Ludwig Hohl, 1904 geboren, lebte von 1924 bis 1931 mit Unterbrüchen in Paris. Glücklos im Veröffentlichen, permanent auf finanzielle Unterstützung angewiesen und kaum als Schriftsteller wahrgenommen, schrieb er immer an seinen „Epischen Grundschriften“, Notizbüchern, aus denen später auch das zu Lebzeiten unveröffentlichte Manuskript „Die seltsame Wendung“ entstand.
Ludwig Hohl, der erst sehr spät Anerkennung als Schriftsteller entgegennehmen durfte, lange Zeit als enfant terrible der Szene galt, fand erst 1970 durch die Vermittlung von Adolf Muschg mit Siegfried Unseld einen Verleger, der sich um sein Schreiben, seine Bücher bemühte. Als 1975 „Die Bergfahrt“ bei Suhrkamp erschien, war dieses Buch der Beginn seines späten Ruhms, einer ganzen Reihe bedeutender Ehrungen und Preise. Dass dieser eigenwillige Autor nicht vergessen ist, verdankt er der Eigenständigkeit seiner Texte, der Sorgfalt und Treue von Suhrkamp und seiner letzten Ehefrau Madeleine de Weiss Hohl, die 1985, fünf Jahre nach Ludwig Hohls Tod, die „Ludwig Hohl Stiftung“ ins Leben rief.
Ludwig Hohl «Die seltsame Wendung», Bibliothek Suhrkamp, 2023, 160 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-22550-9
Die Novelle „Die seltsame Wendung“, erst 2023 aus einem vielfach überarbeiteten Manuskript editiert in der Bibliothek Suhrkamp erschienen, erzählt sehr anschaulich, in langen Passagen fast beschwörerisch von einem an sich und der Welt verzweifelnden Künstler in Paris. Auch wenn in „Die seltsame Wendung“ der Protagonist ein Maler ist, ist unschwer zu erkennen, dass Ludwig Hohl von sich, den Jahren in Paris, seiner Alkoholsucht, seinem Hunger, seiner Verzweiflung und Not erzählt. So wie Hohl damals kaum Einnahmen hatte und von Zuwendungen anderer abhängig war, weil er von dem Wenigen, das damals erschien, selbst ganz bescheiden in der Stadt der Kunst nicht leben konnte, so vegetiert der Unglückliche in Hohls Novelle in Paris, gebeutelt von Existenzängsten, zerrieben von seiner Sucht, unerkannt vom Kunstmarkt. Wankend zwischen Depression und Suff, zwischen Euphorie und Weltschmerz, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln taumelt der Mann durch ein noch junges Leben, das mit dem Umzug nach Paris so viel versprochen hatte. Aber die Liebe, mit der er nach Paris zog, ist zerbrochen und Schwänzel, ein ebenso glückloser Kunsthändler und doch einziger treuer Weggefährte des Malers, hält ihn mit kleinen Summen an der kurzen Leine.
„Die seltsame Wendung“ ist ein beklemmendes Selbstporträt eines Enthemmten. Aber Ludwig Hohl ist weder Exhibitionist noch Selbstdarsteller. „Die seltsame Wendung“ ist sprachlich von derart ungewohnter Wucht, Direktheit, dass dieser sprachliche Tauchgang in menschliche Abgründe zu einem bizarren Sprachbild wird, das in seiner Intensität absolut einzigartig ist, heute und erst recht damals, als Ludwig Hohl das Manuskript verfasste. Selbst der Rausch wird zur Sprachorgie. Obwohl einem die Alkoholfahne aus dem Text entgegenzuschwappen scheint, ist „Die seltsame Wendung“ ein Tripp, ein kolossales Sprachmonument. Ludwig Hohl schreibt hart und kompromisslos, schonungslos sich selbst und allen zukünftigen LeserInnen gegenüber. Ein Sprachexperiment, das Ludwig Hohl an der eigenen Biographie entlang durchexerziert.
Wir begleiten den Gebeutelten durch das Paris der Zwischenkriegszeit, von Kneipe zu Kneipe, von Absturz zu Absturz, vom wilden Eintauchen in aufflammende Schaffensschübe hinein in Ängste beklemmender Verlassenheit. Die Sprache selbst ist der Rausch, ein hundertseitiges Taumeln in Zwischenwelten!
Ob Ludwig Hohl, der das Manuskript nach etlichen Versuchen der Überarbeitung, mehrmaligem Verwerfen und offensichtlicher Teilvernichtung des Manuskripts mit der Veröffentlichung glücklich geworden wäre, bleibt dahingestellt. Wertvoll macht das Buch die Fülle an Ergänzungen, seien es Fotografien der herausgerissenen Manuskriptseiten, ein erhellendes Nachwort von Anna Stüssi, einer editorischen Notiz oder Selbstkommentaren Ludwig Hohls. Mit Sicherheit ein grossartiges Zeugnis!
Ludwig Hohl wurde am 9. April 1904 im schweizerischen Netstal im Kanton Glarus geboren. Nach Aufenthalten in Frankreich, Österreich und Holland, wo sein Hauptwerk «Die Notizen» entstand, lebt und arbeitete er als Schriftsteller über vierzig Jahre in Genf. Hohl war fünfmal verheiratet. Der dritten Ehe entstammt eine Tochter. Ludwig Hohl starb am 3. November 1980 in Genf.
Ich werde dich eines Tages fragen, wer mein Vater war. Vielleicht bei einem Abendessen zwischen zwei Bissen, oder vielleicht zwischen Tür und Angel. Du wirst dich im Stuhl zurücklehnen, das Essen sorgfältig kauen. Du wirst es so lange kauen, bis du eine Antwort gefunden hast. Eine für mich zugeschnittene Antwort, oder vielleicht sogar die ganze Wahrheit auf einmal. Happen für Happen. Vielleicht wirst du mich fest an dich drücken und mit feuchten Augen den Spuren der Regentropfen folgen, die an die Fensterscheibe prasseln. Der Regen wird dich erinnern. An Zeiten, in denen es häufig regnete und niemand auf der Strasse tanzte und sich darüber freute. Vielleicht wirst du mir, wie schon so oft, von den Jahreszeiten erzählen. So klar und prägnant wie sie einst waren. Jede für sich.
Sie werden wiederkommen, wirst du mir sagen.
Die Erde wird sich erholen, wirst du mir mit Nachdruck versichern. Jetzt, da viele von uns fort sind. Ganz bestimmt.
Du wirst deine Hände verwerfen, dir eine Strähne aus dem Gesicht streifen und dich entschuldigen. Entschuldigen, dass du abgeschweift bist. Ich werde mich fragen, ob du das tatsächlich bist, oder du einfach deine Gefühle vor mir verbergen wolltest. Vielleicht kam Sehnsucht über dich, wie schon so oft. Das Heimweh nach einer alten Heimat. Ein sicheres Zuhause, das schon längst keines mehr war.
Vielleicht hat der Regen mit meinem Vater zu tun.
Ich weiss, dass er ihn am Tag seiner Abreise das letzte Mal sah. Er konnte ihn nicht spüren, nicht riechen, vielleicht nicht einmal hören. Nur sehen. Und sich erinnern wie es war. Vielleicht, werde ich mich fragen, vielleicht hielt er einen Moment inne, um sich diesen einen Augenblick einzuprägen. Ich werde mich fragen, ob er auch heute noch an diesen Moment zurückdenkt, wenn er die feinen Eiskristalle auf dem roten Staub sieht. Sieht, wie sie aus dünnen Wolken niederrieseln.
Lautlos und sanft.
Vielleicht wird ihm ein Gedanke kommen.
Lautlos und sanft.
Ich werde dich fragen, ob er von mir gewusst hatte. Ob er mich wortlos beiseitegeschoben und heimlich in die Sterne getragen hatte. Du wirst lächeln, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, und meine Hand streicheln. Vielleicht wirst du auch deinen Blick senken und nervös an den Knöpfen deines Kleides herumspielen. Vielleicht wirst du schweigen, werden wir schweigen. Darüber, was ich schon weiss, oder auch nicht. Ob ich dir vom Brief erzählen soll, werde ich mich fragen. Abgegriffen und versteckt in deiner Schublade. Eine letzte Nachricht an dich, bevor mein Vater in die neue Welt hinaustrat.
Bevor der Regen eine Erinnerung wurde.
Bevor wir eine Erinnerung wurden.
Du wirst den Brief erkennen. Wirst vorsichtig eine Hand drauflegen, wie ein schützendes Schild. Du wirst mir seinen Inhalt erzählen. Wirst mir erzählen, was ich schon weiss und was nicht. Von der Erde, wie sie vor langer Zeit war, und wie sie damals war, als es für meinen Vater das letzte Mal regnete. Und wie sie nach der grossen Reise der Männer und Frauen war.
Wie sie nach meinem Vater war.
Vielleicht wirst du mir beichten, dass du hättest mitgehen können. Dass mein Vater hätte bleiben können. Dass eure Hoffnungen in unterschiedliche Richtungen liefen. Deine zur bekannten Welt, der Erde. Seine zu den Sternen, in die Weiten der Galaxie.
Ob du mich wortlos an ihm vorbeigeschoben hattest, werde ich dich fragen. Ob du mich heimlich in dir getragen hattest.
Wirst du es mir je sagen?
Ich lebe auf einem blauen Planeten, der einst noch blauer war. Den ich so nicht kenne und vielleicht so nie kennen werde. So wie ich auch meinen Vater nie kennen werde, fern auf einem roten Planeten.
Wir müssen reden, du und ich. Eines Tages.
