner Klasse“ von Armut, von seinem prügelnden Vater, seiner depressiven Mutter – und wie ihm der Aus- wie Aufstieg gelang.
Frank Keil
Von dort, was man ‚unten‘ nennt von Frank Keil
Doch, es gibt Lichtblicke. Es gibt Momente, in denen der Vater noch nicht so heillos betrunken ist, dass er hemmungslos um sich schlägt und seine Gewaltausbrüche keine Grenzen kennen. Helle Momente, in denen er vielleicht angetrunken ist, daher gut gelaunt, lustig gestimmt bald, zu Scherzen aufgelegt; wo er aus heiterem Himmel den einen oder anderen Geldschein springen lässt und dann können sich seine Kinder was kaufen, was sie grad wollen; dann umgarnt er seine Frau, auf charmante Art. Oder Momente, wo er seinem ältesten Sohn plötzlich sagt, der könne sein, wie er will, seinetwegen auch schwul – Hauptsache er sei auf das, was er sei, stolz. Richtig stolz. So wie auch sein Vater stolz auf sich sei, egal was die Nachbarn sagten oder die Polizei oder das Jugendamt. Es sind – wie gesagt – Lichtblicke. Meistens aber ist es dunkel. Sehr dunkel. Bis rabenschwarz.
Christian Baron kommt von dort, dass man „unten“ nennt, wenn man nicht von dort kommt; sondern von „oben“ oder – noch beliebter, weil unverfänglicher: „so aus der Mitte“. Er hat einen anderen Weg erst einschlagen können, nachdem das Jugendamt zugriff und dem Vater nach dem Tod seiner Frau die Kinder entzog. Er hat nicht nur die Schule abgeschlossen, er hat studiert und er ist Journalist geworden, Redakteur. Aktuell ist er beim Berliner „Der Freitag“ beschäftigt. Und als die Wochenzeitung eine Kulturbeilage zum Weltfrauentag produzierte, schreibt er für diese einen Essay: „Ganz egal, ob geprügelt und ob das Geld versoffen wurde: Ich wollte immer genau so werden wie mein Vater“, der Untertitel (www.freitag.de/autoren/cbaron/ein-mann-seiner-klasse). Die Literaturagentin Franziska Günther bekommt ihn in ihre Hände, und sie kontaktet Baron und schlägt ihm vor, genau darüber ein Buch zu schreiben. Und er setzt sich hin und schreibt seine Lebensgeschichte auf, und er hat sie vor allem literarisch geformt.
Die Kapitel heissen ZORN, GLÜCK, SCHMERZ und ÜBERRASCHUNG. Sie heissen SCHAM, STOLZ, ANGST, LIEBE, dann HASS und HOFFNUNG. Und das letzte Kapitel heisst ZWEIFEL. Jeweils in Grossbuchstaben.
Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, 2020, 288 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-546-10000-7
„Vom Laster gefallen“ murmelnd der Vater, wenn er von der Arbeit kommt und irgendetwas mit nach Hause bringt, was er sich sonst nicht leisten könnte, manchmal Spielzeug für die Kinder. Er ist kräftig und stark, der Vater, er arbeitet als Möbelpacker, der alles tragen kann, im doppelten Sinne des Wortes. Und er fürchtet sich nicht – und das hat seine guten, aber vor allem hat es seine schlechten Seiten. Von denen er durchaus weiß, die ihm nicht unbekannt sind. Dass er, der so stolz auf seine körperliche Arbeit ist, die er jeden Tag stemmt, genau davon nicht leben kann, macht die Wut aus, die ihn immer wieder packt. Hätte es einen Ausweg gegeben? Gibt es einen für einen wie ihn?
Baron, 1985 in Kaiserslautern geboren, erzählt die Geschichte seiner Kindheit einerseits gradlinig und direkt; andererseits wechselt er hin und wieder in sachte Rückblenden. Schaut sich zu wie er schaut, auf sich und seine Geschwister und die Eltern, damals. Ist aber auch unterwegs in der erzählerischen Gegenwart, sitzt dann mit seinem entsprechend erwachsenem Bruder zusammen und sie reden über das, was damals war; an das sie sich durchaus unterschiedlich erinnern, wie das so ist. Und im nächsten Moment geht es wieder zurück ins damalige Geschehen, mit einer Unmittelbarkeit, die einen packt, als sei man dabei. Im Schlechten wie im manchmal im Guten.
Und so ist sein Buch entsprechend auch keine blanke Abrechnung mit seinem Vater. Es ist kein hasserfülltes Buch, das ist es so gar nicht. Baron schreibt von dem, was damals war; schlüpft als erwachsener und als entsprechend distanzierungsfähiger Autor in die Sicht eines Kindes, dass sich seine Welt, in der es nun mal lebt, so erklären muss, dass das Leben in ihr aushaltbar bleibt. Und am besten mehr als das. Und er erzählt auch davon, dass es helfen kann, das Lebens (s)eines Vaters zu verstehen, was nichts damit zu tun hat, es zu entschuldigen oder zu billigen. Sondern: verstehen, um wichtiges für sich selbst zu erfahren. Etwa: Warum man seinen Vater, der einen schlägt, trotzdem liebt. Das es kein entweder/oder ist, als Kind. Und später dann auch nicht mehr.
Wobei wir bei alledem nicht im luftleeren Raum bleiben, sozusagen. Es gibt schliesslich auch Nachbarn, die wegschauen oder die mal gegen die Wand hauen, wenn es drüben in der kleinen Wohnung drunter und drüber geht und sie der Lärm stört. Es gibt Mitschüler, die dem Erzähler immer wieder klar machen, dass er unter ihnen nichts zu suchen hat; dass er wieder dort hingehen soll, wo er herkommt. Und dass er dort zu bleiben hat. Auch davon erzählt Baron.
Und es gibt starke Frauenfiguren, offenbar im Leben wie erst recht im Buch. Die Mutter etwa, die in ihren Jugendjahren Gedichte schrieb – und es gibt eine Szene, in denen ein Lehrer diese Gedichte vor der versammelten Klasse verhöhnt und die nun sichtbare Brutalität steht in nichts dem nach, was ihr Mann später mit ihr anrichtet, wenn er ihren Kopf greift und zuschlägt. Gewalt – auch davon erzählt Baron – sind nicht nur Schläge. Man kann auch einen Menschen niederschlagen, ohne ihn zu berühren.
Und es gibt die Tante, die zu retten versucht, was noch zu retten ist: ihre Schwester, die immer wieder in tagelange Depressionen versinkt und dann das Bett nicht verlässt; die Kinder, die in dem Wechselspiel von unerwarteter Zuneigung und plötzlich ausbrechender Gewalttätigkeit unterzugehen drohen. Wie soll man das auch verstehen, dass mit einem Mal wieder alles ganz anders wird?
Es sind denn auch immer wieder die hoffnungsvoll aufscheinenden Momente, die einen durch die Lektüre leiten und die davon erzählen, dass Menschen auch in Momenten großer Bedrängnis versuchen sich ihre Freiräume zu sichern und seien es noch so weniger: Die Mutter tanzt hingebungsvoll zur Musik der Kelly Family. Mit dem Vater spielen die beiden Jungs eine Runde Super Mario auf der Konsole, die rein zufällig vorher vom Laster gefallen ist. Und gelegentlich taucht auch ein ganz feiner Humor auf; der Humor der vordergründig Unterlegenen, die nicht daran denken, dass sie klein beigeben; die darauf bestehen, dass auch ihr Leben eine eigene Würde und immer auch Geschichte hat.
