Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden

Muttersein zwingend mit Mutterglück zu verbinden, ist ebenso naiv wie weltfremd, zumindest jetzt, in Zeiten, in denen die Stereotypen von Familie aufbrechen. Nathalie Schmid hat sich an einen Stoff gewagt, den alle mit sich herumtragen, an Fragen, die niemanden kalt lassen, auch die Väter nicht. Und Nathalie Schmid traut sich, sich mit jedem Satz gegen den Titel ihren Romans zu stemmen; „Lass es gut sein“.

Larissa erzählt. Eine Frau, fest eingebunden in ihre Familie. Als Mutter, Schwester, Tochter und Enkelin. Dieses Eingebundensein ist wie ein Netz. Ein Netz, das sie ebenso hält wie zurückhält, ein Netz, das ebenso trägt wie fesselt. „Lass es gut sein“ ist der erzählte Versuch, der Lebenssituation eine Ordung zu geben, sich Gewissheiten zu verschaffen, zu überprüfen, wie sehr die Gegenwart an der Vergangenheit klebt oder endlich jenes Fenster aufgeht, von dem man sich freie Sicht in die Zukunft verspricht.

In christlicher Tradition sind wir einem demütigen Mutterbild verbunden; jener sanften Frau, die ergeben dem Kind alles gibt, was es braucht, ganz selbstverständlich alle Liebe und Hingabe – bis zur Selbstaufgabe. Frauen, die sich dieser scheinbar selbstverständlichen Rolle verweigern, werden noch immer mit Argwohn kommentiert, ausser die Karriere gibt ihnen die Rechtfertigung, sich „ihrer Bestimmung zu verweigern“. Larissa ist Restauratorin, hat sich ihr eigenes Atelier im kleinen Ort eingerichtet, wartet aber vergebens auf Auträge, dümpelt in Beschäftigungen und dem permanenten Hadern mit der Situation.

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden, 2023, 316 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-907406-01-4

Larissa ist sich nicht sicher. Nichts scheint sicher. Bin ich die Mutter, die ich sein müsste? Bin ich die Tochter, die ich sein müsste? Muss ich damit rechnen, dass ich dereinst mit eben jenen Vorwürfen konfrontiert werde, die ich meiner Mutter mache? Larissas Mutter ist so sehr in ihr eigenes Leben eingebunden, dass es selbst Larissa schwer fällt, diese Distanz zu akzeptieren. Vielleicht bin ich Restauratorin geworden, weil ich lieber einen Weg zurückverfolge, als mir einen neuen auszudenken. Larissas Kinder werden erwachsen. So wie sie sich distanzieren, versucht sie sich aus der Umklammerung ihrer Familie zu distanzieren.

„Wir konnten einander nicht retten, die Tage nicht stemmen, das Licht nicht finden.“

„Lass es gut sein“ ist nicht in erster Linie ein Roman, der eine Geschichte erzählen will. Der Roman beschreibt den Befreiungsversuch einer Frau, die in einem Dazwischen gefangen ist. In Rückblenden hinein in ihre Kindheit, in die vielen Streitereien mit ihrer eigenen Mutter, den unsäglich vielen kleinen Lügen, um sich herauszuwinden. Von den Versuchen als junge Frau, den Konventionen zu trotzen, um dann doch in sie hineinzurutschen, sich den ungeschriebenen Vorschriften entgegenzustellen. Vom Kampf gegen Überforderung, Zweifel und Unsicherheit. Ich will die Augen schliessen und mich davontreiben lassen, weg von hier, von diesem Haus, aus dieser Ehe, aus der gesamten Verantwortung, die so schwer wiegt und der ich mich zu stellen habe. „Lass es gut sein“ ist eben dieser Versuch, eine ehriche Auseindersetzung, der die Ausweglosigkeit droht. Keine heldenhafte Geschichte einer Frau, die allem trotzt, sondern das verletzliche Spiegeln in die Mechanismen einer gesellschaftlichen Festlegung.

„Leben wir nicht alle mit angezogener Handbremse?“, fragt sich Larissa. Dass es nicht einfach ein schneller Akt sein kann und hopp die Handbremse ist gelöst, erzählt Nathalie Schmid mit grösster Sensibilität. Ist das Leben, das ich führe, das Leben, das mir bestimmt ist? Nathalie Schmid nimmt mich mit in eine Auseinandersetzung. Keine entblössende Nabelschau, keine exibitionistische Selbstzerfleischung, aber der mäandernde Weg einer Selbstbestimmung. Dass sich die Autorin in ihrer Perspektive zwischen die Fronten schiebt, macht den Roman flirrend, auch wenn ich mir mehr Reibung gewünscht hätte. Ihr Buch ist mutig!

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen. «Lass es gut sein» ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck

„Der Magier im Kreml“ fasziniert. Ein Roman, der sich an der Seite eines scheinbar fiktiven Beraters ganz nah an die Person Wladimir Putin heranwagt. Ein Buch, das mich staunen lässt und mit all den Realbezügen einen Schauer des Schreckens über meinen Rücken zieht.

Der Westen reibt sich noch immer die Augen. Seit über einem Jahr Krieg in Europa, ein Krieg, der nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern schon viel früher mit der Annexion der Krim und den kriegerischen Handlungen im Donbas. Eine „Spezialoperation“ die nach russischen Vorstellungen schnell und als „Befreiung“ hätte funktionieren sollen. Kein Wunder sind die Sachbuchregale in Buchhandlungen voll mit Publikationen, die zu erklären und verstehen versuchen, warum sich die russische Seele und allen voran Wladimir Putin so sehr in ihrer Existenz, ihrem Stolz und Selbstverständnis bedroht fühlen, das man bereit ist, einen jahrelangen Abnützungskrieg anzuheizen, der eine ganze Generation RussInnen und UkrainerInnen traumatisieren wird.

«Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflössen.»

Die Figur des russischen Präsidenten wurde und wird zum Mysterium, für die einen zur Verkörperung des Bösen, für eine grosse Mehrheit der Russen selbst zur Lichtgestalt im Kampf gegen eine globale Verschwörung. Und während deutsche PolitikerInnen auf Grossdemonstrationen fordern, man müsse dem Despoten die Hand reichen, man müsse um jeden Preis verhandeln, sterben Tausende Unschuldiger in einem unkontrollierten Gemetzel, wird der Osten der Ukraine unter russischem Dauerbeschuss zur real gewordenen Apokalypse.

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck, 2023, aus dem Französischen von Michaela Meßner, 265 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-406-79993-8

Kein Wunder, dass ein Roman mit dem Namen „Der Magier im Kreml“, geschrieben von einem Politikwissenschaftler nicht nur die Hoffnung weckt, mit der Lektüre etwas mehr zu verstehen, sondern all jenen Bestätigung liefert, die schon immer „wussten“ wie die russische Seele tickt, wie ein diktatorisches Staatsgefüge funktioniert. Der italo-schweizer Schriftsteller und Wissenschaftler wollte eigentlich ein Essay schreiben, verstand aber schnell, dass er mit den Mitteln der Fiktion den Zusammenhängen eines russischen Machtapparates viel näher kommen würde.

«Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.»

Erzählt wird das Zusammentreffen eines Sprachwissenschaftlers und eines ehemaligen Einflüsterers Wladimir Putins; Wadim Baranow. Wadim Baranow, dessen real existierendes Pendant Wladislaw Surkow war, von 2013 bis 2020 Putins Berater, mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Wadim Baranow, die einzige nicht reale Figur im Roman, erzählt vom Aufstieg Putins, einem Mann den man aus dem unscheinbaren Büro des russischen Geheimdiensts holte, um die alten Machtstrukturen nach den verheerenden Annäherungen Gorbatschows und Jelzin an den Westen wieder herzustellen. Damals glaubte man noch, der kleine blonde Mann mit dem leicht linkischen Gang wäre die ideale Figur, die sich leicht führen liesse, die dem russischen Machtapparat jenen Glanz und jene Grösse zurückgeben würde, die man vor den Augen der Weltöffentlichkeit verloren hatte. Aber Wladimir Putins Fähigkeiten gingen weit über jene eines reinen Apparatschiks hinaus. Von Beginn weg schaffte es der russische Präsident sowohl im Kreml wie in seinem Riesenreich in einem Klima der Angst und Verunsicherung seine Macht zu zementieren und dem russischen Selbstbewusstsein das zurückzugeben, was man ihm genommen hatte.

«Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.»

Giuliano da Empolis Roman fasziniert, weil er mir als Leser nicht den leisesten Zweifel lassen will, der Autor wüsste nicht haargenau, wie der russische Staatsapparat tickt. Giuliano da Empolis Erzählen ist allglatt, auf Hochglanz getrimmt. Dass die Kritik derart klatscht, beweist, wie sehr sich alle bestätigt fühlen, die schon immer ahnten, wie durchtrieben und gefährlich jener unscheinbar wirkende Mann war und ist. Als Sachbuch funktioniert das Buch sehr wohl. Ich verstehe, warum die naive Haltung, man müsse nur mit der offenen Geste der Verhandlungsbereitschaft auf den Kriegsherrn zugehen, angesichts dieser Lektüre unmöglich scheint. Aber als Roman fehlt mir nicht nur die Nähe zum Personal, sondern auch eine gewisse Zurückhaltung in der Art des Erzählens. Das Buch passt perfekt in eine Zeit, in der man krampfhaft nach Erklärungen sucht. Das Buch passt perfekt in die Vorstellung, dass der Kreml der Nabel des Bösen sei. „Der Magier im Kreml“ ist nicht der Versuch einer Erklärung, sondern Erklärung selbst, geschrieben von einem Könner, der nie nur einen Satz lang zweifelt.

Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.

Michaela Meßner geboren in Mainz, lebt als Literaturübersetzerin in München. Sie hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, Jean Baudrillard und César Aira ins Deutsche übertragen. 1992 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Francesca Mantovani, Editions Gallimard

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese

Edith Gartmann hat mich mit ihrem Debüt tief beeindruckt. Ein Buch wie ein Bergkristall, der das Licht in alle Farben bricht. Ein Buch, das mit grosser Zärtlichkeit aus der Sicht eines Mädchens erzählt, der kaum jemand hilft, ihre noch kleine Welt zu entschlüsseln. Ein Buch, das man nach der Lektüre ans Herz drückt und gar nicht ins Regal schieben will.

Lisa ist zehn und lebt mit ihrem kleinen Bruder, ihren Eltern und ihren Grosseltern, die nicht weit von ihrem Haus wohnen und die sie oft besucht, in einem Tal in den Bergen, weit ab vom urbanen Leben, weit ab von den Annehmlichkeiten eines Lebens in materieller Sorglosigkeit. Ihr Vater führt den kleinen Hof, ihre Mutter versinkt immer wieder in Phasen tiefster Schwermut und irgendwann muss sogar die Grossmutter für ihre letzten Monate in die ungeheizte Kammer neben der Stube genommen werden. In Lisas Familie wird mehr geschwiegen als gesprochen. Fragen finden keine Antwort, weder beim wortkargen, distanzierten Vater, noch bei der so oft in sich versunkenen Mutter, die in einem abgedunkelten Zimmer manchmal tagelang in Ruhe gelassen werden muss.

„Was ist anstrengender, die Wahrheit wissen oder die Wahrheit vergessen?“

Nicht einmal der Fernseher, der in die Stube getragen wird, kann die Stille im Haus vertreiben. Eine Stille, die die Furcht, die Erklärungsnot der beiden Kinder nur noch verstärkt. Lisas einziger Lichtblick ist die Dorfschule, die Lehrerin, ihre freundliche Art und die Bücherkiste, die mit dem gelben Postauto ins Dorf, in die Schule, ins Klassenzimmer gebracht wird. Eine Kiste voller Bücher, die sich die Schulkinder ausleihen, die sie mit auf die langen Schulwege nach Hause nehmen dürfen, Lisa in ein Haus in dem das Ticken der Stubenuhr zum Dröhnen werden kann, in ein Haus, in dem es keine Bücher gibt, nur Geschichten, die wie düstere Ahnungen im dunklen Holz des Hauses eingeschlossen sind. In Büchern öffnet sich Lisa die Welt. Dort werden all die Geschichten erzählt, nach denen sie dürstet, die ihr höchstens der Grossvater erzählt, bei dem es aber immer nur das eine Thema gibt; die Jagd.

„Warum tönt leise manchmal so laut?“

Edith Gartmann «Schongebiet», edition bücherlese, 2022, 96 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906907-65-9

Zu Weihnachten bekommt Lisa Schokolade, von einer Tante wieder zwei Silberlöffel und von den Eltern eine kleine Schmuckschatulle mit schwarzem Stoff ausgekleidet. Eine leeres Schächtelchen, das Lisa mit Fragen füllt, die sie auf kleine Zettel schreibt und mit dem kleinen Schlüssel, den sie um den Hals trägt, wegschliesst. Nach dem gleichen Weihnachtsfest, auf der Suche nach einer Vase für einen verfrühten Krokus findet Lisa die Weihnachtsplätzchendose, die ihre Mutter nicht mehr finden konnte, die sie versteckte, damit man sie vor dem Fest nicht finden würde. Hinter der Dose im Schrank mit dem Festtagsgeschirr war noch eine Dose. Eine Dose mit einer rosa Schleife, eine Dose mit Briefen, weggesperrten Briefen. Briefe an ihre Grossmutter, Briefe ihrer Grosstante, Briefe über ein früh gestorbenes Kind, einem Kind, das den gleichen Namen wie Lisa trug, einem Kind, das in keiner Geschichte in der Familie vorkommt, schon gar nicht in den Geschichten ihrer Grosseltern.

„Was das Schwierige ist, muss man nicht auch noch wissen.“

Lisa traut sich nicht. Und wenn sie Fragen so stellt, die sich ganz nahe an dieses früh gestorbene Mädchen annähern, beisst sie auf Stein. Der einzige, der wirklich mit Lisa spricht, ist ihr kleiner Bruder. Aber ausgerechnet ihm muss sie Antworten und Geschichten liefern, Erklärungen für all die Schatten, die das Licht wirft. Antworten auf ihre Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, findet sie keine. Der einzige Weg, das Tor zur grossen Welt aufzustossen, bleibt die Hoffnung, Antworten und Geschichten in Büchern zu finden.

„Schongebiet“ ist der Raum zwischen all den unbeantworteten Fragen, den Geheimnissen, dem Leben, das durch das Dunkel tappt. Edith Gartmanns Debüt ist von durchdringender Poesie. Was sie an Bildern evoziert, beeindruckt sehr und hat so gar nichts Unausgegorenes, das einem bei der Lektüre den Genuss trübt. „Schongebiet“ ist geradlinig erzählte, feinsinnige Prosa, die sich nicht am Effekt orientiert, die einem mit fast kindlicher Unvoreingenommenheit mitnimmt in eine Welt, die man als Erwachsener vergessen hat, die die Schriftstellerin Edith Gartmann mit Bildern noch immer mit sich trägt. Ich bin der Autorin unsäglich dankbar für dieses Buch!

