Alain Claude Sulzer «Die Jugend ist ein fremdes Land», Galiani

Keine Autobiographie, kein Roman, eine Sammlung von Geschichten, die nicht seine Person ins Zentrum stellt, sondern die Zeit, die sich im Leben Alain Claude Sulzers spiegelt. Für jene wie mich, die das Werk des Autors kennen, aufschlussreich, obwohl sich Alain Claude Sulzer als Motiv erstaunlich zurückhält. Für jene, die Alain Claude Sulzer noch nicht entdeckt haben eine Sammlung von Perlen aus den 60ern und 70ern.

Alain Claude Sulzer schrieb die Texte über Jahrzehnte, viele davon für Zeitschriften. Er beschreibt eine Zeit, von der nicht viel übrig geblieben scheint, in der sich aber trotzdem viele wiedererkennen werden, ein Stück Schweiz der 60er und 70er; vom Landessender Beromünster, von der Sehnsucht eines Lebens als Bohemien in Paris, vom unzähmbaren Groll zwischen Eltern, dem eingeschlafenen Zorn seinen Lehrern gegenüber. Literarische Schaufenster in eine verbilchene Zeit, in der die Fernseher zu flimmern und die Reisedistanzen zu schrumpfen begannen. In eine Zeit, in die ein Junge, ein Jugendlicher seinen Fuss hineinsetzte, unspektakulär zu wachsen begann, um mich dann später mit seinen Büchern zu überzeugen. Unauslöschlich für mich bleibt das Leseerlebnis seines 1998 erschienen Romans «Urmein», ein Roman über ein halb verfallenes Schloss, bewohnt von einer ungewöhnlichen Gemeinschaft aus Künstlern, Abenteurern und Damen der Gesellschaft, 1911 oberhalb vom bündnerischen Thusis.
«Die Jugend ist ein fremdes Land» ist ein Lesereisebuch in eine vergangene Zeit mit orangen Vorhängen, schwarzen Spannteppichen, an der Grenze zwischen «les welsches» und dem deutschschweizer Spiessbürgertum im baslerischen Riehen. Im letzten Text des Buches mit dem Titel «Weder noch» schreibt Alain Claude Sulzer: «Dieses Buch beginnt an einem beliebigen Punkt … es gibt keine Chronologie. Die Erinnerung denkt nicht in klar bestimmten Zeitfolgen.» Lichtblitze aus der Vergangenheit, erzählt und aufgeschrieben von einem Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderen teilzuhaben.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, zuletzt die Bestseller »Zur falschen Zeit« und »Aus den Fugen«. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den «Prix Médicis étranger», den «Hermann-Hesse-Preis» und den Kulturpreis der Stadt Basel.

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Annette Pehnt „Lexikon der Liebe“, Piper

Nachdem vor ein paar Jahren bei Piper der erste Band «Lexikon der Angst» herauskam, leuchtet Annette Pehnt in ihrem neuen Erzählband «Lexikon der Liebe» die Spielarten der Liebe aus. Nie sentimental, ohne rosa Brille, dafür mit viel Empathie und einem klaren, scharfen Blick in die Tiefen der Psyche, gepaart mit traumwandlerischem, sprachlichem Können.

