Anna Katharina Fröhlich «Die Yacht», Friedenauer Presse

Wenn ein schmales Buch mit „Eine Sommernovelle“ untertitelt ist, ist man versucht, es für ein flockig leichtes Geschichtchen zu nehmen. Was in seiner Tonalität ein bisschen verklärt und fast antiquiert daherkommt, offenbart Tiefen, die überraschen. „Die Yacht“ ist ebenso melancholisch wie tiefgründig. Anna Katharina Fröhlichs Novelle mahnt zur Ehrlichkeit.

Anna Katharina Fröhlich lebt in Italien. Sie kennt das Licht, die Gerüche und Geräusche, den Geschmack und den Duft. Wer „Die Yacht“ liest, taucht, nimmt all dies mit, taucht ein in eine Welt, die zumindest ich, nur von Urlauben kenne. Und Anna Katharina Fröhlich beherrscht in ihrer Sprache eine Kunst, die mich staunen lässt, etwas, was mich auf den ersten Seiten misstrauisch machte, weil ich mich selbst beim Schreiben davor hüten würde; Anna Katharina Fröhlich mischt in ihre Novelle Adjektive derart üppig, dass ihre Sprachmelodie im ersten Moment fast aufgeblasen scheint. Aber ihr grosszüger Umgang mit dieser Wortart korrespondiert mit der Welt, die sie beschreibt. Auf der einen Seite lebt dieses Buch von sinnlichen Eindrücken, zum andern beschreibt sie sehr genau die Oberfläche, sei es die der Dinge, der Menschen und der Innenwelten.

„Hinsehen ist besser als denken, weil sehen auch erschaffen bedeutet.“

Martha Oberon ist eine junge Frau, die in einer italienischen Kleinstadt nicht nur die Ruhe, die Distanz, Antworten und eine Richtung sucht, sondern sich selbst. Ausgebrochen aus der Enge ihres Elternhauses und den Verwirrungen ihrer Gegenwart will Martha herausfinden, wie sie dorthin gelangt, wo sie einst ihr Grossvater hinsteuern wollte. Marta zeichnet. Sie besucht in der kleinen Stadt in Italien einen Malkurs. Aber sie will mehr. Sie will Wegweiser.

Anna Katharina Fröhlich «Die Yacht», Matthes & Seitz, 2024, 164 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-7518-8012-1

Sie lässt sich ein in das Leben dieser Stadt. An einem Sonntagmorgen lernt sie in einer Bar einen Mann mit einer Rose im Knopfloch kennen. Salvatore Spinelli. Ein seltsam aus der Zeit gefallener Herr, auf den ersten Blick mit gediegener Eleganz, bei genauerem Hinschauen; geflickte Löcher in seinem weissen Hemd, ein Riss im Ärmel seiner Leinenjacke. Sie kommen ins Gespräch und Martha fühlt, bei ihm etwas gefunden zu haben, wonach sie schon so lange gesucht hatte. Spinelli zeigt ihr jeden Winkel der Stadt. Jeder und jede kennt ihn, weiss von seiner Armut, seiner Offenherzigkeit, seinem Charme. Er ist ein Teil dieser alten Mauern, ein Überbleibsel einer Welt, die sich im Bann moderner Kommunikationsmittel und dem Stress der Gegenwart zu verlieren droht. Spinelli öffnet sie in eine Welt, von der sie mit ihrer Art des Zeichnens ahnte. Mit einem Mal scheint sich aufzutun, was ihr bisher verschlossen blieb.

„Spinelli war der einzige Mensch, den sie kannte, der keinen Beruf, keine Versicherung, keinen Status, kein Bankkonto, keine Frau und keine Kinder hatte, in denen er das Erbe seines Wesens hätte sichern können. Er vertrat nichts und niemanden mehr ausser sich selbst.“

Spinelli lädt sie ein zu einer Reise in den Süden, nach Sizilien. Dort kennt er die Tabarins. Ein Paar, das in einem weissen Haus auf einem Felsplateau über dem Meer wohnt, das es vor Jahren im Zuge einer Kunstvermittlung kennengelernt hatte. Dort residiert man, von Bediensteten umgarnt, lädt andere Reiche ein, tummelt sich in der Gewissheit, dass einem die Welt gehört. Martha, gleichsam fasziniert wie verunsichert lernt die Malerin Mrs Moore kennen, eine alte Bekannte von Spinelli. Die eigenwillige Künstlerin macht ihr das Angebot, sie zu malen und sie in ihre Kunst einzuführen. Ein Angebot, das für Martha nach Erfüllung riecht und ihrem Leben mit einem Mal Richtung gibt.

Bei einer der Fahrten mit der Yacht der Tabarins, der Devil’s Kiss, lernt Martha den in Tabarins Diensten stehenden Balthasar kennen, der eigentlich Griša Pavloviç heisst und mit dem Namenswechsel seiner Herkunft zu entfliehen versucht, ein Verbündeter, später ein Geliebter. Aber Martha muss schmerzhaft erfahren, dass die Welt im weissen Haus über dem Meer und der mit allem Luxus ausgestatteten Yacht, wie alles eine Welt des Scheins, eine perfekt inszenierte Kulisse ist.

„Den wahren Träumer sehe ich als Jäger, der in dem unergründlichen Dickicht des eigenen Bewusstseins Jagd auf etwas Fliehendes macht, das seine Existenz auf dieser Welt rechtfertigt.“

Anna Katharina Fröhlich konfrontiert ihre Protagonistin Martha durch eine eigentliche Schule des Sehens mit den Untiefen des Lebens. Einziger Leuchtturm ist Salvatore Spinelli, ein Mann, der sich aus allem herauszuhalten scheint, es aber versteht, den kleinen Geheimnissen des Lebens gegenüber offen zu sein. Ein Mann, der sich der Moderne verweigert. Ein Mann sich in einer Unmittelbarkeit dem Leben stellt, die ihn seltsam fremd und dafür umso faszinierender macht.

Anna Katharina Fröhlich, 1971 geboren, wuchs in Frankfurt a. M. und München auf. Sie veröffentlichte bisher die Romane «Wilde Orangen», «Kream Korner», «Der schöne Gast» und «Rückkehr nach Samthar». Zuletzt erschien ihr Roman «Die Yacht» in der Friedenauer Presse. Sie lebt als Gärtnerin und Vorstandsmitglied des italienischen Verlags Adelphi zwischen Mornaga am Gardasee und Mailand.

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Fritz Mühlemann «Föhn.Sturm», Edition Clandestin

Es gibt viele Möglichkeiten, sich mit seinem Dasein auseinanderzusetzen. Der Schriftsteller und Fotograph Fritz Mühlemann wählt seinen ganz eigenen Weg. In „Föhn.Sturm“ legt er eine Spur durch die Zeit, setzt sein Dasein in eine lange Kette, bis zurück ins Holozän. „Föhn.Sturm“, ein langes, in verschiedene Kapitel unterteiltes, illustriertes Langgedicht, ein Vergegenwärtigung, woher die Winde wehen!

Fritz Mühlemann weiss, woher er kommt. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Er wandert vom Tal hinauf, lässt seinen Blick nach innen und aussen schweifen, in die Landschaft, die Erinnerungen und das, was der Autor über ein Leben lang an Wissen und Geschichte(n) gesammelt hat.

 

Föhn.Sturm

die Vorfahren kommen und gehen
die Verhältnisse sind unübersichtlich
man sucht nach einer Lichtung
hilft sich mit Volksweisheiten
über Orientierungslosigkeit hinweg

mein Blick schweift über das Bödeli
das behäbig Heimat verspricht
zum Greifen nah legen sich mir die Firne
silbern verklärt ins Zwischenhirn
Föhn
.
Sturm
der unergründliche Atem des Herrn
bricht aus der Stille

tobt der trockene Fallwind
über das Bödeli
deckt er Häuser und Ställe ab
entwurzelt Bäume
reisst Felsstücke los
wirft Boote auf den Seen umher

 

In «Föhn.Sturm» erzählt der Autor mit der fiktiven Geschichte seiner Berner-Oberländer-Vorfahren von der Reformationszeit bis heute zugleich ein Stück Schweizer Zeitgeschichte und die Geschichte des ‹Bödelis›.

