Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling

Jetzt, da Annie Ernaux den Nobelpreis erhielt, ist die Patina, die autofiktionales Schreiben für die einen angesetzt zu haben schien, mit einem Mal weggewischt. In „Schwindel“ schreibt sich Hélène Gestern aus dem Taumeln heraus, weil das Verlassen worden sein ein ganzes Leben in Schieflage brachte. „Schwindel“ macht schwindlig!

Das Buch ist klein und schmal, passt in eine Jackentasche. Ich lese es am See bei Wind und es ist, als ob die Frau auf dem Cover, die schräg im Wind zu stehen scheint, die Haare wie eine Fahne hinter sich trägt, die inmitten entwurzelten Grünzeugs steht, vor einer hohen grauen Mauer, jenen Wind, der bei mir allerhöchstens säuselt, um ein Vielfaches potenziert ertragen muss. Es ist, als ob das, was ich in meinem Leben immer wieder als Verlust von Liebe hinnehmen muss, in und an diesem Buch als Tragödie der Zerstörung wütet. 

Die allergrösste Tragödie des Buches ist nicht die Zerstörung der Liebe, sondern die Tatsache, dass sie unauslöschlich geblieben ist, dass die Erzählerin sie noch immer spürt, trotz aller erlebter Grausamkeiten und Erniedrigungen. Alles, wovon Hélène Gestern erzählt, hat eine riesige Wunde aufgerissen, die nicht heilen will, die die Erzählerin wie ein verstecktes Mahnmal mit sich herumtragen muss, das die Gegenwart abdunkelt, den Schmerz permanent spüren lässt.

Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling, 2022, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, 96 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-89561-344-9

„Schwindel“ ist kein Buch für LeserInnen mit ähnlich offenen Wunden. Nichts für all jene, die sitzengelassen und hingehalten wurden, denen mit falschen Versprechungen ein Teil ihres Lebens verhindert wurde, die Gefühle mit sich tragen, die sich kaum kontrollieren lassen. „Schwindel“ ist das Protokoll eines Verlusts. Wie man sehenden Auges über den Abgrund hinaus in die Tiefe stürzt. Wie alles mitgerissen wird. So wie die Liebe, die Leidenschaft alles über die Massen in Sphären der Glückseligkeit entrücken kann, so kann das Verlassenwerden, der Verlust von Hoffnung und Vertrauen alles in die Gegenrichtung reissen, bis, wie auf dem Cover des Buches, alles niedergerissen ist bis auf Erinnerungen zwischen Schmerz und Wehmut.

„Man kann sich erst von der emotionalen Erinnerung lösen, sie tilgen, den Hunden zum Frass vorwerfen, wenn man sich bis zum bitteren Ende mit ihr auseinandergesetzt hat.“

Hélène Gestern erzählt von einer Frau, die einen Mann kennen und lieben lernt. Was sich zu Beginn wie Reisen ins Glück anfühlt, wird zu einem jahrelangen Ringen, einem nicht enden wollenden Schmerz, einer Geschichte, in der alle Logik ausgehebelt zu sein scheint. Der Mann ist verheiratet, Vater und als Geschäftsmann viel unterwegs, weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. So wie die Frau lange Wege auf sich nimmt, kreuz und quer durch ganz Europa fährt um einige Stunden mit jenem Mann zu verbringen, so schleift der Mann die Frau in einer Spur aus Zweifeln, Verletzungen, Missachtung und Narzissmus hinter sich her. Selbst nach einer ersten Trennung, die nur oberflächlich ist, kommt es fast ein Jahrzehnt später, die Gefühle der Frau für den Mann waren nie erloschen, zu einem umso leidenschaftlicheren Aufflammen der Hoffnung, der Liebe, der Leidenschaft, nur um kurze Zeit später alles endgültig in Trümmern zu sehen.

„Schwindel“ ist ein Buch des Schmerzes. Nie aber ein Buch des Selbstmitleids. Die Erzählerin scheint ein Buch lang eine Erklärung zu versuchen, eine Erklärung, um die sie kämpft und ringt. „Schwindel“ ist ein Versuch der Einordnung, weil das, was mit ihr geschah und geschieht, letztlich unerklärbar bleibt. Es ist, als ob diese Stimme mir gegenüber sitzt, ihre Hände auf die meinigen legt, um mir zu bedeuten, bitte nur zuzuhören – und erzählt.
Liebe ist ein Gefühl, ein Zustand, der sich uns entziehen kann. Die Erzählerin ist nicht geheilt, die Wunde noch immer da, selbst die Liebe noch. Und alles korrespondiert, geht mit einer solch intensiven Sprache einher, dass mich die Lektüre schwindlig macht.

Ich schiebe das Buch ins Regal mit dem Gefühl, an etwas ganz Besonderem teilgenommen zu haben.

Hélène Gestern wurde 1971 geboren, ist Schriftstellerin und lehrt an der Universität von Lorraine Literatur. Sie befasst sich intensiv mit der Geschichte der Fotografie und den Möglichkeiten des autobiografischen Schreibens. Ihre Bücher erscheinen in vielen verschiedenen Sprachen, ihr Roman «Der Duft des Waldes» wurde von Patricia Klobusiczky und Brigitte Grosse ins Deutsche übersetzt und war ein grosser Erfolg. Gestern lebt in Paris und Nancy.

Patricia Klobusiczky, 1968 in Berlin geboren, hat in Düsseldorf Literarisches Übersetzen studiert und ist seit mehr als 25 Jahren in der Branche tätig. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, Autoren der klassischen Moderne wie Jean Prévost oder Henri-Pierre Roché oder Zeitgenössisches, beispielsweise Romane von Marie Darrieussecq, William Boyd oder Petina Gappah

Beitragsbild © Philippe Matsas

An der BuchBasel 2022 öffneten sich Fenster zur Gegenwart und zur Jugend

Mit der neuen Leitung der BuchBasel hat sich das Festival in seiner Öffnung in jene Richtung weiter entwickelt, die in den Jahren zuvor einen Anfang machte. Eine Öffnung, die nicht heuer nur mehr, sondern auch jüngeres und junges Publikum anzog. Aber die BuchBasel war auch ein Festival der Gegensätze.

Hier Lesungen, wie es sie immer gab, da stumme BesucherInnen ohne AutorIn mit VAR-Brillen im Gesicht. Hier höfliches Gegenüber, dort laut und auch einmal schrill. Die eine Lesung wird zum Happening mit Glitzer und Farben, die andere gibt sich getragen, ganz der Tradition verbunden. Vielfalt war Programm. Zu hoffen ist nur, dass sich die Atmosphären mischen.

«Wagdy El Komy kommt aus Ägypten und beschreibt seit dem Arabischen Frühling die repressiven postrevolutionären Umstände im Land. Zurzeit lebt er in der Schweiz, wo er auch schon mehrfach Stipendien erhielt. El Komys Romane spielen in der Unterwelt von Kairo, erzählen von der Auflösung der ägyptischen Mittelschicht und der Widersprüchlichkeit der immer quälenderen Alltagssorgen.»

Aus den über 70 Veranstaltungen zwei:

Juri Andruchowytsch ist neben Serhij Zhadan eine der ganz wichtigen Stimmen für die Ukraine. Nicht nur in ihrem Schreiben, sondern auch deshalb, weil wie bei vielen SchriftstellerInnen dieses gebeutelten Landes fast alles, wonach sie gefragt werden, zum politischen Statement wird. Dass die BuchBasel mit Juri Andruchowytsch, der Historikerin Olha Martynyuk und dem Historiker Frithjof Benjamin Schenk ExponentInnen auf die Bühne bringt, die neben persönlicher Betroffenheit auch Kompetenz und Prägnanz in Diskussionen bringen, tut einer solchen Veranstaltung gut, wo es doch schwierig ist, den Krieg in der Ukraine nicht zum Thema zu machen.