Ja, es gab Momente, in denen sass man gerne mit dem Erzähler, seinen drei Geschwistern und der Mutter in der kleinen Küche und schaute zu, was sich ergab; hörte zu, was gesprochen wurde, was gescherzt. Und wenn der Vater hinzukam, dann war das zuweilen auch okay. Eher selten, eigentlich fast nie. Aber manchmal eben doch. Und genau diese Momente versucht der Autor zu bewahren. Auch um sich zu retten, vielleicht bis heute.
Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschlandsowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.
Das Harbour Front Literaturfestival vergibt den Klaus-Michael Kühne-Preis zum elften Mal an das beste Romandebüt des Jahres. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis soll junge Literatur fördern und deren Bedeutung unterstreichen.
Die Mitglieder der Hauptjury – Felix Bayer (Spiegel), Stephanie Krawehl (Buchhandlung Lesesaal), Stephan Lohr (NDR Kultur a.D.), Maximilian Probst (Zeit) und Meike Schnitzler (Brigitte) – begründen ihre Entscheidung für Christian Baron und seinen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ (Claassen) wie folgt:
„In seinem autobiografisch angelegten literarischen Debüt «Ein Mann seiner Klasse» beschreibt Christian Baron auf sehr eindrückliche Art das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie in Armut. Die Jury hat besonders überzeugt, dass die Leserinnen und Leser in ein Milieu geführt werden, das oft nur als statistische Grösse auftaucht. Hier bekommt diese Welt eine Stimme und das in einer literarisch klug gestalteten Weise. Christian Baron verzichtet auf Klischees und ideologische Zuordnungen. Vielmehr entlarvt er die Muster gesellschaftlicher Kategorisierungen und überzeugt durch die Bestandsaufnahme eines Lebens mit einem stets betrunkenen und prügelnden Vater und einer depressiven und früh an Krebs gestorbenen Mutter – Mit allem Schrecken, mit allem Schmerz, aber auch mit den Momenten von Stolz und Glück.“
Eine Chronik ist eine geschichtliche Prosadarstellung, die die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge geordnet darstellt. Die österreichische Autorin Melitta Breznik (Jahrgang 1961) gibt ihrem neuen Roman «Mutter» den vielsagenden Untertitel «Chronik eines Abschieds». Geordnet, aber keineswegs emotionslos erzählt sie über das langsame Sterben der eigenen Mutter.
Gastbeitrag von Cornelia Mechler
Die Mutter wohnt in einer Kleinstadt in der Steiermark. Die Autorin, die auch als Ärztin in der Schweiz tätig ist, reist an, um die Mutter auf ihrer letzten Reise nicht allein zu lassen. «Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.» Und so vergehen mehrere Wochen, intensive Stunden und Tage, in denen die Autorin in nüchterner Sprache die Veränderungen beschreibt, die sie sowohl an ihrer Mutter als auch an sich selbst wahrnimmt. Die Berichte über den jeweils tagesaktuellen Gesundheits- und Gemütszustand der Mutter gleiten in Erinnerungen ab. Eine Familiengeschichte wird erzählt, die bis zu den beiden Weltkriegen zurückreicht. Die Mutter verlor einen ihrer beiden Söhne – er starb mit nur 18 Jahren an einem Hirntumor. Dieser Verlust prägt alle übrigen Familienmitglieder, auch wenn die Autorin selbst zum Zeitpunkt des Todes noch ein kleines Kind ist. Es tauchen Fragen nach Schuld und Vergebung auf, und nach dem, was bleibt, wenn jemand stirbt.
Melitta Breznik «Mutter. Chronik eines Abschieds», Luchterhand, 2020, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87506-4
Deutlich tritt auch ein weiterer, noch immer nicht abgeschlossener Konflikt zutage: Einst zwang die Mutter die damals 17-jährige Tochter zu einer Abtreibung… Das Gegengewicht zu diesen noch immer aktiven «Gespenstern der Vergangenheit» findet sich in Beschreibungen von persönlichen, ja intimen Momenten der Zweisamkeit einer im Sterben begriffenen Mutter und ihrer Tochter, die ihr – den einstigen Ereignissen zum Trotz – liebevoll zugetan ist. «Als sie mir gute Nacht wünschte, lehnte sie mit Tränen in den Augen in den Kissen. Die Tage mit mir seien traurig, aber auch schön. Dann fiel sie zufrieden in einen stillen Schlaf.»
Man leidet als Leserin schmerzhaft mit bei all den Versuchen der Autorin, es der Mutter recht zu machen, ihr ein würdiges Ende vorzubereiten. Auch die alltagspraktischen und medizinischen Schwierigkeiten einer Sterbebegleitung werden nicht ausgelassen. «Die schnelle Wirkung der Tablette verblüfft mich, und gleichzeitig frage ich mich, ob es richtig ist, Mutter mit einem Medikament davon abzuhalten, ihren Sohn zu suchen, Vielleicht hätte sie ihn ja gefunden, wie er sie im Jenseits erwartet, ihr seine Hand reicht.» Irgendwann ist die Grenze des Erträglichen für die Autorin erreicht. Die körperliche und seelische Erschöpfung lässt sie nach mehr Hilfe von aussen suchen. Eine Pflegerin unterstützt sie folglich in den letzten Wochen, in denen die Mutter zu einem Schatten ihrer selbst wird.
Gewiss: Es existieren bereits einige gute Bücher, die sich mit der Thematik des langsamen Abschieds von einem Elternteil beschäftigen – man denke beispielsweise an Michael Lentz’ «Muttersterben2 (2002) oder an Arno Geigers «Der alte König in seinem Exil» (2010). Melitta Brezniks Buch beeindruckt vor allem durch die gekonnte Darstellung der schwierigen Selbstpositionierung der Autorin. Sie ist Tochter, sie ist Ärztin und sie ist die Pflegerin der eigenen Mutter. Mal verliert sie sich fast sehnsuchtsvoll in den Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit der Mutter, mal beschreibt sie in einer vom ärztlichen Fachjargon geprägten Sprache ihre Hilfsmassnahmen für die sterbenskranke alte Frau. Eine schonungslose Ehrlichkeit durchdringt diesen tiefgründigen Roman, für Beschönigungen ist keine Zeit mehr.
«Es ist später als Du denkst», diese Inschrift eines Marmorsteins in Lass in Südtirol steht dem Buch als Motto voran. Unerbittlich konfrontiert uns die Autorin mit der Frage, wie wir selbst dem Tod begegnen möchten. Das Auf und Ab der Emotionen wird sich nicht vermeiden lassen. Aber es hat etwas Tröstliches zu sehen, dass man auch mit dem unausweichlichen Verlust eines nahen Menschen seinen Frieden machen kann. Ein grosser Roman – trotz eher geringem Seitenumfang.
Melitta Breznik, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in der Schweiz im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: «Nachtdienst» (Erzählung 1995), «Figuren» (Erzählungen 1999), «Das Umstellformat» (Erzählung 2002), «Nordlicht» (Roman 2009), «Der Sommer hat lange auf sich warten lassen» (Roman 2013).
