Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung

Was wünscht sich ein Mädchen, eine junge Frau mit 14? Die Zugehörigkeit in einer Peergroup, Anerkennung, die Sehnsucht nach der grossen Liebe, Träume, Freundschaften. Matthias Gruber hat sich in seinem preisgekrönten Debüt „Die Einsamkeit der ersten Art“ ein Leben ausgesucht, dass von vielem ausgeschlossen ist.

Eigentlich ist sie doch mit ihrem Namen schon gestraft; Arielle. Arielle leidet unter einem Gendefekt. Was heisst; Arielle hat als Mädchen fast keine Haare auf dem Kopf, fast keine Zähne im Mund und kann nicht schwitzen. Nicht nur die heissen Sommer sind ihr ein Graus, jede körperliche Anstrengung, das Leben überhaupt. Ektodermale Dysplasien heisst diese Krankheit, oder noch nichtssagender XLHED. Matthias Gruber nennt den Namen dieser Krankheit in seinem Buch nie. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein Buch über diese Krankheit. Und doch trägt das Mädchen den Makel mit sich. Ein Makel, der nicht abgelegt werden kann in einer Welt, die sich vor allem an Äusserlichkeiten orientiert. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein trauriges Buch, sondern mit erstaunlich viel Witz und Humor erzählt. Ein Buch, das mit diesem Makel kein Kapital schlagen will, schon gar kein emotionales.

Arielle geht zur Schule. Während sich ihre Klassenkolleginnen über Social Media ganz über ihre Äusserlichkeiten definieren und die Jungs weit entfernt, wie auf einem unerreichbaren Planeten ihr Ding abziehen, wächst Arielle in einem Zuhause auf, das wenig Zeit hat für die Nöte der Tochter. Der Vater verdient sein Geld mit Entsorgungen und Räumungen und sucht in entsorgten Computern auf Festplatten nach Kryptowährung. Aber weil er, vom Amt zu Räumungen geschickt, mit dem Sammelgut auf illegalen Wegen Bares kassiert, fällt er in Ungnade und ist mehr und mehr auf das Geschick seiner psychisch labilen Ehefrau angewiesen. Aber auch sie ist von sich selbst gefangen, hofft mit Kosmetikartikeln das grosse Geld zu verdienen, über Social-Media-Kanäle zur Influencerin zu avancieren, in der Hirarchie eines Schneeballsystems die grosse Bühne zu besteigen.

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Arielles Vater werkelt in seiner Kammer und sucht nach einem Schatz, Arielles Mutter schichtet in ihrem Keller, in ihrer Online-Boutique – und Arielle versucht mit dem Leben mehr oder weniger alleine zurechtzukommen. Am meisten weggetragen fühlt sie sich, wenn sie mit ihrem Vater im Lieferwagen auf Tour ist, oder wenn sie auf der Müllsammelstelle, wo alles landet, was als Spur hinter den Menschen hergezogen wird, im Studio von Aljosha, in einem Container beim Schrottplatz eine Atempause findet, wenn sie sich in die Welt am Rand mischt.

Und doch möchte ausgerechnet sie helfen. Ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Freundin Yasmine und Aljosha, der von einem Leben in Berlin träumt, von einer Kunstschule, weit weg vom Schmuddeldasein und den Blicken all jener, die ihn in seinem Andersein höchstens tolerieren. Aljosha ist schwul.

Die Situation spitzt sich zu, als Arielle sich ein gebrauchtes Handy unter den Nagel reisst und mit den Fotos eines unbekannten Mädchens nicht nur der Mutter unter die Arme greifen will, sondern damit auch einen Feldzug gegen Jungs führen, bei denen sie als sich selbst nur Unverständnis ernten würde. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist eine bunte Geschichte, von den Rändern her erzählt, ein Stück Menschengeschichte, als wäre diese an ein Ende gestossen, als würde sich das Menschsein in lauter Sinnlosigkeiten bis hin zu Müllhalden und Schrottcontainern ausleeren. 

Wenn Matthias Gruber von den Anstrengungen der Mutter erzählt, im Kosmetikbuisiness Fuss zu fassen, dann sträuben sich die Nackenhaare. Wenn die Krone der Schöpfung nur noch hinter Äusserlichkeiten herhechelt und man den wahren Kern von Leben und Sterben aus dem Blick verloren hat, dann ist „Die Einsamkeit der ersten Art“ nicht tröstlich, aber äussert unterhaltsam, mutig erzählt, frisch von der Leber. Matthias Gruber ist eine unverkrampfte, junge Stimme von der ich mir viel verspreche.

Interview

Zuerst möchte ich Ihnen zum Rauriser Literaturpreis gratulieren! Wer einen Blick auf die Liste aller ehemaligen PreisträgerInnen wirft, ist beeindruckt. Das sind keine Eintagsfliegen. Viele der Namen sind heute Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Setzt Sie das nicht etwas unter Druck oder kann man den Preis einfach als Anerkennung für die Qualität eines ersten Romans geniessen?
Zusätzlichen Druck verspüre ich zum Glück noch nicht. In erster Linie freue ich mich einfach, dass der Roman durch den Preis noch etwas zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt. Es erscheinen so viele großartige Bücher und das in einer solchen Geschwindigkeit, dass ein einzelner Roman nicht viel Zeit hat, um seine Leser*innen zu finden. Vielleicht kann der Preis diese Zeitspanne ein wenig verlängern.

Obwohl die Pupertät eine Zeit des Suchens und Ausprobierens ist, ist es bei vielen Jugendlichen genau die Zeit, in der man auf keinen Fall aus der Reihe tanzen will, in der man zu erstaunlich viel „Uniformierung“ bereit ist, sich einer Peergruppe anschliesst und alles peinlich findet, was keiner Norm entspricht. Gewisse Menschen scheinen aber gar nie darüber hinauszukommen! Arielle (Was für ein Name!) hat keine Chance, einem Bild zu entsprechen, genetisch bedingt. Während andere, scheinbar ebenso genetisch bedingt, unumstösslich in dieser Norm gefangen sind. Ist Schreiben ein Ausbruchsversuch?
Ich denke, wir alle tragen diese verbesserten Versionen von uns in der Hosentasche herum. Auf unseren Social Media-Profilen spielen wir uns selbst und möchten dabei klüger, schöner und witziger erscheinen, als wir uns im echten Leben fühlen. Mich hat interessiert, wie es einem Menschen geht, dem das nicht möglich ist, weil sein Äußeres nicht einfach durch einen Filter oder eine bestimmte Pose verändert werden kann.