Annette Pehnt ist eine Beobachterin, jemand, der sich nicht von Fassaden blenden lässt. Eine Schriftstellerin, die sowohl in ihrem Beobachten und auch in ihrem Schreiben um die Feinheiten, die Zwischentöne, das Bild dahinter bemüht ist. Annette Pehnt muss eine fleissige Schreiberin sein. Was sich unter alphabetisch gesetzten Titeln im Band «Lexikon der Liebe» sammelte, sind Geschichten, Augenblicke, Szenen, in denen sich Aussicht und Weitsicht auftut. Kein Lexikon, das den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen soll. Annette Pehnt fühlt in all den Texten mit und nach, ohne dass es emotionale Fäden zieht. Sie braucht keine Brille. Sie erzeugt ungeheure Nähe. Ob sie blinde Nähe einer Mutter, stumme Leidenschaft in einem Hotelzimmer oder den Kult um einen Gegenstand beschreibt, es sind Sehnsüchte aller Art. Annette Pehnt schreibt, was den Menschen bewegt. Im ersten Band war es die Angst, im zweiten nun die Liebe. Keine Rührseeligkeit und Sentimentalität. Ich erkenne mich und die Welt in ihren Texten wieder. Sie lügen nicht, heucheln nicht, machen mir nichts vor. Sie widerspiegeln, auch wenn der Spiegel zuweilen beschlagen den unmittelbaren Blick zurückprallen lässt. Manche Texte brauchen Zeit. Ein Buch, aus dem man sich gerne vor dem Einschlafen vorliest.

Vor Wikizeiten muss es Menschen gegeben haben, die aus purer Neugier in einem Lexikon blätterteten und lasen, auf der Suche nach nichts. Unter trügerischen Stichworten wie «Geschenk», «Knospen» oder «Morgenlicht» verbergen sich Miniaturen grosser und kleiner Ängste, fremder und bekannter. Die Angst einer Frau vor den Berührungen ihres Mannes, die Angst vor dem eigenen Schatten, die Angst, unnütz zu sein. Dramatisches, Unabänderliches, Tragisches, jeder Text Stoff für einen Roman. Da schreibt jemand, der die Psyche kennt, nicht nur die eigenen Ängste freizügig ausbreitet. Manche Texte sind abgerundet und «fertig» erzählt. Andere zwingen mich, die Gedanken, die Szene weiterzuspinnen bis zur Selbstreflexion.

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie als Dozentin und freie Autorin mit ihrer Familie in Freiburg im Breisgau. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2011 erschien ihr Roman »Chronik der Nähe«, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband »Lexikon der Angst«, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie »Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher«. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen »Der Bärbeiß«. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Briefe an Charley«.

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Peter Weibel «Ohne diese Worte»

Im Kellergeschoss einer alten Fabrik in Frauenfeld kämpft der Waldgut Verlag gegen die Verdrängung. Wären da nicht Idealisten wie der bald 80jährige Verleger, Lyriker und Schriftsteller Beat Brechbühl, nähme man stillen Dichtern wie Peter Weibel die Stimme. Blei-Handsatz und Tiegeldruck. Wer mit der Hand übers Papier streift, spürt!

Titelfoto: Sandra Kottonau

Volker Kutscher und Kat Menschik „Moabit“, Galiani

In der von Kat Menschik gestalteten Reihe „Lieblingsbücher“ wählt die Illustratorin gemeinsam mit dem Verlag die jeweiligen Materialien aus und bestimmt Satz und Layout. So entstand der 4. Band einer wirklich illustren Reihe; „Der Landarzt“ von Franz Kafka, „Romeo und Julia“ von William Shakespeare, „Die Bergwerke von Falun“ von E. T. A. Hoffmann – und nun „Moabit“ von Volker Kutscher.

Die Justizvollzugsanstalt Moabit steht seit fast 140 Jahren, mittlerweile unter Denkmalschutz aber noch immer als Haftanstalt genutzt, mitten in Berlin. Volker Kutschers kriminalgeschichtliche Lunte brennt aber über die Gefängnismauern hinaus ins Berlin der Dreissigerjahre und explodiert in der Kneipe „Bei Mathilde“, einem Eckhaus am Lenzener Platz.

Kurz vor Ende einer mehrjährigen Haftstrafe wird Adolf Winkler, den die Szene nur „den Schränker“ nennt, im Moabit von einem eben erst Eingesperrten mit einem Messer angegriffen und beinahe erwürgt. Nur ein Zufall rettet Adis Leben, der nach seiner Haftentlassung bei einer Willkommensfeier in der Amor-Diele feststellen muss, dass seine Gang nicht mehr die ist, die er damals wegen bandenmässigem Raubüberfall verlassen musste. War er im Moabit das Opfer eines Machtkampfs?