Es geht nicht immer gut aus. Manchmal ist es wenigstens knapp. Oder es steht noch nicht fest, ob sich die Sache nicht doch noch zum Guten wendet. Wie bei Bederitzky, dem Taxifahrer, der nachts unterwegs ist, weil es sich dann wenigstens ein bisschen lohnt im Gegensatz zu tagsüber, wo es sich nicht mehr lohnt. Und in dessen Taxi wir immer wieder lesend einsteigen, der uns so durch eine Berliner Nacht führt wie fährt, durch den Prenzlauer Berg, durch Charlottenburg, durch Berlin Mitte und all die Strassen dazwischen. Also, wenn neben oder hinter ihm ein Fahrgast sitzt.
Frank Keil
Stimmt so. von Frank Keil
Willkommen in Berlin – der, wenn man als Deutscher ehrlich ist – einzigen Grossstadt Deutschlands, wenn man mehr erwartet, als nur eine grosse Stadt. Und versprochen ist ein Berlin-Roman und das ist jetzt eine ganz hohe Hürde, die da genommen werden will; ist ein heikles Versprechen. Aber Thorsten Nagelschmidt schafft es, leitet er uns doch mit leichter Hand, klarem Blick und einer wortwörtlichen Unermüdlichkeit in seinem rasant-brachial-empfindsamen Roman „Arbeit“ durch die Berliner Nacht und stellt uns deren Bewohner vor: die einen schlafen, aber die anderen arbeiten. Arbeiten, damit die anderen schlafen können. Ob es sich für sie lohnt, also für die, die arbeiten? Finden sie wenigstens ein bisschen Glück?
Und dazu wieder eingestiegen bei Bederitzky (der eigentlich aus der DDR stammt, diesem anderen deutschen Staat, also, als es ihn noch gab, fest und unwidersprochen, nicht, als er schon sinnbildlich in Trümmern lag, wie wir noch erfahren werden und der auf den Vornamen Heinz-Georg hört, Heinz-Georg Bederitzky). Dabei ist gerade – Funkstille; Pause, niemand will mit, niemand will irgendwohin und Bederitzky ist dennoch unterwegs. 60 Minuten kurvt er bereits durch die Stadt, fährt durch Kreuzberg und Neukölln, schaut und sucht, aber niemand braucht ihn und dann will doch einer mit. Steigt dazu ein, riecht nach Parfüm, viertel nach Zwölf ist es auf der Uhr. Und wo will er hin, der parfümierte Fahrgast, mit einem Stück Pizza vom Pizzaschnellimbiss in der Hand? Eine weite Strecke, eine lange Strecke soll es werden. Nach Halle an der Saale, weil Zugausfall. Halle an der Saale, sieh‘ an, denkt sich Bederitzky, da warst du lange nicht mehr.
Und auch endlich eine Fahrt durch die Nacht, die lohnt, aber so richtig, denkt er. Und dann klingelt Bederitzkys Telefon, Freisprechanlage, versteht sich. Anna ist dran, seine Liebste, die einen der legendären und besonders bei Touristen so beliebten Späti betreibt, dabei hatte sie in diesem Leben eigentlich was anderes vor, als hinter dem Tresen eines Spätverkaufs bis eben spät zu stehen, aber was will man machen. Und nun zum zweiten Mal in diesem Jahr überfallen, von so einem Bubi, einem Jugendlichen mit einem Messer, ein halbes Kind noch, aber Überfallen ist nun mal Überfallen. Sie bräuchte jetzt seine starke Schulter, selbst wenn die nicht stark ist, Hauptsache Schulter, seine. Aber er hat doch jetzt einen Bord, der nach Halle an der Saale will, für 350 Euro, immer geradeaus. Soll er den raussetzen? Und Anna schreit ins Telefon, bricht das Gespräch ab, sie wird sich schon wieder beruhigen, aber was, wenn nicht?
Ein Kapitel heißt: Sag jetzt nichts. Ein Kapitel heisst Zwölf Stunden sind kein Tag. Ein anderes hört auf den Namen Wenn’s um Geld geht Arschkarte.
Thorsten Nagelschmidt «Arbeit», S. Fischer, 2020, 336 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397411-9
So fahren wir durch die Nacht, sind mal kurz und dann mal länger bei Bederetzky ausgestiegen, keine Sorge: man trifft sich wieder. Lernen Leute kennen, die zur Nacht gehören wie die Nacht zu diesen Leuten. Felix etwa, 39 Jahre jung. Der Drogen vertickt, aber selbst keine nimmt, also er hat sich vorgenommen, dass er besser die Finger lässt von all dem Zeug, dass er da verkauft, seine Wohnung ein Drogenumschlagplatz und was sind das immer für Typen, die bei ihm in der Küche sitzen und schon mal probieren, was sie kaufen wollen oder gekauft haben in grösseren Mengen, wieso gehen die nicht wieder, wieso quatschen die sich immer fest und hocken auf seinen Küchenstühlen wie angeklebt und haben beste Laune, während seine immer schlechter wird?
Wir lernen Marcela kennen, die sich in Berlin ein besseres Leben erträumt als daheim in Kolumbien und die per Fahrrad Essen ausliefert für die, die keine Lust zum Kochen haben und keine Lust zum Einkaufen oder gleich beides, und es ist doch irre praktisch, da gibt es so eine App, da tippt man was ein und dann kommt Marcela und bringt das Gewünschte (Sushi, Italienisch, vielleicht auch was vom Spanier), hoffentlich dauert es nicht so lange und ist noch warm. Wir lernen Tanja kennen, die Rettungssanitäterin, die neben dem Studium jobbt, dabei müsste sie lernen ohne Ende, denn was studiert sie, Medizin natürlich. Weshalb sich Tarek, ihr Kollege, mehr als Sorgen macht, wie sie das schaffen soll, nachts arbeiten, tagsüber studieren und dazwischen noch lernen, das funktioniere doch nicht, sagt er ihr immer wieder, während sie unterwegs sind, mit Sondersignal, um zu retten, was noch zu retten ist, aber Tanja will das nicht hören, was wäre denn die Alternative und überhaupt: Was will Tarek von ihr? Doch nicht etwa? Oh, je! Und noch immer ist die Nacht nicht zu Ende, so eine Nacht ist lang, sie ist verdammt lang. Besonders für die, die arbeiten müssen, für die, die nicht wissen, wohin sonst.
Nagelschmidt (der gleichzeitig Musiker der Berliner Band „Muff Potter“ ist) geht nah heran, er bleibt seinen Protagonisten nah, er verlässt sie nicht und er verrät sie nicht. Egal, wie schräge sie drauf sind, wie seltsam sie mit sich umgehen und wie mit anderen, er will wissen, wie es ihnen geht und er will erkunden, warum sie tun, was sie tun und wie es ihnen dabei geht. Und er schaut nicht von oben herab auf sie herunter, er ist in einem fast schon christlichen Sinne bei ihnen, wobei man das „fast“ ruhig streichen kann.