Durch Zufall kann Arielle einen eigentlichen Avatar generieren, mittels eines Telefons, das sie sich bei den Touren mit ihrem Vater unter den Nagel reisst. Ein „Spiel“, in dem die Realität mit einem Mal zurückschlägt. Ist das nicht ein bisschen viel Moralität angesichts dessen, was mittels Social Media alles erreicht werden kann? Frage ich meine SchülerInnen in ähnlichem Alter wie Arielle, so ist „InfluencerIn“ ein vielgenanntes Ziel.
Es ging mir beim Schreiben nicht um ein Verteufeln sozialer Netzwerke. Die Arbeit am Buch war eher ein Versuch, auszuloten, wie umfassend diese Plattformen mittlerweile unser Leben beeinflussen: Unser Selbstbild, unsere Beziehungen, die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit gestalten und die Welt betrachten. Das betrifft längst nicht nur Jugendliche, sondern alle. 

In einem Interview erzählen Sie, sie hätten zusammen mit ihrem Kind auf einem Spielplatz ein auffälliges Kind gesehen und danach recherchiert. So sei dieses Kind mit dem Gendefekt Ektodermalen Dysplasie in ein bereits angefangenes Manuskript gekommen. Gab es auch den direkten Kontakt mit Menschen mit dieser „Krankheit“? Ist es nicht abwertend, einen solchen Genunterschied als „Krankheit“ zu bezeichnen?
Über die Vermittlung einer Selbsthilfegruppe konnte ich Kontakt zu Menschen mit Ektodermaler Dysplasie aufnehmen und mit ihnen Interviews führen. Ich bin dafür sehr dankbar, denn ohne diese Einblicke hätte ich den Roman gar nicht schreiben können. Die Frage, ob die Bezeichnung Krankheit per se abwertend ist, kann ich nicht beantworten. Ich vermute aber, es kommt auf den Kontext an. Ein respektvoller Umgang mit Betroffenen sollte jedenfalls selbstverständlich sein. Leider ist das oftmals nicht der Fall, wie auch die Interviews für das Buch gezeigt haben. Nicht wenige Menschen mit Ektodermaler Dysplasie werden wegen ihres Aussehens ausgegrenzt, verspottet und stigmatisiert. Vieles, was ich in Interviews gehört habe, konnte ich kaum glauben. 

Bei einem Museumsbesuch trifft Arielle auf jenes Tier, dass als erstes seiner Art vom Wasser ans Land kam. Arielle, die nicht schwitzen kann und eigentlich ganz gerne im kühlen Wasser bleibt, fühlt die Einsamkeit, weil niemand wirklich nachvollziehen kann, was in ihr und mit ihr geschieht. Erst recht, weil wir in einer Gesellschaft der Äusserlichkeiten existieren und dauernd taxieren, schubladisieren und urteilen. Einsamkeit in einer Gesellschaft, die unter Dichtestress leidet?
Das ist ein wichtiger Punkt. Arielle selbst macht ihren Gendefekt selten zum Thema. Natürlich ist er für sie in mancherlei Hinsicht einschränkend, aber zum Problem wird er nur deshalb, weil ihre „Andersartigkeit“ immer und immer wieder von außen an sie herangetragen wird. Erst diese Schubladisierung isoliert sie und macht sie zur Außenseiterin. Die Szene im Naturkundehaus ist für mich auch deshalb eine Schlüsselszene, weil sich in Arielles Wahrnehmung etwas verschiebt. Wie der Ichthyostega wird auch sie plötzlich nicht durch ein scheinbares Defizit definiert. Sie ist die Erste ihrer Art. 

Arielles Mutter leidet an Ekzemen an der Hand und träumt vom grossen Geschäft mit Kosmetika. Ihr Vater entsorgt Hinterlassenschaften, räumt Wohnungen. Auch er träumt; vom lukrativen Kryptogeldfund in „herrenlosen“ Computern. Arielle, die das Spiel mitmacht, sucht aber eigentlich nach ganz anderem; nach Geborgenheit, Freundschaft, Liebe. Unser Tun hängt sich mehr und mehr an digitale Schein- und Nebenwelten. Ihr Roman moralisiert ganz dezent. Er drückt auch nicht auf die Mitleidsdrüsen. Wollen Sie einfach eine gute Geschichte erzählen oder schwingt nicht immer eine Absicht mit im Schreiben?
Ich wollte von Menschen erzählen, deren Welt in Trümmern liegt. Und von ihren oft vergeblichen Versuchen, damit umzugehen. Die Schicksale der Figuren stehen also klar an erster Stelle. Aber natürlich bewegen sich diese Menschen nicht im luftleeren Raum. Die Dinge, unter denen sie leiden, haben Ursachen. Insofern ist es natürlich ein Roman über gesellschaftliche Ungerechtigkeit und ein zutiefst politisches Buch. Vieles bleibt dabei allerdings in der Andeutung. Vieles läuft über Leerstellen, auch sprachlich. Ich finde, ein Roman braucht diesen Raum. Sonst hätte ich ein Sachbuch oder einen Essay geschrieben. 

Matthias Gruber, 1984 in Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er hat Theaterwissenschaften studiert und als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle gearbeitet. Er ist Mitgründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. »Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art« ist sein erster Roman, für den er mit dem Rauriser Literaturpreis 2024 ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Eva Krallinger-Gruber

Rauriser Literaturpreis 2024 Matthias Gruber, Förderungspreis 2024 Luka Leben

Wenn zu Beginn des neuen Jahres Hoffnungen und Erwartungen auf Ungewissheit und Unsicherheit treffen, ist es ein gutes Gefühl, am Horizont einen Leuchtturm zu sehen. Die Rauriser Literaturtage unternehmen auch dieses Jahr wieder den mutigen Versuch, mithilfe der Literatur Orientierung im dichten Nebel unserer Zeit zu geben.

Mit ihren Geschichten vom Zusammenleben gelingt es den diesjährigen Autorinnen und Autoren durch die Möglichkeiten der Sprache eine Nähe zu schaffen, die in unserer Welt selten geworden ist. In einer Gesellschaft, die immer mehr auseinanderdriftet, wo soziale Medien eine Art des Zusammenlebens propagieren, die nicht nur physische, sondern auch emotionale Distanz zur Grundlage hat, vermag es die Literatur, unsere Empathiefähigkeit und Empfindsamkeit zu stärken. Die diesjährigen Texte laden ein, sich in fremde Personen hineinzufühlen, um ihr Denken und Handeln besser zu verstehen.