Noreen Sheikh, geboren 1989 in Rorschach SG, lebt mit ihrer Familie in einem 1000-Seelendorf im Kanton St. Gallen. Die begeisterte Amateur-Balletttänzerin widmet sich nebst dem Muttersein nun ganz dem Schreiben. Sie absolvierte an der Migros Klubschule St. Gallen den Kurs Drehbuch schreiben. Derzeit besucht sie den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik (SAL) in Zürich und arbeitet an ihrem ersten Roman. Ihre Geschichten handeln von alltäglichen Tragödien, von Höhen und Tiefen, die das menschliche Dasein ausmachen.
Herta Müller wird wie eine Königin in den mit viel Marmor ausstaffierten Raum im ehrwürdigen Hauptgebäude der Uni Zürich geleitet. Ein krasser Gegensatz für eine Frau, die vor ihrer Vertreibung aus Rumänien ganz unten war, verraten und einsam, von einem kollektiven Verleumdungs- und Lügenapparat systematisch in die Enge getrieben.
Wird man verfolgt und mit dem Tod bedroht, wenn man «gestorben werden kann», wird man sich bewusst, dass das Leben ein Geschenk ist, sagte Herta Müller im Gespräch über ihr neustes Buch «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», organisiert durch das Zentrum für literarische Gegenwart Zürich. Leben wird subversiv, weil das Leben selbst in Frage gestellt wird. In einem totalitären Staat, in jedem totalitären Staat wird bewusstes Leben zu einem politischen Leben. Und so trägt jede Frage, die Herta Müller in ihren Büchern oder in Gesprächen zu beantworten versucht, eine starke politische Komponente. Leben wird automatisch zu einem politischen Leben, das sich permanent gegen den Wall an Verboten stemmen muss. Man kann verweigern und ausblenden, bis man dann doch irgendwann konfrontiert wird und sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss. «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist eine Sammlung von Essays und Reden, die zusammen mit dem titelgebenden «Monolog» zur niedergeschriebenen Auseinandersetzung mit staatlich inszenierter Unterdrückung werden, dem immer wiederkehrenden Thema der Autorin.
Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27848-6
Herta Müller, Verfolgte, Bestrafte und Drangsalierte wurde schon vor ihrer Flucht nach Deutschland eine Einsame, eine Ausgeschlossene, eine von Lügen und Neid Eingeschlossene. Unvorstellbar, dass die Frau, die auch über ein Jahrzehnt nach ihrem Nobelpreis Säle füllt, einst ihren Arbeitsplatz als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik wegen Verleumdung und strategischen Verdächtigungen räumen und diesen ins Treppenhaus der Firma verlegen musste, um ihre Arbeit nicht ganz zu verlieren. Totalitäre Systeme, ob Rumänien damals oder all die totalitären Staaten heute, bedienen sich stets der Lüge, der Fälschung, der Verdrehung. Man wird effizient zum Einzelnen gemacht, Lüge wird zum System. Die Behauptung, sie sei Staatsfeindin, Schwarzmarkthändlerin und prostituiere sich, wird Mittel zum Zweck. Gelogenes und Erfundenes wird Teil eines Unrechtssystems. Fatal ist, dass damit selbst die Wahrheit Schatten bekommt. Man ist sich nie sicher, ob man auf Wahrheit oder Lüge trifft. Und diese permanente Verunsicherung erzeugt Angst.
Verfolgung wurde in den Jahren in Rumänien zu einem dauernden Kampf, den die Autorin immer in Isolation und Angst abdrängte, umgeben von Opportunisten, besonders schmerzhaft dann, wenn selbst die Familie, die Eltern zum langen Arm des Staates wurden.
«Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist ein Buch, das Beklommenheit auslöst, eine Beklommenheit, von der sich die Autorin nicht lösen will und kann, eine Beklommenheit, die angesichts der globalen Probleme noch vertieft. Verfolgung, grassierender Antisemitismus, offensichtlicher Opportunismus und Rassismus schlagen Wellen wie noch nie, erzeugen ein gefährliches, mehr und mehr explosives Gemisch mit unabsehbaren Folgen. Herta Müller macht Bilder von Unsäglichem, ohne Klischee, ohne Angegriffenheit. Seltsam genug, dass sich nicht nur die Literatur der Sprache bedient, auch die Politik, selbst die Diktatur. Darum ist Sprache stets Politik, Literatur Stellungnahme. Im Gespäch beschwört Herta Müller, dass gerade deshalb viel mehr über Literatur diskutiert werden müsste. Man ist verpflichtet, sich selbst zu erzählen, mündig zu werden. Ein Prozess, der nie zu Ende sein kann, für den die Nobelpreisträgerin noch immer schreibt und lebt.
Wenn ich schreibe, muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was mich von innen bedrängt. Ein Zustand, der die Angst stets miteinschliesst. Schreiben ist der Drang, sich nicht verlieren zu wollen, ein Kampf gegen die Hässlichkeiten.
Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis.
Deutschand kurz vor dem Mauerfall. Paul studiert Philosophie in Berlin, spürt dass sich etwas zusammenbraut und hat das unbedingte Bedürfnis, ein Teil dieses Etwas zu sein. „Liebe und Revolution“ beschreibt eine, aus der Gegenwart betrachtet, fast unwirklich erscheinende Zeit des Aufbruchs.
Die Gegenwart ist unbarmherzig, das Gefühl einer kollektiven Machtlosigkeit scheint sich wie ein lähmender Virus auszubreiten. Mit den Protestbewegungen in Ostberlin vor dem Mauerfall, dem Mauerfall selbst, den Befreiungskämpfen in Nicaragua und El Salvador damals, glaubte man noch an die Macht der Revolution, die Macht der Liebe für eine Sache. Auch Paul nimmt diese Kraft mit und entschliesst sich im Sog von konspirativen Lesekreisen und aktivistischen Zirkeln nach Nicaragua zu reisen, um bei Aufbauprojekten mitzuarbeiten. Es ist der unbedingte Wunsch, Teil einer Bewegung zu werden, dazuzugehören, nicht bloss Zuschauer zu sein. Obwohl er mit Beate in Berlin zum ersten Mal das Gefühl hatte, etwas vom Gefühl der grossen Liebe gelebt zu haben, fliegt er ins Land der sandinistischen Revolution, nicht mit der Absicht, eine Waffe in die Hand zu nehmen, sondern bei Bau- und Aufbauprojekten mitzuhelfen.
«Er lebte mit der schmerzlichen Gewissheit, mit allem zu spät zu kommen, vor allem aber mit dem Begreifen.»
Nach einem halben Jahr kommt er zurück, ein Stück weit desillusioniert und von vielen seiner Hoffnungen verloren. Nicht nur, dass die Revolution in jenem fernen Land längst sandinistischen Sand im Getriebe hatte, man sich in Positionen eingegraben hatte, Parolen zu leeren Floskeln wurden. Jene Frau, die er dort kennen und lieben lernt, die im Gegensatz zu ihm zu allem entschlossen ist, die er im Bus wenigstens ein Stück weit näher an die Front begleitet, wird umgebracht und Paul, nur durch Zufall der Katastrophe entronnen, nimmt das Trauma dieser Bluttat mit zurück nach Deutschland.
Jörg Magenau «Liebe und Revolution», Klett-Cotta, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-608-98748-5
Aus Nicaragua zurück trifft er Beate wieder. Mittlerweile arbeitet sie bei der FAZ und versucht möglichst nahe an jenem Geschehen zu sein, dass Berlin kurz vor dem Mauerfall in ein brodelndes Epizentrum verwandelt. Aber so sehr Paul von den Geschehnissen in der Hauptstadt mitgerissen wurde, konfrontiert ihn Beate mit dem, was er mit seiner Reise nach Mittelamerika zurückgelassen hatte. Er, der aufbrechen, er, der sich einbringen wollte, verliess unwissend eine schwangere Frau. Beate, entschlossen, sich nicht zu einer Zurückgelassenen machen zu lassen, liess das Kind in ihrem Bauch wegmachen, eine Nachricht, die Paul erschüttert. Einmal mehr fühlt er sich nicht dort, wo man ihn gebraucht hätte, nicht bei Beate damals, nicht bei jenem Kind, aber auch nicht dort, am Nerv des Lebens.
«Dies war eine Zäsur, ein Schnitt durch die Zeit, durch den Raum. Die Mauer war ein Raumteiler aus Beton, aber auch ein Damm gegen das Verstreichen der Zeit, ein erzwungener Stillstand…»
„Liebe und Revolution“ ist eine Liebesgeschichte, eine Liebesgeschichte, die fast alle Ernüchterungen mit einschliesst. Eine sehnsüchtige Liebesgeschichte eines Mannes auf der Suche nach dem unmittelbaren Leben, nach einem Mittelpunkt, einem Platz im Leben. Paul ist auf der Suche nach dieser Liebe. „Liebe und Revolution“, auch wenn es noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert her ist seit den Geschehnissen, in die der Roman eingebette ist, ist ein historischer Roman. So wie der Aufbruch damals in Mittelamerika längst geglättet ist, so ist vom Aufbruch mit der Wende nur noch wenig zu spüren. Was damals wabberte, ist institutionel verschraubt. So wie der Aufbruch in einer Liebe schnell von Gewohnheiten in Form gebracht werden will. Jörg Magenaus Roman verschränkt nicht nur im Titel zu seinem neuen Roman Liebe und Revolution, Revolution und Liebe.
Bestechend an Magenaus Roman ist auch die Nähe, die er erzeugt. Magenau spinnt ein feines, mehrschichtiges Erzählnetz, setzt sein Geschehen sowohl in grosse, äussere Zusammenhänge, wie in jene einer ganz engmaschigen, labilen menschlichen Psyche. Man erkennt im Roman die Betroffenheit des Autors deutlich. Magenau erzählt nicht aus distanzierter Abgeklärtheit. Es ist, als ob der Roman ein 300 Seiten langer Erklärungsversuch ist; Was passierte damals? Was ist geblieben? Wenn es Wenderomane gibt, dann ist Jörg Magenau mit „Liebe und Revolution“ ein ganz besonderer gelungen!