Verschiedenste Historiker haben ihm Einblicke in die regionalen Geschehnisse verschafft und seine Imagination angeregt. Wie könnten seine Vorväter als Müller (Mühle-Männer) in Wilderswil, als Coiffeurmeister in Bönigen und Interlaken sowie als Wirt und Wirtin auf der Heimwehfluh gelebt haben? Das Bödeli übte schon lange eine grosse Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt aus. Illustre Gäste kamen hier zu Besuch: Madame de Staël 1805 zum Unspunnen-Alphirtenfest, Goethe gastierte im Rathaus Unterseen, bevor er ins Lauterbrunnental weiterreiste, Lord Byron logierte in der Taverne Interlaken, Polo Hofer irrte vom Blues verweht umher und besang sein ‹Meitschi vo Bönige am Quai›. Von Zeit zu Zeit tobt sich der Föhn stürmisch aus. Der Blick auf seinen Heimatort Bönigen regte den Autoren zum Nachdenken über Auswanderung, Heimat und Heimweh, über das Wesen von Zeit und Erinnerung an.

 

Der Blick schweift über das Bödeli

das Zugseil besteht aus hundertzwei Drähten 
und einer Kunststoffseele
die garantierte Bruchfestigkeit
bei zweiundfünfzigtausend Kilogramm 
gewährt zehnfache Sicherheit
doch die Drahtseilbahn zur Heimwehfluh 
nimmt den Betrieb erst im Mai auf

ein Kiesweg führt durchs Wäldchen
hoch zur Fluh
ich pfeife alte Schlagermelodien vor mich hin 
‚Ein Schiff wird kommen‘
‚Junge, komm bald wieder‘
bedenke vor dem Ameisenhaufen
die Sorgen der Mütter
und das Abwesen

die Emsen ein und aus
immer strebend und gelassen sich bemühn 
verschwinden in schwarze Löcher
tauchen auf aus schwarzen Löchern 
Larven Insekten Raupen Stöckchen
in den Kieferzangen

das Chaos bleibt staufrei organisiert 
tägliche Bewegung
beugt der Demenzerkrankung vor

den Abgrund zum Vater zur Mutter das Weh 
zu Füssen zwei Seen
thront die Fluh

mein Blick schweift über das Bödeli 
das behäbig Heimat verspricht
und mir doch fremd bleibt
grell leuchtende Farben
der Ruf der Ahnen 
feudale Schlösser 
Landsitze 
Trauben
Feigen

 

„Föhn.Sturm“ ist ein illustrierter Weg durch die Zeit mit Fotos/Bildern von Fritz Mühlemann, Fotografien aus dem Familienarchiv des Autors, Bildern aus dem Oberländer Volksblatt, aus Geschichtsbüchern, verschiedenen Archiven und Sammlungen, Postkartenbilder von Interlaken und der Heimwehfluh anfangs des 20. Jahrhunderts, wunderbar gestaltet von Anna Neurohr.

„Was für ein reiches, von Einfällen, Farben, Geschichten überquellendes Buch! Fritz Mühlemann erzählt die Geschichte seiner Vorfahren und die des ‹Bödelis›in vielen Tonarten, manchmal fantasievoll, manchmal dokumentarisch, oft hintersinnig und verschmitzt. Man kann blättern, sich festlesen, staunen.“ Lukas Hartmann

Fritz Mühlemann «Föhn.Sturm», Edition Clandestin, 2024, 176 Seiten, CHF ca. 38.90, 978-3-907262-57-3

Fritz Mühlemann wurde 1950 in Bern geboren. Er ist Fotograf, Schriftsteller, Psychologe, Rentner und Traumwanderer mit Heimatort Bönigen auf dem Bödeli zwischen Thuner- und Brienzersee. Über die Jahre hat er zahlreiche Ausstellungen realisiert und Bücher veröffentlicht, unter anderem den Wiener Roman «dort wohnen die Narren» (edition clandestin, 2015), eine Spurenmontage aus Fotografien und Prosagedicht oder «kein ort aber krähengelächter», (Dendron Verlag, 2015), eine Sammlung, die Bilder und Texte vereint, die im Austausch mit Romie Lie entstanden.

Webseite des Autors

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„In Zeiten schwindender Buchbesprechungen ist literaturblatt.ch wichtige Orientierungshilfe in der Flut der Neuerscheinungen.“ Christian Haller(7)

Lieber Bär

Vor ein paar Tagen bekam ich per Mail die Mitteilung, dass der SBVV künftig aus Spargründen auf die Buchpreisbegleitung von literaturblatt.ch verzichten will. Man bat mich jeweils um eine Rezension pro Nomination und bezahlte mich mit 500 Franken. Ich nahm die Aufgabe gerne wahr, weil sie mir den direkten Kontakt zu den Nominierten versprach und weil es mir zusammen mit der jungen Illustratoren Lea Le gelang, mein Dutzend Beiträge bestehend aus Buchbesprechungen, Interviews und Kommentaren ganz eigen zu inszenieren, auch wenn wir uns damit die Gage gar noch teilten.

So wartete ich mit Vorfreude auf die alljährliche Anfrage des SBVV, des Organisators der seit 2008 stattfindenden Ausschreibung. Aber nach fünf Jahren und rund 60 Beiträgen ist Schluss. Der SBVV muss sparen und verzichtet auf eine von ihm initiierte Berichterstattung. Ganz im Vertrauen darauf, dass sich die ebenfalls im Sparmodus befindenden Medien mit Freude und Ausdauer mit dem Schweizer Buchpreis auseinandersetzen. Dass sich der Fokus der Öffentlichkeit schon irgendwie und irgendwann auf die fünf Bücher richten wird und der Schweizer Buchhandel getrost auf diese Form der Auseinandersetzung, der Werbung verzichten kann.

Ich bin erstaunt. Nicht zuletzt darüber, dass es der SBVV wahrscheinlich wittert, dass literaturblatt.ch auch ohne Aufforderung über den Schweizer Buchpreis berichten wird. Warum soll man für etwas bezahlen, das auch kostenlos geschieht, wie Sonnenauf- und Untergang. Ich bin erstaunt, dass selbst mein Angebot, auf alle zusätzlichen Spesen zu verzichten, nicht einmal zu einem Gespräch führen konnte. Ich bin erstaunt, dass man mich wie eine Klette abschüttelt.

Aber wahrscheinlich nehme ich mich mit meiner freiwilligen, unaufgeforderten Arbeit viel zu wichtig.

Lieber Bär, soll ich trotzig und kritisch weitermachen oder alle Berichterstattung hinsichtlich des Schweizer Buchpreises tunlichst vermeiden? Was tätest du?

Liebgruss
Gallus

***

Lieber Gallus

Das kann doch nicht sein! Entsetzt und traurig bin ich vor allem deshalb, weil dieser Entschluss für unsere Zeit so typisch ist. Qualitativ hochstehende professionelle Buchbesprechungen und Literaturvermittlung sind es offensichtlich im heutigen Literaturbetrieb nicht wert, unterstützt zu werden: Sparen am falschen Ort!

Dass der SBVV, dem der Weg des Buchs vom Druck bis zum Leser im Zentrum stehen sollte, auf deine sowohl von den AutorInnen und den LeserInnen geschätzte wunderbare Arbeit verzichtet, um 500 Franken sparen zu können: für mich völlig unverständlich.

Fundierte Auseinandersetzung und Kritik aus dem «Literaturblatt» haben mir schon manche Perle der aktuellen Literatur nahegebracht. Da ich kaum der Einzige bin, der dies ästimiert, ermuntere ich dich, umso kritischer und mutiger deine Buchpreisbegleitung weiterzuführen.

Ich freue mich auf deine unbezahlbare Schweizer Buchpreisbegleitung 2024!

Herzlich

Bär

«Sparmassnahmen kippen literaturblatt.ch»

Julia Jost «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht», Suhrkamp

Man lese und staune! Julia Josts Debüt mit dem sperrig langen Titel «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ ist ein literarisches Feuerwerk, ein barock anmutendes Sittengemälde südkärtnerischer Eigenheiten in bester österreichischer Fabuliertradition. Was hier an Kraft und Intensität gedeiht, ist betörend und verblüffend.