Den Rauriser Literaturpreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg, dotiert mit € 10.000,-) erhält Matthias Gruber für seinen Roman «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» (Jung und Jung Verlag, 2023).

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Begründung der Jury (Julia Encke, Jürgen Thaler, Isabelle Vonlanthen):
„In Matthias Grubers «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» tritt uns ein Erzähler mit lebendiger Wirksamkeit entgegen, der uns teilnehmen lässt am Heranwachsen von Arielle, einer jungen Frau, deren Äußeres nicht dem entspricht, was die Gesellschaft für sich als schön ausverhandelt hat. Der Autor führt uns durch ein trauriges wie fröhliches, ein witziges wie desaströses Leben, dessen Ende gleichzeitig überraschend und fantasievoll ist. Vom Rand der Gesellschaft her, von der Einsamkeit der Schrottplätze, der Pyramidenspiele und Entrümpelungsdienste, macht er uns in vielfach gelungenen Szenen und Episoden darauf aufmerksam, wie brüchig und rutschig unser Verständnis von Identität, wie zerbrechlich unser Begriff vom Menschsein überhaupt ist. Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschließt: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“

Matthias Gruber, geb. 1984 in Wien, aufgewachsen in Salzburg, wo er heute mit seiner Familie lebt. Studium der Theaterwissenschaften, arbeitete als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle. Er ist Mitbegründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. 2020 Gewinner des FM4-Kurzgeschichtenwettbewerbs „Wortlaut“. 2018 erschien die Prosasammlung «Das Meer vor dem Fenster» (edition mosaik), 2023 das Romandebüt «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» im Verlag Jung und Jung.

© privat

Den Rauriser Förderungspreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg und von der Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,-) zum Thema „Miteinander“ erhält Luka Leben für ihren Text Nachts nur das Rauschen.

Begründung der Jury (Helmut Neundlinger, Regina Pintar, Gudrun Seidenauer):
„Der Text «Nachts nur das Rauschen» thematisiert in zurückhaltender, doch deutlich sprachbewusster und manchmal zuspitzender Diktion das Leben mit einem Kleinkind, das von einer sprachlich-motorischen Einschränkung betroffen ist. Wir lesen ein sensibles und dennoch immer nüchternes und exaktes Protokoll des Alltags in einer herausfordernden Situation, die trotz väterlichen Einsatzes stärker auf den Schultern und auch der Psyche der weiblichen Protagonistin zu lasten scheint. […] Der Text erfasst mit großer Genauigkeit und sinnlicher Präzision gleichermaßen die inneren Bewegungen, die Gedanken und bisweilen emotionalen Verwerfungen der Protagonistin, die doch über jede Überforderung hinaus immerzu ‚funktioniert‘. Die Glaubwürdigkeit und Schonungslosigkeit der Erzählung beeindrucken und berühren besonders, da die Autorin eine dem komplexen und facettenreichen Thema angemessene und immer souveräne Tonlage wählt, die nie sentimental wirkt oder überhöht, auch da nicht, wo Extremsituationen, Sprachlosigkeit, Missverstehen und Einsamkeit spürbar werden. Dennoch gibt es auch Berührung, Verbundenheit und Momente der Hoffnung auf ein ‚Miteinander‘, das gewiss nicht leicht, aber doch stark und stabil zu sein scheint. Hier schreibt jemand, der die Sprache der Literatur außerordentlich gewandt in den Dienst eines überzeugenden Anliegens zu stellen versteht, ohne es auf eine plumpe ‚Botschaft‘ zu reduzieren.“

Luka Leben, geb. 1989 in Salzburg. Studium der Kunst und kommunikativen Praxis an der Universität für angewandte Kunst in Wien und der Bildnerischen Erziehung und Germanistik in Salzburg. Sie unterrichtet Deutsch, Literatur und Kreatives Schreiben an einem Salzburger Gymnasium. 2017 erschien ihre Textsammlung «Unter der Zunge» (edition mosaik) mit eigenen Illustrationen.  Auch für andere Bücher hat sie Zeichnungen geschaffen (u. a. Die Insel der verschwundenen Klänge von Wolfgang Wenger, Das Leben ist schön und andere Märchen von Elisabeth Escher).

Beitragsbild © Miriam Kreiseder

«These words are everything or maybe words are just my only thing» – Robert Prosser und Lan Sticker im Literaturhaus Thurgau

Das Zitat aus dem Poem «These Words Are Everything» des US-Rappers Jonwayne hätte auch das Motto für die Performance zu Robert Prosser Roman «Verschwinden in Lawinen» sein können. Was dieser zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker auf die Literaturhausbühne brachte, war Sprache durch und durch.

Robert Prosser so einfach „Schriftsteller“ zu nennen, wird dem, was der Mann tut, nicht gerecht. Zwar wird Robert Prossers literarischer Fussabdruck weit über die österreichischen Grenzen hinaus schon seit 15 Jahren stetig grösser, aber der Erschaffer des Romans mit dem Titel „Verschwinden in Lawinen“ ist, wie alle, die sich an diesem wunderschönen Sommerabend ins Literaturhaus Thurgau trauten, sinnlich erlebten; Performer mit Leib und Seele, Vermittler, Kurator, Dichter, „Experimentierer“, in seiner Vergangenheit Graffitikünstler und seit einigen Jahren, nach einem Schreibaufenthalt in England, Boxer.
Robert Prosser ist körperlich durchdrungen von Sprache. Dass er schon seit mehreren Jahren zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker tourt und international auftritt, mit dem Drumbadour den Rhythmus der Sprache noch verdichtet, ist vielleicht auch ein bisschen aus dem Boxen entstanden; einer sprichwörtlich körperlichen Auseinandersetzung mit Rhythmen und Ein-drücken.

Lan Sticker, der an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz Schlagzeug studierte und sich in seiner Musik zwischen Pop und Jazz bewegt, verschmolz sicht- und hörbar mit dem sprachlichen Metronom seines Gegenübers. Ein Tiroler und ein Kärntner zusammen über die vielfachen Verschüttungen durch Lawinen aller Art. Ein Text über das Monster und das Verschwinden, über den Versuch der Befreiung und das erdrückende Gewicht sich verschiebender Sedimente – ob Schnee oder die Gesellschaft selbst, ob Schuld oder die pure Wucht der Vergangenheit.