Interview
Ich bin von ihrem Roman schwer beeindruckt. Klar, es ist ein Roman über Auf- und Umbrüche, ein Liebesroman, ein grossfomatiges Zeitbild. Aber sie tauchen in einer Art und Weise mitten ins Geschehen, die mich selbst taumeln lässt. Die mich auch ziemlich heftig reflektieren lässt, wie sehr ich im Laufe meines Lebens an meine „kleinen“ Probleme gebunden war und gar nicht erfasste, was um mich herum geschah und geschieht. Ist der Roman auch ein ganz persönlicher Versuch des Ordnens und Einordnens? Jedes Erzählen ist ein Versuch, nachträglich zu ordnen, zu sortieren, zu konstruieren. Es kann gar nicht anders sein, weil jede Erzählung einen Anfang und ein Ende in der Zeit setzt und dazwischen nur das zur Sprache bringt, was irgendwie zur Sache gehört. Alles andere, also fast alles, wird ausgeblendet. Da das Erzählen immer erst im Nachhinein einsetzt, ist zumindest die zeitliche Distanz zum Geschehen vorausgesetzt, also eine Art Draufsicht. Das gilt auch dann, wenn die Erzählinstanz das verhindern möchte und, wie in meinem Roman, so dicht bei der Hauptfigur bleibt, dass sie nur ganz selten über deren unmittelbares Erleben hinaussieht. Eines der Themen, um die es mir geht, hat damit zu tun: Paul ist einer, der in der Zeitgeschichte drinsteckt, der dabei sein will, der aber immer im jetzt gerade gegenwärtigen Moment gefangen bleibt, ohne zu verstehen, was geschieht. Weder in der Nacht des Mauerfalls am 9. November 1989 in Berlin, noch im Jahr 1987 in Nicaragua begreift er, was um ihn herum vor sich geht und wohin das alles führen wird. Aber genau darin, in diesem Nicht-Erkennen, besteht zu weiten Teilen das menschliche Dasein, auch wenn wir uns gerne vormachen, den Überblick zu bewahren und wenigstens aufs eigene Leben bezogen Superchecker zu sein. Dabei verschlägt es einen im Leben immer wieder ganz woanders hin, als man gedacht hätte, und meistens kapiert man die politischen Zusammenhänge, in denen man existiert, erst zehn Jahre später und hat nochmal zehn Jahre später wieder eine ganz andere Einschätzung. Trotzdem leben wir unsere Leben unausweichlich in der nichtdurchschauten Gegenwart. In revolutionären Situationen wie in meinem Roman, in denen die Verhältnisse in Bewegung geraten, ist das besonders deutlich spürbar.
Paul hadert mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören, irgendwie ausgeschlossen, aussen vor zu sein. Ist das nicht ein Problem ausschliesslich der Menschen des sogenannten Informationszeitalters? Mit der Individualisierung scheint der Mensch immer mehr an seiner Bedeutungslosigkeit zu leiden. Weshalb sind wir sonst gezwungen, dauernd Selfies von uns zu machen und uns auf allen (un)möglichen Kanälen einzumischen.
Das stimmt. Mit den Möglichkeiten des Informationszeitalters wachsen auch die Illusionen der Zugehörigkeit und die Freude an narzisstischer Selbstinszenierung. All die „Freunde“ oder „Follower“, die man auf den Social Media-Kanälen gewinnt, erzeugen eine virtuelle Gemeinschaft, die nicht völlig irreal ist und die ein enormes Suchtpotential besitzt, weil sie Aufmerksamkeit verschenkt. Da zerfliessen die Grenzen zwischen sehr persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten, und es entsteht etwas Neues, das sich in seinen Folgen auch noch nicht wirklich begreifen lässt. Vielleicht in zehn Jahren. Wie verändert sich das Denken einer Menschheit, die lieber twittert als komplexe Bücher zu lesen? Sich lieber mit Einzelerregungen befasst als mit grösseren Sinnzusammenhängen? Das Gefühl der Unzugehörigkeit aber war in den 80er Jahren bestimmt nicht kleiner als heute. Für Paul, der als Student nach Westberlin kommt, ist die Unzugehörigkeit in der Stadt ebenso wie in der riesigen Freien Universität aber selbst gewählt. Diese Unzugehörigkeit ist der Ausgangspunkt für all das, was damals „Engagement“ hiess. Unzugehörigkeit bedeutet ja auch Ungebundenheit, Freiheit. Und aus dieser Freiheit heraus wächst sein Bedürfnis, an etwas Teil zu haben und die Welt zu verändern. Das gelingt ihm nicht zu Hause in Berlin, sondern in der Ferne, in Lateinamerika. Dort kann er Revolution als Teilhabe erleben, egal wie sinnvoll oder sinnlos das ist, was er tut. Das Ende des Sozialismus, das vielleicht weniger Revolution als Konkurs eines Staatsunternehmens war, kommt ihm dagegen als etwas Fremdes entgegen, das er wie ein Jahrmarktspektakel betrachtet.
Liebe ist genauso wenig Zustand wie Revolution. Das wurde mir mit der Lektüre ihres Romans mehr als bewusst. Beide brauchen Feuer, die brennen und Hitze erzeugen. Aber kein Feuer brennt ewig. Wie viel Ernüchterung schwingt in ihrem Roman mit?
Gar keine. Ich finde, es ist ein optimistischer Roman. Dass etwas schiefgeht, in der Liebe genauso wie in der Politik, ist ja kein Argument dagegen, es zu probieren. Was Paul ausmacht, ist – bei aller Zögerlichkeit und Ahnungslosigkeit, die ihn charakterisieren – seine Bereitschaft, sich einer Situation auszusetzen, etwas zu erleben, zu lernen. Diese Offenheit zeichnet ihn aus. In Nicaragua lernt er, dass die Sache mit der Weltveränderung nicht so einfach ist, dass er aber, indem er dort ist und mitwirkt, sich selbst verändert, und dass die Selbstveränderung ja auch eine Form der Weltveränderung ist – vielleicht sogar die einzige, auf die es wirklich ankommt. So erlebt er auch die Liebe, weil zu lieben nichts anderes bedeutet als die Bereitschaft, sich verändern wollend verändern zu lassen.
Angesichts der globalen Probleme ist die fehlende Bereitschaft, wirkliche Veränderungen herbeizuführen, erstaunlich. Sei es bei gesellschaftlichen, politischen oder ökologischen Herausforderungen. Paul erscheint mir dabei exemplarisch. Paul reist nach Nicaragua, will Teil einer Bewegung werden. Wann wird aus Entschlossenheit Selbstzweck?
Paul ist gar nicht entschlossen. Das schützt ihn vermutlich. Er ist im Unfertigen, im Provisorischen, im Werden beheimatet. Aber er bewundert Entschlossenheit bei anderen in seiner Nähe, wahrscheinlich deshalb, weil sie ihm fehlt. Beate und Sigrid, die beiden Frauen, die ihn faszinieren, sind sehr viel konsequenter als er. Hartmut, der Chef der Brigade, auch. Der ist nun wahrlich ein Mann der Tat. Die Gefahr bei allen Veränderungsbemühungen, in der Liebe ebenso wie in der Revolution, besteht in der Erstarrung, im Beharren auf festen Positionen, in der Ritualisierung der eigenen Handlungen. Das erleben wir derzeit zum Beispiel bei den Klima-Aktivisten, die sich auf Strassenkreuzungen festkleben. Wenn das Ziel die Mittel rechtfertigt, ohne sie in Frage zu stellen, dann schlägt das Engagement in Selbstzweck um. Oder noch schlimmer: in Selbstbefriedigung. Dann macht man weiter, auch wenn man ahnt, dass sich das eher kontraproduktiv auswirken wird. Weil es sich besser anfühlt, etwas zu tun, als nichts zu tun. Und vielleicht stimmt das ja sogar.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ihr Roman in ihrem Umfeld ziemlich Wellen geschlagen hat. Die Generation, die beim Mauerfall zwischen zwanzig und dreissig war, ist heute im Pensionsalter. Wellen der Erinnerung, Wellen der Rechtfertigung. Warum wurde nicht, wofür man damals kämpfte!
Dafür muss man sich nicht rechtfertigen. In der Menschheitsgeschichte ist es noch nicht vorgekommen, dass das Resultat einer Bewegung den zugrundeliegenden Absichten entsprochen hätte. Das ist eben der Lauf der Geschichte, dass die Einzelnen Dinge in Gang setzen, jeder etwas anderes will, das Ergebnis aber nie dem Einzelwillen und auch nicht der schlichten Summe aller Willensanstrengungen entspricht. Was Nicaragua betrifft, so ist aus der sandinistischen Revolution die Herrschaft eines korrupten Familienclans geworden, das Land befindet sich heute in einer fürchterlichen Lage und gehört nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. Das spricht aber keineswegs gegen die internationale Solidarität und die Unterstützung der Linken in den 80er Jahren. Nur lag deren Bedeutung auf einem anderen Feld, weniger im politischen als im sozialen. Dass Solidarität dort spürbar wurde, dass Freundschaften entstanden und teilweise bis heute hielten, dass Gemeinschaft erlebbar wurde, das ist für alle Beteiligten eine wichtige Erfahrung gewesen. Paul erlebt das als Liebe zu Land und Leuten. Das ist nicht wenig, auch wenn das politische Experiment grandios gescheitert ist. Das gilt übrigens genauso für die Bürgerbewegung in der DDR und der Nachwendezeit. Auf solchen Erfahrungen lässt sich dann in anderem Kontext wieder aufbauen. In meinem Roman kommt immer wieder die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss vor als zentrale Lektüre in jenen Jahren. Weiss beschreibt gut marxistische Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und als endlose Kette von Niederlagen der Unterdrückten. Und er fragt danach, warum trotzdem aus allen Niederlagen so etwas wie Hoffnung resultiert. Das hat, meine ich, etwas mit der Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit zu tun, mit Zusammengehörigkeit, mit Solidarität. Oder, individuell betrachtet, eben mit Liebe. Deshalb heisst das Buch auch so, „Liebe und Revolution“. Die Liebe steht dabei ausdrücklich an erster Stelle.
