Charles Lewinsky «Der Wille des Volkes», Nagel & Kimche

«Melnitz» von Charles Lewisnky, der 2006 erschien oder auch seine späteren Romane – alles Meisterwerke, souverän erzählt, akribisch recherchiert und intelligent konstruiert. Jedes Mal Grund genug, um sich auf einen neuen Lewinsky zu freuen. Nur dieses eine Mal kommt keine Freude auf. Nicht nur, weil «Der Wille des Volkes» ein Krimi ist. Warum ich das Buch trotzdem zu Ende las? Ich musste.

Der pensionierte Journalist Kurt Weilemann, der sich selbst einen alten Sack schimpft, trifft sich im Park, wo man mit grossen Figuren Schach spielt, mit seinem ebenfalls in die Jahre gekommenen Journalistenkollegen Derendinger. Derendinger bat um dieses Treffen. Erst wartet Weilemann, bis Derendinger wie aus dem Nichts auftaucht und von Dingen spricht, die Weilemann nur schwer in Zusammenhänge einordnen kann. Kaum da, verschwindet Derendinger wieder, um zwei Stunden später tot in der Limmat zu liegen. Angeblich vom Lindenpark gesprungen, obwohl selbst ein Spitzensportler die Distanz vom Ufer bis zur Limmat mit einem einzigen Satz nicht hätte überwinden können. Selbstmord, wird von der Presse berichtet. Als sich auch noch eine geheimnisvolle jüngere Frau bei Weilemann meldet und diesen bittet, das zu tun, was die Polizei nicht tun will, ist Weilemanns Drang nicht mehr zu bremsen. Erst recht nicht, weil alles in diesem Land auf den Tod des grossen Wille wartet, des grossen Demokraten. Erst recht nicht, weil Weilemann im Laufe seiner Ermittlungen auch im Vorzimmer seines Sohnes sitzt und er diesen verdächtigt, mit dem grossen Filz des Landes unter einer Decke zu stecken. Erst recht nicht, weil er auf ein Buch stösst, das ein Verbrechen vorwegnimmt, dass die herrschende Volkspartei und ihren sterbenden Führer in arge Bedrängnis führen könnte. Und erst recht nicht, weil jene junge Frau, die sich als seine Vertraute gibt, im alten Weilemann Gefühle weckt, die tot zu sein schienen.
Ein Krimi; es gibt Tote, die Handlung ist ein durchdacht inszeniertes Verwirrspiel, es gibt Gute und Böse… Charles Lewinsky verortet den Krimi in Zürich, allerdings in naher Zukunft, klug und witzig. Weilemann ist ein schrulliger Alter, ein aus der Zeit gefallener, ein einsamer, alter Fährtenleser, umgeben von Apparatschiks, einer feindseelig, entseelten Gegenwart.

Und trotzdem. Ich mag «Der Wille des Volkes» nicht. Lewinskys mit Abstand schwächstes Buch. Dabei hätte ich dem literarischen Tausendsassa durchaus zugetraut, mich mit einem Krimi aus den Socken zu hauen. Aber die Geschichte ist dünn, langfädig, ohne Salz und Pfeffer. Die Figur des einsamen Ermittlers auf den Spuren eines grossen Verbrechens ist mager, schafft es nicht, lebendig zu werden. Konflikte wie jenen von Kurt Weilemann mit seinem Sohn, der sich mit dem Establishment der Politik arrangiert, sind zahn- und fantasielos. Nicht dass literweise Blut fliessen, Skandale aufgedeckt werden müssten. Aber diese Geschichte ist blutleer. Die Chance eines literarischen Grossmeisters, dem Establishment einen Spiegel vorzuhalten, vergeben.

Charles Lewinsky schreibt gut, kann viel. Der schnoddrige Erzählton passt zum schnoddrigen Weilemann. Lewinsky teilt auch aus, kritisiert unverblümt vieles in jener nahen Zukunft, dass man unschwer auch in der Gegenwart erkennt. Da schwingt Lust mit. Selbst im grossen Wille, der sterbend in einem Spital mit allerlei Schläuchen am Leben gehalten wird, ist offensichtlich ein schweizer Politriese der Gegenwart zu erkennen.
Aber all das genügt nicht. Die Geschichte läuft sich zu Tode. Es fehlt das Feuer(werk).