Von Bergidylle keine Spur! Romane, die sich kritisch mit Herkunft und Heimat auseinandersetzen, haben in Österreich eine lange Tradition. Bisweilen werden Bücher fast toxisch, triefen im Schmerz der Auseinandersetzung. In der Schweiz scheint alles viel moderater. «Verschwinden in Lawinen» ist auch eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Tourismus, Veränderungen an Mensch und Landschaft, die ganze Gegenden zu Kulisse und Spielplatz machten und machen. Robert Prossers Herkunftsland Tirol ist Synonym für die verkaufte Vorstellung von Freiheit, Abenteuer, Idyll und karikierter Bäuerlichkeit. «Verschwinden in Lawinen» erzählt von den Auswirkungen dieser Veränderungen, wie sehr sich Menschen nach einem Verschwinden sehnen, wie omnipräsent die Bedrohungen vielerlei Lawinen sind.

In Robert Prossers fiktivem Dorf gibt es die Verschütteten; die wirklich Verschütteten, jene die in jugendlichem Übermut den Schnee ins Rutschen bringen, jene, die über Jahre und Jahrzehnte unter Schneemassen kamen. Aber auch die vom Leben Verschütteten; Mathoi, der Einsiedler und Heiler, der in den Bergen ein ganz eigenes Leben führt, Anna, die Mutter des Protagonisten Xaver, die sich aus ihrem alten Leben in die Berge verabschiedet, Xaver, der eigentlich Schauspieler werden wollte und zum Störmetzger wurde oder Flo, sein Freund, der sich von der Gegenwart einlullen, freiwillig verschütten lässt. 

Robert Prosser ist ein literarisches Ereignis und zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker eine Offenbarung.

«Langsam näherten wir uns Gottlieben – Station um Station von Bern kommend, nach relativ kurzer Nacht, und ebenso Schritt für Schritt tasteten wir uns an den Abend heran: Für die Begleitung durch diesen Tag sagen wir Danke, lieber Gallus Frei. Ebenso für die Zeit und den Rundgang durch das Dorf, die Ausblicke auf den See und auf die Literatur. Wie schön, dass sich dieses Gespräch, das so leicht und flink zwischen Themen wie Schreiben, Lesen und Leben tänzelte, auf der Bühne fortsetzen konnte, nach unserem eigenen wilden Tanz durchs Buch, als Lan getrommelt und ich dazu rezitiert hatte, eingenestelt unters Dach des Bodmanhauses.» Robert Prosser

Rezension zu «Verschwinden in Lawinen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung

Gast im Literaturhaus Thurgau!

Robert Prossers scheinbarer Lawinenroman ist viel mehr. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen.

Robert Prosser ist ein erstaunlich vielschichtiges Kunstwerk gelungen. Da gibt es die Geschichte einer Naturkatastrophe, einer Schneelawine, von der man befürchten muss, sie habe zwei noch ganz junge, einheimische Opfer gefordert. Irgendwann findet man das Mädchen, schwer verletzt, bringt es ins Spital und hofft. Vom gleichaltrigen Burschen fehlt jede Spur und es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Das ganze Dorf steht unter Strom, in einer Mischung aus Ergebenheit den Naturkräften gegenüber und der Angst, eine weitere Tragödie akzeptieren zu müssen. 

Da ist die Geschichte einer Familie, die auseinandergebrochen, schon lange in einer Lawine aus Schicksalsschlägen begraben ist. Xavers Familie, jene des Protagonisten, der sich an der Suche nach dem Freund seiner Nichte, Noah, beteiligt. Xavers Grossvater war ein Mann, der Geheimnisse mit sich trug und ganz im Gegensatz zum Rest der Familie seine Welt mit der seines Enkels teilte. Jener Grossvater, schrullig und eigenwillig geworden, verschwand in den unwegsamen Schrunden der Berge. Als man ihn mit dem Hinweis eines Einsiedlers fand, war er bereits seit Tagen tot. Und mit dem Tod des Grossvaters begann auch das langsame Sterben von Xavers Mutter Anna, die sich irgendwann nur noch mit der Flucht vor sich selbst zu retten wusste – in eine Hütte auf einer der Almen.

„Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.“

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-273-2

Da ist die Geschichte von Xaver selbst, der eigentlich Schauspieler hätte werden wollen, aber irgendwie im Dorf hängen blieb, nicht zuletzt, weil er einer der wenigen wurde, die mit mehr oder minder illegalen Schlachtungen zu einem gesuchten Mann im Dorf wurde. Jenes Gerät, den Blitzer, das Bolzenschussgerät dauernd mit sich herumträgt, vielleicht, weil nichts so wie seine Schlachtungen reibungslos von statten geht. Er ist im Dorf verschüttet, in einem Dazwischen, einem Hohlraum, den er zusammen mit seinem schläfrigen Freund Flo lieber mit Kifferdunst füllt als mit der wilder Entschlossenheit auszubrechen.

Und es ist die Geschichte eines ganzen Dorfes, das sich mit gespielter Freundlichkeit dem Tourismus verschrieben hat, einem Dorf zwischen Ergebenheit der Natur und jener der zahlenden Gäste. Ein Dorf, das gute Miene macht zu einem Spiel, das ihm das Letzte raubt; die Ehrlichkeit, das Authentische. Da kommt eine solche Lawine gerade recht. Sie bündelt das Wenige, das an Solidarität geblieben ist für eine hektische Suche nach Noah, dem Vermissten. Man rottet sich zusammen, man reisst sich zusammen.

„Irgendwann gehen dir die Möglichkeiten aus, glücklich zu werden, und bevor es soweit ist, versuch ich es lieber hier.“

Auch Xaver ahnt, dass in dieser Suche nach dem wahrscheinlich Verschütteten auch seine eigene Rettung liegen könnte. Und weil der Einsiedler und Heiler Mathoi damals seiner Mutter Anna den Hinweis gegeben hatte, wo Xavers Grossvater zu finden wäre, macht sich Xaver auf die Suche nach dem Bärtigen irgendwo in den Bergen. Und weil er weiss, dass sich auch seine Mutter nach oben zurückgezogen hat und man sich im Dorf mit Gerüchten um die beiden nicht zurückhält, wird es eine Suche nach vielem, nicht zuletzt nach dieser einen Chance, Wege herauszufinden.

Robert Prossers Roman ist ein kraftvolles Bergpanorama ohne jedes Pathos, ohne eine Faser Kitsch. Ein grosses Bild mit Übermalungen, Überblendungen, als würde sich das Szenario beim Lesen in mir zu einem feinmaschigen Teppich verweben. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als Xaver bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Man verzeihe mir den Druckfehler: Lan Sticker!

Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach in Tirol. Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit «Phantome» (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. 