Jörg Magenau, geboren 1961 in Ludwigsburg, studierte Philosophie und Germanistik in Berlin. Er ist einer der bekanntesten deutschen Feuilleton-Journalisten und schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Bei Klett-Cotta erschien die literarische Reportage «Princeton 66» und zuletzt sein erster Roman «Die kanadische Nacht» (2021).
Seit einer Woche bereitet Josephine das Weihnachtsfest vor. Alles muss seine Richtigkeit haben. Paul, ihr Mann, legt großen Wert darauf. Heute an Heiligabend wird mit ihrem Mann Paul und den beiden Kindern Maria und Thomas gefeiert. Am ersten Weihnachtstag mit ihren Eltern und Geschwistern und am zweiten Weihnachtstag mit Pauls großer Familie. Im ganzen Haus duftet es nach Zimt, Orangen und frisch gebackenem Konfekt. Überall sind Nippes aufgestellt. Selbstgebastelte Sterne hängen von der Decke und an den Fenstern sind Klebebilder angebracht. Ab Mitte November bis Ende Dezember läuft beständig Weihnachtsmusik, dass einem die Ohren abfallen.
Nach dem Mittag geht Paul mit den Kindern auf dem Markt, um einen Tannenbaum auszusuchen. Das hat eine lange Tradition. Schon Paul ging mit seinem Vater auf Tannenbaumschau. Dieser wiederum mit seinem Vater. Das reicht weit zurück und Paul ist stolz darauf. Josephine holt derweil den Schmuck vom Dachboden. Sie entscheidet sich für die goldenen Kugeln. Die Kugeln in Silber und Bordeaux bleiben wohl verstaut in ihren Kisten. Die von Großvater gezimmerte Holzkrippe samt Holzfiguren und den Baumschmuck stellt Josephine im Wohnzimmer auf das Sofa. Sie steckt gerade die letzte rote Kerze in den Kerzenhalter, als die Tür auffliegt und Maria hereinstürmt. Sie bringt Kälte und die ersten Schneeflocken mit. Alle befürchteten, dass es dieses Jahr erneut grüne Weihnachten geben würde. »Mama! Wir haben einen riesen Baum ausgesucht. Du wirst staunen.« Ihre Wangen und die Nase sind rosig ab der Kälte. Paul und Thomas bugsieren das Ungetüm ins Wohnzimmer. »Eine Blautanne hatten wir noch nie. Das habt ihr toll gemacht.« Josephine drückt beide Kinder an sich und gibt Paul einen Kuss. »Möchtet ihr eine heiße Schokolade, bevor ihr die Tanne schmückt?« »Ou ja!« Die Kinder flitzen in die Küche und eine lachende Josephine folgt ihnen. Paul bleibt zurück und befreit die Tanne aus dem Netz. Nach der Stärkung kehren sie lachend ins Wohnzimmer zurück. Alle bleiben sie am Türrahmen stehen und bestaunen die Tanne, deren Eleganz erst jetzt zum Tragen kommt. Paul kniet unter den Zweigen und justiert den Stamm im extra dafür vorgesehenen Ständer. »Steht sie gerade?«, fragt er in die Runde. »Perfekt!«, echot es im Chor. Maria inspiziert die Kiste und rümpft umgehend die Nase. »Ich will nicht die goldenen Kugeln!« Sie verschränkt die Arme und stampft mit dem Fuß auf. »Ich will die Bordeauxfarbigen.« »Entschuldige Maria, aber ich dachte, wir wechseln jedes Jahr die Farbe. Das hatten wir gestern besprochen. Mit der Zeit wird es langweilig, wenn wir immer dieselben nehmen.« »Mir egal. Ich will Bordeaux.« Josephine möchte über die Weihnachtszeit kein nörgelndes Kind. Zumal ihr Ältester bis jetzt noch keine Flausen im Kopf hat. Daher holt sie die gewünschten Kugeln. Wenige Minuten später kehrt sie zurück. »Die Farbe der Kerzen passt nicht zu den Kugeln.« Die fünfjährige Tochter stemmt die Hände in die Hüfte und schiebt die Unterlippe vor. »Ich habe keine anderen. Tut mir leid. Wir müssen mit diesen vorlieb nehmen, ob du willst oder nicht.« Sie wirft hilfesuchend einen Blick zu ihrem Mann, doch der verlässt im selben Moment den Raum. Toll! »Ich will Glitzer.« »Du kannst sie mit deinen Zauberstiften anmalen.« »Juhuu!« Hüpfend springt die Kleine davon, um die Stifte zu holen. Glück gehabt, denkt sich Josephine. Thomas hängt die Kugeln auf, welche Maria mittlerweile vergessen hat. Zu beschäftigt ist sie mit dem Bemalen der Kerzen. Zufriedene Minuten, bei denen das wohlige Weihnachtsgefühl in Josephine aufflammt. Leise verlässt sie das Zimmer, um sich einen Tee zu gönnen. »Der Josef gehört nicht dahin. Da kommen die Könige. Mamaaaaa! Thomas macht alles falsch. Mamaaa!« »Nein, das ist korrekt.« »Was ist den nicht okay?« Josephine kniet sich zu den beiden Kindern hin. Die vorherige Idylle dauerte gerade mal eine Tasse Tee aufbrühen. »Kuck doch.« Marias Patschhändchen zeigen auf den Josef. »Ja, der steht nicht an den für ihn vorgesehenen Platz.« Sie blickt ihren Sohn an. Sein spitzbübisches Grinsen verrät ihn sofort. »Maria, du darfst die Figuren umordnen. Danach machen wir uns frisch und ziehen die neuen Kleider an.«
Um fünf Uhr stehen alle chic angezogen vor dem Weihnachtsbaum. Die Geschenke, welche mit Schleifchen und buntem Papier um die Wette glitzern, sind geschmackvoll unter dem Baum verteilt. »Bevor wir die Geschenke öffnen, möchte ich, dass wir ein Lied singen. Oder trägst du, Maria, zuerst ein Stück mit der Blockflöte vor?« »Ich will nicht!« »Na gut, dann singen wir.« Josephine räuspert sich und stimmt ›stille Nacht, Heilige Nacht‹ an. »Halt!«, ruft Thomas. »Ich will mit meiner Gitarre ein Lied vortragen.« »Gerne.« »Dann spiele ich Blockflöte.« Thomas stimmt die ersten Noten an und Maria fängt kurz darauf an. Natürlich nicht dasselbe Lied. Das wäre zu schön gewesen. »Kinder, Kinder. Bitte eines nach dem anderen.« »Ich zuerst!« »Nein, ich. Mami hat mich zuerst gefragt.« »Aber du wolltest nicht und nun bin ich dran.« »Neeeeiiiiinn!« Thomas zieht an Marias Haaren und sie fängt an zu weinen. »Könnt ihr nicht an einem einzigen Abend ohne Streitereien auskommen?«, fragt Paul. »Ich habe gar nichts gemacht«, meint Thomas. Der zwei Jahre älter als seine Schwester ist. »Warum weint dann Maria?« Paul blickt von einem Kind zum anderen. Er zuckt mit den Schultern. »Was riecht hier verbrannt?« Ihr Mann streckt seine Nase in die Höhe und schnuppert. Umgehend ist der Streit vergessen. »Oh nein!« Josephine eilt in die Küche. Ein bissiger Rauch empfängt sie. Sie hält sich den Ärmel vor Mund und Nase. Derweil öffnet sie mit der freien Hand den Backofen und zieht den Braten – wenn man es noch so nennen darf – heraus. »Mist!« Mit verschränkten Armen steht sie vor dem Kohlenstück. »Und was essen wir nun?« Paul ist zu ihr getreten. »Entschuldige. Das ist mir noch nie geschehen.« Josephine fährt sich durch die Haare. »Wir müssen uns wohl mit den Beilagen begnügen.« Sie versucht, zu lächeln, was eher einer Grimasse gleichkommt. »Aber der Braten hat Tradition.« »Meinst du, das weiß ich nicht?«, gibt sie schroff zurück. »Du brauchst mich nicht anzuschnauzen.« »Entschuldige bitte. Ich …« »Mamaaaaaa! Der Baum brennt.« Wie von Taranteln gestochen, rennen sie ins Wohnzimmer. Während sie das Sofa passieren, greift Josephine reflexartig zur Decke und wirft sie über den Baum. Dieser verliert sein Gleichgewicht und fällt zu Boden. Abgebrochene Kerzenstücke und Kugelteile schauen unter der Decke hervor. »Meine schönen Kerzen sind kaputt«, schreit Maria. »Du hast die Kerzen und die Kugeln kaputt gemacht.« Ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen. Unglaublich, was das Kind an Augenpipi produzieren kann. »Entschuldige, aber sonst hätte das Wohnzimmer Feuer gefangen. Hättest du das gewollt?« »Und was ist mit den Geschenken?«, will Thomas wissen. »Paul, schau bitte nach.« Josephine ist zu aufgewühlt. Die Worte lösen ihn aus seiner Starre. Er hebt die Decke an und holt die Pakete hervor. »Sind alle ganz. Zum Glück.« »Gut.« Josephines Herzschlag beruhigt sich. Immer wird an ihr herumgenörgelt, obwohl sie den gesamten Haushalt zusammenhält. Sie fühlt sich leer. Würde sich am liebsten ins Bett verkriechen. Aber sie muss stark bleiben. Stark für zwei Kinder und ein großes. »Ich habe Hunger. Wann gibt es zu essen?«, will Thomas wissen. »Ich habe auch Hunger«, jammert Maria. »Was gibt es denn nun? Der Braten ist verkohlt. Nur Beilagen ist langweilig«, zetert Paul. »Pizza?« »An Heiligabend?« Thomas sieht sie mit großen Augen an. »Warum nicht?« »Was ist mit der Tradition?«, will ihr Mann wissen. »Die holen wir Morgen und Übermorgen nach.«