Und das alles drückt sich auch in seiner Sprache aus: direkt, schnörkellos, alltagsnah und manchmal fast protokollhaft. Schnelle, kurze Sätze, viele und vor allem gute und sehr Dialoge. Ein stetes Ineinanderfliessen von Beobachtetem, Kommentiertem und dem, was im Moment geschieht, während die verschiedenen Protagonisten und Helden, von vielleicht Gewinnern und vielleicht Verlierern sich in dieser einen Nacht begegnen, mit einander sprechen, manchmal auch kreuzen sich nur kurz ihre Wege, ohne dass ein Wort fällt. Und nie ist der Autor derbe dabei oder obszön oder künstlerisch aufgeladen tabuverletzend, wie das oft genug vorkommt, wenn da ein Schreibender aus besserem Stall sich mal auf die Strasse wagt oder das, was er für die Strasse hält. Und dann so richtig vom Leder zieht, weil es ihm gut tut, egal, was die Menschen, über die da einer schreibt und die einer schreibend erfasst, damit anfangen können und ob es ihnen hilft oder ob es ihnen wenigstens ihre Würde lässt.
Und nicht zuletzt ist „Arbeit“ ein hochpolitischer Roman. Er fragt danach, wer des Nachts den Laden am Laufen hält, wie es heute auf neudeutsch heisst. Wer zahlt den Preis? Wer macht den Rücken krumm und macht doch immer weiter? Wer bringt uns von A nach B, wer passt auf uns auf, wer stellt im Spätverkauf rechtzeitig den Sekt kalt, damit kalter Sekt da ist, wenn uns nach kaltem Sekt ist, wer räumt den Dreck weg, die Scherben, den Müll, die Absperrbänder, rund um die Uhr und eben nachts, wenn es zwischendurch mehr als tiefdunkel ist – es ist eine nur sehr begrenzt romantische Welt, diese Nacht, für die, die dann arbeiten müssen, was immer sie auch tun und auch für die, die wenigstens in der Nacht ein wenig Halt und Schutz und Orientierung finden und haben, wenn es hell wird, wird für sie die Welt nicht unbedingt besser.
Ach ja: Ein Kapitel heisst Stimmt so. Eine Floskel, die man sich abgewöhnen sollte, dringend.
Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 im Münsterland, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher «Wo die wilden Maden graben» (2007), «Was kostet die Welt» (2010) und «Drive-By Shots» (2015). Zuletzt ist von ihm der Roman «Der Abfall der Herzen» (2018) erschienen. Thorsten Nagelschmidt lebt in Berlin und veranstaltet dort die Lesereihe «Nagel mit Köpfen».
Alice Grünfelder ist (noch) in Taiwan auf Spurensuche und schickte ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Diesmal, zum letzten Mal, versuchte sie es wieder mit Briefmarke und Stempel. Erfolglos. Dafür wieder digitanolog!
Taiwan – zum Letzten: Eine Teeaffäre: Der Alte thront vor dem Teegeschirr gießt Wasser vom Kännchen ins Schälchen klopft den Wasserhahn gerade das Wasser fließt über die Sonne geht auf, aber zu spät, wir sehen nur noch, wie sie sich über den Drachenrücken schiebt und in Wolken verschwindet er lächelt dazu und zieht erst die Augenbrauen in seinem Gesicht hoch runzligkantig, als wir ihm von einer Schlange erzählen.
Design und Typo: Hsuan Liang Lin
Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).
»Würden Sie mich bitte in Ruhe lassen. Das Fenster, bleiben Sie vom Fenster weg, ich will die Weite vor mir haben, die Wüste und die Windräder. Nach dem Rechten wollen Sie sehen? Hören Sie, es ist mir egal, wie Ihre Direktiven lauten, ich werde an der Erfüllung der meinen gemessen. Man muss, um die Zukunft freizulegen, Tonnen von Schutt beiseiteräumen, den die zerbröselnde Geschichte hinterlassen hat. Man muss tausend Sätze schreiben, um sich dem einen zu nähern, der ungeschrieben bleibt. Man muss Beharrlichkeit an den Tag legen, Durchhaltevermögen wider jede Vernunft. Man muss, und das ist vielleicht das Schwierigste, Sätze ertragen, die mit man muss beginnen; tatsächlich, wissen Sie, trägt unsere Zeit einen kategorischen Imperativ in sich, der längst überwunden schien. Ich schreibe ja nicht etwa über mein Leben – wie langweilig wäre das! –, sondern um mein Leben, ganz so, wie draußen in der Wüste ein Flüchtling um sein Leben läuft, auf den sie die Jagddrohne loslassen. Der sich, wie im Grunde jeder und jede von uns, verloren weiß im toten Nichts einer toten Landschaft und dennoch rennt, solange er noch kann. Er rennt, ich schreibe. Was ich schreibe, ist bloß ein Beispiel, doch dieses Beispiel muss treffend sein, zutreffend über sich selbst hinaus. So lautet die Vorgabe! Aber suchen wir nicht überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge? Kennen Sie Novalis? Aber was rede ich. Sie verstehen mich ja doch nicht, Sie hören mir nicht einmal zu … Nun gehen Sie schon!«
1 Symptome des Fiebers
Vor meinem Fenster liegt Mitteleuropa, die gehäutete Echse. Am Horizont ragt der Alpenbogen kahl und grau aus der Ebene, entlang des Grates bilden zweihundert Windräder den Rückenkamm des Reptils. Das Grün, von dem Aufzeichnungen und Bilddokumente früherer Jahrhunderte zeugen, haben Hitze, Trockenheit und Einstrahlung längst von den Hängen geschält. Die Wissenschaft hat penibel beschrieben, wie zuerst die feuchtkühlen Buchenwälder, dann die sonnendurchfluteten Eichen- und Föhrenbestände und zuletzt die zähen und hartlaubigen Gebüsche, die dem Wald nachfolgten, verdorrten und durch immer niedrigere, immer kargere, immer widerstandsfähigere Formationen des Bewuchses ersetzt wurden. Bäume und Sträucher sind längst aus dem Landschaftsbild verschwunden, aus den Gedanken und beinahe schon aus dem Wortschatz; ihre letzten natürlichen Vorkommen, hört man, sind wie eine aussterbende Eskimosprache auf winzige Reliktgebiete in den Polarregionen beschränkt. Bei uns, in der einst gemäßigten Zone, haben sich sandig-steinige Wüsten breitgemacht. Nur in den günstigsten Schattenlagen überdauern noch wenige Arten kaum knöchelhoher, unansehnlicher Polsterpflanzen, die sich mit silbrigem Haarflaum vor der Strahlung schützen, einzelne kleinwüchsige, aus den einst eng begrenzten Trockenzonen der Erde stammende Sukkulente und jene grauen, gelben oder rötlichen Krustenflechten, die dem Gestein wie eine vernarbte Haut anliegen und selbst unter experimentellen Laborbedingungen kaum umzubringen sind – alles in allem ein armseliges Häuflein Überlebender ohne jede Ähnlichkeit mit den reichhaltigen Pflanzengesellschaften, die noch vor wenigen Jahrhunderten unsere Breiten bedeckten.