Webseite der Autors

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung

Ich musste während der Lektüre von „Fretten“ immer wieder einmal Luft holen. Helena Adler hat sich auch mit ihrem neuen Roman in einen Rausch geschrieben. Ein Rausch, der mich einsaugt und mich in Sphären trägt, die mich trunken machen. Die Schreibe der Salzburgerin ist wie ein Meteorit; sie schlägt ein und wenn man ihren Kern zu fassen bekommt, schillert er!

Sie schreibt. Aber ihr Schreiben ist anders! Man muss diesen Funkelstein nicht gegen das Licht halten. Er leuchtet von selbst. Sie spielt mit der Sprache in einer Virtuosität, der man in dieser Intensität und Kunstfertigkeit nur ganz selten begegnet. Kann gut sein, dass da etwas zu wachsen beginnt, das dereinst alles andere überstrahlen wird. Dabei ist ihre Sprache längst mächtig genug, dass ich mich als Schreibender in Ehrfurcht verneige. 2020 war Helena Alder mit ihrem Zweitling „Die Infantin trägt den Scheitel links“ in der Shortlist des Österreichischen und der Longlist des Deutschen Buchpreises – und nun 2022 bereits wieder in der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Als ob die Jury noch einmal nachdoppelt – und nun, als logische Konsequenz, der Autorin den Buchpreis ihres Landes zuspricht.

„Wir tanzen um die Wette, und ich tanze um mein Leben. Wir tanzen dem Tod durch die Lappen, denn solange wir tanzen, passiert uns nichts.“

Helena Adler klärt ganz zu Beginn des Buches: fret/ten (süddeutsch / österreichisch) sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben.
„Fretten“ ist als Roman die Fortsetzung von „Die Infantin trägt den Scheitel links“. In seiner Art noch zorniger, noch stärker, noch konsequenter. Aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden, die in ihrem Sein, ihrer Wahrnehmung, ihrem Erleben in krassem Gegensatz zu dem steht, was die geranienbehängten Bauernhöfe, die schmucken Kapellen und das saftige Grün mit den schmucken Hügeln und Bergen sonst als Idyll hergeben müssen. 

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-271-8

Eigentlich will sie nur weg; weg aus der Fassade, weg aus der Umklammerung von Geschichte und Gegenwart, der Unausweichlichkeit, der Selbstverständlichkeit des Immer-schon-so-Gewesenen. Am liebsten weg aus dem Kaff in die Stadt, auch wenn das Provinznest in der Nähe in nichts der grossen Freiheit entspricht, in die sie sich verbal verabschieden will. Sie, die schon auf einer versifften Rückbank einer Schrottkarre zur Welt kam. Sie schliesst sich als Wilde mit anderen zusammen, streift durch die Gegend, tut all das, wovon sie weiss, dass man es nicht tun sollte, zieht bandenmässig in der Provinzstadt herum. Sie brechen in Villen ein oder auch mal in einen Schlachthof, um die Fleischseiten vom Dach auf jene zu schmeissen, die mit Abendrobe zum Sehen-und-Gesehenwerden pilgern. Sie sind unentwegt auf der Suche, ohne ein Ziel. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Rebellion ist Prinzip. Man wiegelt sich auf, ohne zu wissen wohin, wo hinaus. Sie will aus der Hexenküche, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo ein Ausweg sein sollte. Die Erzählerin hext selbst. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt längst zerbrochen und wir die Scherben, die niemand aufsammeln will.

Bis sie schwanger wird, ein Kind bekommt. Bis alles in ihr die Richtung wechselt, nur die Intensität nicht. Bis ihr Blick, der sonst immer nach aussen gerichtet war, mit einem Mal ganz nach innen gerichtet wird. Bis aus der Störerin, der Zerstörerin eine Beschützerin wird, während mich Demut überfällt. Eine noch nie dagewesene Demut, eine abhandengekommene Demut, die ich im Laufe der Jahre aus Trotz gegenüber jeglicher Vergänglichkeit abgelegt hatte… Alles, was zuvor auf Abwehr, Rebellion und Ablehnung eingestellt war, wird zu einem weichen, schützenden Schal um die empfindsame Existenz des Kindes.

„Die Distanz zum Mond ist lächerlich, gemessen an der Liebe zu dir.“

Die Kraft ihrer Sätze, ihrer Bilder ist das eine. Das andere die Melodie, die Musik, laut, kraftvoll, als wäre das Erzählblut mit gedopt, als würde beim Lesen der eigene Puls unmerklich schneller werden. Helena Adler sprüht vor Lust und Witz, vor Spielfreude und Fabulierkunst. Und nichts ist gekünstelt. Helena Adlers Sprache ist ihr ganz eigener, absolut solitärer Sound. Eine Sprachmusik, die unverkennbar nur die ihrige ist. Ich kann nicht behaupten, dass sich aus der Sprache allein heraushören würde, wer sie „spielt“. Bei Helena Adler kann man es! Da wird Wut und Zorn zu ästhetischer Kraft.

Ironie des Moments: Ich las „Fretten“ in einem Zisterzienserkloster. In einer Klause um den Tisch herumschreitend, laut lesend, vorbei an Heiligenbildern und dem gestrengen Blick in Öl gemalter Kirchenmänner. Diesen Roman, der durchsetzt ist mit katholischen Fragmenten aus Psalmen und Gebeten! „Fretten“ ist sprachliche Offenbarung! Man lese und staune!

Interview

Dein ganz eigener Ton, den Du in Deinem Roman anschlägst, steht durchaus in einer österreichischen Tradition. Eine Tradition, die ich so nicht in der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte herausgehört hätte. Diese Mischung aus ungezügelter Leidenschaft, überbordender Fabulierlust und Wut. Ist das ein letzter Rest Aufbäumen gegen monarchische Obrigkeitsergebenheit?
Was genau das ist, weiss ich selbst nicht. Letzter Rest? Auf keinen Fall. Das ist doch erst der Beginn. Aber ein Aufbäumen, ein Trotz, ein Widerstand: ja, zweifellos. Gegen bestehende Umstände, gegen Borniertheit, gegen Obrigkeitshörigkeit, gegen Intoleranz. Gegen Kapitalismus. Gegen Arschlöcher und scheussliche Wichte, die selbst wie die Made im Speck leben und sich über andere Menschen erheben, vor allem über jene, die unter widrigen Umständen versuchen zu überleben. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

„fretten“ ist ein Verb und bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben“. Das erklärst Du auch in Deinem Roman. Inhaltlich passt das Verb genau zur Protagonistin. Aber auch zu Dir und Deinem Schreiben? Es scheint, als wäre Deine Art der Sprache, des Schreibens eine sehr musikalische, verbunden mit viel Lust und Freude (auch wenn ich weiss, dass Schreiben harte Arbeit sein kann).
Fretten passt zu mir wie mein finsteres Gesicht zu meinem fiesen Lacher. Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast. Ob es zu meinem Schreiben passt, das ist eine andere Frage. Es passt in Teilen zu meinem Schreibprozess. In Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Da kann ich nämlich nicht schreiben und verzweifle darüber. Dann muss ich mich wieder selbst am Haarschopf aus dem Morast ziehen und von vorne beginnen. Aber dann, wenn es mich packt, bin ich woanders. Dann bin ich Teil des Babylonischen Gartens, blühe dort als Passionsblume und trinke das Wasser aus dem Euphrat.   