Lesen sie lieber Charles Lewinskys kolossalen Roman „Andersen“. Die Geschichte eines Folterchefs, dem die Fähigkeit zur Empathie gänzlich fehlt. Ein Fehlen, dass diesen zum Meister macht. Andersen ist Geburtshelfer der Wahrheit, weil die Wahrheit stets Last ist, die man mit sich herumträgt und doch viel lieber los sein will. Es sei viel interessanter, eine Figur zu erfinden, die weit von ihm entfernt sei, meinte der Autor. Der Roman wurde zu einer Versuchsanordnung mit der Frage: Wenn es frühere Leben gibt, was wäre, wenn man sich an sie erinnern würde? Das Böse aus der Geisterbahnperspektive ist interessanter als das Gute. Lewinsky spielt in diesem überraschenden Roman mit Bildern, mit dem Schauer des Bösen. „Ganz im Gegensatz zu allen anderen Büchern, die ich schrieb, war die Figur dieses Romans mit einem Mal da und zwang mich zu schreiben. Und mit dem Schreiben entwickelte sich die Geschichte, die keine Botschaft haben muss, beim Leser aber etwas auslösen soll. Was, das kann ich nicht bestimmen, nur hoffen, das es passiert.“ Ein ungeheuer gutes Buch, mit dem Charles Lewinsky es 2016 verdient hätte, den Schweizer Buchpreis zu gewinnen!

Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und Drehbücher, etwa für den Film „Ein ganz gewöhnlicher Jude“, (Hauptdarsteller Ben Becker, ARD 2005). Für den Roman „Johannistag“ wurde er mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet. Sein Roman „Melnitz“ wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. in China als Bester deutscher Roman 2006, in Frankreich als Bester ausländischer Roman 2008. Lewinskys jüngsten Romane wurden für die bedeutendsten deutschsprachigen Buchpreise nominiert: „Gerron“ für den Schweizer Buchpreis 2011, „Kastelau“ für den Deutschen Buchpreis 2014 und „Andersen“ für den Schweizer Buchpreis 2016.

Webauftritt Charles Lewinsky

Titelfoto: Sandra Kottonau

Mit „Kraft“ zum Sieg! Jonas Lüscher ist Träger des Schweizer Buchpreises 2017.

Ein Fest des Buches, literarische Feinkost, leise Stimmen und sprachliches Trommelfeuer, unüberhörbare Gehässig- und Peinlichkeiten, Musik in der Sprache und Besucher, die sich begeistern liessen – das war die BuchBasel 2017. 


Was zu einer Jubiläumsveranstaltung hätte werden sollen, begann schon am Abend vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises 2017 zu stolpern. Mit einem Mal gerieten das Buch, die Literatur, das Lesen, die Autorinnen und Autoren, ihre Verlage und die Absicht, das Buch mit all der Medienpräsenz in den Blick der Öffentlichkeit stellen zu wollen in den Hintergrund. Man liess sich zu Emotionen hinreissen, hätschelte die eigene Empörung. Ausgerechnet in der Literatur, bei der man sich sonst gerne „in der höheren Warte“ weiss, bei der man sich sonst gerne eloquent und wissend gibt, ausgerechnet an einem Fest, das man mit Würde hätte feiern sollen.

Jonas Lüscher ist verdienter Preisträger des 10. Schweizer Buchpreises. Ich gratuliere ihm nicht nur zu seinem Preis, auch für sein literarisches Schaffen und nicht zuletzt für die würdige Art, wie er den Preis entgegengenommen hat. Sein Buch „Kraft“, ein literarisches Schwergewicht, hat alles, was ein Buch für einen solchen Preis braucht; eine bestechende Sprache, eine intelligente Geschichte, den Blick in ein „fremdes Land“, Mehrbödigkeit und genug Fleisch, um sich daran die Zähne auszubeissen.

Speziell hervorheben möchte ich zwei Namen; einen, den ich schon lange kenne und der mich mit nicht nur überraschte, sondern mit seiner Art des Erzählens förmlich verzückte – und eine, deren Namen ich bislang nicht kannte, einen Namen, den es aber unbedingt zu entdecken gilt.

