Meine ganz persönlichen Highlights des 25. Internationalen Literaturfestivals Leukerbad

Es schien, als hätte die Leitung der Jubiläumsausgabe des Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad sämtliche unbeeinflussbaren Einwirkungen doch irgendwie besänftigen können: Das Festival stand unter einem guten Stern, in allen Belangen.

Wie würde das Festival sein? Ohne die Abende in den wasserentleerten Becken des Thermalbads? Mit Zelten? Was wäre, wenn sintflutartige Regengüsse auf die Zelte trommeln würden? Wenn sich die Wiesen in Festivalmatsch verwandeln? Nichts davon geschah. Es fügte sich alles harmonisch ineinander. Alles passierte so, wie man es sich erhofft hatte und es breitete sich erleichterte Zufriedenheit aus. Nicht zuletzt darum, weil es ein Experiment sein sollte, die beste Gelegenheit, mit Traditionen zu brechen, deren Alternativen sich viel genussfördernder erwiesen.
Als ich am Sonntag mit dem Bus die Kurven aus dem Tal hinunterfuhr, war ich mehr als zufrieden. Beglückt! Verführt und beseelt! Das Festival in Leukerbad hat mich einmal mehr gewonnen. Auch weil man dort besondere Namen trifft, weil man sie wirklich trifft, weil man die Gelegenheit geboten bekommt, ihnen wirklich zu begegnen, nicht nur aus der Ferne. Aber weil dieses Festival Überraschungen birgt, mit denen man nicht rechnet, selbst dann, wenn man wie ich, ihre Lesungen versäumt.

Es gab sie grossen Themen am diesjährigen Festival, grosse Namen und spektakuläre Diskussionen mit langanhaltendem Applaus. Aber es gab auch die leisen Töne, das Spektakel der Sprache, die Bezauberung. «Kapital und Ressentiment», «Nationalismus», «Brücken über den Röstigraben», «Populismus» oder «Gewalt gegen Frauen» hiessen die Themen der Diskussionen – auch wenn ich nicht verstand, dass bei den einen Themen nur Frauen, bei anderen Themen nur Männer auf der Bühne sassen, waren viele Themen doch auch ein Statement dafür, dass die offenen Gräben zwischen den Geschlechtern noch immer klaffen.
Aber es war auch ein Fest der Sprache, sei es in Lyrik oder Prosa.

Schmerzlich für mich war die Feststellung, dass ich einen der literarischen Höhepunkte versäumt hatte. Nachdem ich andere Festivalbesucher:innen immer wieder nach ihrem absoluten Highlight fragte, wurde immer wieder der eine Name genannt: Jakub Małecki! Der 1982 in Polen geborene Schriftsteller ist in seinem Heimatland ein gefeierter Autor, veröffentlichte fast ein Dutzend Romane. «Rost», sein erster auf Deutsch erschienener Roman ist die Geschichte des siebenjährigen Szymek, dessen Eltern bei einem Autounfall sterben, den man zu seiner Grossmutter Tosia bringt, raus in die Provinz, in ein Leben, dass so ganz anders tickt als das alte. Jakub Małecki erzählt aber auch die Geschichte der Grossmutter, die Auswirkungen jener Brüche, die der Krieg hinterliess, was mit den Menschen im kleinen Ort Cholny passierte. Dass «Rost» nun im Buchhandel liegt, sei einem reinen Zufall zu verdanken. Der Verleger sah den auf Polnisch ebenfalls „Rost“ betitelten Roman aufliegen, nahm ihn zur Hand und liess danach nicht mehr los. Jakub Małecki hat mit «Rost» ein im Licht der dörflichen Besonderheit erstrahlendes Lebenspanorama erschaffen, das aus Cholny heraus tief in unsere Welt zu leuchten vermag.
Als ich mir in der Festivalbuchhandlung den Roman von Jakub Małecki kaufen wollte, war dieser schon am zweiten Festivaltag ausverkauft.

Jakub Małecki im Gespräch mit Thorsten Dönges

Ein grosses Versprechen ist auch der neue Roman von Eva Menasse, von dem sie exklusiv zum ersten Mal einige Abschnitte vor Publikum las. Der Roman «Dunkelblum», der im kommenden August erscheinen wird, leuchtet in einen fiktiven Ort, eine Kleinstadt an der österreichisch-ungarischen Grenze. Während man 1989 Zeuge wird einer Massenflucht aus der sich auflösenden DDR, taucht ein rätselhafter Besucher im Städtchen auf, findet man ein Skelett in einer Wiese am Stadtrand und verschwindet eine junge Frau. Alles an dem Ort beginnt sich zu verschieben. Mit einem Mal tritt hervor, was man über Jahrzehnte totzuschweigen versuchte; all die Massaker, die in den Wirren des letzten Krieges geschahen. «Dunkelblum» ist ein schaurig-komisches Epos über die Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen, die, anders als die Erinnerung, nicht vergehen. Eva Menasses Sprache ist gestochen scharf, ihr Erzählen gekonnt konstruiert und alles durchsetzt mit einer bissigen Prise Humor.

Jan Filipenko mit seinem Roman «Der ehemalige Sohn»

Aber nebst all den tiefschürfenden und aufwühlenden Gesprächen und Diskussionen gab es auch Momente, in denen ich herzhaft lachen konnte. Christoph Simon, der gleich mit mehreren Publikationen nach Leukerbad fuhr und die Zeiten des Ein- und Ausgesperrtseins äusserst produktiv und kreativ zu nutzen wusste, hätte am Freitag um Mitternacht oben auf der Gemmi gelesen. Man musste sich durch die Nacht mit einer Seilbahn hinauf auf den Felssporn tragen lassen und wäre nicht nur mit dem Blick auf die Lichter Leukerbads (die einzigen Stunden des Tages, an denen der Ort selbst strahlt!), sondern mit dem hintergründigen, skurrilen Witz des Schriftstellers und Kabarettisten belohnt worden. Aber nach einem langen Festivaltag wollte ich mich vor der Bergfahrt nur ganz kurz auf meinem Bett im Hotel niederlegen, nur einen Augenblick. Als ich irgendwann in meinen Kleidern aufwachte, pfiffen bereits die Vögel. Glücklicherweise las Christoph Simon aber auch noch am Samstag. Neben literarischen Kostbarkeiten aus verschiedenen Büchern auch aus seinem neuen mit dem sinnigen Titel «und das nach vier milliarden jahren evolution», dem bislang einzigen Buch aus der edition merkwürdig. Wer bewiesen haben will, dass Lyrik alles andere als kopflastig, verschroben oder verunsichernd sein muss, lese in den Gedichten Christoph Simons. Da geht des Herz gleich mehrfach auf! Simons Gedichte sind als lyrische Stories angelegt. Sie haben alle einen Inhalt, der sich sogar nacherzählen lässt. Aber das lyrisch Unsagbare lauert zwischen den Zeilen und in jenen Zeilenabbrüchen, die immer dann auftauchen, wenn man glaubt, etwas linear kapiert zu haben

Das sind nur drei Namen. Nur ein ganz kleines Stück von dem Spektakel, das einem mitten in der felsigen Arena geboten wurde. Mit alle den Veränderung, die die Zeit dem Festival aufzwang, freue ich mich auf das kommende Jahr noch etwas mehr!