Die Goldenen Zwanziger in Berlin waren auch die Goldenen Zwanziger der Berliner Unterwelt. Volker Kutscher gelingt es in diesem Kurzkrimi zusammen mit der Illustratorin Kat Menschik ausgezeichnet, etwas vom Flair, dem überbordenden Lebenshunger jener Zeit einzufangen. Wer mit dem schmucken Büchlein in der Hand eintaucht, fühlt, sieht und riecht das Brodeln der wilden Jahre in einem Berlin, das kurze Zeit später in der Weltwirtschaftskrise zu implodieren droht.

Zum Juwel macht den Krimi aber Kat Menschik mit ihrer unvergleichlichen Art, eine Geschichte mitzuerzählen. „Moabit“ ist mehr als ein Krimi, mehr als ein Buch, auch mehr als ein illustriertes Buch. „Moabit“ ist buchgewordene Antithese zum gebetsmühlenartigen Abgesang auf das gedruckte Buch. „Moabit“ aus dem Hause Galiani ist genau das, was ein Reader nie und nimmer erreichen kann – ein Fest für die Sinne! Grossartig! Das Weihnachtsgeschenk!

Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman »Der nasse Fisch«, dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher fünf weitere folgten. Die Reihe ist die Vorlage für die internationale Fernsehproduktion »Babylon Berlin«.

Kat Menschik ist freie Illustratorin. Sie gibt dem Feuilleton der FAZ die optische Prägung, diverse von ihr illustrierte Bände erlangten Kultstatus, u. a. Haruki Murakamis Schlaf. Zahlreiche ihrer Bücher bekamen Auszeichnungen als schönste Bücher des Jahres. Bei Galiani sind erschienen: „Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländersagas“ (2011) sowie „Kalevala“ (2014), „Der goldene Grubber“, Von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr (2014).

 

Marianne Künzle «Drama am Waldrand»

Am Waldrand liegt eine flach getretene Aludose.
Red Bull Energy Drink. Belebt Geist und Körper und hebt die Stimmung. Das steht da drauf, Blau auf Silbern, die Schrift vom Wetter verwaschen.
Die Dose hat ein Mann gekauft, der die Fahrprüfung bestanden hat. Zwei Mal durchgerasselt, nun hat es geklappt. Seine Haut zieren Pickel, aber Autofahren kann er jetzt und das tut er jetzt. Er fährt zu seinem Freund auf dem Bauernhof, mit dem er in die Lehre geht. Er trinkt am Steuer Red Bull und das Fenster steht offen, der Wind bläst ihm durchs Haar und er fühlt sich gut, er trinkt Red Bull, Bier dann später, Wodka auch. Bier wär schon besser, aber ist er ein Baby oder was, er trinkt doch nicht wenn er autofährt. Er nimmt den letzten Schluck, zerdrückt die Dose in seiner linken Hand, die rechte locker am Lenkrad. Schmeisst die Dose aus dem Fenster, ihm gehört die Welt. Die Dose fliegt umständlich durch die Luft, ihre Leichtigkeit ist unübertrefflich. Da haben sich die Verpackungsmaterialingenieure was wirklich Gutes einfallen lassen. Fünf Gramm Leergewicht.

Unter einem Grasbüschel sitzt eine Spitzmaus. Sie wartet dort geduldig, seit zwanzig Minuten. Sie hat aufmerksam gelauscht und geschaut und gewartet und wieder geschaut und gelauscht, geschnuppert. Der Himmel nun wieder grenzenlos blau, der kreisende Schatten des Mäusebussards verschwunden. Der Warnruf der Blaumeise ist in regelmässiges Tschilpen übergegangen. Ein Motorengeräusch nähert sich, das beunruhigt die Spitzmaus aber kaum. Diese lauten Blechkisten sind riesig und tatsächlich beeindruckend, aber sie haben keine Zähne und Krallen und auch wenn sie plötzlich aus dem Nichts auftauchen: die sind sofort wieder weg.
Die Spitzmaus streckt ihre spitze Nase in die Luft, auch der Fuchs scheint nicht in der Nähe zu sein. Die Luft ist rein. Sie trippelt los. Zuversichtlich, emsig, ab nach Hause ins Nest.
Ein dumpfer Schlag.