Der 1962 in Dresden geborene und in Berlin lebende Ingo Schulze, schon lange eine Grossmacht in der deutschen Literaturszene, schrieb mit seinem neusten Roman „Peter Holtz – Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ die Geschichte eines reinen Tors. Peter Holtz ist einer, der das Gute will, nur das Gute. 1974, kurz vor seinem 12 Geburtstag haut er ab aus einem sozialistischen Kinderheim auf der Suche nach der besseren Welt, auf der Suche nach Menschen wie ihm, die ungebrochen an den real existierenden Sozialismus glauben. Der überaus witzige und tiefsinnige Roman erzählt in einem langen Bogen bis ins Jahr 1998, als aus dem bettelarmen Jungen ein wider Willen schwerreicher Mann geworden ist, dessen Tun und Lassen sich ohne Absicht in Gold und Geld verwandelt. Ingo Schulzes Roman beschreibt die Wendezeit der deutschen Geschichte. Er erzählt aber nicht bloss, sondern stellt mit seinem Erzählen ganz grundsätzliche Fragen. Ingo Schulze erzählt leicht, lädt mich ein, an der Seite eines Andersartigen die Suche nach dem Glück aufzunehmen. Lesen!

Und Rosa Yassin Hassan, eine aus Syrien geflohene Schriftstellerin und Bloggerin, die seit 2012 in Hamburg lebt und arabische Literatur unterrichtet. Vom Schriftsteller Yusuf Yeşilöz im Namen des DeutschSchweizer PEN Zentrums eingeladen ist Rosa Yassin Hassan auf einer Lesereise mit ihren Romanen „Ebenholz“ und „Wächter der Lüfte“. Am 15. November, am Writers in Prison Day wird in vielen Ländern verfolgter Schriftstellerinnen und Schriftsteller gedacht. Wäre Rosa Yassin Hassan 2012 nicht aus Syrien geflohen, wäre sie wegen ihrer ganz offenen Kritik in ihrem Blog an der Syrischen Regierung und ihrem Diktator Baschad al-Assad mit Sicherheit eingesperrt und gefoltert worden, wie viele ihrer Freunde, Verwandten und Gesinnungsgenossen. „Schreiben ist meine Krankheit und meine Therapie, die Erinnerung eine tödliche Last“, verrät die Autorin im Interview mit Michael Guggenheimer, Schriftsteller und Journalist. Rosa Yassin Hassan will eine Brücke sein zum Verständnis der arabischen Kultur, die alles andere als deckungsgleich mit islamischer Kultur ist. Sie schreibt und spricht über Tabus; Religion, Politik und nicht zuletzt über Sex. Schreiben in einer Umgebung, die in Europa vollkommen anders ist als in ihrer Heimat Syrien, einem Land, dessen Infrastruktur heute zu 70% zerstört ist. Die Autorin entschied wie viele andere, die aus Syrien flohen, nie, Flüchtling zu werden. Sie sei schlicht zur Flucht gezwungen worden, aus einem Land, in dem nichts mehr funktioniert, in dem man in jedem Augenblick mit dem Tod bedroht ist. Was im Büchlein „Eine fatale Sprayaktion – Die Geschichte dreier Freunde in Syrien“ als Revolution die Welle zum Überschwappen brachte, ist längst zu einem verlorenen Bürgerkrieg geworden. Rosa Yassin Hassan kämpft mit Worten weiter.

Illustration von Benjamin Güdel zum Büchlein „Eine fatale Sprayaktion – Die Geschichte dreier Freunde in Syrien“ SJW 2544 von Rosa Yassin Hassan

Webseite von Ingo Schulze
Webseite des Illustrators Benjamin Güdel

Titelfoto: Werner Biegger

Bilder vom Internationalen Literaturfestival in Basel

Ein paar Streiflichter von BuchBasel 2017:

Melinda Nadj Abonji mit „Schildkrötensoldat“ im Gespräch mit Thomas Strässle
Julia Weber, nominiert für den Schweizer Buchpreis
Rolf Lappert und Lukas Bärfuss, zwei „alte“ Preisträger
Sven Regener signiert „Wiener Strasse“
Matto Kämpf mit „Trampeltier of Love“
John Burnside signiert „Ashland & Vine“
Manuela Hofstätter von lesefieber.ch
Schaufensterlesung mit Martina Clavadetschers „Knochenlieder“

Fotos: Werner Biegger

Tim Krohn «Bäcker am Ofenpass»