Die Veränderung des Klimas und der Landschaft ist zuletzt in einer Geschwindigkeit vonstattengegangen, mit der die meisten Organismen nicht Schritt halten können. Das Leben wird vor unseren Augen in einer Weise vom Planeten gefegt, vor der die großen Sechs, die bisherigen Aussterbewellen der Erdgeschichte, zu harmlosen Begebenheiten verblassen. Man kann stundenlang auf die Ebene hinausstarren, ohne ein einziges Tier zu sehen. Einmal nur, kurz vor Carinas Tod, flog ein Wüstenrabe vorbei, ankämpfend gegen den böigen Wind; eine fast schon unglaubliche Ausnahmeerscheinung, wie mir Luis versichert hat, der es wissen muss, ist er doch täglich dort draußen unterwegs. Der Wind, der immerzu in Sturmstärke weht, trägt den entblößten Boden in tanzenden Staubwolken ab, bis das Grundgestein zutage tritt. Man kann nicht erkennen, wo das Hitzeflimmern endet und die Schwaden des Feinmaterials beginnen, die überall in der Luft treiben; beides verbindet sich vor dem Auge zu einem Schleier, hinter dem der ferne Alpenkamm zeitweise ganz verschwindet. Die Echse macht sich dem Auge rar. Die Windräder drehen sich dort oben tagein, tagaus unter Volllast.
Auch auf der Sonne, so meldet es der meteorologische Datenspiegel, stürmt es heute vermehrt, begleitet von Zusammenballungen magnetischer Feldlinien strömen Sonnenwinde in den Weltraum und setzen dem Erdmagnetfeld zu. Am Rand der Sonne hat sich, von einer Solarsonde genauestens dokumentiert, zuletzt eine Säule aus heißem Plasma gebildet, die mehr als sieben Erddurchmesser weit ins All ragt. Während Hitze und Strahlung wie unsichtbare Geschoße gegen mein vollisoliertes Fenster prallen, sitze ich hier bei erträglicher Raumtemperatur in meiner Wohnzelle und habe, egal wie, endlich zu schreiben begonnen. Ein wenig stickig ist es allerdings, seit einiger Zeit schon riecht es nach verschmortem Kunststoff; Gerüchte gehen um, die Innenklimatisierung des Humanareals gerate allmählich an ihre Leistungsgrenzen. Immer wieder läuft Personal ein und aus, möglicherweise stehen Arbeiten an der Klimaanlage bevor, oder die Aktivitäten werden nur vorgeschützt und man überwacht mich, versucht mich gezielt zu stören. Vielleicht soll meine Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden. Man steht hier ständig unter Leistungskontrolle oder soll es zumindest glauben oder glaubt es von sich aus. Es ist eine paranoide Welt; man zweifelt an seinem Verstand und weiß nicht, wer einen ans Messer liefert, wer wem worüber Bericht erstattet, was inhaltliche Anforderung ist, was Kontrollinstrument und was Ausgeburt der eigenen Neurosen. Man wird irre oder ist es schon – nichts, so heißt es, ist schwerer zu erkennen als der eigene Wahnsinn. Doch gebe ich mich unbeirrt, bleibe, abgesehen von gelegentlichen Wutausbrüchen, auf das Wesentliche konzentriert und lasse meine Aufgabe in ersten Beschreibungen Gestalt annehmen, um sie dann vielleicht zu lösen oder aber, was wahrscheinlicher ist, gerade so sang- und klanglos an ihr zu scheitern, wie wir alle, die wir noch hier sind, an der Überlebensfrage zu scheitern im Begriff sind.
Ich gebe mir Zeit. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, schaue ich hinaus auf die leicht gewellte Ebene des Alpenvorlandes, hinter der die Echse schemenhaft aufragt. Von der einstigen Kulturlandschaft mit ihren Mais- und Getreidefeldern, Blühstreifen, Wäldchen und gehölzgesäumten Bachläufen ist nichts mehr zu sehen, seit die ausufernde Sonne dieses trockenheiße Klima mit sommerlichen Temperaturen von fünfzig bis fünfundfünfzig Grad befeuert. Der Zyklus der Jahreszeiten ist weitgehend zusammengebrochen, die Hitze lässt neuerdings auch im Winterhalbjahr nur noch wenig nach. In der staubigen Weite verfallen die unbewohnten Dörfer, niemand will sich an ihre Namen erinnern. Eines von ihnen kann ich mit freiem Auge, zwei mit dem Fernglas deutlich ausmachen, ein weiteres in der flirrenden Ferne erahnen. In alten Landkarten eingetragene Flurnamen wie Haslau, Grünanger oder Eichkögl haben, abgesehen von ihren Lagekoordinaten in einem abstrakt über die Erdoberfläche gespannten Gitternetz, jeden Wirklichkeitsbezug verloren. Während also draußen alles verglüht und versandet, vegetieren wir in der Enge des Humanareals dahin. Wir sind nur noch wenige, aber wir sind zu viele, um hier ein menschenwürdiges Lebens zu führen. Das ist, so witzelt man, der späte Sinn unseres in Jahrmillionen erworbenen aufrechten Gangs: dass wir wenig Platz brauchen und senkrecht eingeschlichtet werden können in enge Räume. Über Nacht braucht dann alles nur um neunzig Grad geschwenkt zu werden, damit jeder bequem zu liegen kommt.
Die Straßen, die das Humanareal durch doppelte Thermoschleusen verlassen, laufen sternförmig zu den Agrarhallen hinaus. Die riesigen halbtransparenten Gewächshäuser sprenkeln wie Flecken blassgrünen Scharlachs die Landschaft, Symptom des Fiebers, von dem der Planet befallen ist – dabei sind sie noch die vitalsten Orte, an denen es, wenn auch nur unter hohem technischen Aufwand, immerhin wächst und gedeiht. Aus der verstrahlten Landschaft weggesperrt, produzieren hier krumme, niedrigwüchsige Obstbäumchen und dichte Reihen von Gemüsepflanzen streng rationierte Genussmittel, die unsere synthetische, weitgehend geschmacks- und geruchlose Grundnahrung ergänzen. Die Farbe Grün ist, indem sie die spärlichen Reste des Lebens koloriert, zum Symbol der Vergangenheit, der Vergänglichkeit, aber auch des unbeugsamen Überdauerns, ja des Aufbegehrens geworden. Sogar kleine Singvögel, robuste Arten wie Feldsperlinge und Kohlmeisen, werden unter dem Folienhimmel der Agrarhallen durch Schutzprogramme am Leben erhalten, brüten in den dort ausgebrachten Nistkästen und dezimieren die winzigen Pflanzenschädlinge, die Schildläuse, Spinnmilben und Thripse, deren Vermehrung unter den feuchtwarmen Bedingungen, die in den Hallen herrschen, nie ganz auszuschließen, sondern nur einzudämmen ist; die Kunst, sagt Luis, bestehe darin, gerade genügend Pestizide einzusetzen, um eine Massenvermehrung der winzigen Tiere zu unterbinden, und gleichzeitig so wenig, dass die Vögel keinen Schaden nehmen. Ein Fehler und das labile System bricht zusammen – mehr als einmal schon, sagt Luis, habe er hunderte Vogelkadaver aus einer Halle räumen müssen, nachdem man eine aufkommende Schädlingskalamität mit allzu reichlichem Gifteinsatz bekämpft habe.