Vordergründig erzählt Julia Jost in ihrem einzigartigen Erstling vom Aufwachsen in Südkärnten, in einer rechten, nationalistisch geprägten Umgebung in den 80ern und 90ern, einem Land, einem Bundesstaat, der sich mit den politischen Kräften rund um den Populisten Jörg Haider damals in eine Richtung aufmachte, aus der Österreich bis in die Gegenwart nicht in der Lage ist, auszusteigen. Julia Jost erzählt von einem elfjährigen Kind, dass sich schon als Mädchen nicht in die ihr zugedachte Rolle einfügen will, das ihre Andersartigkeit spürt, das sich unter einem Lastwagen versteckt, um dem geschäftigen Treiben auf dem Gratschbacherhof zuzuschauen, die lieber mit ihrer Freundin Luca spielt, um sich nicht einholen zu lassen von den aus- und einladenden Geschehnissen auf dem Hof ihrer Eltern und Grosseltern.

Julia Jost «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht», Suhrkamp, 2024, 231 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43167-2

Ihr Vater ist mit seinen Geschäften zu Geld gekommen, zu viel Geld. So viel Geld, dass weder Vater noch Mutter in der Lage sind, das Geld standesgemäss auszugeben. Also zieht man um, vom Gratschbacherhof am Fuss der Karawanken, nicht weit von der Drau, dem Fluss, der Kärnten in Nord und Süd teilt, in die Stadt. Weg vom Gasthof, der der Gratschbacherhof ist und war, in dem sich all die mehr oder minder Originale trafen, kein Geheimnis Geheimnis blieb und die rechts-nationalistische Gesinnung, die auch an den Wänden prangt, bis hin zu einem alten, vergilbten Ariernachweis der Familie aus allen Poren trieft. Schuldgefühle ihrer Mutter, die sich mitverantwortlich fühlt für den Tod eines Kindes, ein Junge, der kopfüber in einem tiefen Brunnen starb mit einem Messer mit der Gravur ‹Meine Ehre heißt Treue’ aus der Waffenkammer seines Grossvaters im Bauch.

«Geh ruhig tiefer hinein. Immer dem Dunkel nach. Und der Stille.»

Auf dem Hof stapeln sich Berge von Material; Möbel, Kleider, Uhren, Schmuck… Dinge mit denen man Dutzende Haushalte ausrüsten könnte. Zeugnisse eines rauschhaften Lebens einer Frau, die nie zur Ruhe kommt, die das ganze Leben zu einer einzigen Kompensation macht, einer einzigen Busse für eine Existenz am Rande des Wahnsinns. Es versteckt sich nur das Kind, unter dem Lastwagen, der das ganze Zeug an den neuen Ort bringen soll, in die Stadt, wo ein neues Leben beginnen soll, weg vom Gratschbacherhof, in dem sich all die Dämpfe, Gerüche und Gase aus der Vergangenheit mit aller Hartnäckigkeit festhalten.

Das Faszinierende an diesem Roman ist aber weder die Geschichte noch das Szenario. Die Österreichiche Literatur ist voller Abrechnungen, Rundumschläge, Beschimpfungen und Triaden. Julia Josts Szenerie erinnert an die gnadenlos frechen Zeichnungen des 2016 verstorbenen Karikaturisten Manfred Deix, an die messerscharfen Antiheimatromane eines Josef Winklers oder die schäumende Sprachlust der in diesem Jahr verstorbenen Schriftstellerin und Malerin Helena Alder. Es ist die schiere Sprachlust und Sprachkunst, der fast atemlose Rhythmus, der erst bei der lauten Lektüre zum Tragen kommt. Es sind die barocken, verspielten, überbordenden Bilder, der lange Atem, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zieht. Da schreibt jemand, der von einer ganzen Horde von Geistern geritten wird. Zugegeben, man muss sich in diese Wort- und Satzkaskaden einlassen. Aber wenn man sich bei der Lektüre betören lässt, wird es zu einem wilden Ritt auf den Zacken der Krawanken! Ein literarischer Hochgenuss!

Julia Jost, geboren 1982 in Kärnten, Österreich, studierte Philosophie, Bildhauerei und Theaterregie. Sie arbeitete als Regisseurin und Dramaturgin in der freien Szene sowie u. a. am Thalia Theater Hamburg. 2019 wurde sie für einen Auszug aus «Wo der spitzeste Zahn der Karawanen in den Himmel hinauf fletscht» mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. Ihr Theaterstück «ROM» feierte im April 2024 am Volkstheater Wien Premiere. Julia Jost lebt in Wien und Berlin.

Beitragsbild © Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag

Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis

Vielleicht beschreibt „Familie“ das engste Band, den grössten Anker, mit dem wir uns durch ein Leben mit vielen Ungewissheiten trauen. Kein Wunder, ist kein Gefüge derart mit Idealen, Vorstellungen und Erwartungen behaftet wie „Familie“. Ursula Fricker lotet in ihren Romanen immer wieder dieses filigrane Gefüge aus. „Fangspiele“ ist ein Roman über die Blendungen der „Freiheit“.

Was Freiheit bedeutet oder wie frei wir uns in Wirklichkeit in unserem Leben bewegen, darüber streitet nicht nur die Politik und die Philosophie. Wie sehr die Freiheit des einen zur Last des andern werden kann, davon gibt es unzählige kleine und grosse Beispiele. Beispiele, die sich bis zur Katastrophe auswachsen. Nach welchem Massstab agieren wir? Was lässt uns etwas tun und was verhindert, etwas zu tun? Wie sehr lassen wir uns in unserem Leben einschränken, um Konventionen zu genügen, Rollen einzunehmen? Wie weit haben wir das Recht, unsere eigenen Bedürfnisse, unsere Wünsche zur allumfassenden Rechtfertigung unseres Tuns zu erklären?

Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis, 2024, 224 Seiten, CHF ca. 30.00,
ISBN 978-3-7152-5036-6

Ines und Lenni sind ein modernes Paar, beide erfüllt in ihrem Beruf, auch wenn sich beide im Laufe ihrer Karriere anzupassen hatten. Sie kauften sich am Stadtrand Berlins ein Haus über einem kleinen See, renovierten es mit Hilfe ihrer Freunde zum grössten Teil eigenhändig und freuen sich am musikalischen Feingefühl ihrer einzigen Tochter Lea. Eigentlich passt alles. Eigentlich. Scheinbar.
Ganz zufällig, wegen einer Autopanne, lernen sie Edda kennen, eine charismatische, eigenwillige Frau in ihrem Alter, die mit einem Mal in ihr unaufgeregtes Leben tritt und alles aufmischt. Edda bewegt sich in der Theaterszene, wirbelt durch die Kunstwelt. Nicht nur auf der Bühne bleibt kein Stein auf dem andern, lösen sich Gewissheiten auf, reisst die Action Gewachsenes in ihren Strudel.

Auch ihre Tochter Lea schält sich aus ihrer Rolle als braves Kind, emanzipiert sich mehr und mehr, hängt ab mit ihrer Freundin Peggy. Plötzlich ist der Wunsch nach einem Tatoo viel dringlicher als das tägliche Cellospiel, obwohl Leas Lehrerin dem Mädchen ein grosses, auf keinen Fall zu vernachlässigendes Talent zuspricht. Auch Lenni hängt mit seinen Gedanken der einen oder andern verpassten Chance nach, nicht zuletzt dem versäumten Einstieg in die Forschung. Das Wartezimmer seiner Hausarztpraxis ist zwar immer voll. Aber auch er fühlt sich mehr und mehr in einem Zustand des Wartens.

«Was ist Einbildung und was ist real?»

Bis sich Lennis Frau Ines mehr und mehr von ihrer neuen Freundin Edda in ihre Theaterwelt einspannen lässt. Bis Ines mehr und mehr klar zu werden scheint, dass ihre eigentliche Berufung in den umtriebigen Theaterprojekten ihrer neuen Freundin liegt, Ines immer öfter abtaucht, manchmal auch für ein paar Tage. Bis man Lenni zu verstehen gibt, dass Ines auch an ihrem Arbeitsplatz das eine oder andere Mal unentschuldigt fehlte. Bis Ines bei einem Auftritt ihrer Tochter Lea trotz eines Versprechens wegbleibt. Nicht nur, dass sich Ines mehr und mehr aus dem Familiengefüge entfernt. Lenni weiss nicht, wie ihm geschieht. Was geschieht mit seiner Frau? Welche Rolle spielt die Frau, der man einst am Strassenrand aus der Patsche half? Warum wird aus Zweisamkeit, aus einer Familie plötzlich ein Trümmerfeld, in dem die letzten Gewissheiten einzustürzen drohen?