Weitere Bücher mit ihren Autorinnen, die in Leukerbad lasen:
Lukas Maisel «Das Buch der geträumten Inseln»
Anna Prizkau «Fast ein neues Leben»
Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr»
Rolf Hermann «Eine Kuh namens Manhattan»
Patrícia Melo «Gestapelte Frauen»

Beitragsbilder © Literaturfestival Leukerbad

Christoph Simon «Dorfplatz Leukerbad – ein Gespräch während dem Literaturfestival»

Hey!
Hey! Alles klar?
Alles klar.
Wo warst du?
Auf der Alpina Terrasse.
Wer war da?
Der Maisel. Lukas Maisel. Erstlingswerk.
Wie war’s?
Sackstark. Mega sackstarkes Buch. Über einen Entdecker und über deutsche Flachspültoiletten und ferngesteuerte Kakerlaken. Ein Hit. Wo warst du?
Dala-Wanderung.
Wie war’s?
Super. Die Römer und so. Es gibt Leute im Wallis, die wollen dieses Tal fluten und eine Staumauer und wie die Grande Dixence.
Echt?
Vielleicht hab ich den Guide nicht richtig verstanden.
Wer hat gelesen?
Auf der Wanderung? Die Dana.
Ah, der Frankenstein-Roman.
Der Dracula-Roman.
Gut gewesen?
Fantastisch. «Echte Liebe braucht Überzeugung.» Sie hat von Bergunfällen erzählt und alle haben sich an der Hängebrücke festgehalten, als gäb’s kein Morgen.
Wohin gehst du jetzt?
Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Oh, da war ich gestern!
Wie war’s?
Bombastic. Sie ist impressive! Pures Gold!
Worum geht’s?
Ein Kind, ein Kätzchen, das Kind hat Asthma. Die Mutter hilft mit
Nelkenöl, Schwarzkümmelsamen, Dorschlebertran.
Das hilft?
Klar. Und das Kind wählt sich aus den Männern vom Schiff einen Vater, der will aber nicht sein Vater sein, aber «the more he runs the closer he gets». Wohin gehst du als nächstes?
Eben. Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Ah, ja.
Esther ist auch da.
Welche Esther?
Und der Gallus auch.
Die Esther vom Literaturhaus?
Der Gallus ist Literaturhaus. Die Esther weiss ich nicht.
Ich bin mit einer Esther im Shuttlebus gefahren. Sonst kenn ich keine Esther.
Weshalb warst du nicht auf der Gemmi gestern?
Ich war auf der Gemmi.
Ich hab dich nicht gesehen.
Wir haben in der Gondel gesprochen miteinander.

Echt? In welchem Hotel bist du?
Air B’n’B. Am Hang drüben.
Ah, Morgensonne.
Abendsonne.
Im Chalet Frieden?
Nein, Chalet Frohsinn.
Beim Schorsch?
Nein, beim Julius.
Der Julius von der Karin?
Nein, der Julius von der Monika.
Die Monika, die vom Karren gefallen ist?
Nein, die Monika, die auf den Karren gefallen ist. Beim Gleitschirmfliegen.
Schlimme Geschichte. Die Monika vom Schorsch.
Vom Julius.
Dort wohnst du.
Und du?
Hotel.
Nein, ich meine, wohin gehst du als nächstes?
Weiss nicht. Im Baldwin-Zelt ist Rolf Hermann, aber den versteh ich nicht.
Und im Bristol ist Peter Weber.
Der Regenmacherpeterweber? Cool. «Bei Gemütsverdunkelung: Lustbaden, lichtbaden, lachbaden.» Wer ist das dort drüben?
Die im Blauen?
Die im Weissen.
Die ist Pro Helvetia, glaub. der daneben ist Solothurn und die hinten dran könnte die Autorin aus Österreich sein.
Ist das nicht die von der Übersetzerwerkstatt?
Die ist dieses Jahr nicht da, die Übersetzerwerkstatt.
Dann ist es wahrscheinlich die Autorin aus Österreich.
oder ist es Monika?
Morgen dann noch Franziska Schutzbach.
Die kenn ich von Facebook.
Und Lukas.
Maisel? Die deutschen Flachspültoiletten?
Bärfuss. Der globale Nationalismus.
Ah ja, mit dem Lüscher.
Dem Lüscher seine Partnerin ist die deutsche Vorlesestimme von Yvonne Owuor.
Was du nicht sagst.
Da wolltest du doch hin.
Stimmt. Oder wollen wir uns setzen und was trinken?
Wir sitzen und trinken doch schon.

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

Patrícia Melo «Gestapelte Frauen», Unionsverlag, eine Gartenlesung in Leukerbad

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, war die Einsicht: Es herrscht Krieg. Überall. Sei es gegen die Natur und den Planeten, auf dem wir leben, zwischen Arm und Reich, zwischen von Ideologien aufgepumpten Nationen – und zwischen Mann und Frau. Patrícia Melo erzählt zwar von Brasilien, aber was dort geschieht, geschieht überall. Und es muss nicht immer Blut fliessen.

„Gestapelte Frauen“ einen Kriminalroman zu nennen, damit wird man dem neuen Roman der Brasilianerin nicht gerecht. Es geht der Autorin nicht darum, eine spannende, schockierende, gut erzählte Geschichte zu verkaufen. Patrícia Melo öffnet mit dem Brecheisen verschlossene Türen, stemmt sich gegen Ignoranz und Blindheit und legt offen, dass die Gewalt, die sich zwischen den Geschlechtern abspielt, kein Phänomen der Gegenwart ist. Was sich dort abspielt, wo es passiert, ist Reaktion und Folge einer Entwicklung, die sich mit dem Willen zur Eroberung und Unterwerfung in die Genetik des Menschen einfrass.

„Gestapelte Frauen“ erzählt von einer jungen Anwältin, die sich all jener Frauen annimmt, die Opfer männlicher Gewalt werden, sie nicht einfach in einer Statistik vergessen lassen will oder der Willkür eines korrupten Justizapparats. Getötet nicht in irgendwelchen dunklen Gassen, von Fremden und Unbekannten, sondern von ihren eigenen Männern, von Vätern, angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft. Die mit dem Leben bezahlen, weil sie im falschen Moment am falschen Ort zu sein schienen – oder einfach mit ihrem Leben für all den latent vorhandenen Frust des männlichen Geschlechts zu bezahlen hatten, weil sie den Schlüssel ihrem Ex zurückgeben wollten, weil der Mann die Nerven verlor, vor den Augen von Söhnen und Töchtern, weil der Ton des Fernsehers zu laut war, weil die Frauen die Befehle ihrer Männer missachteten.

Patrícia Melo «Gestapelte Frauen», Unionsverlag, 2021, 256 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-293-00568-6

Die Anwältin sammelt nicht aus blosser Pedanterie, sondern weil sie selbst davon betroffen ist und es nicht schafft, aus den langen Schatten dieser Ereignisse herauszutreten. Als Mädchen musste sie erleben, wie ihr Vater die tote Mutter in Tücher wickelte, sie in ein Auto steckte und dem Wagen an einer Klippe einen Stoss versetzte, um den Mord als Unfall aussehen zu lassen. Die Mutter umgebracht, der Vater im Gefängnis. Eine Kindheit bei den Grosseltern, denen das Trauma genauso im Nacken sitzt. Als Frau und Anwältin von Amir begehrt und umschwärmt, um dann wie aus dem Nichts während einer Party als Schlampe beschimpft und ins Gesicht geschlagen zu werden, um dann später festzustellen, dass der einstmals Geliebte Szenen ihres Liebeslebens ins Internet stellte, als wäre der Schlag ins Gesicht nicht genug.