Drama am Waldrand: Red Bull erschlägt Spitzmaus!

Marianne Künzle, 1973 in Bern geboren, ist gelernte Buchhändlerin, war Kampagnenleiterin im Bereich «Ökologische Landwirtschaft» bei Greenpeace. Seit Ende 2015 arbeitet sie in einer Teilzeitanstellung bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. „Uns Menschen in den Weg gestreut“, ihr erster Roman, ist bei Zytglogge erschienen und absolut lesenswert, auch wenn man mit Heilkunde nichts am Hut hat.

 

Gertrud Leutenegger «Das Klavier auf dem Schillerstein», Nimbus

Titelgebender Text ist Gertrud Leuteneggers Rede zur Verleihung des Grossen Schillerpreises an den Tessiner Schriftsteller Giovanni Orelli, gehalten 2012. Mittlerweile ist der grosse Tessiner gestorben. Mit dem Text setzt Gertrud Leutenegger dem Dichter ein Denkmal. Einem Dichter, der sich wie Gertrud Leutenegger nicht um Strömungen bemühte, der nicht nach Exklusivität und Originalität suchte, sondern schon in der Art seines Schreibens zum Subversiven wurde.

Gertrud Leutenegger ist in ihrem Denken und Schreiben eine Schwester Giovanni Orellis. Sie kann etwas, was mir selbst vollständig entgeht. Ob sie sich mit den Schriften, dem Schreiben und Streben des Dichters Novalis auseinandersetzt, der untergegangenen Welt der stillen Dichterin Cathrine Colomb oder einer Fahrt im Postauto von Chiasso hinauf in die Berghänge weg vom Tessiner Mendrisiotto – Gertrud Leutenegger taucht in einer Intensität in Welten ein, der ich allerhöchstens in ihren Texten folgen kann. In dieser Feststellung offenbart sich eine Mischung aus Neid und Scham. Gertrud Leutenegger ist erfüllt, durchtränkt von Sprache, Klang und Textmusik. Es ist zu befürchten, dass sie wie der Dichter Giovanni Orelli zu einer aussterbenden Sorte Mensch gehört, die sich nicht betäuben wollen, die sich nicht einmal davor schützen müssen. Gertrud Leutenegger ist im menschlichen Spektrum diametral entfernt von all jenen, die sich in rasenden Zügen, mit Kopfhörern zugestöpselt und mit dem Finger über Minibildschirme wischend durchs Leben zerren lassen. Gertrud Leuteneggers Texte, auch ihre Romane, entschleunigen, zeigen, was Leben und Denken wäre, würde ich mich nicht dauernd wegtragen lassen. Die Schriftstellerin beschreibt im Buch «Das Klavier auf dem Schillerstein» auch eine Reise im Zug mit dem Dichter Gerhard Meier und seiner Frau Dorli nach Graz. Gerhard Meier, auch ein grosser Stiller, ein Massiv an Verborgenem und zu Entdeckendem, ein Gigant hinter der Maske des Kleinbürgerlichen, ein grosser Schweizer Schriftsteller. Ein einziger Satz auf jener Reise war es damals, vor Jahrzehnten, der die Dichterin noch immer umtreibt, der einen tiefen Krater in ihr Bewusstsein gerissen hat und genauso gut als Titel für dieses wunderbare Büchlein gepasst hätte:

«Man muss hysterisch an der Freiheit interessiert sein.»

Was Gerhard Meier genauso wie Gertrud Leutenegger unter Freiheit verstehen, unterscheidet sich erschreckend von dem, was uns die Gegenwart in Medien und Konsum einzubläuen versucht. Ohne es zu wollen ist Gertrud Leutenegger ein Hohelied auf die Langsamkeit gelungen, wider aller Betäubung und jedem hohlen Rausch.