Interview

Aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, ist heikel. Es gibt immer wieder AutorInnen, denen das nicht glaubhaft gelingt, ein Umstand, der einem Buch schnell den Glanz rauben kann. Dir gelingt das sehr gut. Nicht zuletzt deshalb, weil Lisa, das Mädchen in einer Welt lebt, die in ein grosses Schweigen eingehüllt ist. Sie stellt die Frage an sich selbst. Wie gelang es dir, jene unsichtbare Grenze nie zu überschreiten, die das Erzählen schnell unglaubhaft macht?
Frühere Fassungen des Textes standen in einer starken Aussenperspektive mit einer auktorialen Erzählerin. Es war dann gerade das Wagnis Ich-Perspektive, das mir half, Aufgesetztes und Unglaubwürdiges wie Belehrung oder Deutung auszumerzen. Wir nehmen jetzt sozusagen aus erstem Mund an Lisas Innenleben teil. Da dieses Innenleben, wie Du es auch erwähnst, zu einem grossen Teil innen bleibt, konnte ich es beim Schreiben besser schützen vor sprachlichen Anpassungen, vor Konvention oder Kitsch.
Ich denke, auch das Alter von Lisa spielt eine Rolle. Oft empfinden Kinder in diesem Alter das Wegbrechen «der magischen Jahre“ als Verlust, sie fühlen sich heimatlos, manche denken, sie seien bestimmt nicht das leibliche Kind dieser Familie. Lisa befindet sich in dieser Phase ihrer Entwicklung, in der sie einerseits noch stark eingebunden, anderseits aber aus der Ur-Kindheit heraus gefallen ist. Sie schaut bereits mit einem Aussenblick auf ihre Familie und kann nur noch in den Spielen mit ihrem kleinen Bruder zurück in die Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Vor diesem Hintergrund bekam ich Raum, auch Widersprüchliches in Lisas Innenwelt glaubhaft zu machen.

Hier die Familie ohne Erklärungen, ohne das Erzählen, wo sich die beiden Kinder selbst die Geschichten erfinden müssen, um das Schweigen auszufüllen. Dort diese Kiste in der Schule, die Lehrerin, der geheimnisvolle Nachbar mit seinem Ferienhaus voller Bücher oder der auf handliche Grösse zugerissene Klozettel aus einer Illustrierten mit einem Foto eines Bücherregals und der noch lesbaren Beschriftung „iftsbibliothek St. Gallen“. Lesen ist viel mehr als eine Kulturtechnik. Bücher sind viel mehr als Unterhaltungsfutter. Wer deinen Roman liest, wird mit Leidenschaft bestätigt. Aber was mit all jenen, die die Geheimnisse der Literatur nicht einmal erahnen?
Verloren für immer…nein, die Literatur ist ja nicht das einzige Tor zu Begeisterung, Identifikation, Gänsehaut, Überlebenswille, Teilnahme, Rausch. Da sind noch die andern Künste, vielleicht auch die Natur oder die Religion. Entscheidend ist, glaube ich, die Sehnsucht. Dann findet sich eines der Tore. Dass offenbar ein immer grösserer Teil unserer Gesellschaft dieses Sehnen und Suchen nicht mehr kennt, oder jedenfalls irgendwie an den Oberflächen haften bleibt, stimmt mich mit Blick auf die Zukunft schon pessimistisch.

Lisa lebt in einem beklemmenden Klima. Ein schweigsamer Vater, der allem aus dem Weg geht. Eine schwermütige Mutter. Auch die Grosseltern können die Tür nicht aufstossen, schon gar nicht der Fernseher. Lisa hat Kraft. Sie überlebt das Schweigen, baut sich ihr eigenes, kleines Glück. Glaubst Du noch immer an die Macht der Literatur?
Zumindest setze ich auf die Kraft des Schöpferischen. Aus dieser Kraft speist sich die Kunst, aber auch das kindliche Spiel, in beiden geht es, meine ich, stark um Hingabe und Freiheit. 
Das Beklemmende und Verlorene spielt sich in Lisas Familie vor allem auf der Beziehungsebene ab. Abgesehen davon sehe ich in ihrem Umfeld aber auch Stärken: das Leben mit den Jahreszeiten, die Rituale, selbst die begrenzte Welt im engen Tal können ihr Halt geben. Vielleicht tragen Spracharmut auf der einen und Naturreichtum auf der andern Seite dazu bei, dass Lisa die Macht der Literatur sucht und findet. 

Ein Bergroman, aber die Berge sind nicht aus Fels. Kein Heimatroman, ohne ein Fitzelchen verklärte Romantik, ein Stück Geschichte eines Mädchens, dem genau jene Heimat fehlt. Und doch sind deine Bilder archetypisch, erzeugen in mir Sepiafarben, als wäre die Geschichte aus tiefster Vergangenheit, als hätte die Gegenwart, die Moderne jenes Tal in den Bergen vergessen. Dein Roman umschifft mit grosser Virtuosität Klischees, Verklärung und Effekte. Entstand das intuitiv oder gab es bewusst Grenzen, die Du beim Schreiben nicht überschreiten wolltest.
«…die Berge nicht aus Fels», welch schönes Bild. 
Wie darauf antworten? Vielleicht so: Als Bergkind befrage ich meine persönliche Beziehung zur Bergwelt seit ich erwachsen bin. Ich kenne mich also zwischen Bergen, bei denen ich auf Granit beisse und Bergen, die ich zu Tobleroneschokolade mache (und allen Stufen dazwischen) ziemlich gut aus. Demnach leiteten mich bei diesem Bergroman wohl beide, Intuition und Bewusstheit.

Lisa stellt Fragen an die Welt. Fragen, die ihr niemand beantwortet. Sie sucht nach Antworten, die ihr verschlossen bleiben. All die Fragen, die Lisa in ihrer Schatulle sammelt, würden jede für sich Diskussionen füllen. Ist Dein Schreiben eine Form des „Nach-Antworten-Suchens“?
Ich glaube nicht, jedenfalls interessiert mich das Suchen nach Fragen mehr als das Suchen nach Antworten, gerade auch im Alltag.
Ich bewundere Freunde, Politikerinnen, Pädagogen oder Künstlerinnen, die zum richtigen Zeitpunkt die richtige Frage stellen. Eine solche Frage wirkt inspirierend und rollt den Teppich aus für die nächsten Schritte. Oft sind wir aber so lösungsorientiert unterwegs, dass wir das Fragen überspringen und gleich zur Antwort übergehen wollen.
Mein Schreiben erlebe ich eher als Befragung und nicht als Beantwortung. Ich habe jedoch nichts dagegen, wenn sich dabei für mich Teilantworten ergeben; besonders in der Befragung der Sprache selbst freue ich mich über jedes bisschen Antwort.

Edith Gartmann, geboren 1967, wuchs im Safiental, Graubünden, auf. Ausbildung am Kindergarten-Seminar Chur, anschliessend Lehr- und Wanderjahre in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und England. Sie besuchte die neueKUNSTschule Basel mit Schwerpunkt Malerei und absolvierte den Literaturlehrgang der SAL Zürich. Edith Gartmann lebt in Basel.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», Bilger

Vor 200 Jahren und mehr gab es viele Gründe, warum man sich gezwungen sah, seiner Heimat, der Schweiz den Rücken zu kehren und auszuwandern. Nicht immer waren es wirtschaftliche Gründe. So wie bei Eugènie und Frederick, die ihr Glück auf der Krim zu finden hofften.

„Kretainismus“ war vor 200 Jahren der Sammeltopf für all jene geistigen und körperlichen Behinderungen und Missbildungen, die man damals infolge Jodmangels und fehlender Hygiene nicht in den Griff bekam. Der Patriziersohn Frederick Zen Zaenen, der in den 80ern des 18. Jahrhunderts im Wallis zur Welt kommt, leidet an dieser Krankheit, ist von schwächlicher Konstitution und hat einen Kropf, ein grosses Geschwulst am Hals. Damals war diese Krankheit nicht unüblich. Das Glück von Frederick Zen Zaenen aber war, dass er einer wohlhabenden und einflussreichen Familie entstammte, die ihn nicht einfach dahinsiechen liess, sondern den werdenden Mann nach Leukerbad zur Kur schickte und ihm dort eine Magd, Fräulein Eugènie, zur Seite stellte.