Und weil sie sich als Anwältin mit anderen Frauen den Opfern ihren Platz zu geben versucht, weil sie für Recht und Wahrheit kämpft, manövriert auch sie sich ins Kreuzfeuer konzentrierter Hetze und offener Gewalt. Es sterben Kolleginnen, Freundinnen, Mitstreiterinnen. Eine tödliche Schlinge zieht sich zu.

Warum soll ich dieses Buch lesen? Weil Patrícia Melo von den Opfern und den Tätern erzählt. Von Tätern, die sich in die Rolle der Opfer zu verteidigen versuchen, von Opfern, die zu Kollateralschaden werden. Von Frauen, die übereinandergestapelt turmhoch ein Mahnmal dessen sind, was vor hunderten von Jahren mit der gewaltsamen Eroberung und Kolonialisierung begonnen hat. Von Frauen, die bezahlen, was elitäre Macht, ein korrupter Staatsapparat und die Willkür des Geldes anrichten. 

Patrícia Melo (1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Grossstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.

Barbara Mesquita, geboren in Bremen, arbeitet u. a. als Literaturübersetzerin für Portugiesisch und Spanisch mit Schwerpunkt auf den lusofonen Ländern Afrikas. Sie hat Patrícia Melo, Luís Fernando Veríssimo, Pepetela, Luandino Vieira, Arménio Vieira, Ricardo Adolfo, Pedro Rosa Mendes, João Tordo und Juan Manuel de Prada übersetzt. Barbara Mesquita lebt in Hamburg und zeitweilig in Lissabon.

«Meine Wut passt nicht zwischen zwei Buchdeckel.» Interview mit Partícia Melo

«Literatur ist ein Risiko, ein Tauchgang, ein Abenteuer.» Gespräch mit der Patrícia Melo

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

Ein literarischer Gang zwischen der Provence und Spanien, direkt neben der wilden Rhone

Wie immer beim Literaturfestival Leukerbad beginnt das vielseitige Programm mit einer «Literarischen Wanderung», einer Veranstaltung, die ihre Anfänge länge vor der erfolgreichen Lancierung von «Literarischen Spaziergängen» hatte. Dieses Jahr ging es durch den Pfynwald, einem einzigartigen Naturschutzgebiet, zusammen mit den Schriftstellern Rolf Hermann und Peter Weber.

Dass Literatur in entsprechender Kulisse eine ganz besondere Wirkung erzielt, ist leicht nachvollziehbar. Aber wenn Literatur dort tönt, wo Geräusche, Geschmäcker, das Pfeifen der Vögel, das Rauschen des Rotten, der Rhone mitschwingt, dann wird Literatur, dann wird Sprache zu einem orchestralen Erlebnis, einer eigentlichen Symphonie.

Unter fachkundiger Führung von Armin Christen, einem Guide und Mitarbeiter des Naturparks Pfyn-Finges, wurden 40  Literatur- und Naturbegeisterte durch ein Naturparadies geführt, dass seinesgleichen sucht. Peter Weber und Rolf Hermann, zwei Schriftsteller, die in ihrem Schaffen mit ganz eigenem Instrumentarium arbeiten, lasen in Pausen aus ihren Werken.

Beide Schriftsteller erlaubten literaturblatt.ch Auszüge aus den vorgetragenen Texten wiederzugeben.

Rolf Hermann

aus «Flüchtige Zuhause» (Rotpunkt):

Klingendes Geröll 

In meiner Studienzeit wohnte ich in Bern, in einem Quartier unweit der Aare, die, aus südöstlicher Richtung vom Thunersee kommend, ein auf einem Geländesporn errichteten Teil der Altstadt in einer engen Schliefe umfliesst. Wenn sich sommers die Gelegenheit bot, und der Fluss mindestens eine Temperatur von 18 Grad hatte, ging ich in ihm schwimmen. Oft allein.

In Badehosen und T-Shirt, das Badetuch unter den Arm geklemmt, zog ich los. Die Holztür meiner Dachwohnung fiel ins Schloss, und ich stieg die vier Stockwerke hinab, spazierte durch den seltsam echolosen Lärm der Berner Strassen, ging einen mit wildem Gestrüpp bewachsenen Abhang hinunter, querte die Talsohle – an einem ehemaligen Gaswerkareal entlang, den Weg über den löchrigen Asphalt suchend, der von ockergelben Pfützen durchzogen war – und erreichte den Fluss.

Ich erinnere mich, wie ich manchmal minutenlang am Rand eines Fahrradwegs auf die blaugrüne, in Ufernähe vermeintlich träge, in der Flussmitte aber rasant dahingleitende Wasseroberfläche blickend mich plötzlich an das Ufer eines anderen Flusses versetzt sah – an den Fluss meiner Kindheit und Jugend: die Rhone. Sie, die nur ein paar Kilometer Luftlinie von der Quelle der Aare entfernt entspringt und zunächst als Rotten durch den deutschsprachigen Teil des Wallis fliesst. In dem Ort, wo der Rotten zum ersten Mal gestaut und ihm ein Teil seines Wassers entnommen und über einen Kanal einem Aluminiumkonzern zur Stromgewinnung zugeführt wird, wuchs ich auf.

Ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als ich auf dem Nachhauseweg mit meinem Vater die Brücke über dem Staubecken passierte und auf einmal, wie aus den Nichts, ein Helikopter vor der Sommersonne stand und mit dumpfen Schlägen die Luft zerteilte. Aus dem Seitenfenster unseres Subaru sah ich, wie der im tiefen Licht glitzernde Flugkörper einen riesigen, an Metallseilen befestigen Kessel ins Wasser senkte, kurz darauf wieder abhob und einen unseren Blicken verborgenen Zielort anflog.

Zuhause angekommen, erkannten Vater und ich den Grund für die Löscharbeiten: Ein paar Kilometer flussaufwärts stand links eine ganze Bergflanke in Flammen. Wir stiegen rasch aus dem Auto und eilten ins Haus, wo Mutter und meine zwei Brüder bereits auf dem Balkon standen und erstaunt und erschrocken zugleich das unheimliche Spektakel beobachteten. Vater, der durch einen Feldstecher auf die fast bis zum Himmel emporragende, gewaltige Woge aus Feuer spähte, begann das Treiben zu kommentieren, liess uns wissen, wie viele Helikopter am Himmel kreisten, wo genau sich die Feuerwehrkräfte der umliegenden Gemeinden aufhielten und in welchem Gebiet sich die Flammen am unerbittlichsten ausbreiteten. Einmal meinte er sogar, er könne die in alle Richtungen davonstiebenden Tiere erkennen: Füchse, Gämsen, Steinböcke,  Hirsche und Rehe. Ein Rehe renne etwa gerade Hals über Kopf hangabwärts, überschlage sich öfters, richte sich aber immer wieder auf und hetze weiter, der Talebene, dem Rotten zu, der ihm, wegen des vom vielen Schmelzwasser bedingten Hochstands, wohl kaum Rettung bieten könne.

