Wenn man in den den Sofaspalten versinken möchte #SchweizerBuchpreis 20/8

Haben Sie die Sendung gesehen? Die fünf Nominierten des Schweizer Buchpreises auf dem „Blauen Sofa“, einer Sendung des ZDF, ausgestrahlt anlässlich der Frankfurter Buchmesse, die coronabedingt nur digital stattfand. Moderatorin Nina Mavis Brunner spricht mit den fünf FinalistInnen über ihre Bücher.

Wenn Sie die Sendung noch nicht gesehen haben, dann lassen Sie es bitte bleiben. Sie laufen Gefahr, dass die Nebenwirkungen dieser 39 Minuten jegliche Lust auf eines der fünf Bücher, wahrscheinlich sogar auf alle Bücher verderben könnte. Keine Ahnung, ob da eine Regieassistenz fehlte, das Geld oder schlicht der Wille, aus der Sache etwas Gutes zu machen.

Wer sich in diese Sendung verirrte oder gar mit Vorsatz schaute, wird die „aktuell besten Bücher der Schweiz“ niemals als das wahrnehmen, was sie sein könnten; Kunstwerke, Buch gewordene Freude, Leseabenteuer, Sprachmagie und ein Grund, sich mit der Welt auseinanderzusetzen – jetzt, in Zeiten von Corona erst recht.

Bevor die Moderatorin Nina Mavis Brunner die fünf Nominierten vorstellte, musste ihnen jemand befohlen haben, möglichst ernsthaft und steinern in die Linse der Fernsehkamera zu schauen. Keine Regung, als wäre schon die Vorstellungsrunde ein Tribunal, das den erwarteten Schuldspruch spricht. Dann ein klein wenig aus dem Buch lesen, ein Paar Seiten, zwei drei unverfängliche Fragen. Beim Letzten, bei Charles Lewinsky, reichte es zu fast nichts mehr. Wer 39 Minuten durch sechs Akteure dividiert, weiss, was da noch zustande kommen kann.

Warum nicht einen Denis Scheck einladen, der die AutorInnen aus ihrer Reserve lockt, warum nicht Thea Dorn, die mit pointierten Bemerkungen die Bücher in den Strahl eines verbalen Scheinwerfers gebracht hätte? Warum kein Hinundher? Warum kein Gespräch? Warum sechs Personen in einer Runde, in der es nur um die Einzelnen geht, kein Austausch untereinander stattfindet. Warum nicht gleich fünf siebenminütige Werbespots!

Es sind fünf ausgezeichnete Bücher. Fünf Bücher, die es sich unbestritten lohnt zu lesen. Wenn ein Deutscher oder eine Österreicherin, ein Liechtensteiner oder sonst jemand, der der deutschen Sprache mächtig ist, nun endlich einmal in die CH-Literatur eintauchen will und sich unglücklicherweise in diese Sendung verirrt, dann geschieht die Erleuchtung ganz bestimmt nicht nach dieser Sendung, die alles verpasst hat, was eine solche Sendung zu bieten hätte. Das schnelle Urteil, wie verkopft die Schweizer Literatur sei, müsste man wohl gelten lassen.

Mir schnürte es das Herz ab. Ich bekam Atemnot.

Wenn Hygiene stinkt.

Vor allem Im Sommer stank es im Werkraum des Schulhauses Kirchstrasse. Man dachte, es liege an der Belüftung, am Untergrund oder sonst irgend welchen Leichen im Keller. Aber ganz im Gegenteil: Was stank, diente einst der vorbildhaften Hygiene. 1909 richtete man in den Mauern des heutigen Werkraums 20 Schulbrausen ein. In einer Zeit, als Wohnungen im Normalfall kein Bad anzubieten hatten und man seine Waschungen am „Schüttstein“ in der Küche vollzog, als es auch in wachsenden, prosperierenden Dörfern wie Amriswil öffentliche Bäder gab und Körperhygiene weit weg von dem war, was man heute darunter versteht.
In Zeiten, in denen viele täglich duschen, Turnhallenduchen süsslich in Deowolken dampfen, in denen sich Lehrkräfte in gewissen Zeiten die Hände nach der Begrüssung mit Alkohol desinfizieren und man mit aller Selbstverständlichkeit in den Klassenzimmern kollektiv die Zähne putzt, spürt man mit einem Mal, wie weit weg die Zeiten der Grossmütter und Grossväter sind.
Grund für den Gestank war eine Ablaufleitung und ein Schacht, den man nicht versiegelte, unmittelbar unter dem Boden. Also vielleicht noch immer ein bisschen von dem Dreck, den die Kinder vor 100 Jahren mit Kernseife und Schweiss hinunterspülten.

Hosianna!

