Dafer Schiehan ist aus dem Irak geflohen und in der Schweiz angekommen. „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“, Usama Al Shahmanis dritter Roman, erzählt, was der Titel seines Buches meint, vom Dazwischen, vom Zweifel, dem Erkennen, von Ängsten und der Befreiung des Ankommens.
Usama Al Shahmani hat im vergangenen Herbst nicht nur seinen dritten Roman veröffentlich. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans “In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit seinen ausgedehnten Lesereisen, dem grossen Echo, der Tatsache, dass man ihn gerne einlädt und mit ihm einen emphatischen, leidenschaftlichen und kompetenten Gesprächspartner gewinnt, dass seine Anwesenheit auch in nationalen Medien bemerkbar ist, nicht zuletzt als fixes Mitglied in der KritikerInnenrunde beim SRF-Literaturclub, scheint Usama Al Shahmani unaufhaltsam ins kollektive „Kulturbewusstsein“ der Schweiz hineinzurutschen. Seine Romane überzeugen Leserinnen und Leser wegen ihrer orientalischen Erzählkunst, der Perspektive weit über persönliche Betroffenheit hinaus und der positiven Grundhaltung allen Widrigkeiten und Traumata zum Trotz. Vielleicht auch, weil Bücher und Person eine Einheit bilden, weil Usama Al Shahmani genau das repräsentiert, was er beschreibt; den Suchenden, den Wandernden, den Fragenden, den Dankbaren.
In „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ schildert Usama Al Shahmani das Wegfliegen und Ankommen von Dafer Schiehan, der wegen eines regimekritischen Theaterstücks den Irak verlassen muss und trotz eines negativen Asylbescheids in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung erhält. Nach vielen Stationen, Zeiten in Durchgangsheimen, in Zimmern mit vielen anderen Flüchtlingen zusammen, bewohntDafer eine kleine Wohnung im thurgauischen Weinfelden. Der Sprachwissenschaftler hat Arbeit in einem Restaurant am Bodensee gefunden, als Tellerwäscher, weit weg von seiner Heimat, seiner Familie, weit weg von einer Gewissheit, in einem Dazwischen.
„Dafer fragte sich, ob er wirklich etwas verloren hat, als er seine Heimat verliess. Oder ist Heimat bloss eine grosse Lüge, die wir gerne glauben?“
Usama Al Shahmani «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», Limmat, 2022, 176 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-042-3
Dafer erzählt in Rückblenden von seiner Kindheit in einer kleinen Stadt, seiner Familie und seinen Verwandten, von seiner ledig gebliebenen Tante Aschuak, die eines Tages das Land für immer verliess und er als Kind nicht verstehen konnte. Von seiner Grossmutter, die ihm die Welt mit Geschichten erklärte. Von den Zeiten, als auf dem Teheraner Flughafen jener bärtige, alte Mann einem Flugzeug entstieg und in eine jubelnde Menge tauchte, das ganze Land in Aufruhr versetzte und mit einem Mal alles ganz anders war, Jungs nicht mehr in die Nähe von Mädchen kamen und man nur noch auf dem Boden sitzend ass. Von seinem Umzug nach Bagdad, seinem Studium, der gewonnenen Freiheit und den perfiden Bedrohungen eben dieser Freiheit. Wie er mit KommilitonInnen in die Welt des Theaters eintauchte, weil das Theater ein offenes Feld für Lebensentwürfe zu werden begann. Bis Saddams Sicherheitapparat dem Aufbruch im Kleinen ein abruptes Ende setzte und der Inhalt eines Theaters aus seiner Feder Henkersseil zu werden drohte. Dafer musste fliehen, alleine, einer Zukunft beraubt, voller Ängste, zuerst mit der Absicht, nach England zu gelangen, schlussendlich in der Schweiz gestrandet.
„Kultur war verdächtig, mit ihr wurde man für die Familie zur Last, zur Gefahr.“
In der Schweiz ist Dafer nicht nur die Sprache fremd. Aber er spürt, dass es die Sprache ist, die ihm die Tür zu Land und Menschen sein wird. Er beginnt zu lernen. Über die Sprache hinaus die Gebräuche der Einheimischen. Langsam entschlüsselt er die Rätsel der Einheimischen, selbst die überdeutlichen Signale von Fremdenfeindlichkeit und offensichtlicher Ablehnung. Und als Saddam im Irak gestürzt wird und ein Besuch in seiner Heimat wieder möglich ist, muss er wie viele andere Geflüchtete erfahren, dass der Vogel an jenem Ort, den er verliess, fremd geworden ist. „Wärst du hier geblieben, so wären viele schlimme Dinge in dieser Familie nicht passiert“; sagt ihm seine Mutter.
„Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ ist der Roman eines Angekommenen. Vielleicht nach „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ und „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ so etwas wie der letzte Teil einer Trilogie. Dafers Blick auf das Land, in dem er angekommen ist, ist der eines Dankbaren – wenn auch mit einem ordentlichen Schuss entlarvender Erkenntnis. Drei Worte beschreiben die Schweiz: Zuverlässigkeit, Toleranz und Jammern; „Jammern gehört zu den erlesensten Genüssen ihres Lebens.“
Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasirija), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er übersetzt ins Arabische, ist seit 2021 Literaturkritiker beim «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens SRF. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt in Frauenfeld.
„Geschichte eines Kindes“ ist eine wahre Geschichte über ein Kind, dem man das Nest verweigert. Über eine Mutter, die sich ihrer Verdammnis verweigert und ein System, das mit rassistischer Gesinnung scheinbar Gutes tut. Auch wenn die Geschichte in der us-amerikanischen Provinz angesiedelt ist. Solche Geschichten sind globale Gegenwart!
Dass Menschen auf Grund ihres Aussehens taxiert werden, ist noch immer Reflex. In einer Zeit, in der es angesagt wäre, sich immer mehr Gedanken darüber zu machen, ob man nicht selbst diesem automatischen Schubladisieren unterworfen ist. Wir leben im Zwang des Einordnens. Ob hellhäutig oder dunkel, ob dick oder dünn, ob sympathisch oder unsympathisch – wir ordnen ein. Unser Urteil darüber, wie wir taxieren, bestimmt unser Tun, bewusst oder unbewusst. Obwohl es immer mehr Stimmen gibt, laute und leise, die uns auffordern, sich diesen Zwängen und Automatismen entgegenzustellen, bestimmen sie unser Tun und Lassen, bis hinein in die Sprache.
Seit wir von totalitären Gesinnungen wissen, was institutionalisierter Rassismus anrichten kann, seit wir präsentiert bekommen, dass die europäische Kultur seit Jahrhunderten durchsetzt ist von Rassendünkel und dem Glauben, helle Hautfarbe rechtfertige Macht und Unterdrückung, weil Geschehnisse in der Gegenwart zeigen, dass Rassismus noch längst nicht überwunden ist, sind Bücher wie „Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim mehr als Unterhaltung. Sie sind Notwendigkeit.
Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp, 2022, 220 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-518-43056-9
1953, in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Wisconsin. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Ein Vater ist nicht da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte des Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.
Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich feindlichen Gesinnungen stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler durchdrungen ist von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.
Anna Kims Roman ist vielschichtig. Eine junge Wiener Autorin tritt ein Sommersemester als Writer in Residence in Wisconsin an und findet ein Zimmer bei einer älteren Frau. Die beiden Frauen kommen sich näher, bis die Vermieterin die Geschichte ihres dement gewordenen Ehemanns erzählt, eben jenes Jungen, der im Sommer 1954 zur Adoption freigegeben werden konnte. Eines Mannes, der ein Leben lang, selbst bei der Suche nach einem Pflegeplatz als an Demenz Erkrankter, Rassismus, ob offensichtlich oder latent, erleiden musste.
Anna Kim, in Südkorea geboren und in Deutschland und Österreich aufgewachsen, weiss, was es heisst, taxiert und schubladisiert zu werden. Anna Kims Roman ist keine Anklage, sondern eine Offenlegung ganz subtiler Mechanismen. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte aller Kinder, die nicht dort geboren werden, wo alle so aussehen wie das Kind selbst. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte jener Kinder, die nicht herbeigesehnt werden, die man weghaben will. Darüber, dass eine Schwangerschaft zu einem Verdammnis werden kann.
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die große Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.
Er wacht auf. Gleich mehrfach. Das Haus steht im Wasser. Es regnet. Die Stadt, in der er seit Geburt lebt, ist von allen verlassen. Nur ihn scheint man vergessen zu haben. Simon Strauss Novelle „zu zweit“ ist ein Sprach- und Bildkunstwerk von betörender Schönheit.
Er verkauft Teppiche und Stoffe, führt das Geschäft seiner Eltern weiter, das aber seit dem Abtauchen seiner Mutter nur mehr schleppend läuft. Simon Strauss nennt seinen Protagonisten nur „Verkäufer“, weil ein Name nichts zur Sache tut. Weil „Verkaufen“ das ist, was den jungen Mann ausmacht, der sich lieber im Kabuff hinter seinem Laden vor dem Leben draussen auf der Strasse versteckt. Nicht dass er sich zurückgezogen hätte. Er war schon immer so. Als Kind oder als Schüler. Erst recht als sich nach der Pflichtschulzeit sein einziger „Freund“ in ein Studium absetzte und er mit aller Selbstverständlichkeit in das Geschäft seiner Eltern hineinwuchs. Erst recht, als sich seine Mutter völlig überraschend aus der Familie absetzte, obwohl die Zweckgemeinschaft zwischen Mutter und Vater schon immer etwas Unsicheres hatte. Schon als der Vater das Geschäft trotzig weiterführte, blieb die Kundschaft aus, weil man das Geschäft wegen der freundlichen Bedienung der Mutter betrat.
Seit dem Tod seines Vaters wohnt er nicht mehr in der Wohnung über dem Geschäft, sondern in einer kleinen Mansarde in der gleichen Stadt. Still für sich, reduziert auf sein kleines Leben zwischen Wohnung und Geschäft.