Und als Jasper, ein Freund aus alten Tagen ihm ein Angebot zurück in die Forschung macht, Lea die Aufnahmeprüfung an ein angesehenes Musikgymnasium schafft und sich die Bande zwischen Lenni und seiner Tochter Lea in der Not mit einem Mal verfestigen, als Lenni mehr und mehr hinnehmen muss, dass der Kampf um seine Ehe, die Mutter seiner Tochter aussichtslos wird, beginnen jene Fragen aufzuflammen, denen er sich ein Leben lang verweigerte.

„Fangspiele“ ist eine heftige Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen der Zeit: Wo beginnt Manipulation? Was bedeutet „persönliche Freiheit“? Wie weit kettet uns Verantwortung? Ursula Frickers literarische Auseinandersetzung zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit fahrlässiger Sicherheit bewegen. Wie schnell Gewissheiten kippen können. Ursula Frickers Roman ist fein gesponnen und zeigt gekonnt, wie sehr wir uns in Automatismen bewegen, wie sehr wir gefangen sind von uns selbst. Wie schnell die Freiheit des einen zum Zwang des andern wird. Wie sehr die Befreiung dort zur Katastrophe hier werden kann.

Unbedingt lesen!

Interview

Keiner meiner Lebensabschnitte zeigte mir deutlicher, wie verwundbar das Gefüge „Familie“ ist, wie die Corona-Zeit. Wie verletzlich. Wie ausgesetzt. Leben wir nicht viel zu sehr in scheinbaren Gewissheiten? Richten wir uns nicht viel zu selbstverliebt ein Leben ein, das gefälligst nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu funktionieren hat?

Interessant an der Corona-Zeit war ja, dass Familien, von denen man glaubte, sie funktionierten recht gut, durch die erzwungene permanente Nähe an ihre Grenzen kamen. Zumindest in meinem Bekanntenkreis konnte ich das beobachten. In normalen Zeiten ist man ja selten so viel zusammen, man arbeitet, die Kinder sind in der Schule, man trifft sich vielleicht morgens zum Frühstück und abends zum Essen. Und plötzlich teilt man sich Ort und Zeit vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Die kleinen Freiheiten, die Nischen, die man sich geschaffen hat, werden ausgefüllt von der Präsenz der anderen. Man fühlt sich, man ist, unter Dauerbeobachtung. Leise und vorsichtig stellt sich die Frage, ob ein Zusammenleben über Jahrzehnte überhaupt nur klappt, indem man sich den grössten Teil der Zeit aus dem Weg gehen kann.

Wenn man länger mit jemandem zusammen lebt, lernt man den andern auf eine bestimmte Weise kennen. Man ist gezwungen, ihn, zumindest teilweise, in das eigene Selbst zu integrieren. So ergeht es auch Lenni und Ines. Gewiss- und Geborgenheit, aber auch Abhängigkeiten und Gewohnheiten ergeben ein Lebensgefüge. Vielleicht scheint es zunächst eine Anmassung, sich das Leben möglichst nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen einrichten zu wollen, aber es ist doch auch zutiefst menschlich. Im alltäglichen Zusammenleben allerdings, auch ohne Corona, sind Kompromisse unerlässlich. Gut, wenn das Zurückstecken gerecht verteilt ist. Ist es aber in den seltensten Fällen. 

Im Roman gibt es ja Verweise auf die Mutter von Ines, Grete, auch sie Ärztin, eine kernige, selbstbewusste Frau, die mit einem Mann verheiratet ist, der sie emotional misshandelt: Sind das nun Gretes Bedürfnisse, die dieser Mann abdeckt, oder warum bleibt sie bei ihm – und zwar freiwillig. Selbe Frage stellt sich bei Ines und Edda: Warum verharrt eine bisher selbstbestimmt lebende Frau in einer toxischen Freundschaft, obwohl sie diese jederzeit beenden könnte. „Edda ist nicht Mafia“, reflektiert Lenni an einer Stelle, „sie würde kein Rollkommando schicken, im Gegenteil, sie würde Ines morgen früh schon ersetzt und sie abends vergessen haben …“ Mich haben die beiläufigen psychologischen Mechanismen interessiert, die Menschen (jenseits ökonomischer Zwänge) veranlassen, illiberale Bedingungen nicht nur zu tolerieren, nein, sie sogar zu suchen.

Das echte „Haus am Hang“ in der Nähe von Buckow, in dem die Geschichte teilweise spielt. Ursula Fricker entdeckte  es vor vielen Jahren. Bis heute blieb es unverändert. © Ursula Fricker

Edda bringt das Leben von Lenni und Ines umfassend durcheinander. Für Ines die Befreiung, für Lenni die Katastrophe. «Was ist Einbildung und was ist real?“, schreibst du in deinem Roman. Ist nicht jede Wahrheit eine ganz persönlich gefärbte? Eine nur aus der persönlichen Geschichte zu begreifende?

Der Roman, aus Lennis Perspektive erzählt, ist ja auch eine Manipulation (des Lesers, der Leserin). Was Einbildung ist und was real, diese Ambivalenz durchzieht die ganze Geschichte. Auch Lennis Forschungsgegenstand, Placebo-Einsatz in der praktischen Medizin, streift diesen Komplex: Einbildung kann zu einer durchaus realen Verbesserung unterschiedlichster Beschwerden beitragen. Und ja, jede Wahrheit ist natürlich eine persönlich gefärbte. Aber was bedeutet „persönlich“, gibt es so etwas wie eine reine eigene Wahrheit überhaupt? Auch die eigene Wahrheit ist ja beeinflusst von Dingen, die wir lesen oder hören, von Moden und Trends. Von Menschen, die wir bewundern, denen wir nacheifern, mit denen wir uns identifizieren und vergleichen. „…wo verbindet der fremde Einfluss sich mit dem eigenen Wollen, und wie viel Mischung verträgt ein eigener Wille, um nicht plötzlich rot statt blau zu sein?, fragt Lenni an einer Stelle. Ein schmaler Grat also. Man spricht heute ja oft von „Blasen“.  Je nachdem in welchem Umfeld wir uns bewegen, kann die „Wahrheit“ einer solchen Gruppe als ureigene Meinung/Ansicht empfunden werden bzw. ist sicherlich die Neigung wiederum sehr persönlich, welchem Umfeld man sich zugehörig fühlt. Früher gab es dieses Phänomen der „Blase“ natürlich auch schon, aber die Wucht der gegenseitigen Bestärkung, die Ausschließlichkeit und auch die Unversöhnlichkeit potenziert sich, seit wir Social Media haben – gepaart mir einer zeitgeistigen Überinterpretation des eigenen Gefühls bzw. der Unfähigkeit, Gefühle mittels rationaler kritischer Distanz zu reflektieren.

Recherchereise 2019 der Autorin, Hiddensee, der Leuchtturm – wenn man genau hinsieht. © Ursula Fricker

Dass sich Katastrophen kulminieren können, wissen wir aus unserem Leben selbst. Und dass der Satz „Eines Tages wirst du wissen, wie sehr du in jenen Momenten gewachsen bist“ dann nichts Tröstliches hat, wissen wir auch. Wir wissen auch sehr wohl, wie schnell Gewissheiten wegbrechen können. Und trotzdem öffnen sich Abgründe. Warum sind wir so harmoniebedüftig?

Gewissheit ist ja erstaunlich selten mit „wirklich wissen“ assoziiert und noch seltener mit Wissenschaft, vielmehr mit Erfahrung, mit Glauben, Vertrauen, mit Gefühl. Gewissheit ist also eine subjektiv geprägte, persönliche oder auch gruppenbezogene „Wahrheit“. Nehmen wir Gott als wohl bekanntestes Beispiel. Für Menschen im Mittelalter war Gott eine Gewissheit – durch vom Glauben geprägte Erfahrungen. Phänomene schrieb man umstandslos dem göttlichen Wirken zu. Gott (der Klerus) als unhinterfragbare Führungsinstanz lenkte und überwachte ein dichtes moralisches Regelwerk und verfügte entsprechende Sanktionen. Dem Einzelnen bot sich so eine Art Lebenskorsett. Eng geschnürt, aber auch Halt gebend. 