Der Ofenpass ist beliebt bei Jungs mit schweren Maschinen. Na ja, nicht nur der Ofenpass, der ist nur einer von vierzig Passstrassen im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, und sommers jagen die Jungs (Was heisst Jungs, das Durchschnittsalter liegt bei 70.) dort gern Rekorde. Deshalb wollte Hein, als er vor einigen Jahren auf der Höhe des Ofenpasses kurz austreten musste, dafür auch nicht extra ins Restaurant, sondern querte, nachdem er die Maschine geparkt hatte, nur eben die Strasse, um sich ins Gebüsch zu schlagen. Dort treffen allerdings gleich so einige Wanderwege zusammen, entsprechend gross war das Geläuf. Während Heins Not immer grösser wurde, folgte er dem dünnsten Weglein und hoffte, recht bald zu einem ungestörten Plätzchen zu kommen. Sein Problem war, dass inzwischen ein grosses Geschäft rief, das hiess den Overall ausziehen, und sowas macht man macht man doch lieber im Privaten.
Nachdem er eine ganze Weile dem Schafsberg entlang gegangen war, entdeckte er in der Bergflanke eine Höhle, die er auch gleich eroberte. Mit herrlichem Blick über die Bündner Alpen gab er seinem Drang nach. Doch schlagartig wurde er dabei todmüde, schlief ein und wachte erst in tiefer Nacht wieder auf.
Es war kalt – er kauerte noch immer mit barem Hinterteil an einen Felsvorsprung gelehnt –, und aus dem Berg vernahm er ein Rumoren. Während er sich noch bemühte, die steifen Glieder zu strecken, sah er sich plötzlich von weissen, matt aus sich heraus leuchtenden Gestalten umringt, Bäckergesellen offenbar. Da blieb er doch lieber hocken und hoffte, dass sie ihn übersahen.
Das schienen sie auch zu tun.„Was backen wir heute?“, fragte der eine die anderen.
„Schaiblettas“, schlug der zweite vor.
„Wer heizt den Ofen ein?“, fragte wieder der erste.
Der ist schon heiss“, stellte der dritte fest, „ich muss ihn nur noch öffnen.“ Und während er das sagte, schlug er dem Hein mit einer Brotschaufel ganz unspektakulär die Schädeldecke ab. Jetzt konnte Hein sich überhaupt nicht mehr regen, selbst wenn er gewollt hätte. Und offenbar glomm in seinem Schädel wirklich eine Glut, denn seit jenem Schlag war die Höhle in mattes, rotes Licht getaucht. Er musste mit ansehen, wie die Gesellen in einer Vertifung im Fels, einer Art Wanne, Mehl, Zucker, Eier und Nüsse, dass es nur so stob, dann formten sie daraus Plätzchen und backten sie dort, wo Heins Hirn sitzen musste.
Das ging hurtig, und der Anblick hatte auch einen gewissen Zauber. Kurz vergass Hein tatsächlich, wie es um ihn stand, stellte wiederum der erste der Gesellen fest: „Genug gebacken für heute. Wer schliesst den Ofen?“
„Ich“, sagte der dritte, schlug Hein – klack! – die Schädeldecke zu, und im selben Augenblick waren sie verschwunden.
Hein wartete noch eine Weile, dann regte er sich behutsam, tastete den Schädel ab, der zu seiner grossen Erleichterung doch heil schien und sah sich um, im Licht des Feuerzeugs. Die Kekse schienen die Gesellen mitgenommen zu haben, das bedauerte er etwas. Doch dann entdeckte er, dass von seinem Geschäft ein warmer Schimmer ausging: ganz offensichtlich war es vergoldet!
Da nun sein Schädel doch tüchtig brummte, kroch Hein kurz aus der Höhle, um sich tüchtig strecken zu können. Dabei sah er, dass die Gegend dicht verscheit war, und noch immer fielen Flöcklein, fein wie Mehlstaub.
Er robbte zurück, schob sein vergoldetes Geschäft in die Tasche und suchte den Rückweg. Der Schnee leuchtete so hell in der Nacht, dass er den Weg gut fand.
Und weil ihm nicht danach war, mit seiner Suzuki 600 auf einer verschneiten Strasse zu fahren, klopfte er den Wirt der Herberge aus dem Schlaf, der schob ihn unkompliziert ins Massenlager ab. Hein war noch ganz aus dem Häuschen, und als er einen entdeckte, der offensichtlich schlaflos lag, ging er zu ihm und erzählte die aufregende Geschichte. Natürlich zeigte er auch sein vergoldetes Geschäft.
„Wenn das massiv ist, bist du ein gemachter Mann“, sagte der andere, nachdem er das Geschäft in der Hand gewogen hatte.
Daran hatte Hein noch gar nicht gedacht. Er schlug den goldenen Klumpen übers Knie, um zu sehen, was geschah. es zerbrach, und dabei zeigte sich leider, dass es doch nur vergoldet war. Die Stücke rollten unter die Pritschen, es stank gehörig, der andere schimpfte ihn einen Idioten und schlug auf ihn ein, und darüber wieder erwachten die anderen. Zuletzt prügelten sie ihn gemeinsam aus dem Schlafsaal. Das Ende vom Lied war, dass Hein von da an keine Pässe mehr fahren konnte, sein Hirn blieb überaus empfindlich – sei’s von den Schlägen oder den Ereignissen in der Höhle –, der kleinste Höhenunterschied war schmerzhaft. Liftfahren ging gerade noch.
„Und was lernst du daraus?“, fragte seine Freundin, als er heimkam?
„Was soll ich daraus lernen?“, fragte er zurück. „Von nun an gehe ich eben aufs Klo.“ Aber vor allem ärgerte er sich, dass er sein Geschäft nicht einem Museum übergeben hatte, denn in den kommenden Jahren las er immer wieder von Künstlern, die mit Kacke berühmt geworden waren.