Juri Andruchowytsch unterbrach für den Besuch an der BuchBasel seine Lesereise in der Ukraine, eine Lesereise, die ihn auch in Städte bringt, die unter russischem Beschuss liegen. Eine so ganz andere Lesereise wie eine vergleichbare in der Schweiz. Die Menschen in der Ukraine dürstet es in diesen Zeiten nach Kultur, nach Literatur. Juri Andruchowytsch erzählt, es gäbe SchriftstellerInnen an beiden Fronten, dort, wo geschossen wird und dort, wo eine ganze Nation nach Worten sucht. Juri Andruchowytsch las auch in Charkiw, in vollen Luftschutzbunkern, unterbrochen vom Luftalarm, aber immer in der Hoffnung, alles sei ein kleiner Schritt zur Normalität.

Zusammen mit Verlegern bringen SchriftstellerInnen Bücher an die Front, eine Front, die längst keine Linie mehr ist, sondern das Land in eine einzige Front verwandelt, immer und überall bedroht von russischer Willkür. Kein Strom, kein Frischwasser, kaum mehr medizinische Versorgung, Hunger und Kälte. Aber Bücher. Bücher werden zu einem Fundament ukrainischen Selbstbewusstseins. Ein Selbstbewusstsein, das sich wie die weissen Flecken im westlichen Bewusstseins um die Geschichte dieses Landes, mit Stoff füllt. Eine westliche Sicht auf Geschichte, die über Jahrzehnte eine sowjetische und postsowjetische Perspektive beschränkte. 

Nicht erst seit Februar 2022 steht die Ukraine im Krieg. Aber seit dem 24. Februar und den Geschehnissen danach reibt sich der Westen die Augen. Seit bei den Protesten 2014 auf dem Maidan in Kiew scharf geschossen wurde, seit der Annexion des Donbas und der Halbinsel Krim herrscht ein Krieg, der von Westeuropa fast ein Jahrzehnt meisterlich ignoriert wurde. Ein Krieg, der in den letzten acht Jahren das ukrainische Selbstbewusstsein nur stärkte.

«Wie haben diese Ereignisse das Land geprägt? Welchen Platz nahm und nimmt die Ukraine in Europa ein? Wie sind die Zukunftsaussichten, wenn der Krieg vorbei sein wird? Welche strukturellen und politischen Herausforderungen erwarten das Land und Europa?»

Juri Andruchowytsch beteuert, dass im Zentrum aller Kräfte in der Ukraine die Freiheit steht, eine Freiheit, die es in seinem Land nie gab, aber schon lange als Idee, Hoffnung und Ziel. Ein Besteben, das im krassen Gegensatz zum russischen Aggressor steht. Die Ukraine führe einen Krieg für die Zukunft einer Demokratie, Russland einen Zerstörungsfeldzug für eine Verteidigung eines steuernden Imperiums, der Verteidigung einer toten Vergangenheit.

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Es gab die grossen Namen; Sibylle Berg, Tsitsi Dangarembga, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke, Thomas Hürlimann, Donna Leon, Kim de l’Horizon und andere mehr.
Aber es waren auch die kleineren Veranstaltungen, die bezaubern konnten. Wie jene mit Gabrielle Alioth, die als Schweizerin seit fast 40 Jahren im County Louth an der Ostküste, nördlich von Dublin lebt und schreibt. In ihrem bei Caracol erschienenen zweisprachigen Text- und Bildband „Seapoint – Strand“ erzählt die Autorin von ihrem Leben an jenem Stand in Irland, eine zärtliche Reflexion in ein Hinein und in die Weite hinaus.

Gabrielle Alioth spaziert jeden Morgen dem Meer entlang, zwischen Himmel und Erde, zwischen Meer und Sand. Sie schreibt und fotografiert Bilder weit über Betrachtungen hinaus. Eingetaucht in die Sagen und Geschichten jenes Landes, das eigene Leben, das langsame Eintauchen in eine Kultur. Alltägliches verbindet sich mit Geschichte und Geschichten, dem Angeschwemmten, Hergetragenen, Liegengelassenen. Texte zwischen Betrachtungen und Nacherzähltem, manchmal lyrisch, manchmal episodisch.

Irische Sagen, die wie alle Sagen stark mit Orten verknüpft sind, erzählen wie die Schriftstellerin Geschichten, die klären und erklären wollen. Gabrielle Alioth klärt eine Landschaft, ohne ihre Geheimnisse entschlüsseln zu wollen. Das Meer sei ein geduldiges Gegenüber, ein unendliches Füllhorn, das die Geschichten nicht wie in den Bergen als Echo zurückwirft.

«Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, ist die Erzählfigur von Blutbuch (Dumont Buchverlag, 2022) den engen Strukturen der Herkunft entkommen, lebt in Zürich und fühlt sich im nonbinären Körper wohl. Doch dann erkrankt die Grossmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit und den bruchstückhaften Erinnerungen an die eigene Kindheit auseinanderzusetzen.»

Möge das Echo dieser In Literatur getauchten Tage noch lange nachhallen!

Zum Titelbild: «Die offizielle Erinnerungspolitik und das mahnende «Nie wieder», das im Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus aufgerufen wird, werden mehr und mehr zu inhaltsleeren Ritualen. Mit Texten von Überlebenden gaben Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree denjenigen eine Stimme, die Lager erlebt und beschrieben haben.»

Illustrationen © Charlotte Walker 

„Blutbuch“ von Kim de l‘Horizon gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022 #SchweizerBuchpreis 22/11

Laudatio zu Kim de l’Horizon «Blutbuch» (DuMont Buchverlag) von Sieglinde Geisel, Jurymitglied

Kim de l’Horizons Debüt «Blutbuch» ist ein Chamäleon von einem Roman. Es ist die Coming of Age-Geschichte eines Menschen, der sich geschlechtlich nicht definieren will und zugleich eine Sozialstudie über die Gesellschaft, die das nicht akzeptiert. Es ist ein Buch über die Kindheit und eine Suche nach den Vorfahrinnen. Es ist ein Buch, das sämtliche Diskurse der Political Correctness verarbeitet, von der Diversität der Geschlechter über den Rassismus bis zu Klassenunterschieden – und das doch kein non-binärer Thesenroman ist.

«Blutbuch» feiert die Sprache als ein Medium des Erfindens und Ausprobierens, er bedient sich aller Register des Sprechens. So wird im Berner Dialekt aus der «Mutter» eine «Meer» und aus der «Grossmutter» eine «Grossmeer», und auf einmal ahnen wir ein Meer, in dem wir untergehen könnten.

In jedem der fünf Kapitel spricht eine andere Stimme. Wir lesen konzentrierte Kindheitsprosa («Grossmeers Hände … packen meine Kinderarme (…) und streicheln sie unbarmherzig») und poetisch aufgeladene Einsichten («Die Kindheit fühlt sich an wie ein toter Hase an einem Feldwegrand, der langsam von Ameisen, Fliegen, Bakterien und Pilzen zersetzt wird.»). Wir lesen sozialkritische Analysen (über «den Rassismus, den mensch uns mit dem Schnuller eingetrichtert hat und der nicht einfach aufhört zu wirken, auch wenn wir uns gegen ihn entscheiden»), und dann wieder werden wir von rhapsodisch verwilderten Sexszenen an die Grenze des Zumutbaren katapultiert. Wir lesen Stammbaum-Einträge der Vorfahrinnen, die die «Meer» in ihre Schreibmaschine getippt hat, Frauenporträts, die den viele Jahrhunderte umfassenden Echoraum der Unterdrückung öffnen. Auch die «Meer» selbst hat ihr Studium dem Kind geopfert, das nun dieses Buch schreibt und ihr eine dialektgefärbte, bisweilen um Formulierungen ringende Stimme verleiht. Das letzte Kapitel schliesslich ist auf Englisch geschrieben: Die in die Dem‹enz versinkende Grossmeer soll diese Briefe nicht lesen können, denn was der Ich-Erzähler ausdrücken möchte, kann er ihr nicht sagen. «I am still scared of you, Grandma, scared of what you will do when you read all of this.»
Ein sprachlich überbordender Roman über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen – auch so könnte man dieses vielgestaltige Buch benennen. Zusammenfassen kann man es nicht, es strebt in alle Richtungen. «This naughty text, der einfach nicht straight sein will, der sich einfach ständig unter meinen schlecht lackierten Nägeln wegdreht wegquengelt wegqueert.» Der Ich-Erzähler reflektiert sich ständig selbst: «Vielleicht ist es das, was ‹Autofiktion› bedeutet: mit eigenem Tempo, eigenem Fokus und eigenem Modus durch die Wirklichkeit zu fahren.» In der Tat begegnen wir hier einer Sprache, die beschleunigt, abbremst, ausbricht, nach innen horcht, ausschert, dann wieder überraschend die Spur hält – zwischen all diesen Stühlen, auf die der Autor sich nicht setzen will.