Emanzipatorische Strömungen, auch die Trennung zwischen Kirche und Staat im Zuge der europäischen Aufklärung/Säkularisierung haben uns von diesem moralischen Rigorismus nach und nach befreit. Heute sehen wir, zum einen in den USA, zum andern in islamisch bzw. islamistisch geprägten Ländern, die nie eine Aufklärung im westlichen Sinn durchlaufen haben, aber dennoch eine Weile recht freie Lebensweisen pflegten, einen beispiellosen religiösen Backlash. In den westlichen Gesellschaften, die USA habe ich ja schon erwähnt, aber auch bei uns, scheinen aktuell ebenfalls diverse religiöse oder quasireligiöse Entwicklungen Fahrt aufzunehmen. Autoritäre Führungsfiguren, seien sie dem rechten Spektrum zuzurechnen, seien es Verfechter moralisierender Sprach- und anderer ideologisierter Regelkomplexe, die absolut gesetzt werden. Parallel ist eine Romantisierung vermeintlicher Befreiungsbewegungen zu beobachten – bis hin zur Kontextualisierung von nackter Barbarei und der Rechtfertigung von politisch-religiösen Agenden, die uns allen eigentlich den Angstschweiss auf die Stirn treiben sollten. Das ist schon einigermassen absurd. 

Manchmal scheint mir, als ob kaum jemand so recht damit klarkäme, dass die Moderne dem Einzelnen viel Freiheit schenkt, aber auch viel Ambivalenz auferlegt. Dass das Böse nicht auf der einen, und das Gute auf der anderen Seite zu verorten ist. Vielleicht ist Freiheit ja eine so ungeheure Zumutung für den Menschen, dass er sich lieber autoritären Strukturen beugt, um dann umso heftiger von Freiheit zu träumen. Ich will das eigentlich nicht glauben.

Notizbuch von Ursula Fricker, © Ursula Fricker

Lenni glaubt an Manipulation; Edda ist die Zerstörerin. Lea, Ines und Lennis Tochter, versteht die Welt nicht mehr und verlässt in ihrer Not den Weg der Konfrontation, weil sie reflexartig spürt, dass mit dem Verschwinden ihrer Mutter ihr Boden zu Teibsand werden könnte. Selbst die scheinbare „Befreiung“ von Ines ist ein Klammern. Das Klammern an einen Traum, eine Idee. Ist nicht alles die Hoffnung auf Rettung?

Das Interessante an Ines ist ja, wie sie mit ihrer kognitiven Dissonanz umgeht bzw. nicht umgeht. Einerseits ist da Ines` bisherige, ausgesprochen selbstbestimmte Weise zu leben. Andererseits Eddas Theater, Avantgarde, Edda eine charismatische Figur, ein Guru, wenn man so will, die Opferbereitschaft fordert, die sich willkürliche Bestrafungen erlaubt, manipulativ. Warum möchte Ines so unbedingt mit Edda befreundet sein, zu dieser Gruppe um Edda gehören? Ist es wirklich nur der Traum, endlich Theater machen zu können, oder spielt da auch ein sehr eitles Motiv mit rein; möchte sie einfach gerne einem elitären Kollektiv angehören, ist es eine Art Fetischisierung des Aussergewöhnlichen, Eddas Machtmissbrauch ein Zug, der genialen Menschen halt zusteht? 

Will man irgendwo dazugehören, muss man sich im Grunde ja immer den dort herrschenden Bedingungen anpassen. Umso dringender dieser Wunsch, desto unfreier macht man sich selber – und umso exklusiver ein „Club“, desto verzweifelter möchte man ihm angehören, nicht selten auch um den Preis der Selbstentmündigung. 

Ja, Lea ist der Lichtpunkt in dieser Geschichte. Zumindest geht mir das so. Ein Mädchen, eine junge Frau, die unter den Entwicklungen in der Familie zwar leidet, aber intuitiv eine sehr eigenständige Stärke entwickelt. Verantwortung für sich selber übernimmt. Nicht primär nach der Schuld der anderen fragt, die Rettung nicht delegiert, sich selber rettet. Sie hält sich an das, was sie gut kann: das Cellospiel.  

Ines verschwindet aus ihrem alten, angestammten Leben. Wie oft spielen wir mit dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir aus allen Pflichten und Zwängen aussteigen würden, kompromislos und unumstösslich. Wir kennen solche Biographien. Manche werden gar zu Heiligen. Und trotzdem zementieren wir unser Dasein, bis uns das Gewicht den Atem nimmt?

Der radikale Bruch. Die ultimative Befreiung. Bei Ines ist es ein wenig komplizierter. Sie geht ja nicht ins Offene; wenn man Lenni glauben will, vieles spricht dafür, begibt sie sich aus einer recht gleichberechtigten Partnerschaft sehenden Auges in eine manipulative Hölle. Mehr dazu habe ich ja oben schon ausgeführt. 

Wenn jemand aber aus einem Impuls heraus einfach geht, dann möchte man ihm unbedingt folgen. Man möchte sehen, wie er sich durchschlägt, wie er an Geld oder Essen kommt, wo er schläft. Es scheint sich, dem Tramp ähnlich, heute hier, morgen dort, um die totale Freiheit zu handeln. Ist es natürlich nicht. Aus Pflichten lässt sich vielleicht aussteigen, aber nicht aus Zwängen: zu essen, zu schlafen. Ich würde sogar sagen, die Beschaffung von Essen, das Suchen eines sicheren Schlafplatzes, mit anderen Worten, das Stillen der elementarsten Bedürfnisse, kann zu einer echten Plage werden, der Überdruss bleibt nicht aus. So oder so, das Leben hat Längen. Über weite Strecken passiert nicht viel. Und man gewöhnt sich leider auch an das aufregendste Leben. Sind das Gründe, nicht davon zu träumen? Natürlich nicht. Die Idee, einfach alles hinter sich zu lassen, ist wohl nichts weniger als eine archaische Sehnsucht. Esoteriker würden sagen, das Nomadische in uns. 

Und was uns hält, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Nach Schutz. Nach Kontinuität, Gewissheit, Struktur. Diese Bedürfnisse oder auch Notwendigkeiten, besonders wenn man Kinder hat, sind wohl letztlich doch stärker als eine Freiheit, die ja eigentlich auch gar keine echte Freiheit ist.

Dein Roman ist auch ein Buch über Wahrnehmung. Ein Thema, dass wie nie zuvor diskutiert wird, und zwar nicht bloss theoretisch oder philosophisch. Selbst Kriege werden mit kollektiver, ideologisierter Wahrnehmung gerechtfertigt. Ist Schreiben ein Versuch der Wahrnehmung?

Wahrnehmung ist ja eng mit Wahrheit verzahnt. Wie wir oben gesehen haben, verleitet die Wahrnehmung aus einer bestimmten Perspektive heraus dazu, diese spezifische Sicht der Welt auch für wahr zu halten. Und möglicherweise den Rest der Welt zu zwingen, dasselbe zu tun. Schreiben ist der Versuch herauszuarbeiten, wie unterschiedlich Wahrnehmung funktionieren kann. Literatur leiht dem Leser, der Leserin, fremde Augen, verführt zur Empathie, erstmal neutral verstanden. Die Definition von Empathie ist ja zunächst nur: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu verstehen und nachzuempfinden.“ (Wikipedia) Also bedeutet Empathie nicht nur, beispielsweise den Schmerz einer anderen Person mit- oder nachempfinden zu können, auch den Hass oder die Gleichgültigkeit eines Mörders. Das hat nichts mit rechtfertigen zu tun. Wir lernen daraus viel. Für unser eigenes Leben und vielleicht auch Über-leben.  

Dass wir uns in der Literatur sowohl als Schreibende als auch als Lesende in andere, fremde Wahrnehmungswelten versetzen dürfen, hat ein extrem wertvolles humanes Potential. Literatur ist eine Art Training, Ambivalenzen auszuhalten. Literatur weiss nicht schon, sie fragt. Sie muss frei sein von Instrumentalisierung. Ein Essentialismus der behauptet, nur Betroffene könnten beispielsweise Unterdrückungserfahrungen begreifen und logischerweise auch schildern (oder übersetzen) hat in der Literatur nichts zu suchen. Die oftmals verzerrte Wahrnehmung gruppenbezogener Perspektiven als einzige Wahrheit – das kann niemand wollen. Literatur ist zu soviel mehr imstande als der Exekution politischer Agenden; sie kann uns von der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten erzählen, weit jenseits der kleingeistig-ängstlichen Vermeidung von Verstörung. Lea, im Kleinen, macht es vor: Das Leben verletzt, aber man kann darüber hinwegkommen.  