Die Tanne steht wieder an ihrem Platz. Die versengte Seite nach hinten gekehrt und diesmal ohne Kerzen. Davor ist eine Decke ausgebreitet. Darauf steht der Salontisch mit vier Fußschemeln. Josephine legt gerade die Teller und das Besteck auf den Tisch, als es klingelt. Die Kinder eilen zur Tür. Pizza an Heiligabend, wann gab es das denn? »Würdest du bitte die Rechnung begleichen?« »Was?« »Die Rechnung.« »Natürlich.« Paul erhebt sich und geht zur Tür. Die Kinder tragen stolz die Kartonschachteln ins Wohnzimmer. »Riech mal Mama.« »Lecker.«
Die Pizzen sind gegessen. Nun warten die Geschenke, die während des Essens von neugierigen Kinderaugen taxiert wurden. »Ich zuerst!« »Nein, ich zuerst.« »Kinder! Zuerst die Mama. So wie wir es besprochen haben.« Perplex sieht Josephine zu ihrem Mann. Noch nie durfte sie als Erste ein Geschenk auspacken. Selbst an ihrem Geburtstag haben die Kinder für sie die Präsente ausgepackt. Thomas überreicht ihr eine kleine Schatulle. »Mama, ich möchte mich bei dir bedanken und entschuldige mich, dass ich nicht immer lieb zu dir bin.« Josephines Augen glänzen. Sie öffnet die Schatulle und entnimmt einen goldenen Anhänger in der Form eines T. »Vielen lieben Dank mein Schatz. Lass dich drücken.« »Nun ich!« Maria legt ihr sorgfältig eine selbstgebastelte Schachtel aus Papier in die Hand. »Mami. Danke, dass du mir das Essen kochst und die Wäsche machst. Und mich badest und mir vorliest.« Josephine bekundet Mühe, die Tränen zurückzubehalten. »Und ich versuche, nicht mehr böse zu werden. Entschuldige.« »Mein Schatz.« Sie drückt den kleinen Wonneproben an sich. »Du hast mein Geschenk noch nicht geöffnet!« »Sofort.« Zum Vorschein kommt erneut ein goldener Anhänger. Aber diesmal als M. Die Tränen bahnen sich ihren Weg. Glücklich schließt sie die Kinder in die Arme. »Mein Liebling.« Paul kniet vor sie hin. Die Kinder zwischen ihnen. »Ich entschuldige mich bei dir, dass ich dich zu wenig unterstütze und du den Haushalt alleine meistern musst. Ich weiß das sehr zu schätzen. Auch wenn ich es nicht immer zeige. Ich hoffe, du weißt das ganz tief in dir drinnen.« Er räuspert sich. »Kinder, darf ich kurz die Mama umarmen? Ihr dürft nachher wieder.« Murrend schälen sie sich aus Josephines Armen. »Mein Liebling. Als kleine Aufmerksamkeit möchte ich dir diese Kette umlegen.« Er öffnet eine größere Schatulle. Zum Vorschein kommt eine goldene Kette mit zwei Anhängern, J und P, sowie fünf kleinen Herzen. »Würdest du mir bitte die beiden Geschenke der Kinder überreichen?« Paul fädelt die Anfangsbuchstaben und die Herzen geschickt auf. Am Ende ist ein Herz, ein Buchstabe, ein Herz, ein Buchstabe und so weiter aufgereiht. Paul legt Josephine die Kette an, zieht sie in eine feste Umarmung und küsst sie zärtlich. »Danke«, haucht sie, immer noch um Fassung ringend ab der Überraschung. »Ich liebe dich mein Liebling.« »Ich dich auch.«
Heidi Engel, 1984 geboren, ist verheiratet und hat ein Kind. Aktuell arbeitet sie als Leiterin Netze Gas und Wasser. Bisher hat Heidi Engel kein Buch veröffentlicht. Ihr erster Roman ist momentan bei BoD zur Bearbeitung. Die Veröffentlichung erfolgt noch im 2023.
(Alle Texte zum Thema «Tschuligung» sind Einsendungen nach einem Aufruf auf dieser Webseite. literaturblatt.ch begründet eine Nichtberücksichtigung der Texte nicht.)
Bitte lösen Sie vorsichtig die Hülle. Streichen Sie sie sanft glatt. Entnehmen Sie ihr drei bis fünf silbrig leuchtende Bänder. Merci! Betrachten Sie das Glitzern meiner Robe. Wie ich mich dankbar an einem grünen Ast herunterlehne. Erlöst von der Düsterheit eines Dachbodens. Meine Damen und Herren, bitte lassen Sie sich nicht allzu sehr blenden von meinem Kleid. Sein Glanz verkörpert auch Trübes. Keine übermäßige Eitelkeit. Aber einen üblen Umgang mit ‚Christbäumen‘ am 25. Dezember 1944.
Ja, ich weiß. Zum Leben gehört eine Vorder- und Rückseite. Drehen Sie also die Hülle mit der Gebrauchsanweisung um. Sehen Sie die bunte Landschaft mit Rentierschlitten, vorangetrieben von einem rundlichen Weihnachtsmann, sekundiert von einem Engel, über dem der Schriftzug ‚Eislametta‘ schwebt? Betrachten Sie das mir vertraute Milieu. Dann nach dem Entnehmen mein Glitzerkleid. Sein metallisches Leuchten. Denken Sie an die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts. An Tänzerinnen mit Bubiköpfen. An ihre mit Silberfäden durchwirkten Roben. An ihr Flimmern im Takt von Charleston beim Wechsel von X- zu O-Beinen. Oder an Liza Minnellis ‚Cabaret‘-Auftritt im Kit Kat Club in Berlin 1931, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Metallisch glänzen für kriegerische Zwecke, das tat ich zu meinem Bedauern 1944. Sonst glitzere ich jedes Jahr zwischen dem 24. und 25. Dezember nach dem Motto: gib und nimm. Lass strahlende Blicke auf Dir ruhen und spiegle sie dankbar zurück. Reziprok leuchten, darin steckt mein Glückselixier! Derart schaukle ich beseelt auf immergrünem Ast. Lasse mich sanft an ihm hinuntergleiten, meine Seele baumeln und vergesse die restlichen 350 bis 358 Tage im Dunkel eines Briefchens. Nicht nur meine papierene Behausung, auch mein Name hat zwei Seiten. Er ist genauso ambivalent wie mein Bildnis. Wer in Italien nach mir ruft, verlangt eine zweischneidige Klinge aus Metall oder Blech. Wer mich auf Deutsch anspricht, – in abgehacktem Tonfall mit der Betonung auf „T“ – rattert meinen Namen militärisch scharfklingig herunter: „la-me-ta“. Wer ihn in sonorem Singsang wie ein Mantra wiederholt, betont den rituellen Charakter. Betont meine alljährliche Wiederkehr zur Weihnachtszeit: „la-me-ta, la-me-ta, la-me-ta!“. Nur im Singular, da klingt er lapidar: ‚Lametta“. Sich reimend auf „die mit zwei Saitn, wett ma“. Schon nach Geburt auf endlosem Band, als Teil eines Aluminiumblechs, offenbarte ich zwei Seiten. Ein Schweizer Industrieller hatte mich, ein Jahrhundert bevor Charleston getanzt wurde, in der deutschen Grenzstadt Singen vom Stapel einer Walze gelassen. Eine Seite rau, die andere glänzend, wett ma. In den Fünfziger und Sechziger Jahren sah man mich von der glänzendsten Seite. Man stöberte auf Weihnachtsmärkten nach ‚Brillant Eislametta‘ oder Qualitäts-Stanniol-Lametta‘, zögerte zwischen silbrig, goldig oder metallblau. Nahm mich wie ein Juwel in die Hände. Legte mich nach Ende der Weihnachtsfeier „schön gebügelt in eine Schachtel“ zurück.