Wie lange wir an dem Abend auf dem Balkon standen, weiss ich nicht mehr. Umgehend wurde aber das über mehrere Wochen dahinziehende Beobachten der Löscharbeiten, die im steilen Gelände nur zögerlich zu bewerkstelligen waren, zu einem täglichen Ritual. Während die stets von Neuem auflodernde Glut bis zu zwei Meter tief in den Waldboden hineinkroch, grub sich jene Szene, die Vater durchs Fernglas erblickt hatte, in mich hinein, bis sie des Nachts in meinen Träumen wiederkehrte. Ich stehe am linken Rottenufer und sehe das bellende Reh. Völlig ausser sich galoppiert es am gegenüberliegenden Ufer auf und ab, setzt einen Huf ins Wasser, zieht ihn zurück, fängt erneut zu bellen an. Und hinter ihm brennt es lichterloh. Zwischen uns reisst der Rotten immer ungestümer alles mit, was sich ihm entgegenstellt: Baumstämme, Felsblöcke, Brückenpfeiler. Als die Lage immer aussichtsloser wird, es Feuerfunken zu regnen beginnt und ganze Schilfgürtel in Flammen aufgehen, nimmt das Reh weiten Anlauf, bellt ein letztes, grelles Mal und springt hinaus in die sich türmenden Wogen. Verzweifelt strecke ich beide Arme aus. Doch ein sanddurchsetzter, schlammiger Wall hat das Tier bereits erfasst, zerrt es hinweg und hinab.

Es war das Gekläff eines Hundes, der einem Plastikball nachjagte, das mich jäh aus meinem Tagtraum riss. Einige Sekunden vergingen, bis ich die Aareschwimmer, die in meinem Blickfeld auftauchten und verschwanden, nicht mehr als Schwemmholz oder sonstiges Treibgut wahrnahm. Noch immer leicht entrückt legte ich meine Sachen ab, ging flussaufwärts, wo ich, nur noch in Badehosen, in der Nähe des Tierparks, auf das Geländer einer niedrigen Brücke stieg und mich in die Aare fallen liess.

Ich tauchte ein in das Klirren und Knistern, das Rieseln und Sirren, das Scheppern und Surren und leise Dröhnen, das die von der Fliesskraft des Flusses mittransportierten Steine und Kiesel erzeugten. Mir war, als ob in der Tiefe ein tausendstimmiger, elektrisierender Chor erklänge, der alles, was an Unwägbarem geschah in hellsten Tönen von unmittelbarer Klarheit erlebbar machte.

Seither sind über zwei Jahrzehnte vergangen. Allmählich komme ich mir selber vor wie einer, der klingendes Geröll vor sich herschiebt. Und wenn der Zufall der Beharrlichkeit in die Hand spielt, kommt es auch hier zu Verwerfungen und Aufschichtungen und dazu, dass vielleicht einige Steine aus der Wasseroberfläche ragen und einen imaginären, temporären Fluchtweg bilden, der dem bellenden Reh die Rettung vor dem Inferno ermöglichen könnte.

Peter Weber

aus «Tafelrunde. Schriftsteller kochen für ihre Freunde» (Luchterhand )

1

Im Nachbarort wirkte eine Wunderköchin. Eine schlanke, kleine Frau, altledig, ihre Hände waren immer dampffeucht. Wenn Gäste das Restaurant betraten, grüsste sie aus der Tiefe der Küche, sie konnte ihre heissen Pfannen nicht verlassen. Man hatte länger auf das Essen zu warten, die Gäste nahmen dies in Kauf, sie kochte alles frisch und in der Reihenfolge der Bestellungen. Immer war zu riechen, was sie gerade zubereitete – in Schwellen gingen die Gerüche durchs Lokal und boten über die Tische hinweg Gesprächsstoff. Die Köchin stammte aus dem Kanton Schaffhausen, war just neben jenem Ort aufgewachsen, wo die Schweizer Streuwürze hergestellt wird. Der Geruch von Aromat liegt in jener Gegend in der Luft. Die Köchin aber hatte streuwürzlos kochen gelernt, in einem weltbekannten Fischrestaurant am Rhein, wo die hohe Butterkunst zelebriert worden war – bei Fisch, Kartoffeln und Süssspeisen. Basis für diese Kunst war frische Süssbutter gewesen, fürs Braten zu Bratbutter eingekocht, für bestimmte Gerichte aber wieder mit frischer Butter verfeinert, so hatten sich unzählige Buttermischungen ergeben, jede mit eigenem Namen. Endlich wurde der Salat in einer grossen Schüssel aufgetischt. Die Gäste liebten diesen Salat seiner Sauce wegen – deren Geheimnis war der Essig aus Ostschweizer Landweinen, hiess es, Landweine, die nie besonders süss sein konnten. Essig aus Ostschweizer Landweinen erhielt eine besondere herbe Note, Säureschlucht, adstringierend, den Magen öffnend, hinunterzeigend. Im Keller, hiess es, unterhielt die Köchin in einem grossen Glas eine Essigmutter. –
Den Kopf auf der Höhe der offenen Durchreiche sah ich eines Mittags, was Erwachsene nicht sehen konnten: dass die Wunderköchin nebst Salz auch Aromat auf die Salatblätter streute, nur sehr wenig und fast reflexartig, eine Prise Heimat, gelbe Streue, Kristalle und Flocken, sie lösten sich auf, verschmolzen auf den Blättern zu unsichtbaren Geschmackströpfchen. Über die Säureschluchten ihres Essigs spannte die Köchin aromatbrave Brücken der Normalität. Das Geheimnis ihrer Kochkunst war, dass sie Tiefe und Mitte kombinierte. Bei der Verabschiedung gab sie mir die Hand. Ich hielt es geheim.

2

Aromat enthält Geschmacksverstärker, Speisesalz, Sellerie, Pilzextrakte. Parmesan enthält natürliche Glutamate, ist somit den Geschmacksverstärkern zuzurechnen. Die Streuwürze der Römer, die sie allen Legionären mitgaben und die sie auf geschmacksarme Speisen in der Fremde gaben, war eine Art Sardellenersatz und enthielt natürliche Glutamate. Sind Geschmacksverstärker im Spiel, sagt mein Nachbar, er ist Hirnforscher, isst man mehr und schneller. Gieriger. Es wird weniger gekaut und schneller geschluckt. Geschlungen. Die Bissen sind grösser und die Pausen zwischen den Bissen kleiner. Botenstoffe im synaptischen Spalt am Ende der elektrischen Übertragung: Bei Glutamat handelt es sich neurologisch betrachtet um ein Rauschgift, sagt der Nachbar, um eine suchterzeugende Aminosäurenverbindung, die über die Schleimhäute ins Blut und von dort direkt in unser Hirn gelangt. Glutamat erzeugt künstlichen Appetit. Knorrli, der lachend rote Suppenteufel mit den dicken Waden, der die Kelle schwingend über die Aromatdose rennt, ist Transmissionar. Er wohnt unter Pilzen.