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für «Fangspiele» erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Sparmassnahmen kippen literaturblatt.ch! #SchweizerBuchpreis 24/01

«Besuchen Sie die Literaturblogs unserer Partner und erfahren Sie, welche Bücher und AutorInnen die Szene bewegen», stand bisher auf der Webseite zum Schweizer Buchpreis. Aber was die «Szene» meint, scheint nicht mehr unterstützungswürdig zu sein, als Partner sind wir entlassen.

Schade. Aber „Sparmassnahme“ scheint der Grund zu sein, dass der grösste Buchbranchenverband der Schweiz auf eine Berichterstattung auf der Literaturplattform literaturblatt.ch verzichtet. Die gute Nachricht; Gallus Frei wird auch in Zukunft den Schweizer Buchpreis begleiten – dafür kritischer – und wie vieles in der Szene, unbezahlt, unbezahlbar!

«Wer schreibt, möchte Geschichten weiterreichen, damit jede Leserin, jeder Leser darin die eigenen findet. Damit das gelingt, brauchen wir Menschen wie Gallus Frei: Mit seiner Neugier, seiner Begeisterung, seinem Fachwissen ebnet er den Weg zum Buch und hilft so den Schreibenden und den Lesenden zueinanderzufinden.» Karl Rühmann, 2020 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Die Trennung kam unerwartet. literaturblatt.ch war gerne ein ganz kleiner Teil des Unternehmens und verstand sich stets als Stimme von Leserinnen und Lesern. Die Berichterstattung auf literaturblatt.ch soll Auseinandersetzung weit über das Buch hinaus sein. Aber nachdem es in den letzten Jahren für Literatur in den grossen Medien immer weniger Platz gibt, auf Radio SRF wurde mit „52 beste Bücher“ einer der gewichtigsten Literatursendungen gestrichen, in Zeitungen werden sorgfältige Buchbesprechungen immer seltener, das Feuilleton immer schmaler, ist es nicht verwunderlich, wenn es auch für unabhängige Buchpreisbegleitung keinen Platz, kein Budget mehr gibt.

„Ausser Kugler, Schütt, Ebel und Bucheli kommt kaum noch jemand zu Wort, und selbst die NZZ hat durch die Entlassung sämtlicher freier Mitarbeiter 80% der früher publizierten Kritiken gestrichen. In dieser Situation ist eine Aktivität wie die auf literaturblatt.ch, auch wenn die Artikel nicht gedruckt erscheinen, von grosser Wichtigkeit. Nach wie vor braucht die Literatur die Kritik, und es erscheinen immer mehr Bücher, die überhaupt keine kritische Würdigung erfahren, während die wenigen wahrgenommenen so besprochen werden, dass eine einzige Kritik gleichlautend in 24 bzw. 28 Zeitungen erscheint. Ist es ein Verriss, so ist es eine schweizweite Abkanzelung, ist es ein Lob, trifft es vielfach Indiskutables, während die Perlen daneben unbeachtet bleiben. In dieser Situation kann eine Website, die auch dem Übersehenen noch eine Chance gibt oder einer schweizweit verbreiteten Beurteilung eine alternative Meinung gegenüberstellt, nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Aber es passt. Nach etwelchen erfolglosen Versuchen, für literaturblatt.ch regelmässige Mitfinanzierung zu organisieren, verkraftet man(n) auch diese Sparmassnahme. Vielleicht auch darum, weil der SBVV sehr gut weiss, wie werbewirksam das Medium literaturblatt.ch ist und sich die Literaturplattform auch ohne finanzierten Auftrag für die Literatur einsetzen wird. Schade darum, weil es die Berichterstattung kostenlos macht, nicht wertlos, aber „gratis“.

„In Zeiten schwindender Buchbesprechungen in den Printmedien sind Internetportale wie literaturblatt.ch wichtige Orientierungshilfen in der Flut der Neuerscheinungen.“ Christian Haller, Träger des Schweizer Buchpreises 2023

Dass ich nicht mehr Teil des Unternehmens «Schweizer Buchpreis» sein soll, schmerzt auch deshalb, weil es 5 Jahre waren, während denen ich auf literaturblatt.ch alles tat, um die Berichterstattung über den Buchpreis möglichst abwechslungsreich und wirksam zu gestalten. Die Berichterstattung sollte ein eigenes Gesicht, ein eigenes Profil bekommen. So bebilderte die junge Illustratorin Lea Le die jeweiligen Berichte, unentgeltlich, einfach nur, weil es eine gute Sache war.

«Die Feuilletons werden dünner. Umso wichtiger ist es, bestehende Perlen im Netz zu stärken – wie zum Beispiel literaturblatt.ch, wo schon seit 2016 eine Rezension die andere über den Computerbildschirm jagt. Mein besonderer Tipp? gegenzauber.literaturblatt.ch – ein Who’s-Who von kurzen, schlagkräftigen Texten von A wie Agnes Siegenthaler bis Z wie Zsuzsanna Gahse.» Simon Froehling, 2022 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Damit literaturblatt.ch weiterhin unabhängig über die Literatur im allgemeinen und über den Schweizer Buchpreis im Speziellen berichten kann, möchte ich Sie zu einem Unterstützungsbeitrag aufrufen. Als Gegenleistung nehme ich mit Ihnen direkt Kontakt auf, um Ihnen eine Freude meinerseits zu schenken, sei dies ein Buch, ein Nachtessen, ein Treffen…

„Gallus Freis Begeisterung für Bücher ist im wahrsten Sinne ansteckend.“ Michael Hugentobler, 2021 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Kontoangaben: 
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil, Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil, CH05 8080 8002 7947 0833 6, ID (BC-Nr.): 80808, SWIFT-BIC: RAIFCH22, Bemerkung: Unterstützer*in

«Der Schweizer Buchpreis und die aufmerksame Anwesenheit von Gallus Frei / literaturblatt.ch gehören für mich zusammen: Seine immer genaue und ausführliche Berichterstattung online hat mich und mein Debüt „Die Nachkommende“ während der Nominierung 2019 begleitet und bleibt in bester Erinnerung.» Ivna Žic, 2019 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Illustrationen © leale.ch

Schon jetzt vielen Dank an K. S. und E. J. für die grosszügige Unterstützung!

Leukerbad – 3 Tage Hauptort der Literatur – 3 Rosinen – ein Rückblick

Ob Terézia Mora, Ronya Othmann oder Joanna Bator, von Frauen erduldete und erlittene Gewalt ist immer wieder Thema in der Literatur, als wäre die Literatur die Waffe, um sich mit Sprache gegen diese Gewalt zu wehren.

Nicht ganz einfach für mich als Mann, zumal mich die Lektüre dieser Bücher und die Gespräche darüber immer und immer wieder mit Selbstreflexion konfrontieren; Wie weit bin ich selbst Teil dieser Mechanismen? Wie viel davon ist mir bewusst, wie viel ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen? Was hat sich in meine Sprache eingeschlichen? Warum scheint sich in Büchern leichte Unterhaltung mit den Sonnenseiten der Liebe zu beschäftigen und „ernste“ Literatur mit den Schattenseiten? Warum beschleicht mich beim Lesen immer wieder das Gefühl, „auf der falschen Seite“ zu sein.

Weder Gewalt an Frauen, oder all die unauffälligen, verborgenen männlichen Verhaltensweisen, die sich bewusst oder unterbewusst gegen Frauen richten bis hin zu offensichtlicher Misogynie, waren Thema am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Aber selbst der ofenfrische Roman der jungen Michelle Steinbeck widmet sich dem Thema, lässt Männer oder zumindest Männlichkeit schlecht aussehen.