In den klimatisierten Agrarhallen, vor allem in neu angelegten Hallen nach der ersten Durchfeuchtung des Bodens, kommen mitunter Pflanzen auf, deren Samen schon lange in der Erde geruht haben; sie gelten hier freilich als Unkräuter und werden, je nach dem Ausmaß ihres Auftretens, entweder chemisch bekämpft oder in den Boden zurückgepflügt, aus dem sie gekommen sind. Zuvor aber machen die Botaniker ihre Arbeit, gehen langsam, gesenkten Hauptes über die Flächen und bücken sich hier und da, um die Nachzügler einstigen Lebens zu untersuchen und Proben zu entnehmen, die in unserer Zukunft, falls es eine solche gibt, noch von Nutzen sein könnten; denn Ackerwildkräuter, heißt es, sind in Wahrheit keine Unkräuter, sondern genetische Ressourcen, die keine abwertende Vorsilbe verdient haben. Grün ist die Farbe der Hoffnung und schon heute der Werkstoff der Botaniker, wenn sie durch Gentransfers aus den zählebigsten Wildformen immer genügsamere und gleichzeitig ertragreichere Kulturpflanzen entwickeln, die in den Agrarhallen unter geringstem Wasserverbrauch möglichst rasch zur Erntereife gelangen. Wasser, das liegt bei kaum noch vierzig Millimetern Jahresniederschlag auf der Hand, ist der Schlüsselfaktor der neuen Landwirtschaft, es muss aufwändig hergestellt und sparsam zugeteilt werden. Neben jeder Agrarhalle steht ein Solarfeld mit einem blauen Prozesskubus aus massivem Stahlbeton, in dem Wasserstoff unter Zuführung großer Energiemengen zu Wasser verbrannt wird. Energiemangel ist immerhin nicht unser Problem – die Sonne liefert sie uns im Übermaß. Gelegentlich höre ich aus der Ferne einen dumpfen Knall, wenn bei der Wartung einer Anlage die Regulation der Knallgasflamme vorübergehend entgleist.
[…]
Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).
Die Pandemie zeigt um eine Dimension deutlicher, dass Glauben im gesellschaftlichen Diskurs und im politischen Handeln keine Relevanz hat. Das verneint hier nicht, dass Gott die Sprache der Seele sein kann, die es nicht gibt. Es sagt, dass der Tod allein das Leben bestimmt, aber nicht im erregenden Sinn, sondern so, dass aus ganz sachlichen Gründen die zwischenmenschliche Distanz und der Tod der Natürlichkeit dem Tod vorgezogen wird. Das mag und wird in einer säkularen Gesellschaft das Beste sein, aber es geht hier radikal um die Feststellung, dass das Nichtglaubenkönnen der Grund ist, dass es so ist. Wohl heisst es, für Christen sei jedes Leben heilig. Aber ebenso auch das Sterben. Denn wer von der ein jenseits-von-allem innewohnenden Sprache lebt, hält sich an die Gegenwart einer in Gedanken anderen Welt, die das Denken selber ist. Dieses relativiert das reale Leben und erfährt es als verlierbar ohne Verlust. Oder sogar mit Gewinn: Christus ist mein Leben, sterben mein Gewinn (Paulus). Da dieser Horizont politisch ausgeschlossen ist, muss das Überleben mehr zählen als die sinnliche Nähe und das gemeinsam atmende Gespräch. Das lässt sich daran sehen, dass sehr viele Menschen in Alters- und Pflegeheimen jahraus- und jahrein so bitterseelenalleingelassen werden und so freudlos die Tage verbringen müssen, dass sie am liebsten sterben wollen. Durch Corona aber wurden auch die Hundertjährigen zwangsisoliert, damit auf keinen Fall jemand stirbt oder auch noch andere ansteckt. Dass das Überleben ganz sachlich auch mehr zählen muss als die Würde, zeigt sich in der Art und Weise, wie mit Covid-19 Menschen auf der Intensivstation sterben, ohne Kontakt zu den Liebsten, zu Tode isoliert schon vor dem Tode, so dass die unantastbare Würde nur noch darin bestehen kann, unantastbar zu sein. Aber das Monströseste ist die wachsende Depression und die in ihr wiederum brütende Destruktion. Auch Depression kann als ein das Leben lähmender, todähnlicher Zustand bezeichnet werden. Dieser psychische Todeszustand muss so unweigerlich in Kauf genommen werden, dass die grosse Depression die noch viel grössere Destruktion an Gewalt schürt. Umgekehrt kann Glauben als Vertrauen die Angst nehmen und bei manchen die Abwehr- und Heilkräfte stärken, wenn es nicht die Angst nur verdrängende Realitätsflucht ist. Angst auf jeden Fall macht auch krank. Die Umkehr des Johannesprologs zuDas Wort ist Gott aber heisst für die darin sich erhellende Inexistenz, das Leben von der Begeisterung ob der Unsterblichkeit der Sprache her zu verstehen, von der Verzückung ob der jede Sekunde Unglaublichkeit des Lebens her, von der Ekstase der Liebe her, vom Lachen, vom Übermut her, von dem durch die herzzerreissende Traurigkeit des Todes hindurch zu noch herzzerreissenderer Freude Erwachen her, Pathos hin oder her. Die nur als peinlich aussprechbare Haltung der Glaubenden bleibt, sich auch auf das Sterben zu freuen, darin nichts ihnen die elende Heiterkeit und die übermütige Schwermut nehmen kann, komme da an Angst und Bedrohung, an Pandemie und Panik, was da wolle. Das mag ein Glaubensheldentum sein, hat aber nichts mit faschistischem, volksgesundheitlichem, vaterländischem Heroismus zu tun, denn es schliesst alle Fremden und Minderheiten und Schwachen nicht aus, sondern herzlich ins Jenseitsverlies der Sprache mit ein. Ist umgekehrt Sterben nicht nur das Allerletzte, sondern auch das Allerletzte, und ist es in der Sprache nicht auch ein anderes Leben, zählt nur das eigene Leben und das der Anderen vielleicht schnell nichts mehr. Aber auch ohne das Sterben zu verklären ist auch nur eine Sekunde gelebt zu haben ein Wunder, und wenn von der völligen Unwahrscheinlichkeit ausgegangen wird, überhaupt zu leben, hängt ein erfülltes Leben weniger von der Länge des Lebens als von der Art der Gegenwart ab, so dass auch mit sechzig oder vierzig oder zwanzig zu sterben die Unglaublichkeit, gelebt zu haben, nicht widerlegt. Die durch die Säkularisierung unvermeidliche Verabsolutierung des Lebens bestätigt sich auch darin, dass das immer längere Leben der klarste Sinn und das erklärteste Ziel ist, so dass hundert Jahre alt zu werden schon fast als ein allen zustehendes und zu ermöglichendes Grundrecht angesehen werden kann. Zumindest macht die Coronakrise die so unfassbar hoch gestiegene Lebenserwartung in ebenso unfassbar grosser Selbstverständlichkeit deutlich, dass vielleicht auch ein Hundertjähriger bald nicht mehr sterben kann, ohne elend vor der Zeit gestorben zu sein. Jünger sterben, überhaupt sterben ist ein Skandal. Es ist nicht nur seit Camus der Skandal schlechthin, daran wiederum nur Gott schuldig sein könnte, wenn er wäre. Und dass gestorben und gelitten wird, genügt auch zum Gegenbeweis. Und spräche auch das Nichtsein nicht gegen den zusehends weiblichen Engel, und wäre das nichtseiende Licht auch eine Sie, die Herrin