Eugènie und Frederick verlieben sich. Frederick weiss, welches Glück ihm mit dem Bauernmädchen widerfährt, muss aber hinnehmen, dass ihn seine Familie ächtet und verstösst, als sie erfährt, dass Frederick und Eugènie zur Familie werden. Obwohl Frederick an der Seite seines gestrengen Vaters in dem im Rhonetal grassierenden Krieg zwischen Napoleon ergebenen Truppen und dem katholischen Oberwallis zieht, ist der Bruch in der Familie irreparabel. Fredericks Schicksal wird zu einer ersten Reise, denn es gibt nur zwei Dinge, die ihm zu einem Zuhause werden können, Eugènie mit den Kindern und die Musik. Aber weder die Familie noch die Musik werden zu einem sicheren Hafen. Nicht zuletzt darum, weil Eugènie alles andere als eine dienstbeflissene und ergebene Magd ist und obwohl von niederem Stand alles daran setzt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie lässt sich in Yverdon zur Hebamme ausbilden, zieht mit ihrem Kind in die Fremde und lernt dort nicht nur das Handwerk der Geburtshelferin, sondern die Freiheiten einer sich von den kirchlichen Zwängen emanzipierten Gesellschaft. Weil Eugènie zurück im Wallis sich nicht von ihren aufmüpfigen, antiklerikalen Ideen distanziert, sieht sich die noch junge Familie gezwungen der Enge ihres Heimatkantons den Rücken zu kehren. Sie lassen sich von den Versprechungen einer Kolonie auf der Krim anwerben und eine zweite Reise beginnt.

Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Bilger, 124 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03762-102-8

Frederick findet in seiner neuen Heimat gar eine Orgel. Aber das so leidenschaftlich begonnene Glück beginnt zu schwinden. Nicht nur die Orgel, die er im Hafen einer Krimstadt günstig erstehen konnte, bringt er kaum zum Klingen, auch seine Liebe zu Eugènie, die nun Evgenia heisst, verliert an Farbe und Kraft. Und als ihm Eugènie, die im zaristischen Gesundheitswesen schnell Karriere macht, unterbreitet, dass sie ins ferne Petersburg zu ziehen gedenkt und Frederick ahnt, dass es nicht nur ihr Handwerk ist, dass sie in die Ferne zieht, beginnt sein Stern zu sinken, während der Ihrige zusammen mit ihrem Sohn in für damalige Verhältnisse schwindelerregende Höhen steigt. Eugènie wird Hebamme der Zarenfamilie, Othmar, Eugènie und Fredericks Sohn ein erfolgreicher Arzt. Während Frederick sein Leben an einem Strick beendet, reüssiert Eugènie in der Fremde und schüttelt alles ab, was sie an ihre eigene Herkunft erinnert.

Raymond Vouillamoz’ Debüt ist realistische Fiktion. Feminismus ist keine Erfindung der Neuzeit. Es gab sie immer, die Frauen, die nicht für Gesetz nahmen, was ihnen Tradition und Patriarchat vorsetzten. Auch die Tatsache, dass es lebensgefährlich sein kann, für Gleichberechtigung einzustehen, hat sich nicht wirklich verbessert. Während sich selbst Europa, die westliche Welt noch immer schwer tut, aus einem Geschlechterdenken herauszutreten, werden anderorts Frauen von bärtigen Männern wie Vieh behandelt. Trotz Fiktion ist dieser Roman ein Stück erfrischende Realität, auch wenn das, was von Frederick übrig bleibt, an einem starken Ast einer Linde baumeln muss.

Raymond Vouillamoz wurde 1941 in Martigny im Kanton Wallis geboren. Nach dem Studium wurde er Journalist und Filmkritiker in Neuenburg. 1966 machte er ein Regiepraktikum bei Claude Goretta im TSR und schloss seine Ausbildung mit zwei Kurzfilmen ab. Seit 1970 drehte er zahlreiche Reportage, adaptierte Theaterstücke fürs Fernsehen und drehte Fernsehfilme. 1980 wurde er Chefproduzent für Fernsehfilme, 1990 Programmdirektor bei France 3. 1993, wieder in der Schweiz, war er bis 2003 Programmdirektor beim TSR. 2005 kehrte er in seinen Beruf als Filmregisseur zurück und wurde von der französischen Regierung zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt. 
Raymond Vouillamoz wurde im Herbst 2022 in Zürich mit dem Literaturpreis der Stiftung Kreatives Schaffen im Alter ausgezeichnet.

Barbara Heber-Schärer, geboren 1945, lebt in Basel. Sie arbeitet seit 1990 als Lektorin und Übersetzerin, unter anderem von Emmanuel Bove, Paul Ricœur, Joseph Szapski, Leslie Kaplan, Claude Lanzmann und Michèle Desbordes.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont #SchweizerBuchpreis 22/7

„Blutbuch“ ist ein Buch über das Woher und Wohin. Die Stimme im Buch sucht nach ihrer Herkunft, schreibt Briefe an die Grossmutter, weil sie weiss, dass alle alle Generationen mit sich tragen, aus denen die eigene Existenz gewachsen ist. „Blutbuch“ ist die Suche nach den Säften, die das Leben ausmachen.

Die Erzählstimme definiert sich weder männlich noch weiblich, was sich non-binär nennt. Sie forscht in einer Zeit, in der Vergangenheit, als es ausschliesslich das Weibliche und Männliche gab und sich alles dieser Zweiteilung zu unterwerfen hatte, mit allen Konsequenzen. Wenn die Erzählstimme in den Schichten des eigenen Daseins wühlt, wenn sie schwärmt, leidet, schreit, erklärt und forscht, vermeidet sie jede Zuordnung, schreibt „jemensch“ statt jemand, was zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist, den Lesefluss aber kaum hemmt und für Kim de l’Horizon eine der unausweichlichen Konsequenzen einer nicht nur für das Schreiben getroffenen Entscheidung ist.

«Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.»

„Blutbuch“ ist die Zwiesprache mit der Grossmutter, mit seiner Grossmeer, einer alt gewordenen Frau, die zu verstummen droht, die in ihrer Demenz ihre Geschichte Stück für Stück verliert, die er nicht mehr fragen kann, deren Antworten versiegen. Mit einer Frau, die untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden ist, die in ihr grosses Vergessen Stücke seiner eigenen Geschichte mit in diese eine nicht zu korrigierende Leere reisst.

„Blutbuch“ ist die Suche nach der eigenen Herkunft, ein erschriebener Stammbaum. Kim de l’Horizon kostet in diesem Buch vom Blut seiner Familie, schmeckt das Verborgene, Vergessene, Verschwiegene. Jene Blutbuche im Hof ist Sinnbild für das Buch, das jede Familie schreibt, die Geschichten, von denen man sich emanzipieren kann oder die einem auf ewig im Griff behalten, nicht loslassen, ketten.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont, 2022, 336 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-8321-8208-3

Die Grossmutter des Erzählenden, die Grossmeer, ist Kim näher als die Mutter, seine – ihre Meer, von der Kim sich sein ganzes Leben lang seltsam distanziert fühlt, mit der Kim nicht redet, schon gar nicht über das Anderssein, dieses „Es“, das immer aussen vor bleibt. „Blutbuch“ ist die Liebeserklärung an eine Grossmutter, das Nachspüren an eine Nähe, die der Erzähler zur Mutter nie hatte. „Blutbuch“ ist sanfte Berührung, leises Streicheln, aber auch verzweifeltes Schreien, grelle Demonstration.
„Blutbuch“ ist die Erkundung eines Körpers, einer Selbstverständlichkeit für viele, einer schmerzhaften Konfrontation für Kim. Kim spürt sich dann, wenn der Schmerz am grössten ist. In „Blutbuch“ steckt der Kampf ebenso wie der Versuch einer permanenten Versöhnung. Warum bin ich so, wie ich bin? „Blutbuch“ ist der Literatur gewordene Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, dem eigenen Sein eine Gestalt zu geben, Kraft dort zu finden, wo andere sich der Verzweiflung ergeben. Kim de L’Horzon gibt dem Suchen eine Sprache.

«Ich wollte dir meine konstante Angst vor meinem Körper erzählen: Mit dem schrecklichen Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut.»