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014).

Am Freitag, den 1. Dezember 2017, um 20 Uhr, liest Gertrud Leutenegger aus „Das Klavier auf dem Schillerstein“ im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG, Moderation: Bernhard Echte, Verleger Nimbusverlag

Fee Katrin Kanzler liest, Gallus Frei-Tomic moderiert

am 30. November, 19 Uhr, Raum für Literatur,
Hauptpost / St. Gallen, St. Leonhardstrasse 40 / 3. Stock,
Eintritt 15 CHF / ermässigt 10 CHF / GdSL-Mitglieder gratis

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Webseite der Autorin

Hurra, ich brenne noch immer!

Anfang 2016 startete das Abenteuer literaturblatt.ch. Im Gegensatz zu Deutschland sind Literaturblogger in der Schweiz ein überschaubares Grüppchen und kaum miteinander vernetzt. Einzelkämpfer wie ich. Ob gut oder schlecht, weiss ich nicht. Vogelfrei, ungebunden, von den Verlagen gleichermassen geschätzt und schlecht einzuschätzen, von den Schreibenden geduldet oder geschätzt.

Jetzt sind es dreihundert Beitrage. Es macht Spass, erfüllt und vertieft meine Beschäftigung mit Literatur, dem Lesen, dem Buch. Was mir fehlt, ist das Gegenüber. Zu Beginn richtete ich meinen Blog so ein, dass man via Kommentar hätte reagieren können. Es kamen tausende von Reaktionen, aber leider nur Müll, Spammails. Dermassen viel und unkontrolliert, dass ich den Hahn zudrehen musste. Trotzdem fehlt eine Reaktion, ein Feedback. Würde ich mir auf mein kleines Jubiläum etwas wünschen, dann konstruktive Kritik, Fragen und Ideen, Lob und Tadel.

Vielleicht machen Sie mir ein Geschenk. Zum Beispiel:

  • Eine Geschichte, ein Text, ein Gedicht für meine „Plattform Gegenzauber“. Einziges Kriterium, dass der Test auf Literaturblatt.ch erscheinen kann: Der Text muss mich ansprechen – nicht unbedingt gefallen – kitzeln, provozieren, locken, wundern…
  • Sie erzählen von einem Ihrer Lieblingsbücher. Ihr Text erscheint in der Rubrik „Mein Lieblingsbuch». Ihr Buch muss kein Aktuelles sein.
  • Sie schenken mir eine ganz persönliche Kritik, eine Anregung, eine Idee. Etwas, was mich in meiner Auseinandersetzung mit „dem Buch“ reicher macht.
  • Sie schreiben in mein „Gästebuch“.

    Bei einer Abonnentin zuhause
  • Fotografieren Sie, was Sie mit den Literaturblättern bei Ihnen zuhause machen. Hängen Sie sie irgendwo auf? Ich bin mehr als nur neugierig!

Vielen Dank! Auch vielen Dank, dass Sie zu meinen Leserinnen und Lesern gehören!

„Ich lese deinen Blog regelmässig. Ohne Deinen Blog würde ich jetzt zum Beispiel nicht «Das schwarze Paradies“ lesen. Es kam auch schon vor, dass ich wegen deines Blogs ein Buch nicht gelesen habe, das eigentlich auf meiner inneren Liste stand. Danke für deine Hinweise.“ K. W.

Florjan Lipuš „Ich schreibe, um mich selbst zu retten.“

Über dem Kärntner Jauntal direkt am Waldrand über der 200Seelen-Ortschaft Sele/Sielach wohnen Maria und Florjan Lipuš. Florjan Lipuš ist einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller der Gegenwart. Ich besuchte den 80jährigen zusammen mit meiner Frau und staunte über die Zartheit dieses grossen Schriftstellers.