Michaela Wendt, Joanna Bator und Barbara Wahlster © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator, nicht zum ersten Mal Gast (Man kündigt in Leukerbad weibliche Gäste als Gästinnen an. Etwas was mir weder über die Lippen noch in die Tasten geht, zumindest vorläufig.) in Leukerbad, brachte einen monumentalen Roman ins Wallis. Auf 800 Seiten erzählt Joanna Bator virtuos, verschachtelt und leidenschaftlich von vier Generationen Frauen, einem Jahrhundert deutsch-polnischer Geschichte. Eine Geschichte, in der die Männer einzig und allein da sind, Schwierigkeiten zu machen, abwesend zu sein oder sich ganz offensichtlich gegen die weibliche Kraft zu wenden, bis hin zu schreiender Gewalt.

Ronya Othmann © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Noch offensichtlicher wird es bei Ronya Othmann, die sich mit ihrem Roman „Vierundsiebzig“ auf beklemmende Weise mit ihrer jesidischen Herkunft, ihren Wurzeln beschäftigt. 2014 verübte der IS einen Genozid an den Jesiden im Sindschar-Gebirge. Weitab von der medialen Aufmerksamkeit wurden im Norden des Iraks Tausende von Jesiden umgebracht, hauptsächlich Männer, während man Frauen als Sexsklavinnen verkauft und Kinder zu Selbstmordsoldaten macht. Ein Massaker in einer langen Reihe, das vierundsiebzigste, ein Genozid über Jahrhunderte, ein genetisch verankertes Trauma einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die als Minderheit immer und immer wieder zwischen die Fronten gerät. Ein massenhaftes Töten fanatischer Männer. „Vierundsiebzig“ ist ein langer Erklärungsversuch einer jungen Autorin, die nicht nur in ihrem Roman um eine Stimme ringt. Selbst während des Gesprächs am Festival über ihr Buch rang sie nach Fassung. Ein Buch, dem ich möglichst viel Publikum wünsche!

Terézia Mora zusammen mit ihrer Moderatorin Barbara Wahlster © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Viel abgeklärter die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora, die in ihrem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ erstmals aus der Sicht einer Frau erzählt. Muna liebt Magnus. Es könnte eine Liebesgeschichte sein, ist aber viel mehr die Leidensgeschichte einer Frau, die sich nicht aus dem Dunstkreis eines Mannes befreien kann, der sie fesselt und erniedrigt. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.

Das sind nur ein paar wenige Eindrücke aus dem vielfältigen Programm des diesjährigen Festivals, das trotz prominenter Absagen, reiste ich doch mit vollständiger Svenja-Leiber-Bibliothek an, äusserst dicht und kurzweilig war. Selbst mit den Unmengen an Wasser, die dem Wallis in diesen Tagen arg zu schaffen machten. Ein grossartiges Geschenk!

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghandtschi

Unten Getöse oben «Wie der Hase läuft» von Rebekka Salm am Literarischen Spaziergang am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad

Der Spaziergang in die Dalaschlucht zusammen mit der Schriftstellerin Rebekka Salm und einer Gruppe Unerschrockener versprach angesichts der Wassermassen, die das Wallis zudeckten, abenteuerlich zu werden.

Man versicherte uns einen gefahrlosen Ausflug in die Schlucht mit hängenden Stahlkonstruktionen, die einem einen spektakulären Blick ins tobende Wasser ermöglichen. Die grossen Wasser seien in den südlicheren Tälern übers Wallis hineingebrochen. Bilder von Zermatt schienen mit einem Mal etwas in die Ferne zu rücken.

Rebekka Salm las während des Spaziergangs zweimal aus ihrem zweiten Roman „Wie der Hase läuft“ und begeisterte dabei nicht nur mit ihrer Geschichte um Familiengeheimnisse, sondern auch mit dem Witz in ihrer Sprache und der Souveränität ihres Auftretens. Rebekka Salm spickte ihre Lesungen mit Anekdoten und der Frage in die Runde, ob wir denn alle sicher seien, dass das uns Erzählte in unseren Familien denn wirklich der Wahrheit entspreche. Dass Alex Capus, als er Rebekka Salms Erstling „Die Dinge beim Namen“ gelesen hatte, meinte „Die Schweiz hat eine neue Erzählerin“ ist mehr als bloss Feststellung.

Wie sehr Leukerbad nicht nur von landschaftlichen oder architektonischen Gegensätzen dominiert wird, sondern in diesen Tagen auch von literarischen, sprachlichen, schien bei diesem Spaziergang für einmal ausgeblendet. Ein Spaziergang vorbei an blühenden Alpwiesen, gemächlich wiederkäuenden, schwarzen Eringer-Kühen, die bloss mit ihren ausgeprägten Hörnen daran erinnern, dass man sie jedes Frühjahr in fünf Gewichtsklassen gegeneinander kämpfen lässt, hoch über die schäumende Dala, die seit Jahrtausenden die Felswände in dieser Talenge ausschleift.

Noch am gleichen Tag begegnen mir auf den betonierten Wegen im vom Geschäft mit Touristen kaputtgebauten Dorf eine blondierte Spaziergängerin mit Regenschirm und Hund. Das Tier ist bis auf die Pfoten in eine Pellerine eingepackt und schaut mich durch einen plastivizierten Seeschlitz an, als würde er um Befreiung betteln. Einige Meter weiter schiesst ein paar Armlängen vor mir ein Rehbock aus der Baubrache eines seit Jahren abgesperrten Geländes über den Weg, springt in eleganten Sätzen über den Weg hinein in eine andere Brache, auf der sich mitten im Dorf das Dickicht eines Jungwäldchens ausbreitet.

Das Internationale Literaturfestival Leukerbad ist für mich deshalb ein Fixpunkt in meinem Terminkalender, weil ich hier Autorinnen und Autoren antreffe, die längst zu Fixsternen des Literaturbetriebs geworden sind, wie Anne Weber, Frank Witzel, Teju Cole, Marlene Streeruwitz oder Thomas Hettche neben Geheimtipps wie Douna Loup oder Rebecca Gisler. Leukerbad wird während dieser Tage zu einem Mekka des Wortes, zu einer Stätte, an der man angesichts der globalen Ungeheuerlichkeiten nach Sprache ringt.

Claire Keegan «Reichlich spät», Steidl

Claire Keegans Romane sind Konzentrate, sprachlich wie inhaltlich. „Reichlich spät“ beschreibt das Psychogramm eines Mannes, der sich seiner dunklen Seiten nicht bewusst ist, der ganz und gar verklebt ist in der Sicherung seiner eigenen Bedürfnisse. Und Claire Keegan schreibt in einer Intensität, die trunken macht.

Das Buch ist nicht einmal 60 Seiten „dick“. Aber von schmalbrüstig kann keine Rede sein. Nicht dass die Autorin auf Beschreibungen und Stimmungsbilder verzichtet. Aber jeder Satz bebildert das Geschehen. Jede Wendung vervielfacht den Genuss des Lesens, auch wenn die Geschichte bisweilen weh tut.

Cathal lebt und arbeitet in Dublin. Sein Leben spielt sich in der Firma vor seinem Bildschirm, im Bus und seiner Wohnung ab. Nicht dass er einsam wäre. Es ist ein genügsames Leben, ein Leben aber, dass sich von den Dingen um ihn herum nur wenig beeindrucken lässt. Vielleicht ist Cathal ein Prototyp dessen, was Individualismus hervorgebracht hat; eine Sorte Mensch, die sich als absoluter Mittelpunkt des Sein empfindet, alles nach seinen Bedürfnissen misst, ganz auf sich selbst fokussiert ist. Ein Mann, dem Verachtung zum Lebensprogramm wurde. Ein Mann, der sich seine Welt zurechtgelegt hat.

Cathal lernt Sabine kennen, zufällig. Sie verabreden sich öfters. Man verbringt Wochenenden zusammen und immer häufiger Zeit in Cathals Wohnung, weil Sabine keine eigene Wohnung besitzt. Sabine kocht gut. Sie riecht gut. Und sie sieht leidlich gut aus. Für Cathal spricht nichts dagegen, aus dem Provisorischen etwas Festes werden zu lassen, jetzt oder nie. Auch wenn der Heiratsantrag nichts Romantisches an sich hatte und die Gründe dafür einfach bloss triftiger waren als jene dagegen, kaufen die beiden irgendwann Ringe und machen einen Termin aus, an dem die Hochzeit stattfinden soll.