Bis zu jenem Morgen, an dem er alles verändert kaum wiederfindet. Alles im Wasser versinkt, noch immer Regen auf die Stadt niedergeht, aber er der einzige scheint, den man zurückgelassen hatte. Nicht mutwillig. Aber weil er es in seiner Sehnsucht nach Stille und Abgeschiedenheit schlicht versäumt hatte, wie alle anderen Bewohner der Stadt das Weite zu suchen. Der stille Teppichhändler, der Verkäufer macht sich auf den Weg durch das Haus, die Stadt, zum Fluss, durchs leere Land.
Simon Strauß «Zu zweit», Tropen, 2023, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-608-50190-2
Der Verkäufer, dem vor der Flut nichts wichtiger war als die Gegenstände, die Ordnung in seinem Laden, hat sich längst angewöhnt, dass ihm die Dinge wichtiger sind als die Menschen, denen sie dienen sollten. Trägt man den Dingen Sorge, bleiben sie. Ganz anders als die Menschen. Auf sie ist kein Verlass. Das zeigten ihm eine Mutter, die mit einem Mal verschwand und ein Vater, der sich nach dem Verschwinden seiner Gattin immer mehr in sich zurückzog, hinter die Nähmaschine zu seinen Kreuzworträtseln. Bis auf die junge Frau, die ihn als letzte all der Vertreterinnen von Teppichen und Stoffen noch besuchte, die für einen kurzen Moment, ein paar Augenblicke lang etwas in den Laden zurückbrachte, was längst abgebrochen schien. Aber weil dem jungen Verkäufer wie stets in solchen Situationen die Worte fehlten, war die Vertreterin wie ein kurzes Auflodern eines Feuers, das er längst erloschen glaubte.
Der Teppichmann macht sich auf den Weg durch eine verlassene Welt. Aber weil er Zeit seines Lebens den Dingen mehr zugewandt war als den Menschen oder auch den Tieren, ist es ein Gang durch die Hinterlassenschaften. Er stört sich nicht an seiner Einsamkeit, mehr an seiner Verlassenheit. Die junge Frau in seinem Laden zeigte etwas, von dem ihn nicht nur sein Leben beschnitten hatte, mehr noch das, was über die Stadt, das Land hereingebrochen war und ihn zurückgelassen hatte. Irgendwann steht er auf einer Brücke und lässt sich fallen. Aber statt ins Wasser zu fallen, landet er im Kleiderhaufen eines Flosses. Auf einem Floss mit einer jungen Frau. Einer künstlichen Insel mit eben jener Frau, die er verloren glaubte.
„zu zweit“ gibt sich dystopisch, endzeitlich, ist aber keine Dystopie. Die verlassene Landschaft in Simon Strauss Novelle ist die Kulisse eines Aufbruchs. Der Teppichmann, den seine Geschichte lehrte, sich nur noch auf seine Dinge zu verlassen, spürt mit einem Mal die Sehnsucht eines Gegenübers. „zu zweit“ ist eine Reise mit ungewissem Ziel. Spektakulär an der Novelle ist die Sprache, mit der Simon Strauss eben diese Dinge und ihre Arrangement zeichnet. Bilder mit einer ungeheuren Kraft. Eine Sprache, die einem während der Lektüre trunken macht. „zu zweit“ spielt mit den Zwischenräumen, nicht zuletzt mit den archetypischen Bildern von Träumen, der Welt des Unterbewussten. „zu zweit“ ist ein Tripp in eine beinahe entmenschte Welt.
Interview
«Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden.»
„zu zweit“ will keine Dystopie sein, keine postapokalyptische Novelle. Auch kein Flutroman, kein Klimaroman. Es ist die Reise eines jungen Mannes aus seiner selbstgewählten Isolation. Ein Aufbruch mit offenem Ziel. Auch kein Überlebensabenteuer, denn der junge Mann scheint in seiner Situation keine Angst zu haben. Ihr Buch schrammt an sämtlichen Einordnungsversuchen vorbei. War das von Beginn weg Absicht, Programm? Nein. Ich hatte zugegebenermassen kein Programm und auch fast keine Absicht. Ausser, dass ich möglichst etwas schreibe, das meinen inneren Bildern entspricht und sich nicht an der äusseren Aktualität orientiert. Entstanden ist das Buch aus Träumen, aus Bildfetzen und Phantasmen, die mich in der Nacht umgetrieben haben. «Abbruch mit offenem Ziel“ – das finde ich eine sehr gute Beschreibung, genau darum geht es, um den Moment, in dem auf einmal alles anders ist und die alte Ordnung mit dem neuen Augenblick ringt. Wie will man so etwas einordnen? Ich jedenfalls habe darauf bestanden, dass „zu zweit“ kein Roman ist. Dieses Mal – im Gegensatz zu „Sieben Nächte“ und „Römische Tage“ – aber eben auch kein autofiktionaler Text. Daher, als einziger Ordnungsversuch, die Gattungsbezeichnung: „Novelle“.
Jene schrulligen, eigenbrötlerischen Abgewandten haben in der Literatur eine lange Tradition. Spricht da vielleicht sogar ein kleiner Funke Sehnsucht des Schriftstellers, sich von der Welt „da draussen“ abzuwenden? Schon der Akt des Schreibens ist doch die Umkehrung aller Auseinandersetzung mit der Welt. Man blickt in eine Innenwelt, in sich hinein, ein Abbild aller Eindrücke der Realität? In der Tat hat das Schreiben etwas zutiefst eigensinniges an sich. Also im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um die Schärfung der Wahrnehmung, um das genaue Gehör für den Ton, das Abstreifen aller möglichen Schutz- und Sympathieschilder. Alle Figuren, die ein Autor erschafft, haben etwas mit ihm selbst zu tun, denke ich. Und so steckt auch in dem Abgewandten etwas von mir als Mensch. Vielleicht mehr Sehnsucht als Tatsache, denn ich selbst bin ja mittendrin, umgeben von vielen, im Gespräch mit so manchem. Aber als Autor weiss ich, dass diese Welt des Aneinandervorbeiredens und Durchschauens nichts Bleibendes hat, dass all die Erfahrungen, die wir so machen, verpuffen wie Seifenblasen. Deshalb ist der Einzelgänger das ehrlichere Ego des Autors. In ihm kann er finden, was ihm selbst dem Augenschein nach fehlt: Die Einsamkeit. In diesem Sinne geht es in der Tat um Innenwelt, um das Gegenbild, die Umkehrung.
Der Teppichmann entwickelt nach der ersten Begegnung mit der jungen Vertreterin eine fast obsessive Sehnsucht nach einer weiteren Begegnung mit jener Frau. Und ausgerechnet ihr begegnet er auf seiner „Reise“ durch eine verlassene Welt. Bei jedem anderen Buch wäre ein solcher Zufall unglaubwürdig. Aber weil es in Ihrer Novelle nicht um einen Bericht mit maximaler Glaubwürdigkeit geht, sondern um Bilder, Dinge, die Geschichten erzählen, ist ein solcher Zufall erstaunlich nebensächlich. War die Absicht Ihres Schreibens am Anfang die selbe wie jene mitten im Schreibprozess? Es war ein sehr langwieriger und durchaus auch schmerzhafter Schreibprozess. Mein Lektor, Tom Müller, vom Tropen-Verlag hat mich auf dieser Reise als strenger Kapitän begleitet. Es gibt bestimmt fünf verschiedene Fassungen von „zu zweit“. Ich habe das Gefühl, dass sich der Text immer mehr verdichtet hat, immer klarer wurde, worauf die Konzentration liegt – eben genau auf dem, was Sie beschreiben: Den Bildern, den Geschichten der Dinge, dem Wunder der Begegnung. Ich glaube, für diesen Text spielt das Kriterium der Logik oder realistischen Nachvollziehbarkeit keine Rolle – es geht ihm ja genau darum, auf das Unwahrscheinliche, Staunenswerte, Zufällige von Begegnungen hinzuweisen. Wieviele Menschen umgeben uns räumlich jeden Tag und wir lernen nie eine oder einen von ihnen kennen. Das ist doch das eigentlich Ungeheuerliche unserer Existenz: Nicht dass wir sterben, sondern dass wir leben und so viel an uns vorbeigeht, ohne dass wir es bemerken.
Der Protagonist hatte sich in seinem Leben angewöhnt, die Dinge kurz um Erlaubnis zu fragen, bevor er sie benutzt. Eine Angewohnheit, die unseren Umgang mit Dingen durchaus verändern könnte. Dass uns alles ungefragt zu dienen hat, könnte auch der Ursprung dessen sein, dass wir den Bezug zum Material, das wir brauchen, längst verloren haben. Steckt also doch etwas Anklagendes in Ihrem Buch? Nein, nichts Anklagendes. Vielleicht eher eine Erinnerung daran, wieviel wir von dem, was uns angeblich Lebloses umgibt, profitieren. Die Vorstellung, dass all die Gegenstände und Naturstrukturen, mit denen wir leben nichts davon mitbekommen, was wir sind, denken, glauben und fühlen, ist doch absurd. Es muss sich in ihnen etwas sammeln und speichern von unserem Leben. Das tragen sie weiter. Und erzählen später einmal von uns. Ich stelle mir vor, dass die Dinge viel über uns reden. Nicht schlecht. Aber doch hin und wieder leicht verwundert – woran wir alles denken. Nur nicht an sie. Deshalb vielleicht die Erinnerung: „no ideas but in things“ (William Carlos Williams)
Katastrophenszenarien haben sowohl in der Literatur wie im Film eine lange Tradition. Ihr Protagonist scheint die eigentliche Katastrophe gar nicht so sehr wahrzunehmen. Es scheint eine menschliche Überlebenshilfe zu sein, Katastrophen relativieren zu können. Anders wäre es nicht erklärbar, dass wir unseren Alltag perfekt dem Schrecken der Gegenwart anpassen. Er sieht die Dinge, nicht das Woher und Warum. Selbst die Frage nach dem Wohin ist inexistent. Ist „zu zweit“ ein Spiegel der Zeit? So wie Sie es beschreiben hat es tatsächlich etwas von einem Spiegel. Nicht das Woher und Warum und auch nicht das Wohin. Hauptsache das Jetzt. Das Hier. Das eigene Bild. Ich habe „zu zweit“ nicht als Spiegel unserer Zeit konzipiert, aber natürlich fliesst in jedes Schreiben das tägliche Sein und Fühlen mit ein. Und ich glaube eben, dass wir am Rand einer grossen Veränderung leben. Ich bin kein Adventist – und doch ahne ich, dass sich unser Lebenswandel, unsere Ordnung und unsere Vorstellungen noch einmal grundlegend ändern werden. Wie weit entfernt schien uns ein Krieg mit Panzern. Wie fiktional das Wegschwimmen ganzer Dörfer. Wie unvorstellbar eine Pandemie, die Milliarden Menschen bedroht. Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden. Mit meinem Schreiben an „zu zweit» habe ich versucht, mir das selbst vorzuführen und einzuschärfen.