Ich las „Blutbuch“ mit angehaltenem Atem. Der Roman ist keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass einem Bilder bis in Träume begleiten, ist gross. Kim de l’Horizons Debüt ist ein vielstimmiges Konvolut, sich aus den Zwängen einer Gesellschaft zu befreien, die alles und jedes in Schubladen pressen muss, die all dem keinen Platz lässt, was Normen widerspricht. „Blutbuch“ liest sich wie ein Drehbuch zu einem langen Akt der Befreiung. Erstaunlich, wie viel Reife in diesem Buch liegt, wie viel Sprachkunst, wie viel Mut und Kompromisslosigkeit.

Weniger erstaunlich, dass sowohl der Deutsche wie der Schweizer Buchpreis das Buch in die Shortlist, in die Endausscheidung aufgenommen haben, weil das Buch all das zur Sprache bringt, was in der aufgeladenen Atmosphäre unserer Gesellschaft wabert. Aber „Blutbuch“ ist keine Unterhaltung. Dieses Buch will Auseinandersetzung. Wer sich als Lesende dieser Auseinandersetzung stellt, wird belohnt. „Blutbuch“ ist eine Wucht.

Kim de l’Horizon gewann mit seinem Roman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis 2022. Hier die Kurzfassung der Jurybegründung:
«Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Grossmutter, die „Grossmeer“ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt.
Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern liess.»

Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debüt «Blutbuch» versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Heute hat Kim aber genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. «Blutbuch» wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau

Über eine Seele, die Krebs hat

Fremd im eigenen Körper: In Lea Draegers Debütroman «Wenn ich euch verraten könnte» hört eine Dreizehnjährige aus Protest auf zu essen. Im Krankenhaus beginnt sie, ihre Familiengeschichte zu schreiben.

Gastbeitrag von Dario Schmid. Dario Schmid studiert Deutsche Philologie und Französistik an der Universität Basel. 

Es ist eine Geschichte über krebskranke Seelen und zerstörte Körper. Über gewalttätige Väter und sexuelle Übergriffe. Über Integration und Verrat. Über Streit, Strafe und Schweigen. Während die Ärzte darum bemüht sind, das Mädchen wieder gesund zu machen, bricht dieses mit seinem Schreiben das Schweigen. Jeder ihrer Einträge beginnt mit Über – und so erfährt man immer mehr über die generationenübergreifenden Abgründe einer Familie, die von dem Vater bestimmt ist.

«Es gibt keine Geschichten, die von den Frauen in meiner Familie geschrieben wurden. Es gibt nur die Geschichte, die der Vater geschrieben hat.»

Der Vater – das ist zunächst der Urgrossvater des Mädchens, der Suizid begeht, danach ihr Grossvater. Der Vater steht aber auch für die patriarchalen Strukturen, die sich von Generation zu Generation durch die Familie ziehen: Zu Hause gelten die Gesetze des Vaters. Da ist der Vater der Grossmutter, der seine Frau mit Worten, die Töchter mit dem Gürtel schlägt, ihre Körper nach fremden Küssen absucht – und mit seinen Fingern prüft, ob sich der dunkle Schlund geöffnet hatte. Da ist der ebenfalls schlagende Vater der Mutter, der seiner siebenjährigen Tochter zeigt, wie sie ihm als gute Frau sanft über die Haare streichen musste und als böse Frau die Beine zu spreizen hatte.

Der Vater der Dreizehnjährigen hingegen ist anders – er wird von seiner Frau betrogen und zieht sich im Dachboden zurück; er hat Angst, dass man ihn verlässt. Verlassen fühlt sich das Mädchen auch von seiner Mutter, die Scham und Fremde bedeutet: Die schöne Frau, die meist nur geschminkt aus dem Haus geht, zieht die Blicke anderer Männer auf sich; ihre Aussprache und ihr Pelzmantel verraten die tschechische Herkunft. Die Tochter aber will nicht auffallen, sie will normal sein – sie will nicht, dass ihre Mutter ihre Mutter ist. Einmal nimmt die Mutter ihre beiden Kinder mit zu einer Affäre. Zehn Jahre später sprechen diese über das Ereignis – und dann ist nichts mehr, wie es mal war.

All dies prägt das junge Mädchen: Zurück bleibt eine Jugendliche, die schweigt, hungert, in der Psychiatrie landet – und sich ritzt. Eine Jugendliche, die sich fremd in ihrer Familie und im eigenen Körper fühlt. Eine Jugendliche, die ihre Schönheit verliert und hässlich wird – und im Krankenhaus wieder schön werden soll.

«Ich werde irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen. Ich werde nach Hause gehen, und alles wird so sein, wie es war. Ich meine, bevor ich hässlich wurde. Ich weiss, dass alle das erwarten.»

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau, 2022, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27286-6

Unter dem Vorwand, zeichnen zu wollen, erhält sie Stift sowie Papier und beginnt zu schreiben. So entsteht aus dem Schreiben über die familiäre Vergangenheit und den Beschreibungen zu ihrem Aufenthalt im Spital nach und nach eine Zeichnung, die das Jetzt und das Geschehene vereint. Ein kompositorisches Wechselspiel, das für Spannung und Abwechslung sorgt, aufgrund der ähnlichen oder gar identischen Verwandschaftsbezeichnungen und der vielen Spitznamen beim Lesen aber auch Konzentration erfordert.

Die Debütantin Lea Draeger präsentiert ein knapp 290-seitiges eindringliches Sprachwerk: Mit einfachen, aber passenden Worten malt diese lebendig wirkende, teils grässlich intensive Bilder. Die sprachlich schönen Sätze legen sich über die hässlichen Themen – sie sind die Schminke, die gleichzeitig be- und aufdeckt. Die schönen Sätze machen den hässlichen Stoff erträglicher. Und so huscht einem beim Lesen, trotzt der inhaltlichen Schwere, immer mal wieder ein leichtfüssiges Lächeln über das Gesicht.

Ein inhaltlich aufwühlender und wortgelungener Roman, der sich manchmal aber auch in Details verliert. Wer sich davon nicht einschüchtern lässt, darf sich auf eine Lektüre freuen, die ganz schön hässlich ist – aber auch hässlich schön.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Kristin Rosenhahn

Anja Schmitter mit ihrem Debüt «Leoparda» im Literaturhaus Thurgau

Es ist heiss. Flüsse trocknen aus, der Gestank von Verwesung hängt über der Stadt. Es ist überall heiss; in den Köpfen, in den Herzen, in Beziehungen, bei der Arbeit oder ganz privat. In Anja Schmitters Debüt kocht es über und eine junge Frau wird zum Tier.

Kleo Frei ist junge Lehrerin. Aber schon nach kurzer Zeit hat sich Begeisterung, Enthusiasmus und Euphorie in ihrem Beruf abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo steckt auch mit Ernst, ihrem Lebenspartner in einer Sackgasse. Und als sie ihn um mehr Raum bittet, die Vorzüge einer offenen Beziehung anpreist und wenigstens Türen schaffen will, „erwischt“ sie Ernst bei ihm zuhause im Bett mit einer anderen. Ausgerechnet ihn, von dem sie das Gefühl hatte, es gäbe für ihn nur sie. Auch in der Beziehung mit ihren Eltern, beide im Schuldienst, weiss sie sich seit ihrer Trennung von Ernst nicht mehr zu helfen. Da sind Erwartungen, die sie nicht abschütteln kann. Da spielt ein Schmierentheater, das nichts mit der Wirklichkeit gemein hat. Da wabern Beteuerungen, denen sie nicht mehr glauben kann. Und irgendwann ist das Mass voll.

Mit Sicherheit kennen sie solche Situationen. Solche, in denen ihnen alles über den Kopf wächst, in denen alle Fluchtwege abgeschnitten sind, es keine Alternativen mehr zu geben scheint. Man will aus der Haut fahren. Man spürt das Tier in sich. Man würde am liebsten in die Nacht hinausschreien, oder fauchen wie ein zorniges Raubtier.