Mit diesem Debüt hat Kim de l’Horizon der literarischen Sprache der Schweiz einen neuen Kosmos eröffnet. Ich gratuliere Kim de l’Horizon im Namen der Jury zur Nominierung für den Schweizer Buchpreis.

Illustration © Charlotte Walder

Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», Bilger

Vor 200 Jahren und mehr gab es viele Gründe, warum man sich gezwungen sah, seiner Heimat, der Schweiz den Rücken zu kehren und auszuwandern. Nicht immer waren es wirtschaftliche Gründe. So wie bei Eugènie und Frederick, die ihr Glück auf der Krim zu finden hofften.

„Kretainismus“ war vor 200 Jahren der Sammeltopf für all jene geistigen und körperlichen Behinderungen und Missbildungen, die man damals infolge Jodmangels und fehlender Hygiene nicht in den Griff bekam. Der Patriziersohn Frederick Zen Zaenen, der in den 80ern des 18. Jahrhunderts im Wallis zur Welt kommt, leidet an dieser Krankheit, ist von schwächlicher Konstitution und hat einen Kropf, ein grosses Geschwulst am Hals. Damals war diese Krankheit nicht unüblich. Das Glück von Frederick Zen Zaenen aber war, dass er einer wohlhabenden und einflussreichen Familie entstammte, die ihn nicht einfach dahinsiechen liess, sondern den werdenden Mann nach Leukerbad zur Kur schickte und ihm dort eine Magd, Fräulein Eugènie, zur Seite stellte.

Eugènie und Frederick verlieben sich. Frederick weiss, welches Glück ihm mit dem Bauernmädchen widerfährt, muss aber hinnehmen, dass ihn seine Familie ächtet und verstösst, als sie erfährt, dass Frederick und Eugènie zur Familie werden. Obwohl Frederick an der Seite seines gestrengen Vaters in dem im Rhonetal grassierenden Krieg zwischen Napoleon ergebenen Truppen und dem katholischen Oberwallis zieht, ist der Bruch in der Familie irreparabel. Fredericks Schicksal wird zu einer ersten Reise, denn es gibt nur zwei Dinge, die ihm zu einem Zuhause werden können, Eugènie mit den Kindern und die Musik. Aber weder die Familie noch die Musik werden zu einem sicheren Hafen. Nicht zuletzt darum, weil Eugènie alles andere als eine dienstbeflissene und ergebene Magd ist und obwohl von niederem Stand alles daran setzt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie lässt sich in Yverdon zur Hebamme ausbilden, zieht mit ihrem Kind in die Fremde und lernt dort nicht nur das Handwerk der Geburtshelferin, sondern die Freiheiten einer sich von den kirchlichen Zwängen emanzipierten Gesellschaft. Weil Eugènie zurück im Wallis sich nicht von ihren aufmüpfigen, antiklerikalen Ideen distanziert, sieht sich die noch junge Familie gezwungen der Enge ihres Heimatkantons den Rücken zu kehren. Sie lassen sich von den Versprechungen einer Kolonie auf der Krim anwerben und eine zweite Reise beginnt.

Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Bilger, 124 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03762-102-8

Frederick findet in seiner neuen Heimat gar eine Orgel. Aber das so leidenschaftlich begonnene Glück beginnt zu schwinden. Nicht nur die Orgel, die er im Hafen einer Krimstadt günstig erstehen konnte, bringt er kaum zum Klingen, auch seine Liebe zu Eugènie, die nun Evgenia heisst, verliert an Farbe und Kraft. Und als ihm Eugènie, die im zaristischen Gesundheitswesen schnell Karriere macht, unterbreitet, dass sie ins ferne Petersburg zu ziehen gedenkt und Frederick ahnt, dass es nicht nur ihr Handwerk ist, dass sie in die Ferne zieht, beginnt sein Stern zu sinken, während der Ihrige zusammen mit ihrem Sohn in für damalige Verhältnisse schwindelerregende Höhen steigt. Eugènie wird Hebamme der Zarenfamilie, Othmar, Eugènie und Fredericks Sohn ein erfolgreicher Arzt. Während Frederick sein Leben an einem Strick beendet, reüssiert Eugènie in der Fremde und schüttelt alles ab, was sie an ihre eigene Herkunft erinnert.

Raymond Vouillamoz’ Debüt ist realistische Fiktion. Feminismus ist keine Erfindung der Neuzeit. Es gab sie immer, die Frauen, die nicht für Gesetz nahmen, was ihnen Tradition und Patriarchat vorsetzten. Auch die Tatsache, dass es lebensgefährlich sein kann, für Gleichberechtigung einzustehen, hat sich nicht wirklich verbessert. Während sich selbst Europa, die westliche Welt noch immer schwer tut, aus einem Geschlechterdenken herauszutreten, werden anderorts Frauen von bärtigen Männern wie Vieh behandelt. Trotz Fiktion ist dieser Roman ein Stück erfrischende Realität, auch wenn das, was von Frederick übrig bleibt, an einem starken Ast einer Linde baumeln muss.

Raymond Vouillamoz wurde 1941 in Martigny im Kanton Wallis geboren. Nach dem Studium wurde er Journalist und Filmkritiker in Neuenburg. 1966 machte er ein Regiepraktikum bei Claude Goretta im TSR und schloss seine Ausbildung mit zwei Kurzfilmen ab. Seit 1970 drehte er zahlreiche Reportage, adaptierte Theaterstücke fürs Fernsehen und drehte Fernsehfilme. 1980 wurde er Chefproduzent für Fernsehfilme, 1990 Programmdirektor bei France 3. 1993, wieder in der Schweiz, war er bis 2003 Programmdirektor beim TSR. 2005 kehrte er in seinen Beruf als Filmregisseur zurück und wurde von der französischen Regierung zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt. 
Raymond Vouillamoz wurde im Herbst 2022 in Zürich mit dem Literaturpreis der Stiftung Kreatives Schaffen im Alter ausgezeichnet.

Barbara Heber-Schärer, geboren 1945, lebt in Basel. Sie arbeitet seit 1990 als Lektorin und Übersetzerin, unter anderem von Emmanuel Bove, Paul Ricœur, Joseph Szapski, Leslie Kaplan, Claude Lanzmann und Michèle Desbordes.

Pia Troxler «Jubiläum», Vicon Verlag, Gastbeitrag

Der Roman von Pia Troxler wagt sich an ein heikles Thema. Es geht um sexuelle Übergriffe eines Professors, der seine Machtposition gegen junge Frauen ausnutzt. Was als kundiger Einblick in akademische Strukturen beginnt, endet mit Mord und Totschlag. Eigentlich findet das Buch überhaupt kein Ende – braucht es auch nicht.

Jubiläum oder Das Ende der Scham
Eine Gastkritik von H. S. Eglund, Berlin.

Denn alles bleibt offen, gleichsam erstarrt. Am Ende steht die ungeschriebene, unausgesprochene Frage: So, jetzt seid Ihr dran. Wie geht es weiter?
Ein Beitrag zur aktuellen Me-too-Debatte, zweifellos ein wichtiger Beitrag, der sich ins Genre eines Romans kleidet. Das ist gewagt, weil bei diesem Thema überall Tretminen lauern.

Zu leicht könnte die Autorin versucht sein, Partei zu ergreifen. Zu verführerisch ist die Chance, in Propaganda gegen männlichen Sexismus und Chauvinismus zu verfallen; Klischees zu liefern statt Erzählung, statt Kopfkino, das der Leserschaft eigene Urteile überlässt.