Simon Strauss, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe »Arbeit an Europa«. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Frankfurt und Berlin, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm «Sieben Nächte» (2017) und «Römische Tage» (2019).
Was bewirken übersteigerte Selbstwahrnehmung, überdurchschnittliche Intelligenz gekoppelt mit Charisma und finanzieller Potenz? Wann kippen Utopien und werden zu selbstzerstörerischen Mechanismen, die nicht mehr zu stoppen sind? Theresia Enzensberger schrieb mit „Zur See“ einen Roman, der sich mit Grenzüberschreitungen und eben jenen Mechanismen beschäftigt, die Utopien in ein Fiasko verwandeln. Eine überaus geistreiche Dystopie, die hart an der Realität geschrieben ist.
Kaum jemand zweifelt daran, wie nahe die Menschheit an jenen Punkt gekommen ist, an dem das globale Gleichgewicht unkorrigierbar ins Unbekannte kippt. Auch wenn es solche gibt, die glauben machen wollen, dass alles bei weitem noch nicht so dramatisch sei und andere sich in ihrer Verzweiflung an Strassen und Gemälde kleben, weil es nach ihrer Ansicht der einzige Weg ist, die gewünschte Dramatik zu erzeugen. Dass es in genau solchem Klima nicht weiter verwunderlich ist, dass man mit scheinbar neuen, utopischenIdeen und Konzepten eine Alternative schaffen will zu all den Sachzwängen, aus denen man nicht aussteigen zu können glaubt, ist nicht weiter verwunderlich. Und so wie Theresia Enzensberger in ihrem Roman schildert auch kein Phänomen der Gegenwart.
„Auf See“ spielt in nicht allzu ferner Zukunft. Nicholas Verney, zuerst an der Philosophie gescheitert, um später Wirtschaftswissenschaften zu studieren, baut selbst zu Geld gekommen zusammen mit einer Investorengruppe vor der Nordseeküste eine künstliche Seestadt. Ein in sich geschlossenes Refugium, bewohnt von WissenschaftlerInnen und PionierInnen, das sich ausserhalb eines bestehenden Staatsgefüges auf gesellschaftliches und wirtschaftliches Neuland wagen soll. Eine Utopie, die schnell an den Mechanismen von Machterhaltung und sektenähnlichen Strukturen scheitert. Was zu Beginn scheinbar gut durchdacht magnetische Wirkung erzeugt, durchaus der Meeresbrandung trotzt, beginnt an den menschlichen und technischen Wirklichkeiten auseinanderzubrechen.
Dort, auf jener künstlichen Insel, die sich aus Trotz immer mehr dem Aussen verschliesst, wächst Yada auf, irgendwann das einzige Kind auf und in der Seestadt, die einzige Tochter jenes Mannes, der wie ein Sektenguru die bröckelnden Strukturen des künstlichen Eilandes zusammenhalten versucht. Permanent überwacht und im Glauben gelassen, der Rest der Welt wäre längst im Chaos untergegangen, abgeschottet und im Überlebenskampf trainiert, von MitstreiterInnen ihres Vaters unterrichtet und optimiert, glaubt sie nicht nur den Warnungen ihres Vaters, sondern auch den Geschichten um eine kranke Mutter, einer zerstörten Familie.
Bis Yada, die bald volljährig wird und die Risse in der Seestadt immer klarer zu deuten versteht, von der künstlichen Insel flieht und sich auf die Suche nach ihrer Mutter macht. Yada findet eine Welt, die zwar kaputt ist, aber mitnichten dem entspricht, was ihr ihr Vater an Szenarien vorbetete. Sie muss feststellen, dass nichts jenem Bild entspricht, das man ihr während ihres ganzen Lebens an die rissig gewordenen Wände ihres immer kleiner werdenden künstlichen Kosmos projizierte.
„Auf See“ erzählt auch die Geschichte von Helena, Yadas Mutter, die einst fasziniert vom charismatischen Nicholas Verney, mit der Geburt von Yada eine Familie gründete, aber im Plan ihres Mannes immer weniger Platz bekam, bis sie vor der Entscheidung stand, mit auf die Insel zu kommen oder im Kampf um das Sorgerecht für die Tochter einer juristischen Übermacht ausgesetzt zu sein. Helena verliert ihre Familie, ihre Tochter. Sie stürzt sich in ihre Kunst, die Malerei und wird durch ein Kunstprojekt ungewollt zu einer Lichtgestalt für Menschen, die nach Visionen dürsten.
Ob die Welt ihres Vaters auf der künstlichen Insel oder die Welt ihrer Mutter mitten in der Kunst – beides sind Projektionsflächen für Menschen, die in ihrer verzweifelten Suche nach alternativen Lebensentwürfen zu allem entschlossen sind. Die Gegenwart, in der immer mehr Menschen ums nackte Überleben kämpfen und andere in der gleichen Krise grosse Kasse machen, in der sich selbst in der ersten Welt das Leben immer mehr auf der Strasse abspielt und sich eine Upperclass hinter Mauern und Panzerglas verstecken muss und ihren Erfolg mit feierlicher Selbstzufiedenheit zelebriert, erscheint ein Roman wie der von Theresia Enzensberger alles andere als dystopisch oder realitätsfremd. Theresia Enzensberger, die die Erzählstränge ihrer ProtagonistInnen geschickt mit den Aufzeichnungen aus Helenas Archivs mischt; Recherchen über „utopische“ Lebensentwürfe, „alternative“ (Über-) Lebensstrukturen bis hin zu jenen Geschichten, die Sekten, wie jene der Scientologen, weltumspannend einflussreich und mächtig machten.
„Auf See“ ist unsäglich spannend und faszinierend klug geschrieben. Ein Roman, der unter die Haut fährt!
Theresia Enzensberger wurde 1986 geboren, sie lebt in Berlin. Sie studierte Film und Filmwissenschaft am Bard College in New York und schreibt als freie Autorin unter anderem für F.A.Z., F.A.S., Monopol, ZEIT Online und DIE ZEIT. 2014 gründete sie das BLOCK Magazin, das 2016 bei den Lead Awards als bestes Newcomer-Magazin prämiert wurde. Bei Hanser erschien 2017 ihr erster Roman «Blaupause», der mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet wurde, sowie zuletzt ihr zweiter Roman «Auf See» (2022).
Seit in Europa mit Bomben beladene Drohnen Wohnhäuser zerreissen, Panzer Radfahrer beschiessen und ein unüberwindbarer Graben zwischen Europa und Russland gähnt, ist das Interesse vieler, verstehen zu wollen, gross. Vielleicht auch ein Grund, warum das Interesse am Schriftsteller und Historiker Viktor Funk so gross war.
«Wir haben uns lange auf den Besuch in Gottlieben gefreut, und ihr habt uns mit eurer Gastfreundschaft gezeigt, dass unsere Vorfreude gerechtfertigt war. Danke für Deine sehr empathische und herzliche Moderation, Gallus, danke an Sandra für die Bilder und auch an das Publikum für alle die Aufmerksamkeit und die Neugierde. Und danke auch, dass wir dank euch Gottlieben kennengelernt haben.» Viktor Funk
Wir leben in beängstigen Zeiten. Hätten wir uns vor 13 Monaten vorstellen können, was in Europa geschieht? Viktor Funk kam 1978 in Kasachstan, einer ehemaligen Sowjetrepublik zur Welt und zusammen mit seiner Familie als Zwölfjähriger nach Deutschland. Wenn man auf seiner Webseite liest, muss das für jenen Viktor damals mehr als nur eine schwierige Zeit gewesen sein. Trotzdem gelang es ihm, Geschichte zu studieren und mit einer Magisterarbeit über den Vergleich von mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden abzuschliessen.
2017 debütierte Viktor Funk in der Literatur mit seinem Roman „Bienenstich“, eben genau mit jenen Krisen junger MigrantInnen, die sich überall abspielen, seit dem von Russland angezettelten Krieg millionenfach, bis vor unsere Haustüren. Seit 2006 ist Viktor Funk Redakteur bei der Frankfurter Rundschau im Ressort Politik, schreibt aber nicht nur dort, sondern engagiert, intensiv und emphatisch Romane, die aktueller nicht sein könnten. Als ich seinen aktuellen Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ vor ein paar Monaten zu lesen begann, wusste ich schon während der ersten Seiten, dass ich darüber schreiben musste und am Ende der Lektüre, dass ich es versuchen musste, den Schriftsteller in die Schweiz, nach Gottlieben einzuladen. Dass Viktor Funk die Einladung annahm, freute mich ungemein.
In den Konzentrationslagern der Sowjetzeit starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Es ist nicht anzunehmen, dass im Nachfolgestaat Russland die Gulags zu Geschichte wurden. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist aber nicht einfach ein Versuch des Wachrüttelns und schon gar kein Vorwurf an ein träges Westeuropa, das sich neben all dem gegenwärtigen Schrecken nicht auch noch mit jenem in der Vergangenheit beschäftigen möchte.
Viktor Funk hat sich ganz intensiv mit mündlichen und schriftlichen Erinnerungen von Gulag-Überlebenden beschäftigt und stiess dabei auf die Geschichte des Physikers Lew Mischenko und seine Frau Svetlana. Lev und Svetlana sind keine Fiktion. Genauso wie Petschora, der Gulag, in den man Lev nach seiner Zeit im KZ Buchenwald schickte. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Versuch des Autors selbst zu verstehen; Wie kann man die Jahre in einem Gulag überstehen? Und wie schaffte es ein Mann wie Lev nicht daran zu zerbrechen?
Zentrales Element im Buch und im Überlebenskampf sind die Briefe zwischen Lev und Svetlana. Es gibt viele Gründe, warum Lev die Zeit im Gulag überlebte; sein Glück ein Techniker, ein Physiker zu sein, seine Freundschaften – aber mit Sicherheit diese Liebe zu seiner Frau.