2012 erschien bei Suhrkamp eine Neuauflage des 2003 auf slowenisch erschienenen Romans „Boštjans Flug“ mit einem Nachwort von Peter Handke. Nicht erst damals war mir Florjan Lipuš ein Begriff. Aber seitdem nehme ich mir bei jedem Besuch im Geburtsort meiner Frau nicht weit von dem des Schriftstellers vor, diesen zu besuchen. Aber Florjan Lipuš ist in keinem Telefonverzeichnis zu finden, keine Adresse, im Netz bloss wage Angaben zu seinem Wohnort. Das soll wohl so sein. Florjan Lipuš liebt nichts mehr als die Stille. Also klingelten wir an der Haustür einer Familie Lipuš, an einer Tür zu einem Haus mit grossem Garten. So wie mir mein Schwager, der nicht weit von dem Haus Felder bewirtschaftet, riet. Meine Frau mit einer Tasche, ich mit einem Bündel Bücher unter dem Arm. Kein Wunder war die Frau, die uns öffnete misstrauisch. Ich an ihrer Stelle hätte Zeugen Jehowas vermutet.

Florjan Lipuš, ein grosser, stiller Schreiber, Dichter und Denker, der nirgendwo sonst leben könnte als an diesem ruhigen Ort zwischen Karawanken und Drautal. Jenem Gebiet, das wegen seiner Zweisprachigkeit Deutsch/Slowenisch wie kaum eine andere Gegend in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert zwischen die Fronten geriet. 1937 kam Florjan Lipuš dort zur Welt, ein Kärntner Slowene. „Kärnten ist das einzige Land in Europa, das sich vor einer Sprache fürchtet.“

Florjan Lipuš schrieb Romane und Erzählungen. Sein erster Roman „Der Zögling Tjaž“ (Zmote dijaka Tjaža, 1972) wurde 1981 übersetzt von Helga Mračnikar und Peter Handke, mit dem er gemeinsam ein kirchliches Gymnasium besuchte. Alle Texte Florjan Lipuš drehen sich um seine Heimat, ohne dass er ein Heimatschriftsteller geworden wäre. Niemand schreibt schärfer als er über ein Land „am Arsch der Welt“, im Würgegriff von Zwängen und Normen. Es sind Bilder seiner Kindheit und Jugend, die ihn noch immer drangsalieren, die Verschleppung und den Mord an seiner Mutter 1943 durch die Gestapo, das Zürückgelassensein, die Lieblosigkeit. Lipuš, Sohn einer Magd und eines Knechts misstraut den Menschen, misstraut sich selbst, seinem Glück und erst recht dem Leben als „Künstler“. Seit mehr als 50 Jahren schreibt der Dichter in der Abgeschiedenheit seines Zuhauses mit Bleistift. Lipuš, der nichts so sehr verabscheut wie Oberflächlichkeit. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde; ich schreibe um gelesen zu werden. Ich schreibe, um mich selbst zu retten. Florjan Lipuš, dessen Mutter im KZ Ravensbrück umgebracht wurde, weil man ihr durch eine hinterhältige Falle unterstellen konnte, mit Partisanen zu sympathisieren, dessen Vater bei der Wehrmacht war und der nach dem Tod seiner Mutter allein mit seinem kleinen Bruder im Haus zurückblieb, schreibt gegen das Trauma seiner Kindheit. Er kämpft gegen das Vergessen, das Vergessen von Geschichte. Er schreibt gegen den Schmerz, gegen das Vergessen unter dem tonnenschweren Gewicht einer Jahrhundertkatastrophe. Lesen Sie „Boštjans Flug“ in der wunderschonen Ausgabe aus dem Suhrkamp Verlag, übersetzt von Johann Strutz! Die Zartheit in seiner Person spiegelt sich in der Zartheit seiner Bilder und Sprache.

Auf literaturblatt.ch erscheint bald eine Besprechung zu seinem bei Jung und Jung erschienen Roman «Seelenruhig».