3

Totentrompeten: Meine Mutter fand diese Gewürzpilze in hoher Zahl, sie konnte sie erahnen, erriechen. Mitglieder des Pilzverreins suchten im Ungefähren oder auf der falschen Talseite. Man erkennt die Totentrompeten auf dem Waldboden kaum – kleine, schwarzbraune Körperchen mit Trompetenöffnungen, wo die Hüte wären. Sie strecken zwischen dunklem Laub, den Erdtürmchen, wie sie die Waldwürmer aufwerfen, allzu ähnlich. Ich wurde ausgeschickt, sie aufzusammeln, der Hund begleitete mich, ich agierte auf Schnauzenhöhe. Feuchte Hänge eines Bachtobels, Äste und Wurzeln, an denen man sich festhalten konnte. Bald roch es nach Erdreich, Schlaf und Mohn. Wenn man eine einzige Totentrompete entdeckt hat, finden sich daneben unzählige andere. Sie stehen geschart, in Heeren. Auf dem Rückweg sammelte ich die zuschauenden Milchlinge ein, Publikumsreizker. Wir brachten leuchtorange und grauschwarze Pilze im selben Korb nach Hause – die Reizker bereitete meine Mutter sofort zu, die Hüte in Eigelb und Mehl gewendet und kurz gebraten. Die Totentrompeten jedoch sind frisch gekocht zu faserig, ihr Geschmacksprinzip verdichtet sich erst, wenn sie austrocknen, sich zusammenziehen. Wir legten sie auf Dörrsiebe, Pilzgeist breitete sich aus. Die kleinen Stücke kamen in grosse Gläser. Ich öffnete diese immer wieder kurz, um meine Nase in den Wald zu stecken. In einer Wildrahmsuace entfalten die wieder eingeweichten Pilze ihr dunkles Aroma. Totentrompeten und Rahm: Angelicum. Das Lied der guten Welt.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, studierte Anglistik und Germanistik. Sein Studium verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Rolf Hermann ist Mitglied der Mundart-Combo «Die Gebirgspoeten». Seine Texte wurden ins Arabische, Englische, Französische, Litauische, Polnische, Spanische und Ungarische übersetzt. Heute lebt Rolf Hermann mit seiner Familie in Biel. Er schreibt vor allem Lyrik, Prosa, Hörspiele, Spoken-Word und Theatertexte, oft auch in Mundart.

Der Schriftsteller Peter Weber ist 1968 in Wattwil geboren und dort aufgewachsen, heute lebt er im Toggenburg, in Zürich und zeitweise in Istanbul. Er sucht, wie kaum ein anderer Autor seiner Generation, nach der Musik in der Sprache, nach dem Klang der Wörter und Sätze.
Sein Erstling «Der Wettermacher» wurde 1993 als origineller Wurf gefeiert und trug dem Autor mehrere renommierte Literaturpreise ein. Seither gilt Peter Weber als markant eigenständige Stimme in der Schweizer Literatur. Seine Romane ragen durch ihre musikalische und originelle Sprache aus dem Einerlei der Gegenwartsliteratur heraus, wie die FAZ festhält.

Beitragsbilder © literaturblattt.ch

Der 1. Schreibwettbewerb «Amriswil schreibt» ist Geschichte

Die Stadt Amriswil schreibt viele Geschichten: Schulkinder entdecken ihr literarisches Talent. Am ersten Schreibwettbewerb der Volksschulgemeinde Amriswil-Hefenhofen-Sommeri haben 355 Schülerinnen und Schüler mitgemacht. Die vier Besten sind jetzt ausgezeichnet worden.

von Barbara Hettich

«Ein paar Sekunden» – so lautet der Titel einer Geschichte, die Aline Popp, Schülerin der 3. Sekundarstufe, eingereicht hat. Sie erzählt von einem Dilemma, das ihre Heldin innerlich fast zerreisst: Ihr Freund hat mit dem Auto ihre Eltern zu Tode gefahren. In seiner Laudatio würdigte Jens Steiner, Schriftsteller und Jurymitglied, die Geschichte von Aline Popp:
Aline Popp beschreibt Ambivalenzen behutsam, spürt den emotionalen Umschwüngen akkurat nach und gelangt zu einer Wahrhaftigkeit, die die Jury sehr beeindruckt hat.

An der Preisverleihung im Kulturforum Amriswil am Mittwochnachmittag durfte Aline Popp als Gewinnerin der Kategorie D (Oberstufe) ihren Preis – Urkunde, Büchlein, gravierter Stift und Büchergutschein – entgegennehmen.

Das Thema «Freundin verloren/Freund verloren» war bei der Wettbewerbsausschreibung klar vorgegeben. Und dieses Thema hat insbesondere Mädchen sowie die Fünft- und Sechstklässler (Kategorie C) angesprochen. Jedenfalls wurden in dieser Kategorie die meisten Arbeiten eingereicht.

Maëlle Emma Schenk hat sich durchgesetzt und mit ihrem Text «Für immer verloren …» die Jury überzeugt. Mit klarer Stimme liest sie dem Publikum ihre Geschichte vor. Sie erzählt von einem Mädchen, das seine beste Freundin durch einen Streit verloren hat, eine neue findet, diese verliert und zu guter Letzt wieder findet. Jurypräsident Gallus Frei würdigte die Arbeit der Fünftklässlerin mit folgenden Worten: Maëlle Emma Schenk erzählt mit viel Empathie, ohne die Geschichte mit überschwänglichen Emotionen vollzustopfen.

Mit einer Kriminalgeschichte hat sich Tim Ayan Schnyder auf den vordersten Platz in der Kategorie B (Dritt- und Viertklässler) geschrieben. In der Geschichte «Der Mann mit dem braunen Kittel» erzählt er von zwei Freunden, die von einer Verbrecherbande entführt wurden. Katja Alves, Schriftstellerin und Jurymitglied, fand für die Arbeit anerkennende Worte: Tim wählt für seine Geschichte Motive und Szenarien, die man aus Filmen und Games zwar kennen mag, schafft es jedoch, eine eigenständige spannende Geschichte zu erzählen.

Warum sollen die Bäume im Wald nicht miteinander reden können? Anna Keller hat sich in der Kategorie A (Erst- und Zweitklässler) mit einer kurzen und fantasievollen Geschichte mit dem Titel «Der Wind» in die Herzen der Juroren geschrieben. Journalist und Jurymitglied Urs Bader lobte diesen Beitrag so: Einfühlsam berichtet sie vom Schicksal zweier Blätter, die ausgerechnet nach einem Streit auseinandergerissen werden. Was aus ihnen wird, bleibt offen. Auch deshalb ist die Geschichte anrührend.

«Schreiben soll nicht nur Pflicht sein, Geschichten sollen für ein Publikum geschrieben werden», sagt Gallus Frei, Lehrer und Literaturvermittler. «Es gibt Kunstwettbewerbe, Musikwettbewerbe, Sportwettbewerbe, ja sogar Mathematikwettbewerbe – warum sollte es in unserer Schulgemeinde also nicht auch einen Schreibwettbewerb geben?» Mit dieser Frage hat sich Gallus Frei seit längerer Zeit auseinandergesetzt und vergangenes Jahr den ersten Schreibwettbewerb der Volksschulgemeinde Amriswil-Hefenhofen-Sommeri initiiert. Gallus Frei sass gemeinsam mit dem Journalisten Urs Bader, mit der Schriftstellerin Katja Alves und dem Schriftsteller Jens Steiner in der Jury. Von den rund 1700 Schülerinnen und Schülern von der 1. Primar- bis zur 3. Sekundarklasse haben 355 Kinder und Jugendliche eine Geschichte eingereicht. 50 Geschichten kamen in die engere Auswahl, wurden von den Juroren nochmals gelesen und 20 davon ausgesucht, die nun im Büchlein «Amriswil schreibt 2020/2021» veröffentlicht wurden. Das Büchlein, ausgeschmückt mit Illustrationen von Lea Frei, kann man für 10 Franken im Schulbüro kaufen. «Ich bin sehr stolz auf euch», würdigte Schulpräsident Christoph Kohler an der Preisverleihung das Engagement aller Beteiligten. Einander verstehen sei wichtig, eine gute Sprachbildung sei schon deshalb von zentraler Bedeutung.