Sprache, und wäre diese Herrin auch alle Sprechenden selber, so wäre sie doch der Kapitalgrund, die Gottillusion als völlig jenseits zu erledigen. Aber achtzig Jahre alt zu werden ist nicht nur historisch, sondern in Hinsicht auf manche Weltregionen auch heute noch ein grosses Glück. Es als selbstverständlich zu erwarten, bleibt unserer Vergänglichkeit gegenüber auch in noch so hochmedizinischer Wohlstandswelt verblendet. Und doch können auch viele betagte Patienten von Covid-19 geheilt werden, bei der die Sterberate immer noch um ein Vielfaches geringer ist als die an Herzversagen oder Krebs. Hoffentlich wird hier erwidert: Wenn das Sterben an Krebs durch einen Lockdown verhindert werden könnte, würde man es auch tun. Und tatsächlich zeigt sich ja nun, dass durch die viel geringeren Feinstaubwerte in den grossen Städten weniger Menschen sterben. Warum also nicht ab sofort weltweit überhaupt das Fliegen und Autofahren für immer einstellen, weil die dadurch bessere Luft viele Todesfälle verhindert und zugleich die von Klimaschäden bedrohte Erde schützt? Aber es geht hier und erst recht beim aus Lebensliebe auch Sterbenwollen darum, dass eine solche Haltung im öffentlich ernstzunehmenden Diskurs nicht haltbar ist. Auch wenn das alltägliche Leben vielleicht über Jahre ausgehebelt bleibt, kann lebensschutzvernünftig nicht berücksichtigt werden, was Corona an psychischer Not bringt: den massenhaften Spontanitätstod, Umarmungstod, Nähetod, was sich für vom leibhaft Begegnen Lebende nicht digital ersetzen lässt, auch wenn es die Lösung der Zukunft ist. Es ist denkbar, dass die vorwiegend digitale Begegnung und das Physical Distancing für die biologische Sicherheit nicht nur vorübergehend, sondern in alle Zukunft zur vorgeschriebenen Lebensweise wird. Dass sich aber auch die Kinder nicht mehr unbekümmert nahekommen und nicht mehr übermütig miteinander spielen dürfen, ist als Gedanke fast nicht zu ertragen, nicht nur, weil Kinder das kaum einhalten können, sondern weil sie es auch nicht einhalten sollen um ihrer spontansten Nähe Willen. Habermass beunruhigt, dass auch Juristen den Lebensschutz zugunsten der Selbstbestimmung relativieren. Das Leben als Lebendigkeit ist anderseits nicht nur für die vom Wort Inbrünstigen auch ekstatische Leidenschaft, dazu auch Selbstverausgabung, sich Verschwenden, sich-aufs-Spiel-Setzen, lieber-Gefahr-als-Sicherheit und Lust des Wahnsinns gehören, welchen im Diskurs der Vernunft der vernünftige Grund fehlt. Allerdings hat auch das vernünftige Sterbenkönnenpathos nur das Jenseits in der Sprache, um verstehbar zu machen, dass es nicht sozialdarwinistisch und nicht volksheroisch und nicht lebensleichtsinnig gemeint ist, sondern ganz persönlich transzendent.
Christian Uetz, geboren 1963 in Egnach in der Schweiz, ist ein philosophischer Poet und lebt in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Lehrer studierte er Philosophie, Komparatistik und Altgriechisch an der Universität Zürich. 2010 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Seine Performanceauftritte sind legendär! Nach «Nur Du, und nur Ich» (2011) und «Sunderwarumbe – Ein Schweizer Requiem» (2012) erschien 2018 mit «Es passierte» sein dritter Roman.
Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie noch immer keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das auch diesmal ohne Stempel.
Ruhe und hoch das Paddel vor dem Stich ins Wasser ein Ruck zurück die Trommel dazu.
Ruhe ist, weil nichts gehört er nicht und auch nicht die anderen wundwaid rechten den Mächtgen und Gefälligen in Arm und Wort fallen. Er fechtet mit Worten statt mit Degen merkt nicht den Stich in den Rücken bevor er vertrieben.
Hoch in den Bergen windet er Girlanden aus Gladiolen aus Efeu ein Gewand streift umher in üppiger Einsiedelei niemand hört ihn mehr. Bambus splittert, Herbstastern stechen Sommer und Winter im Einerlei.
Das Drachenbootfest wird am 5. Tag des 5. Monats nach dem chinesischen Mondkalender zu Ehren des Beamten und Urvaters der chinesischen Lyrik Qu Yuan gefeiert – dieses Jahr also am 25. Juni. Aus dieser historischen Legende wuchs die Tradition des Festes: Vom König wegen seiner Kritik an dessen Politik ins Exil geschickt, stürzte sich Qu Yuan mit einem Stein um den Hals in den Fluss, als seine Heimat von fremden Truppen erobert wurde. Damit ihn die Fische nicht fressen, trommelten die Fischer und warfen Nahrungsreste ins Wasser. Zum Fest werden heute Zongzi (Bambusblätter mit diversen Füllungen) gegessen und duftende Beutel gegen diverse Seuchen aufgehängt. Jeder kennt Qu Yuan, nur wenige kennen seine Schriften.
Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).
Willi Achten gibt den einstigen Heimkindern der Bundesrepublik Deutschland mit seinem wuchtigen Roman „Die wir liebten“ eine literarische Stimme.
Frank Keil
Im Gnadenhof Gastbeitrag von Frank Keil
Vorab zur Einleitung und zum besseren Verständnis: Was für die Schweiz die „Verding-Kinder“ sind, das sind für die Bundesrepublik die „Heimkinder“. Kinder und Jugendliche, die im Nachkriegsdeutschland ihrer Freiheit beraubt wurden; die in meist kirchlichen Heimen beider Konfessionen, aber auch in kommunalen Heimen untergebracht wurden. Die dort arbeiten mussten, deren Schulpflicht zuweilen ausgesetzt war und denen Kontaktmöglichkeiten zu Eltern, Verwandten oder Freunden untersagt wurden – ohne das staatliche Stellen ihrer Pflicht der Kontrolle nachgingen; ohne dass es irgendeine unabhängige Instanz gab, an die sich die Kinder und Jugendlichen hätten wenden können. Bis weit in die 1970er-Jahre ging das, als sich zugleich die bundesdeutsche Gesellschaft unter dem Einfluss der so genannten Studentenrevolte immer mehr liberalisierte. Salopp gesagt: Während in der Öffentlichkeit über antiautoritäre Erziehung debattiert wurde, wurde in den Heimen noch handfest und unhinterfragt geprügelt. Erst als ab etwa Anfang bis Mitte der 1970er-Jahre eine neue Generation von Erziehern und Erzieherinnen in der staatlichen wie privaten Jugendhilfe auftauchte, änderten sich die Heime; viele wurden nach und nach geschlossen; neue Lebens- und Wohnformen für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familiensituationen entwickelten sich.
Und dennoch dauerte es weitere 30 Jahre, bis die Geschichte der repressiven, jahrzehntelang gültigen Heimerziehung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und besonders die längst erwachsenen und zugleich tief traumatisierten einstigen Heimkinder gehört und dann befragt wurden. Es war interessanterweise ein Buch, das diesen Prozess einleitete: „Schläge im Namen des Herrn“ des SPIEGEL-Journalisten Peter Wensierski, 2006 (!) erschien es.