Anja Schmitter «Leoparda», Lenos, 2022, 226 Seiten, CHF 26.50, ISBN 978-3-03925-025-7

Kleo heisst eigentlich Kleopatra. Eine Laune ihrer Eltern. Das Resultat einer Reise ins Land der Pharaonin. Aber Kleo ist keine Prinzessin mehr. Ernst hat sie entthront, vom Sockel gestossen. Den Kindern im Klassenzimmer fehlt es nicht nur am Respekt. Und die Eltern verkriechen sich hinter einer Fassade, die nichts von dem erzählt, was wirklich geschieht.
Einziger Halt ist Feli, Kleos Therapeutin, die längst zur Freundin geworden ist, sich aber in einer ganz anderen Welt befindet wie sie selbst; gebraucht in Beruf und Beziehung, offensichtlich verankert. 

Bis in Kleo etwas zu wachsen beginnt. Bis sich nach einem Sonnenbrand die alte Haut in Fetzen zu lösen beginnt. Bis die Amaryllis, die ihr Ernst wie jedes Jahr zu jedem Geburtstag schenkt, die jedes Jahr jämmerlich verreckt, wie Unkraut in die Höhe schiesst. Bis sie den Beruf mit Getöse an den Nagel hängt. Bis über der Haut ein Flaum wächst. Bis sie beim Friseur auch noch in ihre Haare ein Leopardenmuster legt. Bis es in ihrer Wohnung zu müffeln beginnt und aus der jungen Frau der Zorn, die Verzweiflung, Archaisches hervorbricht und Kleo die Reste einer heilen Welt mit ihren Krallen, ihrem Fauchen und ihrer Jagd zu demontieren beginnt.

„Leoparda“ ist eine Verwandlungsgeschichte, eine Metamorphose, die Geschichte eines Ausbruchs. Was im ersten Teil ihres Romans ganz eng an die Realität und mit Sicherheit auch aus der Welt der jungen Autorin geschrieben ist, nimmt im zweiten Teil immer surrealere Formen an. Als würde Anja Schmitter mit den Augen jenes Mischwesens, halb Frau, halb Leopardin sehen. Eine Wahrnehmung, die sich verschoben hat, nicht nur optisch. „Leoparda“ beschreibt nicht zuletzt die Perspektivlosigkeit einer Generation, die man mit einer ganzen Breitseite unlösbar scheinender Probleme konfrontiert, vom globalen bis ins ganz private Klima. „Leoparda“ liest sich im ersten Teil wie eine Dystopie, im zweiten Teil wie ein Alptraum, von der Verletzlichkeit einer ganzen Generation.
Anja Schmitter, geboren 1992 in Münsterlingen. Nach einem Studium der Germanistik und Komparatistik in Zürich, Bordeaux und Wien studierte sie im Master Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Anja Schmitter war als Autorin bei einem Gefängnistheater in Zürich tätig und als Dramaturgin beim See-Burgtheater in Kreuzlingen. Sie lebt in Zürich und schreibt Fiktion und literarische Reportagen, u.a. für das Magazin Reportagen. «Leoparda» ist ihr erster Roman.

Jenny Hval «Perlenbrauerei», März Verlag

Aufgehoben im Sündenfall

Im Roman der norwegischen Musikerin Jenny Hval verschimmelt das Paradies. Inmitten vergammelter Früchte erblüht eine queere Liebesgeschichte, in der die Verführung zu Selbstermächtigung und sexuellem Erwachen führt.

Gastbeitrag von Céline Burget
Céline Burget studiert Deutsche Philologie und Englisch an der Universität Basel. Als begeisterte Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Lektorieren von Beiträgen und schätzt jede Gelegenheiten, selber Texte zu verfassen.

Der im vergangenen Jahr wieder auferstandene März-Verlag hat mit seinem antiautoritär und feministisch ausgerichteten Frühjahrsprogramm wieder auf sich aufmerksam gemacht. Barbara Kalender und der neu als Verleger eingesetzte Richard Stoiber haben sich passend zum 53. Jubiläum dazu entschieden, den legendären Verlag in alter Tradition fortzuführen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Neuauflage von Valerie Solanas’ «Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer», auch das Debüt von Jenny Hval ist mit seinen fiebertraumartigen, erotischen Szenen ein Höhepunkt des Programms. In «Perlenbrauerei» sind es allerdings nicht nur Männer, die vernichtet werden: Die Autorin nimmt sich den Sündenfall vor und lässt ganz Garten Eden verrotten.

Hval erzählt die Geschichte der norwegischen Austauschstudentin Johanna, die auf der Suche nach einer Unterkunft durch das fiktive Ayebourne irrt. Sie verliert sich in den engen Strassen der fremden Stadt, die ihr abgeriegelt wie eine Kiste ohne Deckel erscheint. Erleichtert entdeckt sie die Anzeige der etwas älteren Carral und entschliesst sich dazu, das freie Zimmer in einer ehemaligen Brauerei zu beziehen. Durch die Wände der renovierten Halle hört Jo sämtliche Geräusche ihrer Mitbewohnerin. So entstehen Szenen, in denen die Frauen sich beim Gang auf die Toilette belauschen. Und auch die Körpergerüche verbreiten sich in der ganzen Wohnung – die papierdünnen Spanplatten erlauben keine Privatsphäre.

Jenny Hval «Perlenbrauerei», aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau, und Anna Schiemangk, März Verlag, 166 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-7550-0003-7

Ein ähnlicher Eindruck entsteht beim Lesen dieser Schilderungen: Es wird einem, als ob sich der Gestank vom Papier löste und man ihn selber riechen könne. Solche Grenzüberschreitungen sind durchaus gewollt und werden von der Autorin durch alle Ebenen des Roman gezogen. Allmählich beginnt Jo die Bewegungen von Carral nachzuahmen, spürt ihren Schmerz und ihre Erregung, fühlt wie sich ihre Körper synchronisieren. Und während sich die zwei Frauen einander annähern, beginnt die Wohnung selber zu wuchern: Gras drängt sich zwischen den Bodenbrettern hindurch, Pilze und Moos wachsen an den Wänden. Da lässt sich immer weniger zwischen Realität und Traum unterscheiden – bis sich alles zu einem Geflecht verbindet.

 Mit Metaphern aus der Natur und biblischen Motiven evoziert Hval eine zunehmend beklemmende und mystische Stimmung. Neben Äpfeln und Schlangen ist es vor allem die ehemalige Brauerei, die an die Geschichte vom Sündenfall denken lässt. Auch Carral und Jo vergleichen die Wohnung spöttisch mit dem Garten Eden: Sieht das hier aus wie das Paradies, oder was? Tatsächlich stellt man sich das Paradies wohl eher anders vor. Die Wohnung ist kein Garten mit reifen Früchten und idyllischen Lichtungen: Es fühlte sich an, als ob die Brauerei in einen grossen, nassen Tank verwandelt worden war, der darauf wartete, dass Carral und ich zu verwesen begannen: Ein verfaulter und stinkender Garten Eden.

Eindringlich beschreibt die Autorin das Verrotten der Wohnung. Wie sich in dieser modrigen Umgebung eine Liebesgeschichte entspinnen soll, scheint zunächst schwer nachvollziehbar. Doch es ist eine Erotik der Verschmelzung, die Hval inmitten des Vergehens überzeugend ins Bild setzt. Jo und Carral verwachsen wie ein Netzwerk von Pilzen, durchdringen einander wie die Äste eines Baumes: Dann braust es durch mich hindurch, ihre Stiele und Finger und Adern breiten sich durch meinen ganzen Körper aus wie ein neues, weiches Skelett. Wenn die Frauen gemeinsam im Bett liegen und Carral dabei die Kontrolle über ihre Blase verliert und uriniert, legt Hval in ihre Beschreibung einen sinnlichen Unterton: Ein dünner, warmer Strahl rieselte von Carrals Körper gegen meinen Oberschenkel. Doch Jo ekelt sich nicht etwa vor den Körperflüssigkeiten von Carral; für sie sind sie Ausdruck von Nähe und Intimität.