Beitragsbild © Barbara Hettich (Die vier Preisträger vlnr Aline Popp, Anna Keller, Tim Ayan Schnyder und Maëlle Emma Schenk)

Für einmal Abenteuer im Kopf in der Turnhalle – Eva Roth liest.

Eva Roth las viermal hintereinander den Kindern aus dem Amriswiler Schulhaus Kirchstrasse aus ihrem aktuellen Roman „Lila Perk“, die Geschichte eines mutigen Mädchens. Wer das Buch liest, hört den Fluss, riecht den Wald und das Feuer und spürt von der verzweifelten Liebe eines verunsicherten Mädchens!

„Setz dich ans Steuer“ ist eigentlich keine Aufforderung, die einem verunsichern könnte, von der man glauben könnte, sie entspringe ein Verrücktheit. Ausser man ist nicht einmal zwölf und der, der die Aufforderung ausspricht, der Vater. Lila staunt über ihren Vater, weil er so plötzlich in die Ferien fahren will, weil er seit ein paar Tagen ein Auto besitzt, weil er nach dem Tod seiner Frau, von Mama, wieder zu sprechen beginnt, nachdem er über Monate mit grau gewordenem Gesicht dahinvegetierte. “Du musst fahren können, wenn mir etwas passiert.“ Und so sitzt Lila hinterm Steuer , übt zu sammeln mit ihrem Vater und fährt, meist nur nachts. Aber was passiert, wenn man sie sehen würde? Wenn jemand dahinter käme, dass ein Vater seine Tochter auffordert, Auto zu fahren?

„Überlebt in der Wildnis – alle wichtigen Tipps“ heisst das Buch, das der Vater über den Tisch schiebt, als er Lila erklärt, dass es an der Zeit wäre, gemeinsam Ferien zu machen. Ein Buch, dass eigentlich so gar nicht zu ihrem Vater passt, der sich bisher kaum für die Natur zu interessieren schien. Eine verrückte Idee. Nicht die gemeinsamen Ferien, aber die Absicht, daraus einen Tripp in die Wildnis zu machen, denn eigentlich wäre Lila viel lieber wie die Jahre zuvor mit ein oder zwei Freundinnen mit Oma und Opa Perk nach Kroatien gefahren. Schwimmen am Meer, Badeferien am Strand.

Aber Lilas Vater hat einen Plan und Oma und Opa Perk müssen verzichten. Was sie stirnrunzelnd tun, denn selbst die Grosseltern spüren, dass es gut sein würde, wenn Vater und Tochter für ein paar Wochen in die Ferien fahren, wenn sie ganz füreinander dasein würden. Und dann gehts tatsächlich los. Mit Zelt, Schlafsack, Vorräten und all dem, was Papas Buch „Überlebt in der Wildnis – alle wichtigen Tipps“ auflistet. Weit weg, in ein Tal hinter dem letzten Dorf, an einen Fluss, über dem der Schotterweg gerade genug Platz fürs Auto lässt. Eine Reise ins Ungewisse, Vater und Tochter ganz alleine. Eine abenteuerliche Reise weit weg, während sich Tochter und Vater ganz nahe kommen.

Eva Roth, die neben Kinderbüchern auch Romane für Erwachsene und Theaterstücke schreibt und als Lektorin in einem Verlag arbeitet, weiss als ehemalige Lehrerin sehr genau, wie sie mehrere Klassen gleichzeitig in einer Turnhalle mit ihrer Geschichte fesseln kann. Jungs und Mädchen von der ersten bis zur sechsten Klasse lauschen gebannt, Kinder, denen es im Unterricht oft schon schwer fällt, zehn Minuten an der gleichen Arbeit zu bleiben, klebten an ihren Lippen, erliegen den Bildern, die die Schriftstellerin zu kreieren weiss.
Das ist Sprachförderung, ein Bad in Geschichten und Sprache, Kopfkino für ein Publikum, dass hungrig ist auf Geschichten mit Tiefenschärfe!

«Eine Turnhalle. Ein rotes Feld und ein blaues Feld, Sitzkissen. Ein Stapel Bücher und ungefähr 160 freundliche, aufmerksame, neugierige und top vorbereitete Kinder: Die Lesungen im Schulhaus Kirchstrasse sind unvergesslich. Wie schön festzustellen, dass der Funke springt – hin und her!» Eva Roth

Rezension «Lila Perk» auf literaturblatt.ch

Eine klaffende Lücke des Verlusts – Rolf Lappert im Literaturhaus Thurgau

„Nach jedem gelesenen Buch spürte er neben Geborgenheit auch eine klaffende Lücke des Verlusts.“ Bei einem guten Buch geht das auch mir so, mit dem Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» von Rolf Lappert sowieso. 

In der Abgeschiedenheit einer abgeschotteten Kommune sind die vier Kinder Leser, werden bezaubert von Geschichten aus Büchern, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun zu haben scheinen. Sie wachsen in einer Kommune auf, werden von der Welt draussen, der schlechten, verkommenen Welt ferngehalten. Bis die Behörden eingreifen, den Erwachsenen den Prozess machen und die Kinder «platzieren».

«Leben ist ein unregelmässiges Verb» kreist um ein Paradox; Man befreit die vier Kinder aus scheinbarer Isolation und steckt sie amtlich besiegelt in Isolation. Rolf Lappert beschreibt die vier Leben, wie jene Künstler, die in grossen Hallen Ordnung in die Dinge zu bringen versuchen. Angesichts der immensen Fülle an Stoff, den Rolf Lappert zu einem grossen Panorama verwebt; eine Herkulesaufgabe. Für Leser:innen aber purer Genuss!

 


Zum Beispiel Leander. Er ist einer, den man heute mit dem „Asperger Syndrom“ stempeln würde. Kinder mit Asperger mögen keine Veränderungen, werden durch solche maximal verunsichert. In Winnipeg, im Kapstädter Bruch, in der Kommune hatte er seinen Platz, wie alles seinen Platz hatte. In der Welt draussen versucht ihn alles und jeder in eine Nische zu drängen. 

Manchmal bergen einzelne Kapitel derart viel Intensität, dass sie für sich allein schon Kulisse wären für einen Roman, so wie das Albrecht-von-Bumenthal-Internat, in das man Leander steckt. (Albrecht von Bumenthal, ein Philologen und Nazi, den es wirklich gegeben hat). Lapperts Roman ist ein Füllhorn, ein vielstimmiges Epos, das ebenso tief hineindringt, kolossal unterhält und überbordend sein kann, nicht zuletzt durch seinen Witz.


Eine andere Figur ist Ringo, dessen Nam wirklich etwas mit Ringo, dem Beatles zu tun hat. Er ist ein Held im Feuer, ein Versager im Wasser. Einer, der immer kippt, auf die eine oder andere Seite. Einer, der sich aus der Not unsichtbar machen will?
Die Vier sind dauernd auf der Suche, wenn nicht in Bewegung, dann auf einer Suche nach innen. 