Man sieht sie überall in ihrem schwarzen Look, farbigen Haaren, genietet und gepierct. Es scheint immer mehr, dass die Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die sich gegenseitig nichts zu sagen haben. Gut, wenn ein Roman wie „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis erhellt und LeserInnen Welten öffnet. Wieviel „Aufklärung“ und „Wachrütteln“ steckt im Schreiben, in Deinem Schreiben?
Das kann ich nicht beurteilen. Den Anspruch auf Aufklärung erhebe ich keinesfalls. Aber freilich ist es ein Wunsch andere Welten zu eröffnen.  

Deine Protagonistin wird schwanger, bekommt ein Kind. Mit einem Mal verändern sich die Perspektiven dieses Lebens in permanentem Aufruhr vollständig. Eine Erfahrung die wohl alle Eltern machen, Mütter mit Sicherheit mehr als Väter. Du bist auch Mutter. Waren das Erfahrungen, die Du auf Deine ganz eigene Art so verschriftlichen musstest?
Manche Rezensenten sehen in «Fretten» eine Fortführung der «Infantin» und ich frage mich, ob ihnen nicht aufgefallen ist, dass sich die Sprache verändert hat. Für mich sind es zwei unterschiedliche Werke, die sich maximal in der Kindheit überschneiden, vielleicht was den Inhalt betrifft. Doch der Kern liegt anderswo, und zwar in der Mutterschaft. Und dafür wollte ich eine eigene Sprache erschaffen, die meiner Empfindung am nächsten kommt. Darüber wurde noch viel zu wenig geschrieben, darüber wollte ich schonungslos und ehrlich sein, aber auch all die Liebe hineinstopfen, die ich für mein Kind empfinde. Auch, wenn meine Mutterliebe das übersteigt, was ich imstande bin, auszudrücken. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

Neben dem Schreiben bist Du auch bildende Künstlerin. Deine Romane sind Literatur gewordene Klangbilder. Was unterscheidet Dein Malen von Deinem Schreiben? 
Beides passiert vor allem über ein Gefühl. Frei assoziativ. Das Schreiben geht viel über Klang. Beides ist sehr innwendig. Allerdings bin ich durchs Schreiben ausgelaugter, es entspricht mehr meiner Königsdisziplin. Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper. Vielleicht. 

Schreibende MalerInnen und malende SchriftstellerInnen haben Tradition. Braucht das eine das andere?
Nicht notwendigerweise. In meinem Fall empfinde ich es als Bereicherung. Ich bin Autorin und ich bin auch Künstlerin. In erster Linie aber profitiere ich von meinem inneren Reichtum an Bildern, ich kann jederzeit einen Spaziergang durch meine innwendige Gemäldegalerien antreten, andererseits übersetze ich manchmal durchaus auch Geschriebenes in Skizzen.

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Mit ihrem Debüt «Die Infantin» war sie auf der Shortlist des Österreichischen und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Rezension zu «Die Infantin» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Eva Trifft

Ludwig Fels «Mondbeben», Jung und Jung

Ludwig Fels starb am 11. Januar dieses Jahres in Wien. Wie gerne hätte ich den Schriftsteller kennengelernt. Wie gerne hätte ich ihm zu seinem letzten Roman gratuliert, der noch vor seinem Tod bei Jung und Jung erschien. Denn „Mondbeben“ ist starke Literatur, stark in seiner Sprache, stark in seiner Konstruktion, stark in seiner Geschichte!

Angesichts seiner 75 Lebensjahre hätte ich Zeit genug gehabt, den Autor zu entdecken, sowohl für seiner erzählerisches Werk wie auch für seine Lyrik. Aber ich habe ihn zu meinem grossen Bedauern versäumt, habe die Einladung nie angenommen und schäme mich fast ein bisschen. Jetzt, nach der Lektüre von „Mondbeben“, einem Roman, dessen Lektüre in mir auch eine Art Beben auslöste, ergebe ich mich dem Konjunktiv, gestehe mein Versäumnis ein und werde posthum nachholen, was in meiner „Bibliothek der Grossen“ noch fehlt.

Ludwig Fels debütierte 27jährig mit seinem Gedichtband „Anläufe“, zwei Jahre später mit seinem ersten Roman „Die Sünden der Armut“. Etwas, was den Autor durch all die Jahrzehnte ausmachte, war seine Wucht und seine Wut in einer Sprache, einem Erzählen, das sich nicht zurückhält. Keine selbstzerstörerische Kraft, aber eine Energie, die sich auch in seinem letzten Roman unmittelbar in mir als Leser fortsetzt, eine Wut über schiere Ungerechtigkeit und die Unausweichlichkeit des Schlechten. Ludwig Fels beschreibt den Kampf, das Aufbäumen von Menschen, die gefangen sind in Vergangenheit und Gegenwart. Keinen Gutmensch, kein Helden, Menschen, die sich glücklos zu wehren versuchen.

Ludwig Fels «Mondbeben», Jung und Jung, 2020, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-99027-241-1

Olav Ostrander wird nach seiner Haft erwartet. Von seiner Frau, wegen der er für Jahre im Knast auf die Freiheit wartete, auf ein neues Leben, eine zweite Chance. In seinem alten Leben war Olav eine Art Schuldeneintreiber. Nicht von der netten, freundlichen Art, sondern um die Schuldner daran zu erinnern, dass es kein Entrinnen, kein Vergessen, kein Umgehen gibt. Ein Schuldeneintreiber, der auch nicht davon zurückschreckt, Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Im Knast war Olav aber wegen ganz anderem. Er sah im Haus gegenüber einen Mann, der seine Frau verprügelte, hetzte nach drüben, brach in die fremde Wohnung ein und verprügelte den Mann windelweich, den Mann jener Frau, die er Monate später im Gefängnis heiratete.