Der Roman ist die Geschichte einer Reise; einer Reise mit dem Zug nach Petschora Richtung Sibirien, eine Reise in die Vergangenheit und eine Reise in die Tiefen eines Lebens. Viktor Funk hat Lev dort zurückgelassen, mit diesem Buch aber eigentlich wieder mitgenommen.
«Was für ein grosses Glück, dass ich diesen Abend im Bodmanhaus erleben durfte, mit den Werken von Ursula Bollack um mich herum, mit kundiger und so wunderbar empathischer Moderation – und mit einem fantastischen, aufmerksamen, warmherzigen Publikum. Eine meiner schönsten Lesungen. Danke.» Bert Strebe
Septembermorgen
für Ursula & Wolfgang
die nachtkerzen weisen den weg als wir kommen zwei uhr früh die tür ist offen
die steine ums haus herum barfußwarm von all den sommern von den kindern vom moos
im badezimmer kauert der buchsbaumzünsler er mag nicht mehr reden um diese zeit die flügelspitzen sind schon in rost getaucht
der mond pustet etwas katzengold auf first und garten und unsere wimpern
später zieht er an einer dünnen schnur den ersten schimmer des tages herauf und legt ihn unter die sonnenblumen und über unsere träume
das licht kommt zurück die amseln werden blau und die schwingen der engel und die herzen
Bert Strebe, geboren in Hunteburg, einem winzigen niedersächsischen Dorf, schon lange wohnhaft in Hannover, ist Zeitungsmann mit Leib und Seele. Seit einem Vierteljahrhundert gehört ein Teil seiner Seele aber auch der Literatur. Vor längerer Zeit kam mir eine Kuvert mit Kopien seiner Gedichte in die Hand. Schon damals war ich beeindruckt von der Zartheit dieser Texte. Neben verschiedenen Gedichtpublikationen schrieb Bert Strebe auch einen Roman, ein Theaterstück und ein Hörspiel. Dass Bert Strebe nach einer langen Reise vom Norden Deutschlands auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau sass, freute mich sehr.
Nicht unbeteiligt am Umstand, dass Bert Strebe den Weg vom Norden Deutschlands nach Gottlieben unter die Räder nahm und dass es zu dieser einmaligen Zusammenarbeit zwischen zwei Kunstrichtungen kam, die sonst nur wenig Berührungspunkte zu haben scheinen, war vor Jahren die Keramikerin Ursula Bollack-Wüthrich selbst. Neben ihrer Lehrtätigkeit geht sie schon lange ganz eigene Wege in der Keramik und zeigte sich schon an zahlreichen Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland. Sie hat sich auf Raku-Keramik spezialisiert, eine alte japanische Technik.
«Der Samstagabend war schlicht und einfach wunderbar; ein sehr waches, aufmerksames Publikum, Bert Strebes Worte, die von Verletzungen und Schönheiten erzählten und danach berührende Gespräche zwischen Keramik und einem Glas Wein.Danke für die Fragen, mit denen du uns herausgelockt hast und besonders dafür, dass du dich auf dieses Wagnis eingelassen hast.» Ursula Bollack-Wüthrich
Ursula Bollack-Wüthrich produziert keine Alltags- oder Gebrauchskeramik. Ihre Werke haben Stimmen, flüstern, laden ein zu einem tieferen Blick. Dabei quillt die Sprache förmlich aus den Objekten heraus. Gedichte und Objekte sind voller Sinnlichkeit, sind materialisierte Innenansichten.
Ursula Bollack und Bert Strebe tauchten mit den BesucherInnen in sieben Blöcken in ihr Schaffen, zeigten, dass sich so verschiedene Kunstformen, in ihrer Art, sich mit Wahrnehmung und Welt auseinanderzusetzen, mehr als nur berühren können. Der Abend mit Ursula Bollack-Wüthrich und Bert Strebe war eingetaucht in Freundschaft und gab Einblick in die Tiefen zweier Kunstschaffenden, die sich abseits vom Gefälligen mit Leib und Seele in ihre Ausdrucksformen hineingeben.
Ursula Bollack-Wüthrich ist am Samstag 18. März von 15 – 18 Uhr und am Freitag 24. März von 18 – 20 Uhr im Literaturhaus Thurgau in ihrer Ausstellung anwesend.
«Vielleicht braucht es für Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.» Lisa Elsässer
Liebe FreundInnen des kleinsten aber feinsten Literaturhauses, zücken Sie Ihre Agenden, Planer, Mobilphones oder Wandkalender und markieren Sie die folgenden Termine. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Treue und den Mut, sich in Neues hineinzugeben.
Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr Ein Abend mit Lisa Elsässer „Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt.“ Felix Schneider, SRF Literatur
Donnerstag, 11. Mai, 19.30 Uhr Nadja Küchenmeister „Im Glasberg“ Samstag, 13. Mai, 16 Uhr: Nachlese In der jungen deutschsprachigen Lyrik gilt Nadja Küchenmeister als einzigartige Stimme. Sie verwebt Erinnerungen mit Märchen und Traumbildern – und findet im Unscheinbaren das Besondere, im Nebensächlichen das Wesen der Dinge. Ihre Dichtung ist immer suchend, tastend unterwegs: sprachspielerisch und zugleich von hoher formaler Schönheit.
Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr Robert Prosser „Verschwinden in Lawinen“, Performance mit Gespräch Percussion: Lan Stricker In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur.
Freitag, 9. Juni, 19.30 Uhr Milena Michiko Flašar „Oben Erde, unten Himmel“ Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf Kodokushi-Fälle.
Donnerstag, 15. Juni, 19.30 Uhr „Der Garten“ von Paul Bowles mit Florian Vetsch (Autor), Dagny Gioulami (Schauspielerin, Autorin) und Klaus-Henner Russius (Schauspieler) Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967). Paul Bowles (1911–1999) zählt zu den bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr Judith Hermann „Wir hätten uns alles gesagt“ in Kooperation mit dem Literaturhaus St. Gallen, im Kunstmuseum St. Gallen „Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.“ Roman Bucheli, NZZ
Donnerstag, 6. Juli Tabea Steiner „Immer zwei und zwei“ 18 Uhr „Literatur am Tisch“ 20 Uhr Lesung Natali heiratet Manuel, Mitglied einer Freikirche, und wird so Teil einer streng christlichen Gemeinschaft. Zunehmend ist sie um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter besorgt. Als sie die alleinstehende Theologin Kristin kennenlernt, wird ihr klar, dass sie so nicht weiterleben kann.
Samstag, 19. August, 18 Uhr, Sommerfest; Ausstellung, Lesungen 18.30 Uhr: Ruth Loosli, Schriftbilder und Lyrik, begleitet von Quirin Oeschger am Hackbrett 20 Uhr Sarah Elena Müller „Bild ohne Mädchen“ „Sarah Elena Müller bringt eindrucksvoll zum Ausdruck, wie viel Uneinsichtigkeit, wie viel Hilf- und Sprachlosigkeit die Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls oft erschweren oder gar verhindern. Ein starkes Debüt.“ Julian Schütt «Ruth Loosli schreibt, wie andere tanzen. Anmutig, leichtfüssig, den Menschen zugeneigt.» Susanne Rasser, Salzburg
Ich ziehe mich jeden Tag an, weil jeden Tag eine zwar kleine, aber durchaus realistische Möglichkeit eines Besuches besteht. Der Briefträger kommt oft, und ich nehme die Pakete durchs Fenster entgegen, das Fenster kann ich sofort aufmachen, während die Tür ganz woanders ist, und er läutet nicht zweimal, er geht einfach wieder, während ich zur Tür gehe, und dann muss ich mit dem Zug das Paket von der Post abholen, so mache ich das Fenster, das gleich bei der Glocke ist, auf, aber für ihn ziehe ich mich nur oberhalb der Hüfte schön an, das Fenster fängt bei der Hüfte an, mich zu umrahmen. In dem gebrachten Paket ist meistens eine Bluse für das nächste Mal. Ich bekomme Blusen per Post, weil ich sonst lange mit dem Zug fahren müsste. Ich kaufe Blusen aus einer Gewohnheit, die ich mir angeeignet habe, weil ich einmal Blusen gebraucht habe, um das Gefühl zu haben, dass ich eine Andere, eine Neue bin. Ich bestelle meine Blusen aber keineswegs wegen des Briefträgers selbst, damit er käme, meine ich, obwohl er einer meiner wenigen Besucher ist. Ich zwinge mich jedes Mal, ihm in die Augen zu schauen. Es gab einmal eine Zeit, da sah ich so viele Augen, dass ich sie einfach ausgeblendet habe, wie Stadttauben, jetzt sind es seltene Vögel geworden, die Augen meines Briefträgers sind taubengrau.
Für den Gärtner ziehe ich mich ganz an. Auch der Gärtner gibt mir keine fixen Besuchszeiten. Er kommt, wenn sich eine Lücke auftut, wenn er zufällig vorbeifährt, oder wenn jemand absagt, so haben wir das vereinbart, weil er „voll“ ist und der Einzige, und weil jeder einen Garten hat.
Ich werde wohl nichts Größeres machen wollen, nimmt er an, weil ich „nur ein Mieter“ und „nur vorübergehend“ da bin, sagt er, nachdem er das Unkraut ausgerissen hat – er hat einiges über die vergangenen Wochen in seinen Lücken ausgerissen.
Doch, ich will, dass es wuchert! Wild, gelb und violett, oder auch rot, was meint er? Was hält er von rot? Ich vertraue ihm …
Will ich das wirklich?, fragt er. Dann macht er hier alles schön, ich bezahle es, ich zahle viel, und dann ziehe ich weg. Und dann hat der, der nach mir kommt, hier alles schön. Will ich das?
Ich bin bereit, das in Kauf zu nehmen.
Er wird vorbeikommen.