Wesentlich für die Authentizität

Als ich anfing, Pia Troxlers Roman Jubiläum zu lesen, stolperte ich zunächst über die Sprache. Da scheint eine Schweizerische Einfärbung durch, an die ich mich als Bewohner des größten Kantons erst gewöhnen musste. Im weiteren Verlauf der Handlung wurde der Stil jedoch schlüssig, denn der Roman erzählt aus einem Institut, aus einer Hochschule in der Schweiz. Sprache ist wesentlich für Authentizität, erst recht im Roman. Nach anfänglichem Stolpern kam ich gut in Tritt, zumal die Handlung wesentlich durch Dialoge getrieben wird, das macht sie flüssig und schnell.

Toxic Masculinity wie in Hollywood

Hauptfigur der Erzählung ist Sibylle Beckenhofer, eine Studentin am Institut für Sozial- und Technikforschung. Unter fadenscheinigen Gründen wird sie von Professor Karl Grossholz in sein Arbeitszimmer gelockt und grob begrabscht. Zuerst schmeichelt er ihr, spielt mit ihrem Wissensdrang, auch mit ihrer Eitelkeit. Dann zeigt er unverhohlene, hemmungslose Gier. Toxic Masculinity ist der Fachbegriff, der sich dafür eingebürgert hat.

Daneben treten weitere Frauen auf, die unter den Übergriffen des erfolgreichen Professors leiden, sie oft stumm erdulden. Ähnlich Harvey Weinstein in der amerikanischen Filmbranche haben Professoren nicht selten die Macht, über die künftige Karriere ihrer akademischen Schützlinge zu befinden – und zu entscheiden.

Pia Troxler «Jubiläum», 328 Seiten, Vicon Verlag, 2022, ISBN 978-3-9525294-7-8

Die Scham überwinden

Neben Grossholz tritt Professor Knoll auf, so etwas wie der Dekan und damit Vorgesetzter am Lehrstuhl. Kenntnisreich wird der akademische Betrieb dargestellt, hier anhand von soziologischen und Themen der Technikgeschichte. 
Langsam finden die Frauen zusammen, überwinden ihre Scham. Denn geschickt nutzen Leute wie Grossholz das Gefühl der Beschämung und Beschmutzung bei den Frauen aus, um unter Umständen jahrzehntelang weiterzumachen.

Kenntnisnahme erzwingen

Eine Anwältin wird eingeschaltet. Sie zwingt Professor Knoll, die Entgleisungen seines Kollegen zur Kenntnis zu nehmen. Knoll windet sich, einem Aal gleich, denn das 30-jährige Jubiläum des Instituts steht vor der Tür.
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, wer stört solche Festlichkeiten gern mit Vorwürfen des Sexismus? Nach der Party verliert Grossholz völlig die Kontrolle über sich selbst, bringt eine junge Frau um. Und tut, als wäre nichts gewesen. Nur den Kollegen Knoll, den macht er zum Mitwisser.

Die Leiche im Aktenschrank

Die Leiche liegt verborgen, wo die meisten Leichen schlummern: im Aktenschrank. Ob und wie sie entdeckt wird, ob und wie Grossholz überführt und vollends entlarvt wird, wird nicht erzählt. Doch am Ende sieht der Leser das Blaulicht der anrückenden Polizei vor seinem geistigen Auge. Wie in Fernsehkrimis, dort als Cliffhanger bezeichnet.

Der Roman also endet und endet nicht. Nun könnte die Diskussion beginnen, über sein eigentliches Thema, den Missbrauch von Macht. Doch dieses Thema, das die Handlung über weite Strecken trug, ist durch den Mord in den Hintergrund getreten.

Scheiss Fernsehkrimis

Oder wurde auf die Spitze getrieben – und übertrieben. Soll heissen: Der Roman, der sich zum Krimi wandelt, hätte dieser Metamorphose nicht bedurft. Scheiss Fernsehkrimis, sie machen das Schreiben nicht unbedingt einfacher. So habe ich zwei Bücher gelesen, eines über Missbrauch, eins über Mord.
Zudem wird zum Ende hin seitenweise erläutert, was den Professor innerlich zur finalen Schandtat treibt. Psychologisch gesehen sind die inneren Monologe streckenweise geglückt und nachvollziehbar. Doch stets hören sie vorm emotionalen Urgrund auf. Unbeantwortet bleibt: Wo nahm der Schaden seine Anfang?

Es hätte dem Roman gut getan, weniger akademisches Fachwissen zu präsentieren, weniger Details der ausufernden Feier zum Jubiläum, dafür mehr Innensicht des Täters. Nicht, um ihn zu entschuldigen. Sondern um ihn als Figur gleichrangig neben die weiblichen Akteure zu setzen, sie literarisch auf eine Stufe zu stellen.
Denn die Frauen sind in ihrer Situation durchweg einfühlsam und behutsam dargestellt, das ist eine grosse Stärke des Romans. Auch ihre unterschiedlichen Reaktionen, wie sie mit den Übergriffen umgehen, wird verständlich, bis tief in ihre Gefühlswelt hinein, mit all dem emotionalen Chaos, das der Professor anrichtet.

Der Unterschied zwischen Belästigung und Mord

Nicht die Autorin oder der Autor sollten Urteile bilden, sondern Leserinnen und Leser. Der Mord am Ende des Romans stellt Professor Grossholz ausserhalb aller Normen.
Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob es um seine Motivation geht, Frauen zu demütigen, sie im normalen Institutsbetrieb sexuell zu belästigen. Oder ob es um Mord geht, vor dem diese Frage – zwangsläufig – verblasst.

Im Roman von Pia Troxler geht es eindeutig um sexuelle Übergriffe, die von bestimmten institutionellen Strukturen unterstützt werden. Schonungslos legt sie diese Strukturen frei, in denen maskuline Dominanz angelegt und konserviert ist.
Wir erwähnten Hollywood. Ebenso gut könnten wir die Kirchen nennen. Im Detail verschieden, geht es um haargenau das gleiche System von Abhängigkeit, um die gleiche, falsch verstandene Kollegialität. Um die gleiche, perfide Ausnutzung von Scham, um Übergriffe zu vertuschen.

Der Hammer war nicht nötig

Oder reden wir von Mord? Ich behaupte, dass die Autorin damit leider dem Holzhammer verfallen ist, um das Urteil zu zementieren. Jetzt ist jedem klar: Grossholz gehört abgestraft, und zwar richtig! Er ist ein Ungeheuer.
War gar nicht nötig. Dass Grossholz lebenslang in der Falle sitzt, Triebtäter im wahrsten Sinn dieses Wortes ist, hat die Autorin bereits verdeutlicht, weitgehend überzeugend. Spannender wäre (für mich) die Frage gewesen, wie lange ihn Knoll deckt, wie lange das akademische Getriebe solche Leute schützt. Wann Wegschauen zur Mitschuld wird.

Denn das war das eigentliche Thema, deshalb nahm ich diesen Roman zur Hand. Ich kann mit dem Ende (das keines ist) gut leben, immerhin bringt es mich zum Nachdenken. Dass schliesslich ein Mord geschieht, führt mich zwar von der breiten Bedeutung und Brisanz weg, führt mich weg vom Gleichnis, dass die Story stellvertretend für Filmproduzenten, Regisseure, Kardinäle, Bischöfe und Popen steht.
Das ist jedoch kein Problem, tut dem Buch keinen Abbruch. Denn Literatur ist Aneignung durch Lesen. Als Beitrag zur aktuellen, dringenden Diskussion funktioniert dieser Roman ausgezeichnet, auch ohne sein letztes Kapitel. Und mancher, der ihn liest, wird sich gerade am Mord erfreuen, wird durch diese Episode einen Zugang finden, der mir verwehrt blieb.
Diesem Buch und seiner Autorin wünschen wir zahlreiche Leserinnen und Leser und vor allem viele spannende Diskussionen.

Pia Troxler, geboren in Luzern, Autorin, Soziologin, Schreibcoach, lebt in Zürich, von 1997 – 2005 in Leipzig. Sie arbeitete u. a. als Lehrbeauftragte an der Universität Zürich, leitete von 2012 – 2021 einen Literaturtreff und unterrichtet privat und an Festivals Kreatives Schreiben. In der Literatur ist sie auf Prosa und Dramatik spezialisiert. Sie hat den Erzählband «Die Verwünschung» publiziert. «Jubiläum» ist ihr Romandebüt.