Olav und Helen wollen neu beginnen, auf Zifere Island, der Insel der Inseln, irgendwo vor der Afrikanischen Küste. Dort fand Helen in einem Prospekt der Hidden Pearl Resort Company eine zum Verkauf ausgeschriebene Villa, nicht weit vom Meer. Ein Haus, das sie mit dem kleinen Vermögen bezahlen konnte, das sie geerbt hatte, das ihnen beiden ein neues Leben schenken, der Beginn einer Neuzeit werden sollte, an einem Ort, der im Prospekt wie ein Paradies anmutet. Aber das Abenteuer gerät schon im ersten Hotel, in dem sie nach dem Flug absteigen, in Schieflache, weil das Paar mit einer Prostituierten in Streit gerät und Helen über dem Auge ernsthaft verletzt wird. Aber auch Olav zieht eine Spur hinter sich her, denn seit einiger Zeit mischt sich Blut in seinen Urin. Irgendwann stehen sie mit dubiosen Vermittlern in dem Haus mit Pool, einem grossen, leeren Haus, eingezäunt, nicht weit vom Meer, das nur über Schutt- und Abfallhalden erreichbar ist. Statt nun endlich das neue Kapitel in ihrem Leben beginnen zu können, werden die Tage zu einem Spiessrutenlauf zwischen Kliniken, Arzt, Taxen und den kleinen Nischen, in denen sie jene Ruhe suchen, die sie sich gegenseitig versprachen. Zu allem Unglück versinkt das Land in gewaltsamen Auseinandersetzungen, einem blutigen Putschversuch und Helen und Olav in den Machenschaften eines korrupten Polizeiapparats und den Fängen einer eigentlichen Immobilienmafia. Olav, der Mann, der einstmals vor nichts zurückschreckte, um zu holen, was befohlen war, wird zum Spielball eines unseligen Kampfes um Macht, Geld und den eigenen Vorteil. Es beginnt ein Wettlauf, der nicht zu gewinnen ist.

„Mondbeben“ zieht mich als Leser in ein Geschehen, dem ich nicht entsagen kann. Der Roman zieht mich in einen Strudel, der mich erzittern lässt, der das Beben in mir fortsetzt. „Mondbeben“ ist ein Roman, der mich in meinen Grundfesten erschüttert, mich förmlich demütig macht, in all den Privilegien, in denen ich mich mit aller Selbstverständlichkeit bewege. Und „Mondbeben“ ist einer jener Romane, die in seiner Stimmlage, ihrem Sound genau dem entsprechen, was Geschichte, Kulisse und Hintergründe zeigen wollen.

Sackstark!

Ludwig Fels, geboren 1946 in Treuchtlingen (Franken), gestorben am 11. Januar 2021 in Wien. Seit 1973 frei­beruflicher Schrift­steller. 1983 Über­siedlung nach Wien. Zahlreiche Publi­kationen, Gedichte, Romane, Hörspiele und Theater­stücke. Lebte bis zu seinem Tod in Wien. Auszeichnungen unter anderem: Leonce-und-Lena-Preis, Hans-Fallada-Preis, Kranichsteiner Literaturpreis und Wolfgang-Koeppen-Preis. Ludwig Fels debütierte 1973 mit dem Lyrikband «Anläufe» bei Luchterhand. Nach weiteren Lyrikbänden und dem Prosaband «Mein Land» folgte 1981 der Roman «Ein Unding der Liebe». Mehrere Monate hielt sich der Titel auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. 1988 wurde das Buch verfilmt (ZDF). Zuletzt erschienen der Roman «Die Parks von Palilula» (2009) und der Gedichtband «Egal wo das Ende der Welt liegt» (2010) bei Jung und Jung.

Beitragsbild © Aleksandra Pawloff

Nadine Schneider «Wohin ich immer gehe», Jung und Jung

Der Schatten bleibt! Man kann sich noch so verzweifelt, entschlossen oder verbissen von ihm zu trennen versuchen; er bleibt. So auch der Schatten in der Geschichte, in der eigenen Geschichte. Nadine Schneider beschreibt einen solchen Versuch, alles hinter sich zu lassen, auch den Schatten.

Johannes ist über die Donau geschwommen, im Dunkeln, weg aus dem Ceaușescu-Rumänien. Endlich, nachdem er sich Monate darauf vorbereitet hatte. Er schafft es, klettert nach ausgestandener Todesangst aus den Fluten und klettert ans Ufer, in ein neues Land, ein neues Leben. Aber schon die Flucht wollte nicht sein, wie sie erdacht war, denn Johannes wollte die Flucht nicht alleine antreten. David hätte ihn begleiten sollen. Sein Freund David, mit dem er so lange das Schwimmen trainiert hatte, mit dem er hätte neu beginnen wollen.

Johannes schafft es im neuen Land, beginnt ein neues Leben, findet Freunde, findet Giulia, die ihm Familie gibt, findet eine Arbeit und Einkommen und irgendwann sogar einen Ausbildungsplatz als Hörhilfeakustiker, nachdem er seine als Tischler begonnene Lehre in Rumänien nicht abgeschlossen hatte. 

Es ist ein neues Leben, auch wenn er dort genauso wenig den Tritt findet, eine Heimat, jene Geborgenheit, nach der er sich sehnt, wie an dem Ort, den er damals verlassen hatte.

Nadine Scheider «Wohin ich immer gehe», Jung und Jung, 2021, 234 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-99027-256-5

Als ihn nach Jahren, nach der Wende in Rumänien, die Nachricht erreicht, dass sein Vater gestorben sei, dass man ihn zur Beerdigung erwarte, fährt Johannes mit Giulias Auto zurück in das alte Land. Ein Land, das nicht auf ihn wartet, zurück in ein Land, das sich äusserlich kaum veränderte und sich doch unsäglich von ihm entfremdete. Zurück in das Land, das seinen grossen Schmerz verursachte und eine offene Wunde nie schliessen liess, denn Johannes hat nie erfahren, was aus seinem Freund David geworden ist. Warum er damals nicht mit über den Fluss geschwommen war. Warum er ihn verloren hatte. Dieses Geheimnis, das er wie einen unverdauten Kloss mit sich herumschleppt, eine Mischung aus Schmerz, Enttäuschung, Schuld und Trauer.