Und nicht zuletzt teilt Lappert mit Ironie gegen sein eigenes Tun aus; dass die Literatur ein Hahn sei, ein aufgeplusterter Gockel, der auf dem Misthaufen der Welt sitze, wichtigtuerisch vor sich hin krähe und voller Selbstgefälligkeit und geheucheltem Mitgefühl auf den jämmerlichen Hühnerhaufen der Menschheit herabblicke, um seine Beobachtungen in bedeutungsschwere Worte zu fassen und zu Geld zu machen, unfähig, jemals ein Ei zu legen, aus dem Leben entstehe.
Oder am Schluss des Buches, wo ein Schriftsteller seinen Auftritt hat. Er sagt: «Romane, dieses Draufloserfinden. Dieser Einfallsreichtum und dessen Zurschaustellung. Dieser Fleiss beim Bündeln rotes Fäden. Die ganze elende Epik. All diese Familien und Krankheiten und nie angekommene Briefe. Es ödet mich an.“ 

vor dem neuen Bücherregal

«Gestern, am Donnerstagabend, hatte ich das Vergnügen, als Gast im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben aus meinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» zu lesen. Den Anlass moderiert hat der beneidenswert belesene, in Sachen Literatur wahnsinnig engagierte, in jeder Hinsicht professionell arbeitende und stets gut gelaunte Gallus Frei, meiner Ansicht nach einer der tollsten und nettesten Menschen, mit denen man als AutorIn in der Schweiz zu tun haben kann. Alleine seine Vorstellung und die – soweit das überhaupt möglich ist bei fast 1´000 Seiten – Zusammenfassung meines Romans waren eine große Freude! Ach, wenn doch alle ModeratorInnen so gut vorbereitet und mit dem Stoff vertraut wären wie Gallus … Gelacht haben wir auf der Bühne auch viel, und ich denke, das Publikum hatte ebenso viel Spaß an der Veranstaltung wie wir. An dieser Stelle danke ich allen, die diese Lesung ermöglicht haben, und auch allen, die als Gäste ins Bodmannhaus gekommen sind (darunter einige «StammkundInnen» aus dem nahen Deutschland), ganz herzlich! Ich beeile mich mit dem nächsten Roman, damit ich und meine Partnerin bald wieder an den Bodensee fahren und all die wunderbaren Menschen wieder sehen können!» Rolf Lappert, Schriftsteller, Zofingen, und Sonja Maria Schobinger, Künstlerin, Basel

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Zwei Höhepunkte vom 16. Thuner Literaturfestival Literaare 2021

Hätte es einen spür-, sicht- und hörbaren roten Faden durch die meisten der Veranstaltungen des diesjährigen Thuner Literaturfestivals gegeben, dann wäre einer davon die Frage nach Herkunft und der eigenen Geschichte gewesen. Ob Monika Helfer mit „Vati“, Andrea Neeser mit „Alpefisch“, Zora del Buona mit „Die Marschallin“ oder selbst Levin Westermann mit seinem poetischen Essay «Ovibos moschatus“, aus allen sprach die Macht, Kraft und Last des Vergangenen.

Monika Helfer, die mit ihrem neusten Roman „Vati“ das 16. Literaare-Literaturfestival eröffnete, ist schon lange im Geschäft, schreibt seit Jahrzehnten, heimst Preise noch und noch ein und lebt zusammen mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann Michael Köhlmeier Familie. Sie ist eigetaucht in Geschichte, Geschichten, ihre eigene Geschichte. Kein Wunder schreibt sie Familienfrau über das, was ihr am nächsten ist; über ihre Familie, über eine Monika Helfer, die aus einer Familie im Vorarlbergischen stammt. Im Roman „Die Bagage“ erzählt sie von ihrer Grossmutter und Mutter, in „Vati“, der dieses Jahr erschien, von ihrem Vater. Und im Herbst dieses Jahres soll es ihr Bruder Richard sein, der mit 30 den Freitod wählte. Ein Buch, das „Löwenherz“ heissen soll.

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser, 2020, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-26562-2

In „Die Bagage“ ist es eine ganze Familie ohne den Schutz des Vaters, die, eh schon gebrandmarkt, durch die Geschichte und die Schönheit der Mutter an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus gedrängt wird. Der Mann einer jungen Frau, der Vater der Kinder wird in den ersten Weltkrieg eingezogen. Kaum aus dem Dorf wird der jungen, schönen Frau nachgestellt. Ausgerechnet der Bürgermeister des Ortes, jener Mann, den der Soldat um den Schutz seiner Familie bat, wird zum Aufdringlichsten und einer ganzen Reihe Ereignisse, die beinahe mit einem Schuss aus einem Gewehr enden. Von Maria, der Grossmutter jener Monika Helfer, die von männlicher Gier bedrängt wird, selbst in der Anwesenheit ihrer Kinder, mit unverhohlenen Drohungen, Avancen, die sich wie Schlingen um den Hals der jungen Frau ziehen und die Kinder in die Flucht schlagen. „Die Bagage“ wären Halbwilde, hätten nicht einmal elektrischen Strom. Denen sollte man die Kinder wegnehmen. Sätze, die auch heute noch über Menschen und Familien ausgesprochen werden, die aus reiner Not sind, was sie sind. Menschen, die man nicht mitnimmt, die man nicht haben will. Von Menschen ausgesprochen, die in der Überzeugung leben, ihre Privilegien seien verdient, gottgegeben, Teil einer grossen Ordnung. Von Menschen, die die scheinbare Schwäche anderer gnadenlos ausnützen und genau wissen, dass ihnen nichts entgegenzustellen ist, weil sie oben, weil sie vorne, weil sie darüber stehen.

Man müsse sich erinnern, sagt Monika Helfer. So wie sie sich erinnert, sollen sich Leser:innen erinnern, weil in allen Familien Geschichten vergraben und aktiv vergessen werden. Alles ist bloss Abbild von Wirklichkeit, verändert, verzerrt, verschoben und vernebelt. Dass das Erinnern Schärfe, Licht und Durchsicht schenkt, wenn sich die Gegenwart nicht mehr einmischt.

Monika Helfer «Vati», Hanser, 2021, 176 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-446-26917-0

Monika Helfers Romane sind Offenbarung, sprachlich wie inhaltlich. Weil sie nie mit grellem Licht ausleuchten, weil Monika Helfer erzählt wie eine Mutter, alles in Liebe taucht, selbst die gestrengen Worte, den Tadel hinein in das, was geschah. Nicht mit dem Verständnis für jene, die zu Täter:innen wurden, aber für all jene, denen man keine andere Chance liess, als jene, zu Opfern zu werden.

In „Vati“ kommt ein Versehrter zurück aus einem Krieg, ihr Vater zurück aus dem verlorenen 2. Weltkrieg, von einem Schlamassel in einen anderen Schlamassel, mit nur mehr einem Bein. Die Mutter hatte damals den Mann mit Prothese, den hageren Versehrten geheiratet, um dann ein Leben lang das Gefühl mit sich herumzutragen, nur gebraucht worden zu sein.

Kevin Westermann «bezüglich der Schatten», Matthes & Seitz, 2019, 158 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-95757-781-8

Ein Höhepunkt für mich am diesjährigen „literaare“ war der Auftritt von Levin Westermann. Levin Westermann erzählte, er habe ein „Erweckungserlebnis“ in seiner Vergangenheit gehabt. Danach wurde „Schreiben“ zum übermächtigen Drang seines Lebens. Aber Levin Westermann ist kein Vielschreiber, sondern ein Suchender. Ob als Leser und Schreiber sucht Westermann nach dem vollendeten Satz, jenem vielstimmigen Klang, der Ober- und Untertöne mitschwingen lässt. Und wenn Westermann schreibt, seien dies nun Gedichte oder Essays, dann spüre ich als Leser diesen Strom der Leidenschaft, der durch sein Tun wirkt.