Vor ein paar Monaten war es noch ein tiefes Loch. Jetzt ziehen sich entlang den Amriswiler Innenstrassen graue Betonwände, die noch höher werden sollen. Vor Jahrhunderten baute man Gotteshäuser, Kirchen, Kathedralen in die Zentren wachsender Städte. Riesige Bauten, in denen eine Stadt jenen einen pries und mit Gebeten um Gunst bat, von dem man überzeugt war, dass er das Zentrum ihres Lebens und Wirkens sei. Heute zieht man kolossale Bauten des Konsums hoch. Man pflanzt noch ein paar hübsche Bäumchen vor die übermächtige Fassade, verbannt die Autos untertags, verpackt das Ganze in ein artiges Gewand. Nur die Männer, die die Mauern hochziehen, sind die gleichen geblieben. Morgens, wenn ich am grauen Koloss entlang zur Arbeit gehe, hört man sie johlen, jauchzen, singen und albern. Und für einen Moment klingt der Hall wie in den grossen gotischen Kathedralen des Mittelalters, ein bisschen wie das Frohlocken und Lobpreisen in den Hallen Gottes. Die einen leeren sich immer mehr, von den anderen scheint man nicht genug zu bekommen. Hosianna!

Beitragsbild: Sandra Kottonau

Alte Schule

Ich war in Eile und ziemlich durch den Wind. Und zuhause würde ich an der Reihe sein, für das Nachtessen zu sorgen. «Und bitte nicht einfach den Inhalt des Kühlschranks auf den Esszimmertisch stellen.» Das kam auf dem Nachhauseweg zu Fuss der Fischstand auf dem amriswiler Marktplatz gerade recht. Frischen Fisch und noch ein geräuchertes Stück Lachs. Zwanzig Franken. Ich kramte in den Jackentaschen, in den Hosentaschen, mit wachsender Beunruhigung auch noch in meiner Mappe, zwischen Mäppchen, Heften und Griffelschachtel. Aber da war nichts, nur die Blicke des Mannes hinter der Ladentheke und der Frau mit Kinderwagen hinter mir.

«Ich muss passen. Meine Brieftasche ist nicht dort, wo sie sein sollte.» «Macht nichts. Nehmen sie den Fisch mit und zahlen sie nächste Woche.» «Müssen sie nichts notieren? Meinen Namen und den Betrag?» «Brauche ich nicht. Ich bin ein Mann alter Schule. Ich schau den Leuten in die Augen und weiss, ob ich mein Geld später bekomme. Bei ihnen passt’s.»

veröffentlicht in der Thurgauer Zeitung, am 5. April, 2018

Stimmt gar nicht!

Ich habe nachgeschaut. Wie immer lügt die Werbung. Als ich am Samstag einkaufte, waren da an der Kasse unter dem Scanfenster gar keine fleissigen Männchen mit traurigen Augen. Dafür wie fast jedes Mal, wenn ich einkaufe, an der Kasse 2 Frau Muff. Selbst wenn die Schlange an ihrer Kasse länger ist, als die ihrer Nachbarkassen – ich will von Frau Muff um mein Geld erleichtert werden. Wenn ich von ihr begrüsst werde, in einen kurzen Schwatz verwickelt, von ihrem Lachen bezaubert und ihrem Schalk angestachelt, wertet das einen ganzen Tag auf. Frau Muff ist Frau Coop.
Letzthin sah ich sie auf der Strasse in Zivil. Selbst dort bleibt Frau Muff Frau Coop, der Inbegriff von neapolitanischem Temperament, ansteckender Lebensfreude und betörendem Lachen. Sie winkt und grüsst – und wird ein Teil von meinem Zuhause.

Wenn Grossverteiler erreichen wollen, dass ich zum totalen Selbstscanner werde, zum Selbstbezahler, Bedienungsautonomen, müssen sie nur den Griesgram an die Kasse setzen. Ganz einfach.

Am 1. Februar in der Thurgauer Zeitung

Randnotiz: Vibrations

An der Fassade am Eck über der Bahnhofstrasse prangt ein Plakat; «wellness vibrations». Unter Wellness lässt es sich einiges vorstellen. Bei Vibration gebe ich zu, dass meine männlich geprägte Vorstellungskraft schon ziemlich eingeschränkt ist. Zumal in dieser Kombination. Wäre damals die Initiative «Freie Schulwahl» angenommen worden, würde man Schulhäuser mit Werbesprüchen behängen. «wellness school» oder «school vibrations», will man doch die Kinder mit Bildung «elektrisieren». Jetzt erst recht, wo uns der deutsche Philosoph und Buchautor David Precht glauben macht, dass es die Schule so nicht braucht, dass unsere Schulen noch immer wie Kasernen funktionieren, in denen gehorsame Staatsbürger gedrillt werden. Da braucht es vielleicht doch wellness vibrations, um all den Bildungsschrott, den man unsern Kindern mit Müh und Not eintrichtert, zu neutralisieren. Bildungsschrott? Lesen, Schreiben, Kombinieren, Diskutieren, Probleme lösen, Stärken fördern, Gestalten, kreativ sein, das interkulturelle Leben üben – eben Schrott. Vielleicht lasse ich mir ein T-Shirt machen mit der Aufschrift «man of natural vibration».

Titelfoto: Sandra Kottonau