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli» machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband «Nachts in Vals». Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts «Herr Brechbühl sucht eine Katze» war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der zweite Band «Erich Wyss übt den freien Fall».

Bodo Kirchhoff „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, Frankfurter Verlagsanstalt

In der Reihe „Grosse Bücher – grosse Autoren“ diskutierte die Literaturkritikerin Pia Reinacher in einem Hörsaal der Uni Zürich mit dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff über seine Bücher, das Schreiben, das Leben als Schriftsteller und was eine Einladung zu einer Kreuzfahrt ausrichten kann.

Das Schiff ist riesig. Während sich im Innenhof die Jugend tummelt, sammelt sich das reife Mittelalter in den Gängen darüber. Die Hochtischchen mit Knabberzeug und Flüssigem gehören nicht dazu. Studentinnen und Studenten auch nicht. Es schein schwierig zu sein, angehende GermanistInnen mit ins Boot zu locken. Selbst dann, wenn sich einer der ganz Grossen von Frankfurt nach Zürich bemüht, um im Bauch des grossen Schiffes von seiner Arbeit zu erzählen.

Während Bodo Kirchhoff seit Jahren an seinen grossen Stoffen arbeitet, auch jetzt wieder an einem Roman über seine Kindheit und Jugend, über Liebe, deren Verstrickungen, über die Macht der Sexualität, waren „Widerfahrnis“ und „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“ willkommene Unterbrechungen, wie der Autor erzählte. Bodo Kirchhoff bekam wirklich eine Einladung zu einer solchen Kreuzfahrt durch die Karibik „bei freier Verpflegung sowie freien Getränken an jeder Bar unter Bedingung mehrerer Lesungen aus meinem Werk, jewils zur Prime Time.“ Ein Sprachlieferant, wie es im Kleingedruckten hiess. Statt kurz und knapp zu antworten wurde daraus ein Buch. Ein an Frau Faber-Eschenbach gerichtetes Schreiben, die Kontaktperson der Reederei, die er sich in vor einem grossen Fenster mit Blick auf den Hamburger Hafen vorstellte. Bodo Kirchhoff lässt sich gerne verführen, von Namen, Kleidern, Schuhen, dem Rauch von Zigaretten, von Nebensätzen und Nebensächlichkeiten, um sie dann virtuos und gekonnt in seine Schöpfungen einzuflechten. Ein Roman berge viel gestautes Leben. Romane, Novellen und Erzählungen seien aber nicht einfach nacherzähltes Leben, sondern Transformiertes, Neugeschaffenes. Das Übersetzen von Leben in Sprache ist Schreiben. So witzig sein Argumentieren in “Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, so glasklar die Sprache. Und wenn Bodo Kirchhoff dann auch noch liest, scheint sich seine Sprache wie ein Cumulus aufzuwölben. Sein Text ist neben all der Sprachkunst auch eine Kampfschrift gegen jede Form der Oberflächlichkeit. Das Kreuzfahrtschiff Metapher und Spielplatz zugleich, voller Seitenhiebe, literarischer Querschläger und satten Satzmäandern.