Danach sank mein Renommee in den Keller. Das bügelt sich nicht schön. Meine raue Seite kam zum Vorschein. Im Ersten Weltkrieg geriet mein Name in Gefangenschaft. In die einer Verballhornung. Man verspottete die „Lametta auf der Brust“ von Offizieren, ihren Narzissmus, das „Klimpern der Lametta bei jeder Körperdrehung“. Das war das Vorspiel meiner Schandtat. Das Endspiel fand im Zweiten Weltkrieg statt. 1942 probierte Luftwaffenchef Hermann Göring unseren Kampfeinsatz. Wir Lametta gruppierten uns in sogenannten Düpeln, röhrenförmigen Stangen, um feindliche Radargeräte zu verwirren. Damit begann unser Kampf gegen sogenannte „brennende Christbäume“: gegen Leuchtkerzen, die auf deutsches Gebiet abgeworfen wurden. Von weitem sahen sie wie glitzernde Tannenbäume aus. Dank unserem Flimmern zerstreuten wir diese Sondierungsraketen, behinderten so auch feindliche Bombenabwürfe. Ebenso bot uns ab 1943 die gegnerische Seite auf. Im Auftrag der Alliierten in Wolken-Kommandos. Wie Cumuli regneten wir Metallpapierschnitzel vom Himmel herunter. Dass auch meine Geburtsstadt Singen mehrfach – am schwersten ausgerechnet an Weihnachten – bombardiert wurde, hatte unter anderem mit unserer erfolgreichen Behinderung der deutschen Flugabwehr zu tun. So gelang es am 25. Dezember 1944 den Alliierten in einer Großoffensive, 18 amerikanische Bomber und 90 Sprengbomben auf meine Geburtsstadt abzuwerfen, wobei 37 Menschen starben, 58 verletzt wurden. Nebst meinen widersprüchlichen Kriegsdiensten kam zu Weihnachten noch der zivile Einsatz. Weihnachtsgut war Mangelware. Aber als Sammelgut von Kriegstrümmern greifbar. So barg man auch mich aus Überbleibseln von Stanniol-Streuwolken. Und platzierte mich neben andere Trümmerteile oder kleine Panzer auf grüne Äste. Mein Glanz war nun ohne Gloria. Umständehalber. Ja. Nein. Luftwaffenchef Hermann Göring konnte es nicht lassen. Er hatte als sogenannter „Lametta-Heini“ nicht nur eine Schwäche für Orden und prunkvolle Uniformen. Unter festlich geschmücktem Baum stimmte er auch dieses Loblied auf mich an: „Rechts Lametta, links Lametta, Und der Bauch wird imma fetta, Und in Preußen ist er Meester – Hermann heißt er!“
„Tsssssch….“, zischt mich ungeduldig die Wunderkerze an. Sie nimmt mir den Stab ab: „Du hast genug geredet, ttsssschschschsch … ich habe ja nur zwei Minuten Zeit.“ In der Tat, nur allzu schnell versprüht sie ihre Funken aus Aluminium, Titan und Magnesium. Ich überlasse ihr eilig die Bühne auf dem geteilten Ast. Mein letztes Wort nach ihrem „Tssccch…“ bleibt im Hals stecken: „Tsch‘uldigung.“
Silvia Ittensohn, Fachlektorin für Interkultur, Philosophie und Politik, journalistisch tätig. Nach Lizenziat und Lehrerausbildung Deutschlehrerin für Fremdsprachige im Migrationsbereich. Initiierte nach einem Master in Interkultureller Kommunikation einen lokalen Kultur-Verein Schweiz-China. Seit ihrer Pensionierung schrieb sie eine historisch-fiktionalisierte Broschüre zur Geschichte der «SP-Frauen Schweiz». Im Blaukreuzverlag wurde ihre Kurzgeschichte ‚Zurück in die Zukunft – mit dem Trottinett‘ publiziert. Derzeit schreibt sie Kürzestgeschichten und Kurzgeschichten. Seit knapp einem Jahr arbeite sie an einem lokalhistorischen Roman.
Eine Frage, mit der sich die Literatur wie keine andere Kunstgattung immer und immer wieder beschäftigt; Was ist wichtig im Leben? Wonach streben wir? Wo liegt der Kern unseres Daseins. Annette Mingels beschäftigt sich in ihrem neuen Roman „Der letzte Liebende“ einmal mehr ganz direkt mit diesen Fragen. Mit Fragen, die wir uns irgendwann fast alle stellen werden.
Annette Mingels Roman erzählt die letzten Monate der Ehe von Helen und Carl Krüger – Helen ist todkrank und wird im Laufe des Romans sterben – und die ersten Monate nach ihrem Tod. «Der letzte Liebende“ erzählt aus der Sicht des eremetierten Professors, der mit seinem Ruhestand alles andere als seine innere Ruhe gefunden hat. Von einem Mann, der mit existenzieller Not konfrontiert wird und mit der Tatsache, dass gewisse Dinge uneinholbar verloren sind, Türen verschlossen bleiben.
Die Ehe zwischen Helen und Carl war schon lange nicht mehr das, was man sich unter einer funktionierenden Ehe vorstellt. Schon früh begann das Fundament zu bröckeln, nicht nur weil vorest der Kinderwunsch verwehrt blieb, sondern vor allem deshalb, weil Carl es nicht lassen konnte, aussereheliche Beziehungen entstehen zu lassen, nicht zuletzt in der Machtposition eines Professors einer Uni. Beziehungen, die sich nicht verheimlichen liessen. Selbst als sich mit dem Adoptivkind Lisa doch noch so etwas wie Familie einstellte. Irgandwann wurde Helens Leidensdruck so gross, dass sie Carl vor ein Ultimatum stellte. Aber selbst Carls Entscheidung gegen seine Geliebte rettete weder Ehe noch Familie. Helen zog sich in die oberen Stockwerke des grossen Hauses zurück. Man traf sich höchstens noch zufällig. Und als Helen krank wurde und ihre Ablehnung ihrem Ehemann gegenüber immer mehr zur Aversion, kippte auch Carls längst ramponierte Beziehung zu seiner Tochter Lisa in blanke Abneigung. Helens Sterben, ihr Tod gab Carl keine Möglichkeit mehr, an etwas Konstruktives anzudocken. Er hatte es verpasst.
«Ob das, was er fühlte, Einsamkeit war oder nur Erschöpfung, wusste er selbst nicht.»
Annette Mingel «Der letzte Liebende», Penguin, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-328-60295-8
Was sich nach dem Tod seiner Frau in Carl ausbreitet, hat schon lange zuvor begonnen. Eine lähmende Einsamkeit. Er weiss um seine Fehler, aber die Adressatin für eine aktive Wiedergutmachung, wenn sie dann überhauptmöglich wäre, ist tot. Carl weiss um seine Versäumnisse. Die Autorin beschreibt subtil, wie sehr sich Carl nur mühsam aus seiner Egozentrik herausschälen kann. Wäre da nicht Lisa, die selbst mit ihrem eingeschlagenen Berufsweg ihre Abneigung Carl gegenüber verdeutlicht; nur ja keine akademische Karriere! Helen stirbt und Carl droht damit noch viel mehr zu verlieren, als „nur“ eine Weggefährtin.
Bis ihm ein ehemaliger Kollege ein Romanmanuskript in die Hand drückt, in dem die Hauptperson ziemlich genau die Züge von Carl trägt. Ein Roman, den Karl mit ebensoviel Ekel wie Entrüstung liest. Bis Carl dem Sohn seiner Tochter, seinem Enkel, eine Reise in Carls Herkunftsland verspricht und sich auf dieser Reise in die Vergangenheit Perspektiven verschieben. Bis allen Teilnehmenden dieser anstrengenden Reise klar wird, dass sich hinter den Geschichten andere Geschichten verbergen und nur diese Geschichten klären können.
«Womöglich hatte er sein ganzes Leben lang etwas Entscheidendes übersehen.»
Annette Mingels erzählt nicht einfach von einem „alten, weissen Mann“, von Rollenbildern, die zaghaft aufbrechen und von Szenen einer kaputten Ehe. Es braucht unsäglich viel, bis Carl seine alte Schale aufbricht. Und von genau diesem langsamen Aufbrechen erzählt dieser Roman. Als Leser schüttelte ich immer wieder einmal den Kopf, tat mich schwer mit den Reaktionen dieses Mannes. Aber genau das will Annette Mingels; Auch wenn sie dem alten, weissen Mann dann doch noch entgegenkommt, will die Autorin keine rührselige Geschichte erzählen. Wann werden Schalen zu Rüstungen? Warum kann man sich nicht mehr aus seiner Rolle befreien, auch wenn man offenen Auges in die Katastrophe schreitet?
Ich mag den Protagonisten, weil Annette Mingels ehrlich und unmittelbar erzählt. Weil sie den Mann in seiner grenzenlosen Einsamkeit nicht schont. Und weil sie selbst diesen Mann mag. Ein absolut lesenswertes Buch!
Das Haus, das die Autorin von 2009 bis 2012 bewohnte, Myrtle Lane, NJ
Interview
Es hätte doch auch eine emeritierte Professorin sein können. Oder bot sich der „alte weisse Mann“ als ideale Projektionsfläche an? Tatsächlich wurde ich zur Figur des Carl durch eine konkrete Begegnung inspiriert; für ein anderes Projekt interviewte ich einen emeritierten Professor, der auf verblüffende Weise gleichzeitig modern und in alten Privilegien verhaftet war. Es hätte tatsächlich auch eine emeritierte Professorin sein können – nur wäre es dann ein anderes Buch geworden, eines über eine „alte weisse Frau“, die ja tatsächlich auch das Gegenstück zum „alten weissen Mann“ ist und in vielfältiger Weise in Interaktion zu selbigem steht. Sie kommt im Roman nur indirekt vor – in Form von Carls Ehefrau Helen. Ihre Geschichte zu erzählen, könnte tatsächlich spannend sein.
Es muss im langen Leben von Carl unendlich viele Signale gegeben haben, die seine Egozentrik verdeutlichten. Aber er wollte sie weder sehen, hören oder spüren. Er wollte sein Leben leben, geniessen, seine Möglichkeiten ausschöpfen. Erst die Gewissheit der Endlichkeit, zuerst das Sterben und dann der Tod seiner Frau, dann die Angst vor totaler Einsamkeit bringen Carl dazu, sich millimeterweise aufzutun. Leben wir nicht in einer Zeit, in der die eigene Befindlichkeit alles andere relativiert? Hätten wir wirklich ein gemeinschaftliches Bewusstsein, würde uns die Gegenwart nicht grün und blau schlagen. Ja, Carl hat die Signale gesehen und bewusst ignoriert, weil sie ihm dabei im Weg standen, das zu tun, was ihn glücklich machte. Er selbst würde sofort zugeben, dass er ein Egozentriker (gewesen) sei, aber dies sofort mit dem jedem Menschen zustehenden individuellen Glücksstreben entschuldigen. Erst als seine Möglichkeiten im hohen Alter immer geringer werden und ihm ausserhalb seiner Familie nicht viele Menschen bleiben, lässt er die Erkenntnis und auch ein Bedauern darüber zu, wie rücksichtslos er gewesen war. Was allerdings nicht bedeutet, dass er es – gäbe es ein nächstes Mal – besser machen würde. Trotzdem mag ich Carl – vor allem, weil er sich nicht einredet, es gut gemacht zu haben. Er ist sich seiner Fehler bewusst und weiss, dass die Zuneigung und Fürsorge seiner Tochter Lisa unverdient ist.