H. S. Eglund lebt als Publizist in Berlin, er war früher Reporter für «Der Tagesspiegel», «Frankfurter Rundschau» und «Die Zeit». Heute ist er Fachjournalist und Autor mehrerer Bücher. Sein letzter Roman «Nomaden von Laetoli» ist 2021 erschienen.

Website der Autorin Pia Troxler.

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8 – «Literatur am Tisch»!

Ich mag eigenartige Bücher. Der zweite Roman nach „Leo war mein erster“ reizte meine Neugier fast bis zur letzten Seite aus. Was will mir ein Roman sagen mit einem Lenz in roten Jeans, Black und Red, zwei aufreizend gekleideten Begleiterinnen und einem orangen Lamborghini mit angehängtem Wohnwagen? Regula Wenger verpackt die Frage nach dem Sinn in einen schrägen Roadtrip.

Lenz ist 45 Jahre alt. Die Betonung liegt auf den drei betonschweren Buchstaben ALT. Von Frühlingsdüften keine Spur mehr. Lenz Leben ist in der Tristesse parkiert, auf einem sperrigen Gamersessel und reichlich Bier in Griffnähe. Selbst seine Kinder und seine Frau schaffen es nicht, das parkierte Leben wieder in Fahrt zu bringen, dieses im Schlick festgefahrene Auslaufmodell. Lenz hat das Aufschieben längst zu seinem Programm erklärt, seine Träume beerdigt, nicht aber seine Frau und seine Freunde. 

Es ist, als ob der Zwist mit seinem Freund Finn, der die beiden vor einem Jahr im Streit auseinanderbrachte, etwas in Lenz blockiert hätte, was kein Rütteln und Schütteln mehr in Fahrt brachte. Finn und er waren beste Freunde. Bis Finn sein halbes Bier im Streit stehen lassen musste, weil Lenz ihn aus seinem Haus jagte. Lenz ist mit leckem Tank parkiert. Nicht nur seine Frau, auch seine Freunde wissen, dass Lenz nur mit List aus seiner Lethargie zu katapultieren ist. Deshalb legen sie alle zusammen und schenken ihm einen Tripp mit jenem Auto, das als Modell auf seinem Regal steht, zusammen mit zwei Frauen, die aus Teufels Küche entsprungen scheinen: Black und Red.

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8, 2022, 240 Seiten, CHF 25.00, ISBN 978-3-85990-464-4

Auch wenn der Tripp nicht jener ist, den sich Lenz zu Beginn erhofft, denn die beiden Frauen lassen ihn aus versicherungstechnischen Gründen nicht ans Steuer und setzen ihn, weil ihm die Beine auf dem schmalen Rücksitz (auch der Lamborghini ist nicht genau der, der auf dem Regal unter Staub begraben liegt) einschlafen, in den engen kleinen Wohnwagen, der doch eigentlich nichts am Heck eines Sportwagens verloren hat. Auch die beiden Frauen halten sich in dieser Woche streng an einen Fahrplan, zaubern einen Gutschein nach dem andern aus ihren engen Ausschnitten und konfrontieren Lenz mit einer ganzen Reihe von skurrilen Situationen, als wäre Don Quichotte für einmal nicht mit einem lahmen Gaul unterwegs.

Regula Wengers wilde Geschichte erinnert an Fellini, David Linch und ein wenig Heinz Rühmann. Auch ihr zweiter Roman hat in der Schweizer Literaturszene kaum Verwandte. Als ob Regula Wenger einen Ton treffen würde, Bilder evozieren kann, die an Leichtigkeit, Heiterkeit, subtilem Humor ihres- und seinesgleichen suchen. Zugegeben; der Roman verunsichert, nicht nur inhaltlich, weil er sich wie ein Rätsel liest, sondern auch in seiner Konstruktion. Denn es braucht die sieben Tage Schöpfung, um dem „armen“ Lenz zu zeigen, wie er zurück ins Paradies findet. „Lamborghini Görlz“ ist eine köstliche Parabel mit viel Witz und einem übervollen Mass an Schrägem. So viel, dass der sperrige Wohnwagen den schnittigen Lamborghini manchmal zu überholen droht. „Lamborghini Görlz“ ist der quicklebendige Beweis dafür, dass sich Literatur nicht zwangsweise in Selbstzerfleischung und raumgreifender Ernsthaftigkeit suhlen muss.

Vielleicht ist „Lamborghini Görlz“ auch ein modernes Märchen, von einem Mann, den man wie Hans im Glück auf eine lange Reise schicken muss.

Regula Wenger wuchs im Laufental im Kanton Baselland auf (früher Bern). Heute lebt sie mit ihrer Familie in Basel. Sie arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Texterin, veröffentlichte Kolumnen und Kurzgeschichten. Ihr Romandebüt «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag, der 2021 seine Geschäftstätigkeit eingestellt hat, in vier Auflagen erschienen. Neu ist es bei edition 8 erhältlich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Roland Schmid

Literaturhaus Thurgau Gottlieben: Sonntag, 4. Dezember 2022, 11 Uhr: Ein AutorInnen-Kollektiv stellt junge Texte zur Diskussion.

Schreiben ist das eine. Wenn Texte einem Publikum „ausgesetzt“ werden, beginnen sich diese zu verselbstständigen. 10 AutorInnen aus der Schweiz sind Dieter Boller, Gianna Olinda Cadonau, Marc Gallus, Corina Heinzmann, Rebecca Holzer, Agnes Weber, Alessandro Weiler, Stefan Wenger-Ledermann, Pascal Witschi und Katharina Wüthrich lesen aus ihren Texten und diskutieren über ihr Schreiben.

Moderation Gallus Frei

Wer sich mit Textproben aus dem Schaffen einiger AutorInnen auseinandersetzen möchte, hier eine Auswahl an Textanfängen, die auf der «Plattform Gegenzauber» in ganzer Länge gelesen werden können.

Hier kann man sich im Literaturhaus anmelden.

Dieter Boller «Akzentfrei
»:

Schön schwer ist sie, dachte Emmelius. Das um Aronja gelegte Tuch leuchtete. So hell, dass er sich Sorgen machte. Der Weg vom Pfarrhaus auf die Anhöhe war zum Glück nicht weit.
Er hatte sich gut überlegt, wo er sie betten wollte. Das nördliche Feld war erst zur Hälfte belegt. Allesamt Diesjährige. Der Bereich eignete sich nicht. Noch waren die Tränen der Angehörigen nicht getrocknet. Kamen die Trauernden wöchentlich, wenn nicht sogar täglich vorbei. Beäugten minutenlang den Stein, die Blumen, die Kerzen. Jede noch so kleine Veränderung hätten sie sofort bemerkt.
Die vergessenen Seelen lagen im Westsektor. Auf den Schiefersteinplatten, die zu den Gräbern führten, war Moos gewachsen. Ihre Körper waren nicht mehr. Dem Erdboden gleich. Zersetzt. Vom sauren, sandigen Obwaldner Boden… (weiterlesen)

Corina Heizmann «Schaukelstuhl»:

Letzten Sommer wollte ich meinen Schaukelstuhl anmalen, Zitronengelb. Stundenlang bin ich durch den Heimwerkerladen gelaufen auf der Suche nach dem richtigen Farbton. Ein helles, frisches Gelb, einen Hauch vor der Grenze zum Grünstich, hell aber nicht grell. Ein sommerliches Statement Piece für meinen Balkon, auf dem ich kluge Bücher über Kapitalismus lesen und frische Ingwerlimonade trinken würde, deren Rezept ich auf dem Pinterest-Profil einer übermotivierten Agglo-Mutter gefunden hatte.
Es ist nun zum zweiten Mal wieder August und der Schaukelstuhl steht immer noch in der Ecke meines Lagerzimmers. Das dritte Zimmer meiner Wohnung, in das ich alles hineinstelle, von dem ich nicht weiss, wohin damit.
Manchmal leg ich mich dazu und schau, wie die Staubpartikel in den Sonnenstrahlen fliegen… (weiterlesen)

Agnes Weber «Der längste Gang»:

Heute Abend ist es so weit. Mary und ich sind bei Rita zum Essen eingeladen. Sie hat den Termin aus unklaren Gründen mehrere Male verschoben. Rita wohnt abgelegen in einem kleinen Dorf, in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser neben den Bauernhöfen. Draussen ist es kalt, die Welt erstarrt im Schnee. Mary steuert das Auto vorsichtig. Ich wische die beschlagenen Vorderscheiben mit einem Lappen.