Aber vielleicht ist so eine Lesung in der Universität, die durch Bologna- und andere Reformen von Entdeckerlust und konstruktiver Unentschlossenheit befreit wurde, genauso wie eine Lesung auf einer Kreuzfahrt von A nach A. Vor der Lesung lange Buffets, Bauchredner und Schlagersterne zur Abendunterhaltung, Flaschengeister noch und noch und die Hitze des Tages, die auskühlen muss. Literatur? Nein danke? Schade um die verpasste Gelegenheit. Bodo Kirchhoff ist ein hinreissender Erzähler.

Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane »Die Liebe in groben Zügen« (2012) und »Verlangen und Melancholie« (2014). Im Herbst 2016 wurde Kirchhoff für seine Novelle »Widerfahrnis« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Buchrezension zu „Widerfahrnis“ auf literaturblatt.ch

Georg M. Oswald «Alle, die du liebst», Piper

Das braucht es! Romane wie «Alle, die du liebst», die einen Lesesonntag zu einem wirklich guten Tag werden lassen. Perfekte Unterhaltung, Spannung bis zur letzten Seite, ein Plot, der mit Aktualität fest verknüpft ist, eine Sprache, die scharf zeichnet und das Gefühl, dass die Geschichte etwas mit meinem Leben zu tun hat.

So wie Hartmut Wilke im Roman ist Georg M. Oswald Anwalt. Beide sind über 50 und erfolgreich. Hartmut Wilke als Anwalt in Steuerfragen, Georg M. Oswald seit zwei Jahrzehnten als Schriftsteller verschiedenster Genres. Sonst allerdings hoffe ich für den Autor, dass sich die Gemeinsamkeiten damit eingrenzen lassen. Hartmut Wilkes Leben ist aus den Fugen geraten. Die Liebe seines Lebens hat sich von ihm getrennt und führt einen gnadenlosen Scheidungskrieg. Zu seinen drei erwachsenen Kindern hat er den Draht verloren. Jenen zu seinem ältesten Sohn Erik schon lange. Seine um zwei Jahrzehnte jüngere Freundin Ines lässt ihn zweifeln, was die Gründe ihrer Beziehung sein könnten. Und von seiner Kanzlei erhält er einen Anruf, der ihn in die ehrgeizigen «Klauen» einer jungen, aufstrebenden Staatsanwältin in Sachen Steuerbetrug treiben soll. Sein Erfolg, seine Reputation, sein Haus, das grosse Auto und die siebenstellige Knautschzone auf der Bank; nichts hilft mehr, den freien Fall des erfolgsgewohnten Anwalts aufzuhalten.

Als Erik, der älterste Sohn, jener, der kein Ding zu einem guten Ende zu bringen schien, ihn vor Jahren um Geld bat, um an der kenianischen Küste eine Bar zu kaufen, schlug Hartmut die Bitte seines Sohnes in den Wind. Es war für beide das letzte Kapitel einer langen Kette von Enttäuschungen und für beide Grund genug, den Kontakt sterben zu lassen. Bis das Drängen seiner Freundin Ines und die Reise nach Kenia Gründe genug waren, den heimischen Schlamassel zurückzulassen und wenigstens zu Erik zurückzufinden. Hartmut und Ines reisen trotz Warnungen des Auswärtigen Amtes nach Kenia auf Kiani Island im Indischen Ozean. Ein Ort, der trotz seines paradisischen Aussehens nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er im Würgegriff verfeindeter Warlords und einer korrupten Polizei ist. Eine Reise vom Regen in die Traufe.

Die Welt ist voller Siegertypen, denen stets der Erfolg Recht gibt, die nichts und niemanden zu hinterfragen brauchen, am wenigsten sich selbst. Die erste, die Hartmut von seinem Thron stürzt, ist Carla, seine Frau. Als sie erfährt, dass ihr Mann seine Libido auf eine wesentlich Jüngere aus seiner Kanzlei richtet und sie schamlos belügt, setzt sie ihn nicht nur vor die Tür, sondern kündigt an, ihn förmlich auszuweiden. Was einst die Liebe seines Lebens war, hatte er verraten. Nichts und niemand scheint ihn mehr vor den Verwüstungen eines Ehe- und Berufskriegs zu schützen.