Ich rufe eine Freundin an und frage wieder, wann sie mich besuchen kommt. Mein Haus ist groß und schön und die Natur auch, nur ist ungeteilte Freude keine Freude. Sie hat so wenig Zeit, und wo ich bin, ist es, leider, sagt sie, so entlegen. Ich habe einen Pool, sage ich. Schön, sagt sie. Der Pool ist nicht schön, der Pool ist voll mit Regenwasser, das Kröten und Gelsen anlockt. Ich muss auf eine Lücke des Poolmanns warten, weil jeder einen Pool hat, und ich früher hätte anrufen sollen. Auch die Freundin hat im Moment keine Zeit. Ich dachte, wir kriegen beide vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber in vierundzwanzig Stunden muss sie, sagt sie, und fängt an Dinge, die wichtiger sind als ich, nach Wichtigkeit aufzuzählen. „Ich habe es verstanden“, unterbreche ich sie und füge noch „kein Problem“ hinzu, eine Unart, die ich eigentlich abzuschütteln versuche. Ich habe kein Gehör für fremde Probleme, sagt sie. Sie tut ihr Bestes, sagt sie auch. Leuten ist es egal geworden, wenn ihr Bestes kümmerlich ist, merke ich, sie betonen schamlos ständig, wie das, was sie tun, ihr Bestes ist.
Manchmal denke ich mir am Abend, wenn ich in den Spiegel schaue: Heute war ich umsonst. Ich schaue mich oft im Spiegel an, damit mein Gesicht nicht gänzlich ungesehen bleibt und sich selbst überlassen zu etwas wird, das sich dann nicht mehr geradebiegen lässt.
In der nächsten Lücke des Gärtners wird endlich eingepflanzt.
Er kommt mit ein paar hilflosen Sommerhüten, einem kleinen Sommerflieder, grauem Lavendel und noch sechs anderen Pflanzen, die ich in ihrer Armut oder in meinem Unwissen nicht erkenne. Sie dürsten nach einer anderen Erde als der unseren, die trocken ist und schon aufmacht, um Regen bittend. Kakteen wären besser, sage ich, aber ich vergesse ja, dass der Sommer nur vorübergehend ist.
Es sind nicht genug. Ich wollte, dass es wuchert!, sage ich. Nächstes Jahr werden es doppelt so viele sein, sagt er.
Er rechnet doch mit der Zeit, widersprüchlich ist er. Es macht mich oft wütend, dass man nichts dagegen tun kann, dass Leute sich selbst widersprechen. Das macht mein Widersprechen vollkommen sinnlos, und das ist das, was mich wütend macht – die Sinnlosigkeit.
Alles ist so nackt, ich meine kahl, ich hätte gern einen Baum, sage ich. Bevor irgendwas halbwegs nach einem Baum ausschaut, ziehen Sie weg, sagt er. Einen erwachsenen Baum hätte ich gerne eingepflanzt. Das geht schwer, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der sich nicht verwurzelt, sagt er.
Die Sonne pulsiert wie mein Herz, in gleichem Takt. Die Luft wird nur von den flatternden Vögeln bewegt, glaube ich. Sie nisten in den Kletterpflanzen an der Fassade. Unser Haus ist das lauteste. Ich möchte sagen, unser Haus singt, aber meistens zwitschert es nur vielstimmig. Die Vögel sind mäusegrau und unzählig. Sie scheißen schwarz-weiß. Wir sind hier fertig, alles passt schon so, ich gehe wieder hinein.
Ich schaue im Internet nach. Es gibt riesige Bäume zu kaufen in der Hauptstadt, die mehr Verständnis für das Vorübergehende aufbringt, die ich vermisse.
Der Baum wird geliefert, denke ich mir, in all seiner Länge, indezent und deplatziert. Er wird über die Mauern des Gartens ragen, und die Einheimischen mit ihren großen, über die Mauern ragenden Bäumen werden mir mein Überspringen der Wartezeit nicht gönnen, das tut man nicht, einen alten Baum verpflanzt man nicht, der verwurzelt sich nicht, wird gesagt, und ich werde fiebern und zuschauen, wie der Baum allmählich austrocknet und abstirbt, einen verfrühten Tod wird er sterben, und wie wird dann die Leiche beseitigt? Wie ich mich kenne, wird der ausgetrocknete Baum ein- fach in der fremden Erde stecken bleiben, ein Zeichen meiner Ungeduld, meines Übermuts. Es ist mir egal, was die Nachbarn über mich reden, aber ich gönne ihnen keine Schadenfreude; ich werde keinen Baum bestellen.
Ich kann Gott sei Dank gut meine Vorstellung so lenken, dass ich nichts Gröberes tun muss. Alles passt, wir lassen das Ganze dem Himmel ausgesetzt, und ich bestelle einen Sonnenschirm.
Ich gehe eh nicht viel raus, ich habe wenige Gründe rauszugehen, und viele, nicht rauszugehen. Wenn ich rausgehe, setzen sich zehn, zwölf, zwanzig Gelsen auf mich und saugen mein Blut, auch bei strahlender Sonne. Bei Dämmerung ist von Gelsen alles grau. Es gab noch nie so viele Gelsen und Fliegen, hat der Gärtner gesagt, das erfreut die Vögel. Ich verstehe, dass ich für ihr Singen mit Gelsen bezahlen muss.
Ich lüfte selten – ich will die Fenster nicht aufmachen. Ich lüfte nur ab und zu zu Mittag, wenn es am Heißesten ist, damit so wenig Gelsen wie möglich hereinkommen. Es kommen aber Fliegen her- ein und reiben sich ihre Hände. Wenn das Fenster offen ist, zwitschert es, wenn es zu ist, summt es.
Ich ziehe die Bluse, die mir der Briefträger gebracht hat, an und fahre mit dem Zug Gelsennetze be- sorgen. Ich will mich beraten lassen, damit ich das Gefühl loswerde, dass das Internet meine einzige Verbindung zur Außenwelt ist.
Der Winter war lang. Unter der FFP2-Maske ist mein Gesicht faul geworden, ich fühle es. Maskenhaft. Als der Sommer kam (ich nehme an, man lebt jetzt nur sommers ganz), lebte ich aber schon entlegen. Es war einmal so, dass ich immer für jeden ein frisches Gesicht hatte. In der Gruppe hatte ich ein Gruppengesicht. Jetzt hatte ich schon lange kein frisches Gesicht mehr, ich trage nur zwei, drei, wenn ich das Briefträgergesicht, das ich nur für einen Bruchteil des Tages aufsetze, mitzählen kann; alle meine unbenutzten Gesichter faulen ins Unbenutzbare.
Auch meine Zunge ist aus der Übung. Ich sollte mehr mit mir selbst reden. Als ich dem Verkäufer meine Lage schildere, kommen mir meine Sätze wie ein Stück vor, das ich lange nicht gespielt habe – ich irre mich viel, aber ich weiß, nur ich, dass ich es gleich wieder können könnte.
Weiße Gelsennetze sind aus. So schaut geteiltes Leid aus. Ich nehme die schwarzen und hänge die Trauerspitze überall auf.
Wegen der Trauerspitze kann ich jetzt kein Paket mehr entgegennehmen. Beim letzten Mal hat der Briefträger bei der Übergabe kurz meine Hand berührt, seine Augen verschwiegen aber die Absicht, ließen an ihr zweifeln, meine ich. Ich erzähle ihm von der Gelsenplage und frage, ob er warten würde, wenn die Übergabe künftig durch die Türe erfolgt. Er sagt kein Problem, er kann läuten und das Paket bei der Tür abstellen. So. Ich bilde mir ein, er hätte auf mich gewartet, wenn die Spitze weiß wäre. Es wird für mich zunehmend schwer, Dinge zu finden, auf die ich die Schuld für Ereignisse schieben könnte.
Ich gehe in den nächsten Tagen nur im Garten spazieren, dem ummauerten, dem uneinsehbaren, in dem ich einen breitkrempigen Hut tragen kann und die Trauerspitze drüber, bis zum Boden. Ich zeige mich nicht, ich weiß, was normal ist und ich bin anpassungsfähig, ich kann mich sowohl den Gelsen als auch den Nachbarn anpassen, ja, es dauert ein bisschen, der Prozess ist wie bei einer Geburt schmerzhaft und schmutzig, jedoch verhältnismäßig kurz, und bald ist alles vergessen, als ob nichts wäre, und alles selbstverständlich, auch wenn der Unterschied zwischen der Welt der Ungeborenen und der Welt der Geborenen nicht größer sein könnte. Bald also werde ich so wie alle an- deren Frauen meines Alters, die alle jünger sind, die entlegen wohnen, alles mit 40 bunt waschen. Keine Seide wird mehr sorgfältig von mir gebügelt. Was werde ich mit den ganzen Zeitersparnissen anstellen? Nichts, ich werde sie nicht merken, ich weiß, die Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie nur verschwenden, im Sekundentakt.
Wie würde ich leben, würde ich leben?
Es ist heiß, und ich spiele mit dem Gedanken, mich in den Pool zu werfen, in das Regenwasser, oh Gott, nicht um mich abzukühlen, sondern um Ekel zu empfinden und mich dann wieder sauber machen zu können, damit das, wie ich bin, anders ist als das, was ich kurz davor war. Nachdem das zu umständlich ist und es sich Gott sei Dank, wie so vieles Andere, schon in meiner Vorstellung erschöpft hat, möchte ich, vernünftiger, mit dem Regenwasser die Neueingepflanzten gießen, die Armen, als ich merke, dass die Kröte im Wasser von außergewöhnlicher Schönheit ist. Das Internet sagt, es ist eine Wechselkröte. Leicht mit einer Kreuzkröte zu verwechseln, aber selten und teuer und gefährdet und schutzbedürftig. Ich empfinde eine Anwallung von Selbstliebe, weil ich die außergewöhnliche Schönheit gleich bemerkt habe, obwohl sie mit Gewöhnlichem leicht zu verwechseln ist.
Ich rufe bei der Landesregierung an. Die Fragilität der Ökosysteme, die mich davon abhält, das Tier gedankenlos zu übersiedeln, wird von dem Mann, zu dem ich verbunden worden bin, bestätigt. Ich fühle mich gestreichelt. Wir reden über die Kröte. Sind die Marmorflecken an ihrem Rücken deutlich voneinander abgegrenzt? Ich bestätige. Das Wort Marmor klingt für mich beruhigend, merke ich. Bufo variabilis, sagt er. Velut Fortuna, denke ich. Wir beide haben uns gegenseitig unser Wis- sen wachgeküsst, auch manche seiner Tage in RU5 müssen bestimmt vergehen, ohne dass er mit wem spricht, bestimmt muss auch er in den Spiegel schauen, um sich zu fangen. Ich richte in einem Eimer alles so ein, dass sich der Bufo wohlfühlt, ich folge den Anweisungen mit einer eifrigen Dankbarkeit. Ja, ich vermisse die Tage der Kindheit, in denen man noch so lieb war, mir Anweisungen zu geben. Ich werde berichten, wie der Transport gelaufen ist, sage ich beim Abschied. Der Krötenmann sagt: „Das ist aber wirklich nicht nötig.“ Das war unnötig.