Carl, die Familie, sie machen eine Reise. Auch wenn die Reise nicht das brachte, was sich jeder erwartete, war die Reise, schon die Entscheidung dazu, ein erster Schritt, einer aus der Komfortzone. Eigentlich ist doch Mut der Schlüssel zu so vielem! Ist man als Schriftstellerin mutig? Man kann ja seine ProtagonistInnen agieren lassen. Ja, das sagen Sie sehr richtig: man lässt seine ProtagonistInnen agieren – und das im ganz wörtlichen Sinne: Wenn ich einmal zu schreiben angefangen habe, entwickeln sich die Figuren oft in einer auch für mich unvorhergesehenen Weise und bekommen so etwas wie ein Eigenleben. Von daher ist mein Schreiben, glaube ich, oft mutiger als ich selbst. Den Mut, den es dann von mir als Autorin noch braucht, ist der, mich mit einer Veröffentlichung der Kritik auszusetzen. Darüber hinaus bin ich, fürchte ich, nicht besonders mutig. Aber es gibt natürlich überall da, wo eine solche Veröffentlichung tatsächlich Mut erfordert, weil nicht nur Kritik, sondern auch Bestrafung droht – in repressiven Systemen – durchaus sehr mutige Autorinnen und Autoren.
„Schon seit einigen Jahren hatte er das Gefühl, dass er kaum noch gesehen wurde“, steht ziemlich am Anfang ihres Buches. Nicht ungewöhnlich für einen Mann, der sich während seiner Berufszeit stets im Mittelpunkt sah. Aber zugleich ein symptomatischer Satz für unsere Zeit, in der sich eine Influenzerin die Lippen zu Ballons aufblasen lässt und man um jeden Preis den Mount Everest besteigt, in der man dauernd Selfies von sich macht oder es zum Lebensziel werden kann, wenigstens einmal im Fernsehen zu erscheinen. Carl zieht sich nicht zurück, er wird abgedrängt. Brauchen wir um jeden Preis Aufmerksamkeit? Wo bleibt die Bescheidenheit? Carl hatte durch seinen Beruf und durch seine relative Attraktivität eine Position, in der ihm fast automatisch Aufmerksamkeit zuteil wurde; sie war sogar wesentlicher Bestandteil dessen, was er an seinem Beruf liebte. Die ungeliebte Emeritierung und das Alter nehmen ihm nun das, was ihm viel bedeutete. Für mich ist er nicht jemand, der um jeden Preis auffallen will und seine 15 Minuten Ruhm braucht, aber er ist durchaus angewiesen auf Anerkennung und positive Resonanz, vielleicht auch, weil er diese innerhalb seiner Familie – auch selbstverschuldet – nicht erhält. Bescheiden muss er sich zwangsläufig; Bescheidenheit ist aber nicht seine stärkste Tugend. In diesem Punkt steht er wohl im Einklang mit unserer Gesellschaft.
Mit ihrem Roman setzen Sie die Familie auf ein Podest. Als Familienmensch sollte mir das gefallen. Und doch bröckelt dieses Fundament, dieses Ideal. Nicht zuletzt deshalb, weil dieses Ideal aus dem Fokus geraten ist. Nicht verwunderlich bei all den grassierenden Problemen, die sich nicht mehr ausblenden lassen. Wo Carl am Ende ihres Romans steht, ist in der Schwebe. Wo ich am Ende meines Lebens stehe, weiss ich nicht. Aber das Wissen um die Kraft der Familie werde ich dann brauchen. Ist das Schreiben eine Schärfung des Bewusstseins um die Frage: Was ist wichtig? Ja, ich glaube, die Frage nach dem, was uns wichtig ist, bildet für die meisten Schriftsteller und Schriftstellerinnen den Resonanzboden ihres Schreibens und tritt in diesem in verschiedenster Weise immer wieder zutage. So liegt eigentlich all meinen Büchern eine grundsätzlich humanistische Betrachtung des Individuums zugrunde – seiner Möglichkeiten und Grenzen, seiner Liebesbegabung und seiner Fehlbarkeit. Der enge Kosmos der Familie lässt all dies in besonderer Weise zutage treten; wie unter einem Brennglas zeigen sich hier die menschlichen Stärken und Schwächen.
Annette Mingels wurde 1971 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg und schloss mit einer Promotion in Germanistik ab. Von 1997 bis 2009 lebte sie in der Schweiz; neben der deutschen besitzt sie die schweizerische Staatsbürgerschaft. In der Schweiz hatte sie Lehraufträge an den Universitäten Neuenburg und Fribourg, ausserdem am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Von 2009 bis 2011 lebte sie in Montclair (USA), anschliessend in Hamburg. Von 2018 bis 2021 lebte sie in San Francisco, seitdem bei Berlin. Für ihre Bücher erhielt Annette Mingels zahlreiche Stipendien und Werkbeiträge. Für ihr Buch “Was alles war” (Knaus, 2017) ausserdem den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag.
Am Morge vo Heiligaabe het dr euter Sohn gseit, uf eis Gschänk fröi’r sech bsungers. Öb’s öpis sig, won’r sech gwünscht heig, ha ne gfragt. Vo wäm dass’r’s überchöm, ha ne gfragt. U vo won’r überhoupt wüss, dass’r’s überchöm, ha ne gfragt. Aber är het glachet wi eine, wo meh weiss aus angeri.
Am Aabe si ungerem Boum vrschidnigi Gschänk gläge. U hingerem Boum es grosses Päkli, wo em jüngere Sohn ufgfauen isch. Für wän das Päkli sig, het’r wöue wüsse. Aber i ha gseit, das gsäch’r de, itz müess’r haut no chli Geduud ha bis zur Bescheerig.
Bir Bescheerig isch’s dr jünger Sohn gsi, wo aus erschts sini Päkli het wöue vrteile, won’r gmacht het gha im Chindergarte. När hei d Ching d Päkli übercho vo den Erwachsnige. U em Schluss isch’s dr euter Sohn gsi, wo sini Päkli vrteilt het.
Was mit däm grosse Päkli sig hingerem Boum, het dr jünger Sohn gfragt, wo aui angere Päkli si vrteilt gsi. Das gsäch’r grad, het dr euter Sohn gseit, itz gäb’s nämlech non en Überraschig. U när het’r das grosse Päkli hingerem Boum füregno.
Das Gschänk, het dr euter Sohn gseit, mach är öper ganz Bsundrigem: Tschuudigung, sich säuber. U när het’r’s aafa uspacke. Es isch guet iipackt gsi, ire Chischte, mit viu Papier drumume, und usecho isch am Schluss es Chüssi. Won’r säuber het gfärbt u gnäjt gha ir Schueu. Über Wuche. Mir hei ne globt u das Chüssi beschtuunt.
Aber dr jünger Sohn het gfragt, öb me das überhoupt dörf, sich säuber öpis zur Wienachte schänke. Wüu we me das dörf, tschuudigung, de mach är das nächschts Jahr o.
Guy Krneta, 1964 geboren in Bern, lebt in Basel. Krneta war Dramaturg und Co-Leiter an verschiedenen Bühnen in Deutschland und der Schweiz. Er ist Mitbegründer des Spoken-Word-Ensembles «Bern ist überall» und initiierte u.a. das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Krneta schrieb zahlreiche Theaterstücke und Bücher, die mit Preisen ausgezeichnet wurden.
«Die Perücke», Roman, Der Gesunde Menschenversand; Alles oder nichts. Alles fürs Theater macht die Regisseurin Rike. Kompromisslos widmet sie ihm ihr ganzes Leben. Nichts mehr vom Leben erwartet die junge Esther. Kompromisslos bringt sie sich um. Beiden gerecht zu werden versucht ein Ich-Erzähler. An der Seite Rikes wird er vom Regieassistenten zum Autor. Als Freund Esthers schaut er hilflos zu, wie sie verzweifelt. Guy Krneta hat aus einem Stück Lebens- und Theatergeschichte einen bewegten und bewegenden Roman geschrieben.
Es ist geschafft. Jedes Jahr habe ich die gleiche Angst vor der Geburt des Herrn. Dabei liebe ich heilige Abende. Theoretisch. Die Geburt in einem warmen, duftenden Stall, die Tiere als Zeugen, eine junge Maria, ein überforderter Josef, alles Zutaten zu einer tollen Geschichte. Ich stelle die Bestandteile dieser archaischen Geschichte jedes Jahr wieder neu auf, wenn ich die alte, geschnitzte Krippe, die mir meine Eltern vererbten, vom Dachboden hole und sie aufbaue. Wesentlich bei meiner geschnitzten Krippe sind zwei Figuren, die sonst selten vorkommen: eine schwarze Katze, die einen Buckel macht, und ein böser, kläffender Köter. Jedes Jahr stelle ich die Katze oben auf das Dach des Stalls und den Köter unten vor die Krippe auf den Boden. Sie zeigen mir, dass es damals schon Spannungen gab, die nicht in der Geschichte vorkommen.
Meine Mutter wollte immer, dass wir wenigstens an Weihnachten Zusammenhalt beweisen. Aber schon der gemeinsame Abgang zur Kirche wollte nicht klappen. Am Ende saßen wir alle in verschiedenen Bänken. Meine alte Tante saß bei den Schwerhörigen in der ersten Reihe, meine vielen Brüder, wenn sie überhaupt dabei waren, standen irgendwo ganz hinten an der Wand und meine Mutter setzte sich etwas aufgelöst und hektisch mit mir an der Hand dorthin, wo es eben noch einen Platz gab. Nur mein Vater nahm seinen angestammten Platz auf der Kanzel ein, wie jedes Jahr.