Hartmut und Ines reisen nach Kenia. Erik erwartet sie nach einer beschwerlichen Reise in seinem noblen Zuhause, einem Ferien- und Fluchtressort im Meer für Reiche und reiche Flüchtlinge. Schon am ersten Tag, als ein ganzes Hotel auf einen Mister Jack zu warten scheint, einen gefallenen Anwalt, der sich auf der Insel durch Beziehungen und Geld unentbehrlich machte und dem es zu huldigen gilt, macht sich Unbehagen breit. Was ungut beginnt, potenziert sich in seiner Unberechenbarkeit. Alles scheint sich dem «deutschen» Verständnis von Recht und Ordnung zu entziehen. Nichts ist so, wie es sich Hartmut erhofft. Auch vor paradiesischer Kulisse reissen die Ankerketten, die Ereignisse überstürzen sich. Endgültig, als auf der Insel geschossen wird. Was als Versöhnungsreise begonnen hatte, wird zur wilden Konfrontation zweier Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

Georg M. Oswald spielt geschickt mit Spannung, unerwarteten Wendungen, den Hoffnungen des Lesers und dem Reiz, seinen Protagonisten in ein immer grösser werdendes Desaster fallen zu lassen, ohne je die Bodenhaftung zur Realität zu verlieren. Spannungsliteratur mit Niveau!

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.

Rolf Hermann «Das Leben ist ein Steilhang», Der gesunde Menschenversand

Nichts und niemand repräsentiert in der aktuellen Literaturszene der Schweiz die neuen Kräfte besser und beeindruckender als die Reihe «edition spoken script» vom Luzerner Verlag «Der gesunde Menschenversand». Guy Krneta, Jens Nielsen, Pedro Lenz, Michael Fehr, Nora Gomringer, Ariane von Graffenried und viele andere, darunter auch der Walliser Gebirgspoet Rolf Hermann.

Bei all den Veröffentlichungen unter dieser Reihe war zuerst das mündliche Erzählen, die Performance auf der Bühne, die Prüfung vor dem Publikum, erst dann das Buch. Und was bisher bis zum Band 23 gewachsen ist, macht sich nicht nur im Bücherregal ausgesprochen gut!
Rolf Hermanns Texte sind skurrile Steilvorlagen. Seine Protagonisten, die Walliser, von denen fast alle Texte im Band «Das Leben ist ein Steilhang» erzählen, erleiden stoisch und mit Gelassenheit, allem gegenüber mit einer ordentlichen Portion Hilflosigkeit, was an den steilen Felshängen der Walliser Täler entspringt.
Es sind Geschichten um ein Tal, ein Volk, seine Familie, eine Sippe, die ihren Anfang vor 200 Jahren in diesem Tal hart verdienen mussten. Rolf Hermanns „Urahne“, zugezogen aus dem Üsserwallis, versuchte sich ein Leben lang als Fremder zu integrieren. 50 Jahre lag bat dieser vergeblich um Einbürgerung, die ihm erst mit 72 zugesprochen wurde, weil man dachte, er würde es wohl eh nicht mehr lange machen. Weit gefehlt. Neun Monate später gab es einen Nachfahren, der der erste sein sollte in einem langen Fächer einer Sippe, die Rolf Hermann zum «Einheimischen» machte.

Rolf Hermann fabuliert ums Fremdsein, sein Zuhause, die schrulligen Alten, die es im Jetzt kaum mehr zu geben scheint (mit Sicherheit aber in den Walliser Tälern!). Träfe Texte, die triefen. Hymnen über Nachbarn, die liebsten Feinde!
Rolf Hermann verklärt nie, reisst dafür umso mehr auf, lässt tief blicken in die Risse der Gesellschaft. Texte, die glücklicherweise nicht einfach nach Pointen jagen.

Zusammen mit den sphärischen (in keiner Weise esoterisch gemeint) Klängen des Gitarristen Oli Hartung war die Performance auf der Bühne der Hauptpost St. Gallen wie ein Roadtrip durch das sonnenverbrannte Wallis, eine glühend aufgeheizte Landschaft. Eine saloppe Fahrt mit dem offenen Cadillac, im Gepäck eine Jagdflinte, vorbei an rot gefärbtem Gras, dramatischen Bildern und scharfen, kantigen Felsen, die den Zuhörer zu ritzen scheinen.