Trotzdem ziehe ich ein kleines, dünnes Müllsackerl über die Hand und fische die Kröte heraus. Sie ist so weich, dass sie Zärtlichkeit in mir hervorruft. Ich kann sie nicht anders als sanft halten, auch wenn es mich interessieren würde, wie stark man noch drücken kann, bevor es unwiderruflich zu viel wäre. Wie mich das Unwiderrufliche immer lockt und so tut, als ob es nicht unmöglich wäre!
Es sind zwei Stationen zur Donauau. Im Wald bin ich allein, ich kann wieder das Netz tragen. Ich setze mich auf das Moos und lasse die Kröte frei. Sie scheint mir glücklich, aber nicht dankbar zu sein. Das ist schön, bisher hat meine Barmherzigkeit immer eher im Umgekehrten geendet. Vielleicht sollte ich mich von den Menschen gänzlich abwenden und den Kröten ganz zu. Sie bewegt sich langsam weg von mir, ich bleibe auch dann noch sitzen, als ich sie nicht mehr sehen kann, etwas in mir wehrt sich dagegen, die ganze Fahrt in die entgegengesetzte Richtung mit einem leeren Eimer zu wiederholen. Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bevor es für mich möglich ist auf- zustehen. Man hat oft eine ganz falsche Auffassung von dem, was für mich möglich ist. Oft glaubt man, es sei alles eine Sache der Entscheidung, des Willens, aber nein. Nein. Nicht einmal ich selbst kann jedoch sagen, kann berichten, worin die Unmöglichkeit liegt. Irgendwo zwischen dem Gedanken und der ersten Handlung, natürlich, aber dieser Raum ist dunkel und unendlich.
Abends kann ich nicht schlafen, weil unter dem Schlafzimmerfenster ein Kanaldeckel liegt. Und Autos fahren immer drüber. Und Autos fahren immer. Zu jeder Unzeit, was gibt es da so viel zu fahren, auch das würde ich gerne wissen. Ich finde es unfair, dass ich gleichzeitig an einer befahrenen Straße und entlegen lebe, unfair finde ich es, als ob ich ein Kind wäre.
Die Verhütungspille liegt mir schwer im Magen. 14 Tage sinnloser Schutz vor dem Entstehen von Leben, kein Entstehen des Lebens droht. Ich könnte mich ohne Pille und ohne Rock in den Vorgarten legen, der Briefträger würde über mich steigen, anläuten und das Paket ablegen.
Drei Wochen später sagt mein Frauenarzt: „Sie sind schwanger“, sagt er. Das ist unmöglich, sage ich. Ich sage, ich nehme die Pille. Er fragt, ob ich immer alle genommen habe. Ich sage summa summarum. Er fragt, was summa summarum heißen soll. Er sagt, das ist echt ein Wunder. Dann schimpft er mich. Das Wort „verrückt“ fällt. Ich glaube, ich gehe nicht mehr zu ihm, ich werde nächstes Mal zu einem anderen gehen und ihm mein Wunder zeigen; frisch anfangen.
Ich sitze still eine Stunde lang im Schlafzimmer und überlege, wen ich anrufe. Die Freundin würde sich freuen, sie würde meinen, dass ich jetzt auch sehen werde, wie man keine Zeit mehr haben kann, und dass wir uns jetzt öfters treffen können, der Unterschied im Alter unserer Kinder wird ja nicht allzu groß. Ich rufe meine Schwester an. Ich sage: Eine Eisenkugel an einer Kette um meinen Fuß. Sie sagt: Ein Eisennagel, mit dem du dich wieder der Welt anheften kannst.
Meine Vorstellungskraft muss das Metaphorische verlassen, zum Konkreten übergehen. Die kommenden Tage ist mein Leben nichts mehr als eine konkrete Vorstellung.
Ich stelle mir vor, es hat keine Kiemen mehr, es ist weder Fisch noch Fleisch, aber der Arzt meint trotzdem, es sei zu spät, ich hätte zu lange gewartet.
Ich stelle mir vor, alle berühren mein Bauch, absichtlich; alle fragen, was es wird, und meinen dabei das Geschlecht. Alle fragen, ob wir schon einen Namen haben. Nein, nein, sie meinen einen Namen für das Kind!
Ich stelle mir vor, es kommt und ich vergesse mich.
Das Vergessen wird immer wieder kurz unterbrochen, wenn alle, denen ich begegne, ein Urteil fällen, ob es ganz die Mama ist oder ganz jemand anderer.
Manchmal möchte ich vielleicht weinen, aber ich komme nicht dazu. Oder bilde ich mir meinen Wunsch nur ein und ich kann gar nicht mehr weinen? Ist es geboren, ausgesondert, veräußerlicht (wie ein Gedicht?) mein Weinen, mein Kind?
Vielleicht hoffe ich manchmal, dass mir die Last abgenommen wird. Aber ich ahne in dieser Hoffnung eine dunkle Freiheit, die ich nicht überleben würde. Meine Freiheit muss ich von jetzt an innerhalb meiner Zelle denken.
Ich stelle mir vor, es ist eins. Der Mann kommt aus der Arbeit und streichelt das Kind. Sanft und liebevoll, hingebungsvoll. Er ist voller Liebe, das sehe ich. Kein Hass ist ihr beigemischt, das Kind liegt nur da, tut nichts, was man ihm verübeln könnte, es tut nichts. Es ist willenlos. Machtlos auch. Die Liebe des Mannes aber strömt ihm entgegen, sie hat meinen Mann in Besitz genommen, die Liebe, sie benutzt seine Hände und seine Augen nach ihrem Belieben. Es lacht, wenn man es am Bauch kitzelt. Es ist ihm egal, dass der Mann einen Tag später aus der Arbeit gekommen ist. Auch ich versuche, im Moment zu leben. Im Moment sehe ich vor mir einen verspäteten Mann, der seine ganze Liebe dem Wesen schenkt, dem er egal ist. Ich überlege nicht, mich auf den Boden zu legen, das Hemd zu heben und vom Bauch zu erwarten, dass er zum kitzeln einlädt, nein.
Ich stelle mir vor, mein Gesicht ist ein Muttergesicht, eine nicht abnehmbare Maske.
Ich stelle mir vor, seine Augen sind blau. Reines Blau, das mich stört. Wie ein heiterer Himmel, der in mir schon immer Unbehagen auslöste, wie alles Regungslose. Ich halte meinen Kopf von Natur aus gesenkt, ich mag alle Farben der Erde. Im Blau seiner Augen finde ich nichts Heimisches.
Ich stelle mir vor, es ist vier. Es bricht alle Mauern um mich. „Ja, bist du nicht süß … Wie alt bist du denn?“, wird es von den Nachbarn angesprochen. Und es ist schüchtern, es nimmt meinen Rock wie einen Vorhang und taucht sein Gesicht hinein. Es fühlt sich sicher, schon hier, denn sonst ginge es noch tiefer hinein, unter den Rock, das macht es manchmal, mein Rock sein Bunker. Ich bemit- leide es, weil es sich bei mir am Sichersten fühlt. Es ist komisch, Mitleid zu sagen, denn ich glaube nicht, dass es leidet, wenn es vier ist. Es weiß noch nicht genug, um richtig zu leiden.
Dann ist es fünf. Es redet schon, viel, zu viel. Ich stelle mir vor, ich bringe ihm eine ausgedachte Sprache bei, die uns verbindet und alle anderen ausschließt. Es ist ja so ein Vorteil für Kinder, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Angeblich lernen sie dann auch andere Fächer leichter. Meine Sprache wird über all die fehlenden Wörter verfügen, zum Beispiel ein Wort für das Gefühl der falschen Liebe wird es geben und auch ein Wort für die Mischung aus Dankbarkeit und Verachtung, die man fühlt, nachdem einem jemand, den man als schwächer betrachtet hat, Hilfe geleistet und sich dabei großzügig gefühlt hat, und so weiter, die Grenzen unserer Sprache werden ausgedehnt, seine Welt wird groß.
Leute könnten meinen, es sei komisch, dass ich mein Kind „das Kind“ nenne und nicht beim Namen. Da ich ja so gerne Dinge beim Namen nenne, ist das der Grund, dass es ihnen komisch vor- kommt? Auch sonst werden sie vieles „nicht richtig“ finden.
Es ist acht. Es ist nicht aus meiner Erde. Nichts Heimisches in seiner Stimme. Es redet wie die Nachbarn.
Ich stelle mir vor, ich weiß zu einem Zeitpunkt dann aus Erfahrung, dass ich mich immer dann stark fühle, wenn sich meine Last kurz hebt. Dass die Last ihr eigenes Leben hat und auch Flügel. Dass nichts mein Verdienst ist bzw. wenig.
Ich bin für es da. Ich bin für es gemacht worden. Ohne es wäre ich nicht. Das glaubt es. Unsere Wahrheiten sind gegensätzlich. Aber es fühlt seine, während ich meine nur weiß, und ich fühle seine, während es meine nicht weiß. Es gewinnt. Es gewinnt immer. Es obsiegt.
Ich stelle mir vor, dass das Vorübergehende zur Gewohnheit wird. Dass ich mir denke: Wenn ich einen kleinen Baum beim Einzug eingepflanzt hätte, wäre er jetzt schon groß, mein Kind könnte in seinem Schatten spielen, schade, dass ich das nicht gemacht habe.
Ich stelle mir vor: Wenn es so viel Platz einnimmt, wie ich in seinem Alter einnehmen wollte, als mein Wollen stärker als mein Können war, kann ich mich gleich aus dem Fenster werfen. Ich bin nicht so stark wie meine Mutter, ich werde nicht standhalten und bald wird dort, wo ich war, es werden.