Rita empfängt uns herzlich und führt uns in die geräumige, warme Stube. Nach der Vorspeise verzieht sie sich, um den Hauptgang fertig zu kochen. Ein Mann tritt in die Wohnung, grüsst flüchtig, geht in die Küche. Ich weiss nicht, wer er ist; vielleicht Ritas Freund. Die Vorbereitung des Hauptgangs scheint viel Zeit zu brauchen. Es dauert und dauert. Mary und ich nehmen es kaum wahr, wir sind ganz in unser Gespräch vertieft. Plötzlich schrecken wir auf… (weiterlesen)

Stefan Wenger-Ledermann «was engt mich ein – was macht mich weit»:

I Erde / Schöpfung
was engt mich ein
was macht mich weit
ein stiller See
einsamer Grat
auch bei Regen
kleiner Frosch
Weinbergschnecke
Moos und Gras
der Duft
von Leben

II Innenraum
es engt mich ein
ein dunkler Traum
ein enger Raum
manch Schuldgefühl
und innerlich Gewühl
mal Kindsgeschrei
und ausgeleerter Brei
dann tiefe Trauer
Herzensmauer… (weiterlesen)

Pascal Witschi «wie das ewige Meer»:

«Nach mir wird ein Nächster kommen, der dich lieben wird wie seinen Sohn, und er wird von Neuem Licht entzünden, von Neuem Gottes Wort verkünden», schmatzte der Vater mit Pomadelippen vorne auf dem Podium des Saales. Das Echo klatschte durch das Kirchenschiff, verklebte beide Ohren Adams, der den Vater von unten in den Schatten stellte. Ihm in den verloschenen Greisenaugen leuchtete, den Geruch verbrannter Erde in der Nase und erleuchtet durch vier kolossale Kirchenfenster, vier farbgewaltige Bleiglasheilige, deren komplexes Spiel von Farben auf dem fremdländischen Teint kurzerhand verloren ging.
«Ich brauch kein austauschbares Wort von einem austauschbaren Gott aus dem Munde eines austauschbaren Vaters! Ich brauch allein mich selber!», bellte er, im Rücken das Foyer, zu dem die Tür noch offen stand. Es zog… (weiterlesen)

Kurzbiographien der lesenden Autorinnen und Autoren

Dieter Boller, geboren 1980 in Zürich, studierte Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich. Nach seinem Master arbeitete er zwölf Jahre als Werbetexter in verschiedenen Schweizer Agenturen. 2019 hat er sich als freier Texter, Konzepter und Autor selbständig gemacht. Wenn er gerade keine Werbetexte textet, textet er Werbetexte wie diesen hier. Und schreibt Kurzgeschichten. Dieter Boller lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich.

Gianna Olinda Cadonau schreibt Gedichte und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Bisher erschienen zwei Gedichtbände beim Verlag editionmevinapuorger, Zürich, „Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht“ (2016) und „pajais in uondas / wiegendes Land“ (2020). Ersterer wurde mit dem Förderpreis Terra Nova der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Ausserdem leitet sie die Kulturabteilung der Lia Rumantscha. Die Lyrikerin lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Chur. 2022 Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosadebüt «Feuerlilie».

Marc Philippe Gallus, geboren 1958 in Bettlach (SO) ist stolzer Vater einer erwachsenen Tochter. Beruflich widmete er sich bis zum 30. Lebensjahr der Haute Cuisine. Diverse Weiterbildungen führten ihn zu seiner zweiten Karriere. Über zwanzig Jahre führte er sein Unternehmen im Bildungsbereich. Mit sechzig Jahren zog er sich aus dem Arbeitsleben zurück. Die frei gewordene Zeit widmet er dem kreativen Schreiben. Zurzeit nimmt er am Diplomlehrgang ‹Literarisches Schreiben› an der SAL Zürich teil. Seine Texte entstehen zuhause, im Zürcher Oberland, mit Blick auf die Berge und den Pfäffikersee, wo er zusammen mit seiner Partnerin lebt.

Corina Heinzmann, 1990 in Zürich geboren, arbeitet als Journalistin und schreibt beruflich fürs Hören. Während der Arbeit steht sie am Mikrofon, privat läuft sie hunderte Kilometer mit dem Rucksack durch Europa. Sie verlässt das Haus nie ohne Notizbuch und schreibt am liebsten Kurzgeschichten. Corina Heinzmann lebt in Zürich, liebt Hunde und hasst Deadlines. Sie ist fasziniert von menschlichen Abgründen und liest bei einem neuen Buch zuerst den letzten Satz.

Aufgewachsen ist Rebecca Holzer im östlichen Berner Oberland. Der räumlichen Einschränkung der dortigen Gestirne zum Trotz hat sie Wirtschaft und Politikwissenschaft in Luzern und Fribourg studiert. Nach einigen Jahren Reisen, Praktika im In- und Ausland und einem Einsatz mit der Schweizer Armee im Kosovo ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt. Heute lebt sie dort mit Partner und Kind. Sie führt unter anderem während der politischen Sessionen und Kommissionssitzungen in Bundesbern Protokoll und verfasst Reden für Politiker:innen.

Agnes Weber, geboren 1951 in Aarau, las und schrieb als Jugendliche viel. Nach ihrer Erstausbildung arbeitete sie als Sekundarlehrerin. Lebte insgesamt sieben Jahre im Ausland. Engagiert(e) sich politisch für eine bessere Welt. Studierte Bildungswissenschaften. Leitete in der eigenen Firma Projekte im Bildungsbereich. Publizierte ein Fachbuch. Ist heute noch in der Hochschuldidaktik tätig im In- und Ausland. «Das Fest» ist ein Auszug aus ihrem ersten literarischen Werk. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Alessandro Weiler ist 1993 in Zürich geboren. Er wuchs mit Fantasy-Büchern, Games, Anime und Mangas auf. Seither zeigt er ein Interesse an missverstandenen Charakteren, die weder klar gut noch böse sind. Mit zunehmendem Alter faszinierten ihn die Fantasy-Geschichten, die viel Reales in sich trugen – mit Themen wie Gewalt, tiefen Bindungen, Liebe und Sex. Das führte zur Kreation seines eigenen Charakters und um diesen herum entsteht eine scheinbar unendliche Geschichte.

Stefan Wenger-Ledermann *1985. Als Jugendlicher hat er die Lust und Leidenschaft des Tagebuchschreibens entdeckt. Mit den Jahren kamen lyrische Texte, Gebete und Kurzgeschichten hinzu. 2021 gab er sich einen Ruck und damit seiner grossen Leidenschaft Raum: er besuchte den Lehrgang «Literarisches Schreiben» an der SAL in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter, die er an zwei Wochentagen betreut. 2013-2021 Tätigkeit als Gemeindepfarrer (ref.). Ab 2023 tätig als Klinikseelsorger sowie Weiterbildung in Seelsorge.

Pascal Witschi ist ein Schweizer Autor. Der Berner mit Jahrgang 1989 schreibt seit seiner Jugend Prosa wie auch Lyrik und studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich Literarisches Schreiben, ehe er sich der Natur- und Wildnispädagogik zuwandte. Er veröffentlichte zwei illustrierte Gedichtzyklen, namentlich «Gode Graubund» (2019) sowie «Das Märchen von Anao und Aloe» (2020), und arbeitet gegenwärtig an seinem Erstlingsroman.

Katharina Wüthrich schreibt seit vielen Jahren in kurzen Formaten als Teil ihrer spartenübergreifenden künstlerischen Arbeit. Ursprünglich vom Tanz und der Performance herkommend gestaltet sie Bilder, Objekte, Installationen, die sie mit ihren Texten erweitert. Sie ist Mitglied verschiedener Schreibgruppen und hat sich durch die Teilnahme am Lehrgang ‘Literarisches Schreiben’ an der SAL 2021 einen neuen Schwerpunkt in der Textarbeit gesetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bern und unterrichtet in der Begabtenförderung.

Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022? #SchweizerBuchpreis 22/10

Am Sonntag, den 20. November, kurz vor Mittag, ist es soweit; die Preisträgerin oder Preisträger des Schweizer Buchpreises 2022 wird im Theater Basel bekanntgegeben. Kameras, Blitzlichter, Blumensträusse, Enttäuschung da, Freude dort.

Ich gebe Alex Capus recht, Schreiben ist keine Olympische Disziplin. Schreiben ist Kunst. Und Kunst lässt sich höchstens mit Verkaufszahlen vergleichen, was aber nichts mit der Kunst selber zu tun hat, höchstens mit der Fähigkeit anderer oder jener, sich dementsprechend zu verkaufen. Ich gebe Alex Capus auch recht, dass AutorInnen nicht zu Zirkuspferden degradiert werden dürfen und sollen, die vorgeführt werden; ein Leitpferd mit hübschem Kopfschmuck und vier Begleitpferden, die das eine einrahmen. Dass es bei der Preisverleihung einen solchen Moment gibt, der nie ohne eine kleiner oder grösser werdende Peinlichkeit auskommt, streite ich auch gar nicht ab.

Aber bei einem Buchpreis wird auch nicht das wirklich beste Buch des Jahres ausgezeichnet. Wie sollte ein solches auch bestimmt werden. Schon die Frage, ob es ein solches überhaupt gibt, kann zumindest ich mit einem unmissverständlichen Nein beantworten. Das beste Buch? Da liest eine fünfköpfige Jury das, was von den Verlagen eingesandt wird. Sie lesen und geben dem einen Buch mehr Gewicht als den anderen, bis fünf Bücher nach einer Ausscheidung zurückbleiben. Aus der Politik wissen wir, dass am Schluss eines Prozesses der Kompromiss, der grösstmögliche gemeinsame Nenner präsentiert wird. Das ist auch hier so, auch wenn sich die diesjährige Jury sehr mutig gezeigt hat und alles andere als eine „Einheitssuppe“ präsentierte.

Thomas Hürlimann, Kim de l’Horizon, Lioba Happel, Simon Froehling und Thomas Röthlisberger


Das beste Buch des Jahres? Es ist wohl eher so, dass sich eine Jury auf ein Buch einigen konnte, auf das man einen extragrossen Scheinwerfer richten will. Der Schweizer Buchpreis ist vom Schweizerischen BuchhändlerInnenverein organisiert und mitfinanziert. Verkaufstechnische Überlegungen stehen im Vordergrund. Der Buchpreis ist eine PR-Aktion. Wie viel Bedeutung man diesem Preis zugestehen will, sei jedem selbst überlassen.

Viele Künstler, SchriftstellerInnen leben nicht allein vom Verkauf ihrer Kunst, ihrer Bücher. In der Schweiz mag es ein Dutzend AutorInnen geben, die das schaffen. Es braucht Lesungen, Stipendien, Förderbeiträge – und Preise. Preise generieren Aufmerksamkeit. Zu hoffen ist, dass alle Nominierten von solcher Aufmerksamkeit profitieren, auch Kim de l’Horizon, der in den letzten Monaten peinlich viel Unsinn über sich ergehen lassen musste.

Ich glaube, dass sich die Bücher von Thomas Hürlimann und Kim de l’Horizon in der Pole-Position die Nase vorn haben. Die Jury wird in jedem Fall mit der Bekanntgabe des Schweizer Buchpreises ein Statement abgeben. Sei es ein Statement für Tradition oder eines für Aufbruch. Grosse Preise, auch wenn der Schweizer Buchpreis im Ausland nur mässig wahrgenommen wird, sind immer Statement. Selbst die Vergabe des diesjährigen Nobelpreises für Literatur an die französische Altmeisterin Annie Ernaux kann als Statement verstanden werden. Mit «Das Ereignis» schrieb sie einen Roman über (oder gegen) staatlich kriminalisierte Abtreibung. Über die infernalische Einsamkeit einer jungen Frau im Kampf für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Wenn man sieht, was in den USA oder auch in europäischen Ländern geschieht, ist diese Wahl mit Sicherheit auch ein Stück weit Signal.

Mein Siegerbuch ist «Blutbuch» von Kim de l’Horizon. Sollte Kim de l’Horizon am Schluss der Preisvergabe nicht im Blitzlichtregen auf der Bühne stehen wird, ist Kim de l’Horizons Buch mein Buch.
Weil es sich traut, weil es mutig ist.
Weil es dermassen vielschichtig, verflochten und klug ist.
Weil es mich ohne Arroganz zu lehren weiss.
Weil es mich überrascht und aus den Socken haut.
Weil Kim de l’Horizon sprachlich derart viele Register ziehen kann.
Weil die Diskussionen über dieses Buch und aus diesem Buch nicht enden werden.
Weil mich die Tatsache, dass «Blutbuch» ein Debütroman ist, verblüfft.

Und die anderen vier Bücher? Mein Kompliment an die Jury, denn die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat es in sich. Fünf literarische Würfe, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Bücher, deren Lektüre sich lohnt, die es mir aber, weil sie mehr als blosse Unterhaltung sein wollen, nicht immer leicht machten.

«Blutbuch» von Kim de l’Horizon
«Der Rote Diamant» von Thomas Hürlimann
«Steine zählen» von Thomas Röthlisberger
«Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel 
«Dürrst» von Simon Froehling

Gallus Frei

Illustrationen © leafrei.com

Paubry «Hunger nach Echtheit», BLOX, 3

Wir hungern nach Echtheit. Doch haben wir wirklich den Sinn dafür? Und verkraften wir sie auch? Den meisten genügt ein Waldspaziergang, damit ihr Bedürfnis nach Echtheit gestillt ist. Mit Regenschirm und Mückenmittel. Aber wehe, ein Unrat liegt am Weg. Vor Jahren unterhielt ich mich mit einem Wildhüter, der mehrmals wöchentlich Kadaver aus den Büschen zieht. Der Grad an Fäulnis bemisst sich am Zeitraum, bis ihm der Fund gemeldet wird. Für die Spaziergänger, die echte Waldluft tanken, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Gerne liess ich mir schildern, wie die Fliegen aufschwärmen. Oder wie er Maden aus dem Heck seines Wagens kehrt. Vom Geruch gar nicht erst zu reden. An diese eigentümliche Süsse habe er sich längst gewöhnt.

Wir mögen Echtheit, wo sie blüht, rieselt, plätschert, wo sie wie sanftes Sonnenlicht auf unsere Haut fällt. Aber das sind allesamt keine notwendigen Eigenschaften von Echtheit. Hässlichkeit ebenso wenig oder Wildheit, Grobheit. Wer jedoch das Widerwärtige meidet, damit er Echtheit erfährt, anerkennt nur die halbe Welt.

Gewünscht wird Tiefgang statt Oberflächlichkeit. Die Generation der Jahrtausendwende hat sich dem Wert der Authentizität verschrieben. Dieses fürchterliche Wort bedeutet, dass Gefühl und Ausdruck übereinstimmen, sei es in Wort oder Geste. Daran hängt sich sogleich der Begriff der Transparenz, der derart überanstrengt wird, dass man Authentizität sicherheitshalber vermeidet. Wer sein Gefühl verbirgt, gilt für unauthentisch. Mag sein.

Aber sein Verbergen ist echt.

Ebenso die Gründe, die diese Person dazu veranlassen. Wir mögen Masken nicht, wenn wir alltäglich miteinander verkehren. Dagegen freuen uns alte Bräuche, wenn etwa ein Lötschentaler mit Maske Wintergeister vertreibt. Es heimelt uns so urtümlich an.

So echt.

Wo Echtheit vor sich hin dämmert, übersehen wir sie leicht. Es braucht schon Rosen, bis wir Blumen bewundern. Die fahle Spierstaude fällt uns eher deshalb unangenehm auf, weil ihre Blüte wie menschlicher Same riecht.