 

Levin Westermann «Ovibos moschatus», Matthes & Seitz, 2020, 202 Seiten, CHF 26.90,
ISBN: 978-3-75180-002-0

Westermanns Lyrik ist alles andere als verkopft, ist erzählender Prosa viel näher als übersinnlich entrückter Lyrik. Westermann erzählt auch, wie sehr er um Sätze ringt, wie das Schreiben alles andere als ein Entleeren, ein Hinschreiben, ein Wurf sei, sondern harte Auseinandersetzung und das lange Suchen nach dem richtigen Sound. Davon erzählt auch das titelgebende Essay in seinem neuen Buch „Ovibos moschatus“, was übersetzt „Moschusochse“ heisst. Westermann verwebt die Geschichte dieses Tiers, das als einziges grosses Säugetier arktische Winter übersteht und von Menschen gnadenlos dezimiert wurde, mit dem Prozess des Schreibens. So wie das Schreiben ein feinsinniger, feinstofflicher Prozess ist, ist für ihn auch der Umgang mit Tieren zu einer Auseinandersetzung geworden, die das Tier weit wegträgt vom reinen Rohstofflieferanten. Schreiben ist Dichten, ein Schärfen des Bewusstseins. Levin Westermann, ein Beispiel dafür wie umfassend und tiefgreifend das eigene Tun werden kann, wenn sich sämtliche Sinne miteinander verbinden.

Der Zeichner Elias Nell hat Philosophie und Soziale Arbeit in Fribourg studiert sowie in Philosophie, Soziologie und Hermeneutik einen Master an der Universität Zürich abgelegt. Heute arbeitet er im Sphères in Zürich als Buchhändler und für die Veranstaltungen verantwortlich. In seiner freien Zeit ist Elias Nell immer mit Stift und Pinsel unterwegs, um alle Cafés, Restaurants und Take-outs von Zürich und der Welt zu zeichnen. Sein Instagram-Account: @sensatio_nell #zurichbysketch

Zeichnungen © Elias Nell / literaare

Die Literaturblätter ausgestellt am 16. Thuner Literaturfestival

Die Freude darob, Gallus Freis Name im Programm der diesjährigen literaare zu entdecken, ist gross. Sein Schaffen – wohl im Zuge einer Thurgauer-Connection mit Tabea Steiner – hat mittlerweile das Berner Oberland erreicht. Und das mag man ihm so richtig gönnen.

von Katharina Alder / buchjahr.ch

Zumindest in der Ostschweiz ist Gallus Frei-Tomic längst eine fixe Grösse der Literaturszene. Mit unermüdlichem Einsatz und einer seine Arbeit durchdringenden Liebe zur Literatur gründet er fortlaufend neue Veranstaltungs-Gefässe und bekleidet zahlreiche Literaturvermittlungs-Mandate. Zuletzt übernahm er von Marianne Sax die Programmleitung des renommierten Literaturhauses Thurgau «Bodmanhaus». Im Unterschied zu vielen anderen Kulturschaffenden im Thurgau suhlt sich Gallus Frei aber nicht ausschliesslich im eigenen Tümpel, sondern besucht rege fremdkuratierte Lesungen und zeigt mit seiner Präsenz die Leidenschaft zur Sparte. Durch die Vermittlungsbemühungen und sein Interesse an Autor:innen und ihren Texten hat er sich in den vergangenen Jahren ein ausgezeichnetes Netzwerk aufgebaut. Dies ermöglicht ihm beispielsweise das Konzept «Gegenzauber», wo namhafte Schreiber:innen eigens für seinen Blog Texte verfassen oder die grandiose Idee von «Literatur am Tisch». Das kleine Publikum sitzt zusammen mit der Autor:in bei Gallus und seiner Frau Irmgard an einem Tisch und palavert ungezwungen zu Käse und Wein über das Werk. Kann man sich etwas Schöneres vorstellen?

Das erwähnte Engagement zeigt nur einen Ausschnitt aus Freis schillernder Literaturwelt. Und so darf die Ausstellung in Thun also ruhig – ganz seiner Art entsprechend – als Understatement betrachtet werden. Einem Soldatenfriedhof gleich liegen die gerahmten Ausgaben der Literaturblätter in der Eingangshalle des Thuner Rathauses. Ein rührendes Bild. 54 Stück sind ausgestellt. Sie umfassen genau ein Blatt, sind alle handgeschrieben und typografisch den jeweiligen Buchcovern angepasst. Mit diesem Konzept bietet er den Leser:innen seit rund zwölf Jahren genau das, was sie wirklich brauchen: eine ausgezeichnete Titelauswahl und eine reizvolle, pointierte Besprechung ohne viel Schnickschack und elitäre Ergüsse. Die Leserschaft vertraut auf seine Erfahrung, auf sein sicheres Gespür.

Mehr ist von Freis Arbeit für die Thuner:innen nicht zu erfahren. Doch verleiten die wunderschönen Hand- und Kopfarbeiten hoffentlich die eine oder den anderen dazu, aufmerksam hinzuhören, falls künftig der Thurgauer Gallus ihren Weg kreuzen würde.  

Franz Hohler bezaubert im Literaturhaus: ein ganz Grosser!

Franz Hohler ging mit mir spazieren. Mit mir und 33 weiteren Glücklichen, die einen Platz im Literaturhaus Thurgau ergattern konnten. Wir waren über eine Stunde unterwegs – durch das literarische Gesamtwerk des Autors.

von Cornelia Mechler

Lebhaft, zurückhaltend, witzig und nachdenklich: Franz Hohler verlieh jedem seiner Texte, die in über 40 Jahren entstanden sind, eine eigene Stimmungslage. Er rezitiert im Stehen, gestenreich, sehr oft auswendig. Als Zuschauer:in ist man gebannt, möchte keine Sekunde verpassen, denn man weiss: So ein Abend bleibt ewig in Erinnerung.

Und man weiss auch: Hier steht ein ganz Grosser auf der Bühne, dem so rasch niemand das Wasser reichen kann. Und wenn sich der Autor dann an den Tisch setzt, um den «Weltuntergang» zu inszenieren und eindrücklich vorherzusagen, dann ist dies so unterhaltsam wie beängstigend zugleich. Das Stück entstand vor mehr als 40 Jahren – und ist doch so aktuell, dass es man es kaum fassen mag. Es folgt noch das «Totemügerli» auf «berndeutsch» und eine Kurzfassung auf «rätoromanisch».

Ach, man möchte, dass dieser Abend niemals enden möge. Als er es dann doch tut, signiert der Autor noch immer bestens gelaunt die vielen Bücher, die ihm gereicht werden. Man geht, geschichtenbepackt und glücklich, nach Hause – und man freut sich auf ein freies Pfingstwochenende. Endlich Zeit, um weiter im Werk von Franz Hohler herumzuspazieren. Aber Achtung, wenn man einmal anfängt, dann könnte es rasch eine Langstreckenwanderung werden!  

noch vor der Veranstaltung, die sich strickt an die Regeln hielt

Programm Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhau Thurgau