Seitdem wurde nach anfänglich erheblichen Widerständen der beiden Kirchen verschiedene Entschädigungsfonds für die einstigen Heimzöglinge aufgelegt. Seitdem gibt es auch eine tiefgehende historische Forschung – aktuell wird etwa untersucht, in wieweit an den Heimkindern nicht zugelassene Medikamente erprobt wurden und in wie weit sie wichtigen Unternehmen zuarbeiten mussten, ohne je dafür entlohnt worden zu sein. Es gibt zudem – wie bei den Verding-Kindern auch – eine Reihe von Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder; Lebens- und Überlebensberichte, autobiografisch grundiert, oft in kleinen Verlagen erschienen oder in Selbstverlagen veröffentlicht. Was aber bisher weitgehend fehlt, ist eine literarische Aufarbeitung – vergleichbar mit dem so genannten Internatsroman. Nun hat Willi Achten mit seinem Roman „Die wir liebten“ erste, wichtige Pflöcke eingeschlagen.
Und der schickt Edgar und Roman, die zwei Brüder, die Söhne des Bäckers, in die apokalyptische Heim-Welt. Die beiden Jungen kennen das Haus, vor dem sie nun stehen, zwangsweise hierher gebracht. Das Haus, das ein Heim beherbergt. Sie standen schon öfter davor; letzten Weihnachten erst, als sie den übriggebliebenen Kuchen ablieferten, eine Spende; an der Pforte hatten sie ihn abgegeben, weiter waren sie wie auch die Jahre zuvor nicht gekommen, und es war ihnen recht. Hatten dafür die Zigarre entgegengenommen, vom Heimleiter, auch wenn ihr Vater, der Bäcker, der den Kuchen spendete, der sich nicht mehr verkaufen liess, gar nicht rauchte. Aber das erzählten sie nicht, so wie sie auch nicht fragten, was das für ein Heim sei und wie es einem dort ergehe und wie man in dieses Heim komme, das „Gnadenhof“ heisst; besser nicht fragen, weil Fragen Wissen nach sich ziehen kann. Und dann – womöglich – Handeln.
Da sind wir sind Seite 253 angekommen. Alles, was wir zuvor gelesen haben, war notwendiges Vorspiel, war unverzichtbares Intro, einerseits. Ist die Vorgeschichte einer nun offen ausbrechenden Katastrophe, die notwendig zu erzählen ist, um zu verstehen, was auf den nun folgenden, etwas mehr als 100 Seiten geschieht.
Willi Achten «Die wir lieben», Piper, 2020, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05994-7
Denn sie sind anfangs eine ganz normale Familie. Im Grossen und Ganzen jedenfalls, in einem kleinen Ort, im Rheinland. Vater, Mutter, zwei Kinder. Eine Grossmutter noch dazu, ein Vetter der Grossmutter, der in der väterlichen Backstube arbeitet und hilft, dann noch die Grosstante Mia; die etwas anders ist, sehr eigen sozusagen, die für ihr Leben gern strickt, alles einstrickt, wirklich alles, sitzend unter einer Marienfigur. Die Mutter hat eine Art Kiosk, einen Lottoladen, auch sie arbeitet viel, und sie arbeitet gern. Es ist das Jahr 1971, als wir dazu kommen.
Ob es zwischen den Eltern die grosse Liebe ist, wohl eher nicht. Vielleicht war sie es mal. Vielleicht haben sich die beiden durchaus mehr erhofft, voneinander. Nun sind sie eine ganz normale, eine klassische Familie, in einer Zeit – ich erinnere das, es ist eine prägende Erinnerung –, als in den Nachrichten die Zahl der unehelichen Kinder vermeldet wurde, die stieg und stieg. Und entsprechend kommt alles ins Rutschen, als der Vater auf dem Dorffest mit der Tierärztin tanzt, zu Procul Harum, zu A Whiter Shade of Pale. Und sich dann mit ihr trifft. Und dann das erste Mal nachts nicht nach Hause kommt. Sondern woanders ist, wo er bleibt. Nicht gleich, aber bald.
Die beiden Jungs ahnen, was nun passieren wird. Auch wenn sie das Gegenteil hoffen. Und der Vater ist ja morgens da, steht in der Backstube; wann immer es möglich ist, helfen ihm die Söhne, springen ein, vielleicht kann das das Schlimmste verhindern. Und noch ist der Vater ja da, noch hören sie mit ihm gemeinsam Radio, wenn Fussball ist, bis die Ergebnisse feststehen. Über das, was geschieht, mit ihnen, im Einzelnen wie mit allen zusammen, wird nicht gesprochen. Es wird gehofft. Und das ist nicht genug; es ist bei weitem nicht genug.
Denn sie alle sind nicht allein auf der Welt. Es gibt den Dorfpolizisten, der schon vorher Dorfpolizist war und dem entsprechend eine gnadenlose Brutalität zu eigen ist. Und es gibt die Fürsorgerin, die die zerbrechende Familie nicht aus ihrem Blick lässt und die nur darauf wartet, dass sie einschreiten kann; aus eigenem Antrieb heraus wie von Amts wegen. Aber erst mal nimmt sie sich Mia vor, die zurückgebliebene Großtante, das schwächste Glied in einer sich auflösenden Kette, um die sich der Staat doch zu kümmern hat. Und dann ist es soweit und Edgar und Roman können nicht mehr entkommen.
Willi Achten erzählt das so kraftvoll wie schonungslos. Er verfügt über einen realitätssicheren und wahrhaft packenden Erzählstil, dass man zuweilen kaum weiterlesen mag, weil man das fürchtet, was auf den nächsten Seiten passieren wird und das passiert dann auch. Er holt uns in eine Welt zurück, die historisch gesehen, so lange her nicht ist und auf die oft genug nur verklärend geschaut wird, weil es damals besonders schaurige Popmusik gab und die regierenden Männer unförmige, schwarze und schwere Schuhe trugen und sich das dünne Haar mit Birkenwasser tränkten, ach, ist das lange her, so gefühlt, und was war das seltsam. Was Willi Achten uns mit seiner eigentlich ganz klassischen Familiengeschichte dagegen nahe bringt, ist ein zuweilen fast körperlich zu fassendes Erschrecken über die eingangs kurz skizzierte Erziehungswelt der 1970er-Jahre; von prügelnden Lehrern bis nahezu allmächtigen Fürsorgerinnen, flankiert von oft hilflosen Erwachsenen, die gerade anfingen an der sich vorsichtig ausbreitenden Liberalität bei der Gestaltung von Lebensentwürfen zu erproben.
Und so ist der zweite Teil des Romans nichts geringeres als eine geradezu apokalyptische Reise in die Abgründe der westdeutschen Heimerziehung, die fast lückenlos und nahezu ungebremst, weil auch personell gestützt auf die Ideale und Abläufe der Nazizeit aufbaute und die sich jahrzehntelang ungeprüft und unhinterfragt austoben konnte, auch weil sie Gesetz war und niemand in die Speichen des sich drehenden Rades griff. Und die so spät in Frage gestellt wurde und die noch später endetet, nach der so genannten Heimkampagne kritischer Pädagogikstudenten, bei der nicht zuletzt eine gewisse Ulrike Meinhof eine nicht unwichtige Rolle spielte. Dieser Zeit und besonders ihren Opfern hat Willi Achten mit seinem Roman ein überaus lesenswertes Dokument überlassen.
Willi Achten wuchs in einem Dorf am Niederrhein auf. Er studierte in Bonn und Köln. Seit den frühen 1990er-Jahren ist er als Schriftsteller tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Willi Achten lebt im niederländischen Vaals bei Aachen.