Es ist zehn. Es erzählt mir, dass die Katze, wenn es sie auf den Schoß nimmt und streichelt, vor Genuss ihre Krallen in seine Oberschenkel bohrt, und dann muss es die Augen zusammenkneifen, um den Schmerz zu ertragen, und ich denke mir danach: Mein Kind ist besser als ich, es nimmt den Schmerz bei seiner Zuneigung in Kauf.
Ich stelle mir vor, es hat mich lieb, und einmal sagt es mir: „Niemand hört so gut zu wie du.“ Und dass ich, indem es mich lobt, erst das Ausmaß meiner Selbstverleugnung merke.
Es ist dreizehn. Ich stelle mir vor, ich nehme es ihm übel, dass sein mittelmäßiges Musizieren für alle mehr wert zu sein scheint als mein eigenes, das von Professor Pokorny einmal „genial“ genannt wurde.
Ich stelle mir vor, ich habe vergessen, dass ich mich schon kurz vor ihm aufgegeben habe.
Ich stelle mir vor, es ist sechzehn und es sieht nur sich und die Welt und seine Zukunft in der Welt, die Welt und sich dicht verflochten, ein starkes Bündnis, das ihm all der verfehlten Erziehung zum Trotz, der schwierigen Mutter zum Trotz, gelungen ist, das Ganze hat es nur stark gemacht, und das Traumatische wird sogar zum Schöpferischen, auch so ausgesprochen, dem Klischee zum Trotz, es ist noch so jung, dass für es noch nichts von dem Lebensbetreffenden ein Klischee ist.
Es ist vierundzwanzig und es zieht aus, und ich schreie und es atmet auf, wie bei der Geburt.
Ich stelle mir vor, es ist vierzig und besucht mich aus Pflichtgefühl, es ist schließlich gut erzogen, es tut so, als ob es mir zuhört, es nickt und Mhm Mhm meint, und ja, ja, es geht ihm auch gut, nein, nix Neues, nix Erzählenswertes, nein, seine Freundin ist noch nicht schwanger, sie konzentriert sich eher auf …
Es ist sechzig und redet mit mir wie mit einem Kind, gedanklich ist es anderswo, es möchte anderswo sein, aber ich lasse es noch nicht gehen, eine meiner Bruthennenkrallen bleibt in seiner Strickjacke hängen, mein Wunsch, dass es bleibt, ist stärker als sein Wunsch, wegzugehen, alle seine Wünsche sind momentan eher farblos und schwach und ich denke mir: Dafür habe ich dich bekommen? Von diesem Besuch im Altersheim haben alle geredet, als ich dich nicht wollte?
*
Es tut sich eine Lücke auf bei dem Poolmann. Einen Tag, bevor der Mann wieder zurück ist, wird der Pool endlich schön. Ich schätze, wir haben gute drei Wochen, in denen wir nackt baden können, dann muss er für die Überwinterung vorbereitet werden. Als ich auf den Poolmann beim Pool warte, sehe ich im Wasser einen Laich. Ich rufe nochmals bei der Landesregierung an. Ich werde mit einem anderen Mann verbunden und muss deshalb die ganze Geschichte von vorne erzählen, was mich ermüdet und verstimmt. Der Poolmann unterbricht mich mit seiner Ankunft. Ich bitte ihn zu warten. Es ist heiß, die Sonne strahlt Hitze und Schwindel aus. Der Mann von der Landesregierung kennt sich nicht so gut aus wie der Mann von Letztens, das Gespräch mit ihm ist zermürbend. Ich höre etwas Zaghaftes in seiner Stimme, als er sagt, der Laich muss nicht geschützt werden. Trotzdem und ohne mich zu bedanken lege ich gleich auf und sage dem Poolmann, es kann alles abgesaugt werden.
«Wechselkröte» ist der Siegertext des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbes 2022. literaturblatt.ch dankt Verlag und Autorin für die Erlaubnis, den Text wiedergeben zu dürfen!
Ana Marwan «Wechselkröte», zweisprachig D/SLO, ins Slowenische übersetzt von Amalija Maček, Otto Müller Verlag, 2022, 60 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7013-1307-5
Anna Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin auf dem Land zwischen Wien und Bratislava und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exil-literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem „Kritiško sito“ für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2022 und dem Ingborg Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Am 23. Februar 2023 erscheint der neue Roman „Verpuppt“ (aus dem Slow. von Klaus Detlef Olof) im Otto Müller Verlag.
Ana Marwan ist am 23. März Gast im Literaturhaus Thurgau!
Monte Sano, eine Insel weit draussen im Atlantik, ein einziges Hotel über einer Bucht, zu erreichen nur mit einer Fähre. Paula hat tief in die Tasche gegriffen, um dort hin zu kommen, möglichst weit weg von dem Schlamassel, aus dem sie sich zuhause nicht mehr zu winden wusste. Eine Reise, weit über die Grenzen hinaus.
Paula ist Richterin und nimmt sich eine Auszeit. Vielleicht auch ein bisschen mehr als eine Auszeit. Vielleicht auch nicht bloss eine Auszeit von alldem, was sie immer weniger frei atmen liess. Kurz bevor sie ihre Sachen packte, machte man ihr auch noch den Vorwurf, ihr fehle es an Empathie. Ausgerechnet. Und da war auch noch Henrik. In maximaler Distanz will sie ihre gebeutelte Seele baumeln lassen, die Sonne geniessen, ein Buch lesen, ein bisschen spazieren.
Das Hotel auf der Insel ist in die Jahre gekommen, obwohl man davon im Hotel selbst nichts merkt. Nicht einmal 40 Zimmer, ein ausgesuchtes Unterhaltungsprogramm, Gastronomie vom Feinsten, die Insel ein einziger Garten. Auf der anderen Seite der Insel soll sich eine Forschungsstation befinden, abgeriegelt, von der Hotelseite her nicht zu erreichen. Und weil das Hotel der einzige Grund ist, hierher zu kommen, bleibt der Steg in der Buch auch meistens leer. Aber Paula langweilt sich schnell. Mag sein, dass es an daran liegt, dass sie allein angereist ist, dass sie keine Lust verspürt, an den organisierten Geselligkeiten teilzunehmen, dass sie gar niemanden kennenlernen will, dass sie ihre Ruhe haben will. Zur Langeweile gesellt sich der Frust darüber, dass Paula genau spürt, dass die grösstmögliche Distanz nur ein dumpfer Versuch ist, etwas zurückzulassen, was man doch überall mit sich herumschleppt. Irgendwann fügt sie sich in den Hotelrhythmus, weil sie merkt, dass sie hier nicht finden wird, worauf sie hoffte. Ausser den wenigen Momenten in jener Bucht, etwas vom Hotel entfernt, im leisen Schauer einer undeutlichen Bedrohung.
Doris Konradi «Aber die Insel», Elsinor, 2022, 200 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-942788-69-4
Aber dann plötzlich überstürzen sich die Ereignisse. Paula versäumt die ausgemachte Fähre zurück aufs Festland. Weil ihr Zimmer bereits wieder vermietet ist, wird sie in eine leeren Personalzimmer einquartiert. Und als sie nach einer langen Nacht aufwacht, ist nicht nur das Fenster von einem eigenartigen Niederschlag trübe, sondern das ganze Hotel leer. Aus einem nicht beschlagenen Fenster sieht sie, dass kein Blatt geblieben ist, die ganze Insel von einer Art Schnee bedeckt, alle Bäume kahl und die Sonne nur durch einen Schleier sichtbar. Irgendetwas musste passiert sein. Man hatte das Hotel evakuiert – und sie vergessen.
Weil Paula annehmen muss, dass alles ausserhalb des Gebäudes lebensfeindlich geworden ist, bunkert sie sich ein, stets in der Hoffnung, irgendwann werde irgendwer auftauchen, um sie zurück in ihr Leben zu bringen. Aber niemand kommt. Nach Wochen ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt macht sich Paula mit dem was an haltbarem Proviant übriggeblieben ist auf auf die andere Seite der Insel. Hin zu dieser Forschungsanstalt, 100 Kilometer quer durch ein totes Eiland, stets mit der Angst, sich mit zu vergiften. Ein Tripp, der mit schwindenden Vorräten zu einem Tripp in den flirrenden Wahrnehmungen zwischen Wahnsinn, Panik und Momenten glasklarer Einsichten wird. Und in ebenjener unwirklichen Umgebung begegnet sie den Geistern unmittelbar, vor denen sie mit ihrer Reise zu Beginn entfliehen wollte.
Doris Konradis Roman „Aber die Insel“ ist kein Abenteuerroman, und doch ist er einer. Ein Abenteuer einer Verwandlung. Paula beginnt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, ultimativ. „Aber die Insel“ ist keine Robinsonade, und doch ist er eine, eine Gestrandete, Ausgesetzte, Verlorene, Vergessene. „Aber die Insel“ ist auch kein Endzeit- oder Ökoroman, aber vielleicht doch. Paula erfährt nach und nach, was die Gründe für die Zerstörungen, das ausgelöschte Leben auf der Insel sein müssen. Paula wandelt sich zu einer anderen. In den Monaten auf der Insel ändert sich alles, am meisten in ihr selbst.
Ich nahm das Buch rein zufällig in die Hand, begann zu blättern und hätte es nach nicht einmal einer Seite auf die Seite gelegt. Aber ich blieb hängen, erstaunt, beeindruckt, verblüfft. Doris Konradis Roman ist sprachlich überzeugend ohne Irritation konstruiert, eine Reise in die Tiefe ohne störendes oder effekthaschendes Beigemüse. Ein Roman, der ein Wagnis beschreibt, ein Roman mutig geschrieben!
Interview
Inselgeschichten, in der Literatur oder im Film, haben eine lange Tradition und strahlen ungeheure Faszination aus. Nicht zuletzt darum, weil das Geschehen auf einen scheinbar überblickbaren Kleinkosmos reduziert wird. Was war die Initialzündung zum Schreiben dieses Romans? Eine „Inselerfahrung»? Mehr als die Insel stand am Anfang des Schreibens das Urlaubshotel im Vordergrund. Ein Ort des Luxus‘, der in seinen Abläufen überall auf der Welt ähnlich ist. Sich etwas leisten, den Urlaub, eine Auszeit, das gute Leben in exotischer Umgebung, ist zu einem Credo unserer Lebensweise geworden. Viele haben diesen Wunsch, aber global betrachtet bringt uns diese Art zu denken in eine zunehmend ausweglosere Lage.