Jedes Jahr waren wir keine geschlossene Familie. Und jedes Jahr wünschte sich meine Mutter eine. Nein, ich wünschte sie mir, denn da pochte diese sehnsüchtige Erinnerung in mir an den Weihnachtsglanz, als ich ein kleines Kind war und Weihnachten noch keinen Schatten kannte.
Damals dachte ich noch, später machst du es besser. Als meine Kinder ganz klein waren, da versuchte ich es noch. Mein Mann und ich luden für die ersten Abendstunden meine Freundin Kristin mit ihrer kleinen Tochter Carla ein. Ihr Mann musste derweil mit seiner ersten Frau und seinen schon größeren Kindern feiern. Mit tat Kristin leid, die klaglos akzeptierte, dass die erste Familie an diesem Abend Priorität genoss, weil das Alte, Überkommene am Heiligen Abend scheinbar immer Vorrang hat. Außerdem war ich es gewohnt, dass man immer jemanden einlädt, der sonst allein wäre. Ich täuschte mich auch darüber hinweg, dass in meiner kleinen Familie auch schon Zentrifugalkräfte am Werk waren.
Als mein Mann auszog und mit seiner Freundin feierte, entging meine ältere Tochter im ersten Jahr der Entscheidung, bei wem sie feiern wollte. Sie fuhr zu den Großeltern. Mit meiner kleinen Tochter fand ich Weihnachtsasyl bei Freunden. In den Jahren danach drehte sich der Wind. Mein Mann war zwar nicht mehr da, aber dafür hatte sich Kristins Mann Thomas für seine zweite Familie entschieden und feierte mit uns und den Mädchen. Er gab den Josef. Wir zwei Marien sangen mit drei Mädchen und unsere zwei Kätzchen holten die Glaskugeln vom Christbaum. Ein ausbalanciertes Idyll. Wir feierten abwechselnd ein Jahr bei mir, ein Jahr bei ihnen.
Wer gehört zu deiner heiligen Familie? Sag mir, wie du Weihnachten feierst, und ich sage dir, wer du bist. An diesem Abend zeigt sich, wer zusammengehört. Und für einige Stunden versuchen die Menschen unter dem Baum oder vor der Krippe zu vergessen, wie prekär, zerbrechlich und angeknackst die Verhältnisse sind und welche Balanceakte und Auseinandersetzungen nötig waren, um die Figuren der Krippe nachzustellen.
Letztes Jahr war alles anders, meine Kinder feierten mit ihrem Vater und ich ging allein in die Kirche. Ich überlegte mir lange, welchen Platz ich wählen sollte. Dort hinten bei den Brüdern? In der ersten Reihe bei der toten, schwerhörigen Tante? An der Hand meiner toten Mutter, auf der Seitenempore? Auf die Kanzel zu meinem toten Vater durfte ich nicht. Aber sie waren alle da und ich hatte plötzlich Frieden geschlossen mit den Zentrifugalkräften in meinen Familien. Ich spannte Sehnsuchtsfäden durch die Kirche und dachte an den Stall, in dem auch keine perfekte Familie zusammenstand – war nicht die ›heilige Familie‹ auch schon eine Patchwork-Familie? –, und ich dachte an meine Krippe, an den kläffenden Köter und die Katze auf dem Dach mit dem Buckel.
Eva Christina Zeller schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke und lebt in Tübingen, direkt am Neckar, unweit des Hölderlinturmes. Für ihr literarisches Schreiben erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Thaddäus-Troll-Preis, den Preis der Akademie Schloss Solitude und das Venedig-Stipendium des Kulturstaatsministeriums. Aufenthaltsstipendien führten sie nach Irland, auf eine Insel im Åland-Archipel, nach Farö, Gotland, an den Genfer See, Venedig
„Unterm Teppich“ Roman in 61 Bildern, Alfred Kröner Verlag: Die Miniaturen erzählen Schlüsselerlebnisse eines weiblichen Ichs von der Kindheit bis ins mittlere Frauenalter, die sich zu einer Lebensgeschichte zusammensetzen. Was ist das Leben eines Menschen im eigenen Rückblick? Eine in tiefgelegenen Kammern des Gedächtnisses aufbewahrte, manchmal verschüttete Sammlung von Augenblicken, Glücksmomenten, traumatischen Erlebnissen, plötzlichen Einsichten, Verletzungen, die das erinnernde Ich wie Perlen auf eine Kette reiht – und dabei nicht selten verfälscht. Die 61 Bilder Eva Christina Zellers folgen der Chronologie des Lebens. Das Erwachen des Bewusstseins, die Erfahrung der eigenen Sexualität, väterliche Übergriffe – all dies sind erste Impressionen aus dem Leben eines Mädchens in einer Pfarrerfamilie, die prägend für alles Weitere sind: Pubertät, Erwachsenwerden, erste Beziehungen, Krisen, Begegnungen.
Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und sein bester Freund Jaromir 99 nehmen mich an einem Weihnachtsabend mit in ihre Stadt Prag, Jaroslav Rudiš mit seiner literarischen Imagination, der Zeichner, Comiczeichner und Maler Jaromír Švejdík mit seinen wunderschönen Illustrationen. Ein schmales Buch mit einer ganz speziellen Aura!
Prag ist ihre Stadt, ihre Heimat, aufgeladen mit Geschichten von Verstorbenen und Gegenwärtigen, von Geistern und Begeisterten. Ein Winterspaziergang an einem 24. Dezember, wenn alles auf jenes erhellende Licht wartet, wird mit den beiden zu einem ganz besonderen, vielsinnlichen Abenteuer!
„Ich wusste nichts von Kafka, von Hašek und Hrabal. Ich wusste nicht, dass ich später einmal in Prag leben und mit dem Ertrunkenen in einer Band singen werde. Dass ich mal eine Italienerin aus Milano treffen werde, deren Mann Strassenbahnfahrer war und sich immer gewünscht hatte, Strassenbahnfahrer in Prag zu sein. Ich wusste nicht, dass sich in Prag Dichter, Maler und Musiker in Vögel und Fische verwandeln. Ich wusste nicht, das mir mal der König von Prag im Anker beibringen will, wie man alle Prager Schlösser aufsperrt.“
Jaroslav Rudiš «Weihnachten in Prag», Illustrationen von Jaromir99, Luchterhand, 2023,
Auch ich weiss nicht viel über diese Stadt. Nur eines weiss ich mit Sicherheit; wenn ich dereinst mit dem Zug nach Prag fahre und wie der Erzähler am Bahnhof stehe, werde ich mich mit diesem Buch in der Tasche auf den Weg machen, über die Karlsbrücke in die schmalen Gassen der Altstadt. Ich werde in die Geschichten eintauchen und in diesen Tagen vielleicht sogar das eine oder andere Bier trinken, weil tschechisches Bier zu den besten gehört, und weil man wohl Bier trinken muss, um einen Schlüssel, einen Zugang in all den alt eingesessenen Spelunken der Stadt mit ihren seltsamen Namen zu bekommen. Einen Schlüssel zu den Menschen, zu den Geistern, zu den Erleuchteten und Verschatteten, zu den Lebenden und den Toten.
Prag ist die Stadt von Jaroslav Rudiš. Und nur wer wie er eine Stadt kennt, kennt das, was für Touristen unsichtbar in den Zwischenräumen und Mauern, in der Moldau, die leise und träge durch die Stadt fliesst, in den Schichten darunter und darüber ist und wirkt, was die Vogel in die Stadt tragen, was an Schatten durch die Stadt geistert.
Der Erzähler trifft sie wieder; Hana, die er mit 17 kurz vor der Wende im Sommer 1989 in Prag in einer vollen Kneipe, im Schwarzen Ochsen trifft, den Leuchtturm, den Mann, dessen Kopf leuchtet, der ihm vom letzten Atemzug Franz Kafkas erzählt, dass dieser wie alle Künstler nun einer der Krähen wäre, der Leuchtturm, der eigentlich Kavka heisst, alle aber bloss Kafka nennen, so wie jenen Franz, den alle kennen. Er trifft den König von Prag. Nicht jenen von der Burg hoch oben über der Stadt, sondern jenen aus der Gasse, der weiss, wie Schlösser zu knacken sind, durchaus methaphorisch! Er trifft die Italienerin, die von Prag schwärmt als wäre sie die schönste aller italienischen Städte. Sie treffen sich und ziehen von Kneipe zu Kneipe, warten auf den Moment, wo ihnen das Christkind ein Geschenk bringt.
„Weihnachten in Prag“ ist ein magisch, surrealer Spaziergang durch eine Stadt, der auch Kälte und Schnee den Liebreiz nicht vertreiben kann – ganz im Gegenteil. Wer eine Stadt so kennt wie Jaroslav Rudiš, der weiss, dass die Stadt nicht von den Fassaden lebt, sondern von den Geschichten dahinter und den Menschen, die dort leben und lebten, von den Eigenwilligen, den Spinnern, den Verschrobenen und Verrückten. Wer diesen literarischen Spaziergang mitmacht, wer sich traut, dem wird ein Geheimnis zuteil. „Weihnachten in Prag“ bezaubert gleich vielfach, nicht zuletzt durch die stimmungsvollen und eigenwilligen, kongenialen Illustrationen von Jaromír Švejdík!
Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstrasse», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.
Jaromír Švejdík alias Jaromir99, geboren 1963, ist Comiczeichner, Maler sowie Sänger und Texter der tschechischen Kultband Priessnitz. Er arbeitet als Musiker für verschiedene Bands, zeichnet Storyboards für Filme und veröffentlichte mehrere Graphic Novels und Comics. Zuletzt auf Deutsch erschienen: «Alois Nebel» und «Alois Nebel ‒ Leben nach Fahrplan». Er lebt und arbeitet in Prag.