Claire Keegan «Reichlich spät», Steidl, 2024, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, 64 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-96999-325-5

Aber als Sabine mit ihrem Hausrat in Cathals Wohnung einzieht, wird ihm erst bewusst, dass jenes Leben, mit dem er sich schon Jahre bequem eingerichtet hatte, nicht ohne Einschränkungen weiterzuführen ist. So sehr sich die Dinge in Cathals Wohnung ausbreiten und Sabine sich einnistet, so sehr fühlt er sich in seinem wohl eingerichteten Gefüge bedroht. Und als er sich dann auch noch in Sabines Kaufverhalten, in die Art ihres Haushaltens einmischt und Sabine ihm mehr als deutlich macht, dass sie nicht bereit ist, in der Beziehung die Rolle der Dienenden zu spielen, eskalieren die Auseinandersetzungen. Cathal weiss nicht, wie ihm geschieht.

Auf dem Cover des Buches steht: „In dieser kleinen Geschichte eines gescheiterten Paares erzählt Claire Keegan vom grossen Thema Misogynie (Frauenfeindlichkeit).“ Vielleicht geht es in diesem Buch aber ganz einfach um menschliche Degenerationen, dass Menschen mehr und mehr ihre eigenen Bedürfnisse und Ansichten zum obersten Gesetz erklären, an das sich alles und jeder zu richten hat. Cathal hat schon in seiner eigenen Familie gelernt, dass seine Mutter zu dienen hat, dass eine Frau kein ebenbürtiges Gegenüber ist, dass man sich auch getrost mit Vorsatz und hämischem Lachen über Frauen setzen kann. Frauenfeindlichkeit ist kein Phänomen der Moderne, aber in Zeiten, in denen wie in keiner Epoche zuvor Gleichberechtigung zur erklärten Selbstverständlichkeit hätte werden sollen, schlichter Hohn.

„Reichlich spät“ als Titel bezieht sich nicht nur auf Cathals Augenreiben, als er feststellen muss, dass Sabine die Reissleine gezogen hat. „Reichlich spät“ beschreibt auch den Zustand einer Gesellschaft, die es nicht schafft, sich von Mechanismen zu befreien, die sich über Jahrhunderte in den männlichen Genen festgesetzt zu haben scheinen.

Claire Keegan schreibt sich mitten in den Nerv. In ihrer unspektakulären Erzählart, den feinen Beobachtungen menschlichen Versagens blendet sie mit Spiegeln, die unweigerlich zur Selbstreflexion zwingen.

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Im Steidl Verlag sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände «Wo das Wasser am tiefsten ist» (2004) und «Durch die blauen Felder» (2008) (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2017), «Das dritte Licht» (2013/2022) und «Kleine Dinge wie diese» (2022) erschienen. «Das dritte Licht» wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und gehört für die englische Times zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Claire Keegan lebt in Irland.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod

Vielleicht verändern wir uns nur in der Bewegung – eine literarische Wanderung mit Anne Weber und Lorena Simmel

Ausnahmezustände. Paris mit seinen Banlieues und Ferymont, ein Fleck Erde im Schweizer Seeland, Orte an denen Gegensätze zusammenprallen, sich so lange aneinander reiben, bis die Hitze in Flammen aufzugehen droht. Wie jedes Jahr lädt das Internationale Literaturfestival Leukerbad zur Literarischen Wanderung ein, stets mit zwei Autorinnen oder Autoren. Heuer mit der vielfach preisgekrönten Anne Weber und der jungen Debütantin Lorena Simmel.

Das Wallis, auch ein Ort der Gegensätze; dort das touristische Gesicht eines Kantons, der mit schwarzen Kampfkühen, dem Matterhorn und Weinbergen wirbt, auf der anderes Seite riesige Industriekomplexe und ewige Baustellen, die sich über Jahrzehnte ins Rhonetal hineinfressen. Aber wer nicht nur in die Literatur eintauchen will, wer während dieser Büchertage auch etwas von der Landschaft, den Traditionen, der Geschichte mitnehmen will, ist am eigentlichen Eröffnungstag des Literaturfestivals mit der Literarischen Wanderung, geführt durch einen Guide des Naturparks Pfyn-Finges, bestens bedient, auch wenn sich die Sonne zurückhaltend zeigt.

Die Schriftstellerinnen Lorena Simmel und Anne Weber beschreiben in ihren Romanen verwundete Landschaften. Verwundungen, die bis in die Seelen der Menschen wirken, ob in einem fiktiven Ort im Berner Seeland, zwischen Bieler-, Murten- und Neuenburgersee oder den Banlieues rund um die Megacity Paris. Ob in den Plastiktunnels der Gemüse- und Beerenproduzenten, in denen Hundertschaften vom dortigen Leben gekappt unter menschenfeindlichen Bedingungen für einen Hungerlohn die Supermärkte der Schweiz bedienen oder in den von Touristen geschmähten Banlieues, wo die im Sommer beginnende Olympiade tiefgreifende Veränderungen in eine Subkultur der Metropole hineinbaut, die das Gefüge in diesen heissen Zonen nicht abkühlen wird, da das Geld meist bloss dorthin fliesst, wo das öffentliche Interesse mit Aufmerksamkeit hingiert.

Lorena Simmel liest aus «Ferymont», Verbrecher Verlag

In Lorena Simmels Roman «Ferymont» weiss die Wahlberlinerin sehr gut, wovon sie erzählt, denn ihr fiktiver Ort Ferymont liegt dort, wo sie aufwuchs. Die Erzählerin in ihrem Debüt freundet sich in den Monaten, in denen sie dort Geld verdienen will und bei einer Tante einquartiert ist, mit Daria an. Daria, eine moldawische Saisonarbeiterin, die mit ihrer ganzen Familie weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause ihr Stück Sicherheit gewinnen will. Die Erzählerin, als Seeländerin aufgewachsen, wusste schon als Kind von den fleissigen Händen in den langen Plastikröhren und Feldern in ihrer Heimat. Aber erst durch die eigene Arbeit, im Wechsel von einem Aussen in ein Innen, um als junge Frau Geld für Ausbildung und Leben in Berlin zu verdienen, lernte Lorena Simmel, was es heisst, Teil der  «Erntebrigaden» in den künstlich aufgeheizten Subkulturen einer hochgerüsteten Landwirtschaft zu sein. Daria hilft der jungen Frau, manchmal gar zum eigenen Nachteil. Je tiefer die Erzählerin in die begrenzten Lebenswelten der Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Feldern sieht, desto grösser wird ihr Befremden darüber, was die Gegensätzlichkeit dieser verschiedenen Welten mit ihr macht. «Ferymont» ist ein starkes Stück engagierter Literatur, das sich mit seiner Gesellschaftskritik nicht zurückhält!

Anne Weber mit «Bannmeilen», Matthes & Seitz

Genauso «Bannmeilen» von Anne Weber! In ihrem «Roman in Streifzügen» macht sich die Erzählerin auf in jenen Teil ihrer Heimatstadt, der bisher ihrer literarischen Aufmerksamkeit entging. Mit einem befreundeten Filmemacher, der auf Recherchegängen für ein Filmprojekt, das sich mit den Auswirkungen der Sommerolympiade auf das filigrane Ungleichgewicht in den Banlieues der französischen Hauptstadt auseinandersetzt, macht sich die Erzählerin auf in eine Welt, die ihr selbst nach 40 Jahren Paris verborgen blieb. Zu zweit besuchen sie die Unorte einer Stadt, die im Bewusstsein der Allgemeinheit als Stadt der Liebe gilt. «Bannmeilen» ist ein Versuch zu verstehen, ein fast reumütiger Versuch, den Menschen dort Aufmerksamkeit zu schenken, die sie/man bisher mit Ignoranz auszublenden verstand. Ein Buch über jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.

Aus 14 Nationen reisen Mitwirkende ins Oberwallis und bringen Geschichten und Gedichte in den verregneten Leukerbadner Bergsommer. An drei Tagen wird sich zum 28. Mal alles um die Literatur drehen, auf den Terrassen und Wiesen von Leukerbad, beim Dalaschluchtspaziergang, im «James-Baldwin-Zelt» und natürlich um Mitternacht auf dem Berg. Insgesamt warten zwischen 50 und 60 Veranstaltungen auf das Publikum, bei denen auch 12 aus der Schweiz auftreten werden.