Das von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk erstmals ins Deutsche übertragene Debüt unterläuft klug die Motive der verhängnisvollen weiblichen Verführung und der verbotenen Lust. Wir begegnen in einer der Programmperlen des wieder belebten März-Verlags zwei Menschen, die sich begehren, die sich gegenseitig probieren. Erst die Erfahrung der Verschmelzung, ob phantasiert oder wach erlebt, erlaubt es Jo, ihre Sexualität zu entdecken. Das Verderben schafft so die Grundlage für organisches Wachstum und Selbstermächtigung. Denn nur wenn die Lasten des Sündenfalls überwunden sind, kann wirklich Neues entstehen. Oder wie Jo sagt: Ich sah mich selbst nach dem Sündenfall aufräumen.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Jenny Hval, geboren 1980 in Oslo, hat Kreatives Schreiben und Performance in Melbourne, Australien studiert. 2006 ist ihre erste EP «Cigars» erschienen. Seither hat Jenny Hval fast ein Dutzend Platten aufgenommen, die mit allen wichtigen nordischen Musikpreisen ausgezeichnet wurden. «Perlenbrauerei» ist ihr erster Roman, der von der norwegischen und englischsprachigen Presse gleichermassen gefeiert wurde.

Rahel Schöppenthau, geboren 1989 in Berlin, studierte Skandinavistik an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als Schauspielerin und realisiert eigene Kunstprojekte.
Anna Schiemangk, geboren 1992 in Berlin, studierte Skandinavistik und Nordeuropastudien in Berlin, wo sie heute als Texterin arbeitet.

Webseite der Jenny Hval

Beitragsbild © Baard Henriksen

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus

„Chopinhof-Blues“ erzählt seismographisch von der Empfindsamkeit des modernen Menschen, von der Suche nach Vergebung, nicht zuletzt sich selbst gegenüber, von Verletzungen, die unter vernarbtem Gewebe weitereitern.

Nicht lange her, da war ich an einer Geburtstagsfeier. Ich kannte ausser dem Gefeierten niemand. Nicht wenig hätte gefehlt und das Fest hätte kippen können. Tat es dann nicht, weil die Betroffenen nicht aussprachen, was durchaus hätte gesagt werden können. In Anna Silbers Debüt „Chopinhof-Blues“ treffen sich ein paar Leute in Wien zu einer Geburtstagsfeier. Der kleine Felix wird ein Jahr alt. Daniel, sein Vater, hat eingeladen, weil er nicht alleine mit seiner Ex feiern wollte. Im Chopinhof hat nicht nur Daniel den Blues.

An dem Geburtstag im Chopinhof sind Ádám und seine Frau Aniko eingeladen, beide seit fünf Jahren in Wien, aus Ungarn ausgewandert in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ádám, eigentlich studierter Philosoph, hilft Daniel, dem Vater des kleinen Felix, in seinem Malergeschäft. Und Aniko versucht mit ihrem Leben zurechtzukommen, in ihrer Liebe zu Ádám, mit der immer unausweichlicheren Frage, ob man selbst Familie werden will oder nicht. Und Ádám mit Aniko, von der er mehr als deutlich spürt, dass sie ihre Antworten nicht mehr mit ihm zusammen sucht.

Anna Silber «Chopinhof-Blues», Picus, 2022, 243 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7117-2117-4

Eingeladen ist natürlich auch Jacinta, die Mutter des kleinen Felix, Daniels Exfrau. Sie tauschen sich die Betreuung des Jungen. Eine Woche er, eine Woche sie. Eine wirkliche Trennung kommt nicht in Frage, denn Jacinta müsste dann mit einer Abschiebung zurück nach Zentralamerika rechnen. Aber Jacinta nimmt Tilo mit. Ihren Neuen. Und Tilo seine Schwester Katja. Katja und Tilo wuchsen im Heim auf, beide auf ihre Art traumatisiert von den Geschehnissen in ihrer Kindheit, einer abwesenden und in Drogen versinkenden Mutter, dem Verlassensein. Während Tilo sich als Künstler versucht, tut es Katja als Bankfachfrau. Aber ihr Beruf, ihre Machtlosigkeit, die Verdammnis, ihre Verstrickungen, schnüren ihr ebenso die Kehle zu wie der migeschleppte Alp zwischen ihr und ihrem Bruder.

Ebenfalls eingeladen ist Esra. Esra ist Krisenjounalistin, noch nicht lange zurück aus San Pedro Sula, einer Millionenstadt in Honduras. Zurück aus einem Krieg, von dem niemand spricht, einem Krieg, bei dem Kinder auf offener Strasse erschossen werden und es für niemanden dort eine Alternative gibt, weder eine realistische Möglichkeit zur Flucht noch eine menschenwürdige Zukunft. Esra zerbricht an der Machtlosigkeit, dem Bewusstsein, dass sie nicht einmal mit ihrem Schreiben etwas ändern kann, dass es nicht um Inhalte, sondern um den Marktwert einer Geschichte geht.

Dort im Hinterhof, im Chopinhof kommen sie zusammen. Sie alle, die gefangen sind in ihrer Geschichte. Anna Silber schreibt von Kämpfen, die sich langsam in Resignation verwandeln. Sie schreibt von der Depression, die sich in all die jungen Leben schleicht, weil man sich nicht in der Lage sieht, den Kampf aufzunehmen. Anna Silber schildert haargenau, in Dialogen, die entlarvend wirken, fern jeder Idylle. Es ist nicht der grosse Abgrund, aber die vielen kleinen, verborgenen, zugedeckten.

Ich wünsche „Chopinhof-Blues“ mutige Leserinnen, die aus dem, was ihnen Anna Silber Schicht für Schicht aus den Sedimenten dieses Abgrunds offenbart, Mut schöpfen können, jene Chancen zu ergreifen, die man sich nicht entgehen lassen darf. „Chopinhof-Blues“ ist sackstark!

Interview

Ich bin beeindruckt von Ihrem Roman, nicht zuletzt von seiner Konstruktion, wie sie ihn gebaut haben. Sie haben es sich nicht leicht gemacht. Ein dichtes Netz an Biographien und Geschichten! Wie schafft man es, die Übersicht, den Durchblick nicht zu verlieren?
Ich kann nicht für andere Autorinnen oder Autoren sprechen, aber für mich war ein aufgezeichneter romaninterner Zeitplan das wichtigste Hilfsmittel. Er hat sich vielfach geändert und ist mir trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) ein treuer Begleiter durch das ganze Projekt hindurch gewesen. Oft genug habe ich aber natürlich aller Vorbereitung zum Trotze keine Ahnung mehr gehabt, was eigentlich wie zusammenpassen kann oder soll. Dann hilft nur lesen, umschreiben, lesen, umschreiben,…

Allein die Geschichte der Geschwister Tilo und Katja hätte Stoff genug beinhaltet, um einen eigenen Roman zu schreiben. Ich erinnere an die Romane von Angelika Klüssendorf. Auch dieses tiefe Ohnmachtsgefühl von Esra, der Krisenjournalistin, die sich einst voller Enthusiasmus und Ideologie in ihre ersten Einsätze stürzte, wäre Stoff genug für einen Roman gewesen. Ging es Ihnen gar nicht so sehr um die einzelnen Geschichten, sondern um den „Zustand“ einer Gesellschaft, die sich zu verlieren droht?
Mir ging und geht es um beides, um eine Kombination aus beiden Thematiken: auf der einen Seite das kleinteilige Einzelschicksal, auf der anderen Seite das verwobene, grössere Bild, das durch das Zusammentreffen der verschiedenen Geschichtsfäden entsteht. Das Kleine im Grossen sozusagen, um sich auch als Leserin oder Leser die Frage zu stellen, wo man sich in den Figuren erkennt, wo man vielleicht aber auch verständnislos ob ihrer Taten und Einstellungen reagiert – und warum. 