Eine junge Frau flieht vor ihrem Leben. Sie ist Richterin. Doch eigentlich eine Aufgabe, mit der man Ordnung in eine Schieflache bringen soll. Ausgerechnet sie, die sich in maximale Distanz zu ihrem bisherigen Leben zu bringen versuchte, kämpft sich auf einer Insel durch ein aus allen Fugen geratenes Gleichgewicht, quer durch eine Insel, auf der die Apokalypse einbrach, alles Leben ausgelöscht wurde. Sie begrenzen die Katastrophe auf eine Insel. Von einer Insel kann man sich retten. Von der Erde kaum. Wollten Sie ihrer Protagonisten die eine Chance nicht verwehren? Es ist richtig, dass ich offene Enden mag, es gern dem Leser, der Leserin überlasse, welche Schlüsse gezogen werden. Das ist vielleicht die Hoffnung, ohne die ich selbst nicht leben möchte, die Hoffnung darauf, dass der Mensch grundsätzlich in der Lage ist, Lösungen zu finden. Inzwischen liegt mir eine endzeitliche Klimadystopie und Naturzerstörung zu nah an dem, was wir in der Realität erleben, um darüber zu schreiben. Über reale Politik mag ich oft gar nicht nachdenken, als Schriftstellerin brauche ich diese Hoffnung.
Viele Bilder aus Ihrem Roman sind archetypisch. Eine Inselidylle, ein Mensch kämpft sich allein durch die Katastrophe, allein in einem Hotel, die Welt im Würgegriff derer, die sich über die Ordnung der Natur hinwegsetzen… Ihr Roman ist eine Versuchsanordnung: Was passiert mit einem Individuum, wenn man aller Sicherheit beraubt wird. Das sind existenzielle Fragen. Fragen, die mit weltweiten Pandemien und Klimaängsten nachvollziehbar sind. Sind wir letztlich mit uns allein? Es wird viel von individueller Freiheit gesprochen, dazu gehört auf der anderen Seite auch das Alleinsein. Doch oft fehlt der Mut, es für sich selbst zu bejahen und Verantwortung zu übernehmen. Meistens höre ich „die Politik“ muss etwas tun, „der Staat“ ist in der Pflicht. Hinter diesen Phrasen kann man sich als Individuum gut verstecken. Ich finde es wichtig, das Denken nicht zu begrenzen, was auch beinhaltet, sich seinen Ängsten auszusetzen und Sicherheit nicht als selbstverständlich anzusehen.
Schon als Zitat vor Ihrem Roman steht ein Satz von Wolfgang Herrndorf; „Als Gegensatz zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passendes Wort wäre im Grunde Einsamkeit». Viele Menschen haben während der Pandemie erfahren, was Einsamkeit bedeutet. Wie nahe sie an der „Zivilisation» ist, wie schnell wir in Einsamkeit hineinfallen, auf eine Insel in uns selbst. Wir leben zwar in einer Welt, die so fleissig kommuniziert wie noch nie. Gleichzeitig vereinsamen Menschen mitten drin. Ihre Protagonistin erwacht gleich mehrfach. Was müssen wir tun, dass wir aufwachen? Das Zitat von Wolfgang Herrndorf drückt viel von dem aus, was mir beim Schreiben des Romans durch den Kopf ging. Zivilisation bedeutet, in einem Regelsystem mit anderen zu leben. Meine Protagonistin erlebt, dass diese Regeln nicht mehr gelten in ihrer Situation. Sie ist dadurch gezwungen, die Welt mit anderen Augen zu sehen als bisher, was auch frühere Entscheidungen in Frage stellt. Das, was wir Zivilisation nennen, ist stark positiv konnotiert, hat aber auch hingeführt, wo wir heute stehen. Einen Schritt zurücktreten und wahrnehmen, was geschieht lohnt sich in jedem Fall.
Ein Strand, ein Hotel, Sonne, gutes Essen, ein perfektes Unterhaltungsangebot – so, wie sich die meisten den perfekten Urlaub vorstellen. Und dann implodiert das Geschehen. Nichts erinnert an die Hochglanzidylle. Aus der Idylle, dem Paradies wird eine Hölle. Ist „Schreiben» so wie das „Lesen» nicht auch ein Fluchtversuch? Für mich ist Fiktion – und Kunst überhaupt – keine Flucht. In der Fiktion kann ich genau diesen Schritt zurücktreten und damit vielleicht die Dinge klarer sehen. Nicht umsonst bekämpfen Despoten immer die Kunst in all ihren Ausdrucksformen, so auch die Literatur. Denken wir nur an Afghanistan, mit welcher Macht Frauen das Lesen vorenthalten wird. Jede Kunst kann subversiv sein oder zum Nachdenken anregen. Vor allem aber vermittelt sie ein Gefühl für das, was ist oder was sein könnte. Für mich kondensiert sich in der Fiktion die Essenz des Lebens.
Doris Konradi (1961) lebt als freie Autorin in Köln. Nach ihrem Abschluss als Diplomvolkswirtin wandte sie sich der Arbeit in kulturellen Organisationen zu, bildete sich fort in Drehbuchschreiben, tanzte viele Jahre bei der Wigman-Schülerin Katharine Sehnert, lernte Cellospielen. Dem Schreiben widmete sie sich nach der Geburt ihrer zweiten Tochter. Die erste Kurzgeschichte «Freunde von Lula» gewann den 3. Preis beim Bettina-von-Arnim Wettbewerb 2003. Danach folgte ihr Debütroman «Fehlt denn jemand». Seit 2014 interdisziplinäre Projekte mit Künstler:innen aus verschiedenen Bereichen. Für ihre Arbeit erhielt Doris Konradi zahlreiche Auszeichnungen.
Wir haben sie alle, die Kisten, Schachteln, Keller, Boxen, Tresore, in denen wir wegsperren, womit wir uns nicht konfrontieren wollen. Vielleicht ist das Ausschlagen einer Erbschaft bis zu einem gewissen Grad doch nichts anderes, als sich der Vergangenheit nicht stellen zu wollen – oder zu können.
«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? – So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür!» Lukas Bärfuss
Das kleine, schmucke Literaturhaus am Seerhein war besetzt bis auf den letzten Platz. Und es war höchste Zeit, dass der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss endlich Gast im Literaturhaus Thurgau wurde. Von Lukas Bärfuss, Romancier, Theaterautor, Regisseur, Essayist und „Kommentator“, Träger der angesehensten Preise und seit 2015 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung las ich als Allererstes „Hundert Tage“, ein Buch, das bis heute nachhallt. Ein Buch, das sich in meinem Lese- und Bücherbewusstsein eingegraben hat, das mich mehr als neugierig machte auf einen Autor, der sich nicht scheut, zu Themen der Zeit eine dezidierte Meinung zu äussern, selbst dann, wenn er damit aneckt. Seine Vielfältigkeit beweist Lukas Bärfuss mit jedem seiner Bücher aufs Neue. Er wird es auch mit seinem allerneusten, dem Roman „Die Krume Brot“ tun, der diesen Frühling bei Rowohlt erscheinen wird, und einiges an politischer und historischer Schärfe verspricht.
Lukas Bärfuss wurde fünfzig. Vielleicht einer der Gründe für den Autor und Vater, endlich jene eine DelMonte-Bananenschachtel, mit der ganze Generationen in der Schweiz siedelten, die während Jahrzehnten in den verschiedensten Zwischenräumen seines Daseins lagerte, nun endlich zu öffnen. Eine Art Büchse der Pandora. Eine Tür zur Vergangenheit, die sich nicht verschliessen lässt, durch die immer wieder der Wind pfeift.
Ganz zu Beginn seines Essays «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» steht der Satz: „Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Eigentlich geht es in seinem Buch um jede Form der Erbschaft, denn alles worin, worauf und wohin wir uns bewegen, ist Erbschaft. Ebenso wie all das, was wir zurücklassen, bis zum Gang aufs Klo. Vor allem der Müll sei das Erbe ohne Erben. Wir hinterlassen zwar, aber es ist uns «scheissegal». Eine Tatsache, die sich schon in der Gegenwart katastrophal auswirkt, mit der wir uns in der Zukunft radikal auseinandersetzen müssen, wenn wir weiterhin Gast auf diesem klein gewordenen Planeten sein wollen.
Lukas Bärfuss erzählt von seinem Vater, den man in seiner Familie als „Schwarzes Schaf“ bezeichnete. Selbst ein solcher Titel ist Erbe, den jede*r ist bis zu einem gewissen Grad Opfer seiner Zeit, Opfer von Konventionen und Regeln, Opfer seiner Herkunft, Opfer seiner selbst. Auch das ist Erbe, das man nicht ausschlagen kann. Lukas Bärfuss schreibt vom «Herkunftswahnsinn». Betrachte man nur die Tatsache, dass Reichtum fast immer bei den Reichen bleibt und sich die Armut wie ein Fluch fortzusetzen scheint. Wie gerne berufen wir uns auf unsere Herkunft, sei sie nun ruhmreich, siegreich oder kampferprobt. Selbst Lukas Bärfuss bewegt sich in seiner Herkunftsblase, einer Blase, der man nicht entfliehen kann.
Weder die Kinder haben ihre Eltern ausgesucht, noch die Eltern ihre Kinder, auch wenn die Zukunft Änderungen verspricht. Zu wie viel Gegenliebe der Nachkommenschaft an ihre Eltern ist man verpflichtet?
Bärfuss› Buch hat auch einen humoristischen Zug: „Deine Welt ist Dir bekannt, und falls du etwas finden solltest, dessen Ursprung du nicht kennst, dann rufst du die Polizei oder die Feuerwehr oder schreibst ein Buch über unbekannte Flugobjekte oder machst auch alles zusammen.“ In Sachen Herkunft machte Darwin einiges erklärbar. Ganz im Gegensatz zur Kirche, die über Jahrhunderte sämtliches Wissen verklärte und instrumentalisierte. Aber so wie wir noch immer in christlich zentrierter Gedankenwelt verhaftet sind, so sehr kettet uns die Darwin’sche Vererbungslehre in Verhaltens- und Gedankenmuster.