Wenn Echtheit unsere Gegenwart aufmischt, erhöht sich ihr Reiz. Und die Befriedigung vertieft sich. Ein Schüler, mit dem ich öfter im Gespräch war, verriet mir, er bekenne sich zu den Ultras. Auf meine Frage, ob es da wirklich um Schlägereien gehe, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die gehörten zweifelsohne dazu. Mitunter seien sie die Hauptsache. Eigentlich hätte ich diese Leidenschaft verurteilen müssen, aber es gelang mir nicht. Der Schüler, ansonst umgänglich und klug, schien Echtheit zu erfahren, wenn die Fäuste flogen.

Leider werde ich wohl nie einer Geburt beiwohnen. Immerhin stehen mir Todesfälle bevor. Beide Momente dürften an Echtheit kaum zu überbieten sein. Auf der Insel Ischia gab es vor Jahrhunderten ein Felsenkloster, wo verstorbene Nonnen sitzend auf einen Steinsockel gebettet wurden. Die Schwestern hatten andächtig ihrer Verwesung beizuwohnen. Es waren Rinnen in den Stein gehauen, zur Ableitung der Körpersäfte.

Eine Andacht dieser Art bleibt uns erspart. Oder vorenthalten, je nach dem. Was uns bleibt, ist der kleine Tod für dazwischen. Es reicht schon, wenn man diese kraftvolle Echtheit im Vollzug erlebt. Offenbar besteht darüber hinaus der Reiz, fremde Orgasmen zu betrachten. Dieser Ausdruck köstlichster Echtheit scheint besonders beliebt. Das belegen zahllose Selbstzeugnisse im Netz, die Gesichter im Augenblick dieser intimsten Echtheit darbieten. Wer auf die feinen, stillen Züge Acht gibt, statt dass er im Gehampel und Gestöne nach Beweisen sucht, damit er inskünftig vor Täuschung sicher sei, wird einen sanften Moment ausmachen, wo die Mimik derart entspannt ist, dass sie kurzfristig die Züge einer Leiche annimmt. Indes flutet der Höhepunkt das Rückenmark bis zum Kopf. Wie wenn ein Gulli in einem Schub überläuft.

Je mehr wir in die Dinge eingreifen und sie gestalten, indem wir sie einander absondern und anders zusammenfügen, reden wir vermehrt von künstlichen Welten. Für echt halten wir demnach Sachverhalte, wenn sie unserem Einfluss entzogen sind. Wie etwa die Natur. Und da sollte jenen, die nach Echtheit dürsten, eine schlichte Tatsache aufgehen:

Unzweifelhaft echt sind wir selbst.

Von Natur so hervorgebracht, wie sie es offensichtlich für richtig hält. Ohne unser Dazutun. Daher gilt für mich die Unterscheidung in echt und künstlich nur bedingt. Aus meiner Sicht entspringt sie eher einem menschlichen Unbehagen an der Welt. Und an sich selbst.

Was wiederum echt ist. Aus guten Gründen.

Hanna Sukare «Rechermacher», Otto Müller Verlag

„Rechermacher“ ist ein Roman über vier Generationen, ein ganzes Jahrhundert. Über eine Familie, die es im Krieg zerriss, die bis in die Gegenwart unter dem Schatten einer Vergangenheit im Dunkeln leidet. Hanna Sukare versteht sich nicht als Chronistin, aber mit Sicherheit als Archäologin der Zeit. „Rechenmacher“ ist der Versuch, mit Poesie nach Versöhnung zu suchen.

Was wissen Sie von Ihren Grosseltern? Oder Ihren Urgrosseltern? Wissen Sie mehr als Name und Beruf? Letzthin war ich bei einem Freund, der mir bei meinem Besuch in seinem „Familienhaus“ anhand von Bildern und Gegenständen von seiner Familie bis zurück ins 16. Jahrhundert erzählte. Bestimmt verbergen sich auch hinter den Geschichten seiner langen Ahnenreihe Geheimnisse. Aber wie kein anderes Ereignis zerreisst ein Krieg die glatten Oberflächen der Zeit. So wie sich in den Generationen nach dem 2. Weltkrieg das Schweigen über Familien legte, weil man sich von all dem Schrecken, dem grossen Irrtum lossagen wollte. „Schwamm drüber.“

Maia besucht ihre Mutter. Aber ihre Mutter ist nicht zuhause. Nicht einmal eine Nachricht, ein Zeichen ist zu finden. Nur ein paar Kleider und der Laptop der Mutter fehlen. Nach ersten Sorgen erreicht sie ein Brief ihrer Mutter. Sie habe sich auf eine Reise begeben und wisse nicht, wann sie zurückkommen werde. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Nelli, ihre Mutter, hat sich auf eine Reise begeben, eine doppelte Reise. Eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise an Orte, die ihr etwas zurückgeben sollen von dem, was noch vor ihr verborgen ist, wovon sie spürt, dass es ein Teil ihrer selbst ist, all die Leerstellen, all die Geheimnisse.

„Die Wahrheit ist eine Zumutung.“

Hanna Sukare «Rechenmacher», Otto Müller Verlag, 2022, 212 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-7013-1296-2

Auch Maia macht sich auf die Suche, findet in der Wohnung ihrer Mutter Hinweise darüber, welche Richtung die Mutter bei ihrer Suche nach sich selbst eingeschlagen haben musste. Die Suche nach der Familie Rechermacher, ihrem Vater und ihrem Grossvater, nach Vevi, Nellis Mutter, die ins Wasser ging.
Hanna Sukare schrieb eine Familiengeschichte, aber das nur nebenher. Hanna Sukare schreibt über die Wunden und die Sehnsucht, diese Wunden zu schliessen. Sie schreibt über die Suche all jener Leerstellen und schwarzen Löcher, die bis in die Gegenwart ins Leben nachfolgender Generationen hineinwirken und sie nie so gedeihen und wachsen lassen, wie es ihnen möglich wäre, wären diese Mühlsteine nicht.

Es ist die Geschichte von August Rechermacher, einem ungeliebten Sohn, aufgewachsen während des Säbelrasselns des 1. Weltkriegs. Von einem, der zum blossen Dienen gehalten und erzogen, in der Schule zum dummen August wird. Der in Pferden die einzigen Geschöpfe findet, die etwas zurückgeben, die auf seine Zuwendung, seine Liebe reagieren. Sein Händchen für Pferde bleibt niemandem verborgen. Bei Verwandten wird er Knecht und irgendwann Dragoner mit bunter Uniform und klaren Aufgaben, für die er Anerkennung bekommt, endlich zu einem wird, vor dem er sich selbst nicht mehr zu schämen braucht. August ist angekommen. Er liebt seine Tiere, seine Aufgabe und lernt gar eine junge Frau kennen. Aber in den Vorbereitungen der neuen Machthaber, mit dem Wechsel von den Dragonern zur Wehrmacht, dem bunten Tuch zum grauen Einerlei muss sich August entscheiden. Entweder heiratet er die schwangere Genoveva, Vevi, oder er zieht für seine neuen Herren in den Krieg. August entscheidet sich gegen die Familie, auch gegen das Kind, das seinen Vater nie wirklich kennen lernt.

Was aus August in den Wirren des Krieges wurde, was der Krieg aus dem willigen Diener machte, erzählt „Rechermacher“. Von den nie vernarbten Wunden bis in die Gegenwart. Von der bleiernen Schleppe des Schweigens. „Rechermacher“ ist weder Rache noch Wiedergutmachung. Dieser Roman ist das, was Hanna Sukare mit all ihren Romanen tut: Sie rüttelt wach. Sie mahnt uns, die Geschichte ernst zu nehmen. Sie mahnt uns, unsere Kinder zu denkenden Wesen zu formen, etwas, was im Wort „Er-ziehung“ fehlt.

Hanna Sukare liest aus «Rechenmacher» am Mittwoch, den 11. Januar 2023 im Literarischen Club, Hottingersaal, Gemeindestrasse 54, 8032 Zürich

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau. Seit ihrer Jugend übt sie meistens in Wien. 2016 wurde der Roman «Staubzunge» mit dem Rauriser Literaturpreis für das beste Debüt in deutscher Sprache ausgezeichnet. Ihr 2018 veröffentlichter Roman «Schwedenreiter» wurde für den Literaturpreis der Europäischen Union 2019 nominiert. Das Buch behandelt Ereignisse zur Zeit des Nationalsozialismus in Goldegg im Pongau.

Beitragsbild © Milan Böhm