Sie waren nach Ihrem Abitur für einige Zeit in Costa Rica. Spiegeln sich in den Erfahrungen Esras in der Millionenstadt Honduras eigene Erlebnisse?
Eigene Erlebnisse spiegeln sich zwar nicht unbedingt in Esras Erfahrungen wider, aber ich müsste lügen, wenn ich überhaupt keine Parallelen ziehen würde. Mit Sicherheit hat mich im Schreiben das beeinflusst, was ich in Costa Rica gelernt habe, zum Beispiel, dass soziokulturelle Realitäten in Zentralamerika vielschichter nicht sein könnten und dass historische Ereignisse der jüngsten Vergangenheit bedeutende Auswirkungen auf das politische Heute und Morgen haben. Ganz pragmatisch betrachtet halfen mir natürlich meine in Costa Rica gefestigten Spanischkenntnisse bei der Recherche zu San Pedro Sula und Honduras. 

Alle Protagonisten befinden sich in Sackgassen. Vielleicht ist diese Verortung gar nicht so sehr das Resultat einer Resignation, sondern die Anerkennung einer Tatsache, der sich jede(r) zu stellen hat. Ihr Roman ist ehrlich, schmeichelt nicht, entzieht sich aller Verklärung. Ist das das „Programm“ Ihres Schreibens?
Ich muss zugeben, dass ich bisher keine klare Antwort darauf gefunden habe, was das «Programm» meines Schreibens, was also in diesem Sinne mein «Schreibstil» ist. Insbesondere bei diesem Projekt hat es mir aber sehr viel Freude bereitet, durch Reduktion Raum für Interpretation durch die Leserin oder den Leser zu lassen. Was passiert wohl zum Beispiel mit all diesen Menschen, nachdem sie im Chopinhof aufeinandergetroffen sind? Diese Fragezeichen, die mir selbst als Leserin sehr zusagen, habe ich auch versucht, als Autorin entstehen zu lassen. 

Obwohl ich den Titel Ihres Romans nach der Lektüre verstehe, löste er während des Lesens nichts von dem ein, was ich mir vorstellte, als ich den Roman zu lesen begann. Selbst nach der Lektüre verstört er mich, weil er eine Leichtigkeit suggeriert, die der Roman mit keinem Satz will. Wie kam es zu diesem Titel?
Ist es vielleicht das Cover, das eine gewisse Leichtigkeit vermittelt? Für mich liegt tatsächlich ein gewisser Reiz in der Kombination aus Chopin, dem tristen Gemeindebau, der seinen Namen trägt, und dem Blues.

Anna Silber, 1995 in Mödling (Österreich) geboren, wuchs in Österreich und Deutschland auf. Auf das Abitur folgte ein Kultur-Freiwilligendienst in Costa Rica, anschliessend Studium der Transkulturellen Kommunikation und Internationalen BWL an der Universität Wien. Sie erhielt zahlreiche Förder- und Nachwuchspreise. „Chopinhof-Blues“ ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Paul Feuersänger

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, an den Weinfelder Buchtagen

Selbstfindung im Fabelkleid

Mit Gott, Schwein und Dachs durch Welten und Wüsten; Noemi Somalvicos Debutroman «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» begleitet eine skurrile Reisetruppe auf ihrer Suche nach dem Paradies.

Gastbeitrag von Aline Tettamanti
Aline Tettamanti studiert Deutsche und Englische Philologie in Basel. Ansonsten überarbeitet sie Texte und schreibt Kurzgeschichten, Gedichte und Lieder.


Die Geschichte beginnt, nachdem für Schwein die Welt zu Ende ging: Biber ist weg, und Schwein sitzt in einer stillen Wohnung mit einem biberförmigen Loch in der Brust.
In einer anderen Welt schleicht sich Gott von einer Party, schliesst sich auf dem stickigen Dachboden seines Hauses ein und sieht durch seine Fernbrille der Welt beim Drehen zu. Man sollte die Erde keinem Melancholiker überlassen, denkt Gott, als er Schwein am Küchentisch weinen sieht. Die Wesen, die darauf leben, werden nach seinem Ebenbild geschaffen sein.

Doch weder Schwein noch Gott haben lange Zeit, sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen: Dachs tüftelt an einem Apparat, mit dem er zwischen Welten reisen kann – und trifft auf der anderen Seite prompt Gott, als dieser auf dem Velo auswandern will.
Während Gott Dachs das «Du» anbietet, gewinnt Schwein im Radio eine Wüstentour und findet sich stattdessen mit Dachs auf Gotts Balkon. Aus Fremden werden Freunde, und aus Freunden wird eine Reisetruppe, die sich auf den Weg ins Jenseits begibt, um einen Fisch zu suchen.

Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein», Voland & Quist, 2022, 142 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-86391-321-2

Auf der Erde verbringt Reh eine Nacht mit Hirsch und lässt das Herz auf dessen Nachttisch zurück. Im Jenseits steckt Gottes Reisetruppe in der Wüste fest, und Gott schliesst sich in einer Telefonkabine ein. Reh beschliesst, unabhängig von seiner abhängigen Mutter und dem Nachbild von Hirsch für sich selbst zu leben. Gottes Reisetruppe findet im Sand versteckt das Paradies in Form von Hotel Jenseits: Gott liegt wie ein gestrandeter Wal im Sand, Schwein verführt seinen Tangolehrer und Dachs ist gänzlich unbeeindruckt von dem Kitsch, den das Paradies zu bieten hat. In allen Dingen, in jeder Lampe und jedem Stück Stoff sah er einen Versuch von Eleganz und in jedem Ding ist dieser Versuch gescheitert.

Die Geschichte springt hin und her zwischen Welten und den darin lebenden Figuren. Mit Fingerspitzengefühl und viel Liebe zum Detail verknüpft Somalvico die verschiedenen Schicksale in einem bunten Teppich. Schweins Selbstsuche, Dachs’ Erfinderneugier, Gottes Burn-Out und Rehs Liebeskummer verstricken sich immer stärker miteinander, bis sie nicht mehr voneinander zu trennen sind.
Auf ihrem Abenteuer lernen die Freunde, sich an das «Jetzt» zu wagen, ohne der Vergangenheit nachzutrauern – ob das nun die Beziehung zu Bibern und Hirschen betrifft, den sicheren Job oder den Fisch in Gottes Gang.

In der ganzen Geschichte treten ausschliesslich Tiere und Götter auf, Menschen sind in dem Buch keine zu finden. Trotzdem sind die Figuren so menschlich, dass es leicht ist zu vergessen, was Schwein und was Gott ist.
Das Ganze erinnert an eine Fabel, doch Somalvico haucht der traditionellen Gattung neues Leben ein. Ihre Kreaturen leben in einer modernen Welt und stellen sich modernen Problemen. Anstatt zu moralisieren, begleitet die Geschichte die Figuren auf ihrer Suche nach Identität.

Die wiederkehrenden Motive von zunächst belanglos wirkenden, schlichten Gegenständen und Nebengedanken verleihen der absurden Handlung ein Gefühl von Vertrautheit. Obwohl die Reise ins Jenseits führt, rückt die Geschichte nicht den Kosmos, sondern vielmehr die kleinen Dinge des Alltags ins Rampenlicht. Wer sich also vor pseudo-philosophischen Auseinandersetzungen mit Religiosität scheut, hat hier nichts zu befürchten.

In den 144 Seiten stecken so viele Motive, Themen und Parallelen, dass sich auch beim zweiten und dritten Mal Lesen immer wieder etwas Neues finden lässt. Somalvico spielt gekonnt mit Assoziationen und schafft zarte Szenen, die trotz ihrem traumhaften und sonderbaren Charakter direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen.
Dieses Buch ist ein Genuss für neugierige, experimentierfreudige Lesende, die sich einen gemütlichen Abend gönnen möchten. Ein sehr gelungener Debütroman, der gespannt auf weiteres macht.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Noemi Somalvico, 1994 in Solothurn geboren, studierte Literarisches Schreiben in Biel, contemporary arts practice in Bern und ging dazwischen allerlei Beschäftigungen nach. Sie arbeitete für den Film, in Schulen, an Empfängen. Ihre Erzählungen und Lyrik wurden in Zeitschriften und Anthologien abgedruckt, im Dunkeln performt und im Radio vorgelesen. „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ ist Somalvicos Debütroman.