Soll ich mir das antun? In Walliser Dialekt geschrieben, einer Sprache, von der ich kaum ein Wort verstehe, wenn zwei Einheimische miteinander sprechen? Sollt man? Ja, unbedingt! Viele Texte im Buch sind von Ursina Greuel ins Deutsche übertragen – und alle anderen Texte, die ursprünglich bleiben, schaffen es trotzdem, ihre Wirkung zu entfalten. Es sind mehr als Texte! Es ist Sound, Musik, uriger Walliser Groove!

Ä bsundri Gaab
Där Maa va miinär Groostanta, där Schüül, isch mit du Jaaru immär gliichgültigär cho. Am Ässtisch zum Biischpil hätt är schich jädäd Maal hinnär därä grppssu Zitig värschanzt und alläs schtillschwiigund gässu, waa mu miini Groosstanta vorgsäzzt hätt. Äsoo cha das nit wiitärgaa, hätt miini Groosstanta gideicht und dum Schüül nummu no Chazzufüettär üffgitischt. Abär nit ämaal das hätt där Schüül gmärkt. Är hätt eifach wiitärgässu, und zwar äsoo lang, bis miini Groosstanata iru Schüül niimä va irär Chazz hätt chännu unnärscheidu. Und will miini Groosstanta schoo immär di bsundri GAab hätt ka, übärall nummu ds Güeta z gsee, hätt schi schich vor allum gfreibt, dass schi jäzz äsoo nä blizzgschiidi Chazz hätt.

Eine besondere Gabe
Jules, der Mann meiner Grosstante, wurde mit den Jahren immer gleichgültiger. Am Esstisch zum Beispiel verschanzte er sich jedes Mal hinter einer grossen Zeitung und ass stillschweigend alles, was ihm meine Grosstante vorsetzte. So kann das nicht weitergehen, , dachte meine Grosstante und tischte Jules nur noch Katzenfutter auf. Aber auch das merkte Jules nicht. Er ass einfach weiter, und zwar so lange, bis meine Grosstante ihren Jules nicht mehr von ihrer Katze unterscheiden konnte. Und weil meine Grosstante schon immer die Gabe hatte, überall nur das Gute zu sehen, freute sie sich vor allem darüber, dass sie jetzt eine so blitzgescheite Katze hatte.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo «Die Gebirgspoeten». Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit einem Literaturpreis des Kantons Bern (2015).

Randnotiz: Vibrations

An der Fassade am Eck über der Bahnhofstrasse prangt ein Plakat; «wellness vibrations». Unter Wellness lässt es sich einiges vorstellen. Bei Vibration gebe ich zu, dass meine männlich geprägte Vorstellungskraft schon ziemlich eingeschränkt ist. Zumal in dieser Kombination. Wäre damals die Initiative «Freie Schulwahl» angenommen worden, würde man Schulhäuser mit Werbesprüchen behängen. «wellness school» oder «school vibrations», will man doch die Kinder mit Bildung «elektrisieren». Jetzt erst recht, wo uns der deutsche Philosoph und Buchautor David Precht glauben macht, dass es die Schule so nicht braucht, dass unsere Schulen noch immer wie Kasernen funktionieren, in denen gehorsame Staatsbürger gedrillt werden. Da braucht es vielleicht doch wellness vibrations, um all den Bildungsschrott, den man unsern Kindern mit Müh und Not eintrichtert, zu neutralisieren. Bildungsschrott? Lesen, Schreiben, Kombinieren, Diskutieren, Probleme lösen, Stärken fördern, Gestalten, kreativ sein, das interkulturelle Leben üben – eben Schrott. Vielleicht lasse ich mir ein T-Shirt machen mit der Aufschrift «man of natural vibration».

Titelfoto: Sandra Kottonau

literaturblatt.ch im ersten Roman von Ingo Schulze

Auf einer Reise mit dem Fahrrad rund um den Bodensee stiess ich in der Inselstadt Lindau auf ein kleines Geschäft in der Lingstrasse 12. „card manufactur & book manufactur“ nennt sich das Lokal und verkauft Handgemachtes aus gebrauchten Büchern. Ich konnte es nicht lassen und bestellte mir eine Spezialanfertigung. Und auch wenn es eine Weile ging, freute mich das heute zugesagte Paket sehr.

Und am kommenden Wochenende treffe ich Ingo Schulze mit seinem neusten Roman „Peter Holtz.
Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ an der BuchBasel. Ich freue mich!

Webseite des Ladens in Lindau