Was er in Rumänien antrifft, ist jenes Leben, das er hinter sich lassen wollte. All die Ur- und Vorurteile, all die Gewissheiten, die keine sind, seine alte Rolle, die wie eine Kette um seinen Hals hing. Seine Mutter ist noch da, aber auch die Verletzung einer Verlassenen. Verlassen von Johannes und verlassen vom toten Ehemann. Damals war die Flucht auch eine Flucht vor der Familie, weil sie ahnte, dass Johannes ein Geheimnis mit sich herumtrug, das in der Gesellschaft und schon gar nicht im Dorf Platz hatte. David wohnte im gleichen Dorf, im Haus mit dem abgestorbenen Baum davor. David war Johannes Freund. Sie waren sich nah, sehr nah, so nah, dass daraus eine Liebe wurde, die unmöglich war und nur Platz bekommen konnte, wenn sie auf der anderen Seite des Flusses ein neues Leben begonnen hätten.

Als Johannes zurück an den Ort seiner Kindheit und Jugend kommt, hat sich vordergründig kaum etwas verändert. Auch in seiner Familie. Nur dahinter, hinter den Fassaden, ist alles anders geworden – und eben auch sein Blick auf diese Welt, denn David ist weg, wie ausgelöscht.

Kein Wunder fallen mit dem Namen Nadine Schneider auch jene ihrer grossen Schreibschwestern; Herta Müller und Iris Wolff. Nadine Schneider schreibt mit einem grossen Gefühl für die richtige Nähe zu ihrem Personal und der Deutlichkeit ihres Erzählens. Nadine Schneider ist keine Chronistin. Sie mäandert in den Innenansichten ihrer Protagonist:innen, leuchtet nur so viel aus, dass das Geschehen in diesigem Licht bleibt, geheimnisverwoben und -verklebt wie die die Welt der Protagonist:innen selbst.

Nach ihrem vielgelobten Debüt „Drei Kilometer“ ist „Wohin ich immer gehe“ ein grosses Versprechen in die Zukunft!

Nadine Schneider, geboren 1990 in Nürnberg, lebt in Berlin. Ihr erster Roman «Drei Kilometer» (2019) wurde unter anderem mit dem Hermann Hesse Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. 2021 las sie auf beim Ingeborg-Bachmann-Preis. «Wohin ich immer gehe» ist ihr zweiter Roman.
Nadine Schneider studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Berufliche Stationen führten sie unter anderem an die Komische Oper und an die Vaganten Bühne Berlin. Derzeit arbeitet sie für den Bundeswettbewerb Gesang.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Laurin Gutwin

Eva Schmidt «Die Welt gegenüber», Erzählungen, Jung und Jung

Eva Schmidt ist eine feine Beobachterin. „Die Welt gegenüber“ ist ihre Welt, von der sie betroffen ist, in die sie sich auf die ihr ganz eigene Weise einmischt; zurückhaltend, behutsam und doch ganz unmittelbar. Ihr erster Erzählband ist ein Genuss, sowohl sprachlich wie auch in der Unaufgeregtheit ihrer Geschichten.

Ich unterstelle der Autorin, dass sie mit ihren Geschichten nichts zeigen, nichts offenbaren und schon gar keine Moral verpacken will. Und doch blickt Eva Schmidt auf eine Welt, die den Schmerz mit einschliesst. Den Schmerz, es geschehen lassen zu müssen. Selten haben mich Erzählungen derart bewegt, wie jene von Eva Schmidt. Nicht nur weil sie sorgsam, unspektakulär und gradlinig aufgebaut sind, sondern weil sie sich in eine beinahe feinstoffliche Ebene hineinwagen. Weil Eva Schmidts Sprache genau ihren Bildern, ihrer Figurenzeichnung entspricht. Sie füllt ihr Personal nicht aus, sondern zeichnet das Darumherum und schafft es so, dass Konturen klar und überdeutlich hervortreten.

Eva Schmidt «Die Welt gegenüber», Erzählungen, Jung und Jung, 2021, 224 Seiten CHF 31.90, ISBN 978-3-99027-250-3

Da ist eine ältere Frau, die seit dem Tod ihres Mannes und ihrer Pensionierung als Krankenschwester allein in einem Haus lebt. Ins Haus nebenan zieht eine Familie, ziemlich plötzlich, weil der Hausrat der Vorbewohner noch nicht einmal aus dem Haus geschafft ist. Eine Familie mit zwei Kindern. Eine Familie, über die man sich freuen könnte, wäre da nicht schon vom ersten Tag weg das Gefühl, dass diese in Schieflache geraten ist. Ein Mann, der noch unbedingt vor Ferienschluss ein riesiges Loch im Garten graben muss, eine Frau, die einen abwesenden Eindruck hinterlässt, eine halbwüchsige Tochter, die sich ganz offensichtlich an ihre Familie gekettet fühlt und ein jüngerer Bruder, den sie trotz mehrerer Anläufe nicht zu erreichen versteht. Was sich über Tage und Wochen in unausgesprochener Ahnung abzeichnet, passiert auch eines Nachts. Und obwohl die ältere Frau noch aus ihrer Berufszeit stets einen Notfallkoffer im Haus bereitstehen hat, kann sie nicht helfen.

Oder Falk, ein älterer Schauspieler, der im Haus einer alleinstehenden Frau ein Zimmer findet, aber als Mann im Haus unscheinbar und zurückgezogen bleibt. Bis aus der Situation doch Nähe entsteht und die beiden mit einem Mal zusammen in einem Auto Richtung Norden sitzen, dorthin, wo Falk einst herkam und ein Ferienhaus besitzt. Bis der Frau klar wird, dass es eine Abschiedsreise werden wird, denn Falk ist krank, sehr krank. Was für die Frau zu einem Anfang wird, wird für den Mann zu einem Abschluss.

Oder von dem Gärtner, der in einem Wohnwagen auf einem Dauercampingplatz wohnt und in einem Tankstellenshop bei einem Kaffeeautomaten eine junge Frau mit einer Tasche kennenlernt. Eine Frau, die eine Bleibe für die nächste Nacht sucht und dann bleibt. Für wie lange, weiss der Mann nicht. Und weil sich das Leben des Mannes in seiner Gleichförmigkeit eingependelt hatte und er mit der jungen Frau unweigerlich wieder zu hoffen wagt, lässt er die Frau gewähren, lässt sie im Wohnwagen bei seinem Hund zurück und hofft jeden Abend, dass sie noch da sein werde. Bis ihn seine Gutgläubigkeit, seine naiven Hoffnungen strafen.

Wer noch kein Buch der Schriftstellerin Eva Schmidt gelesen hat und sich mit „Die Welt gegenüber“ auf die Meisterschaft der Vorarlbergerin einlässt, wird mit Sicherheit noch mehr von ihr lesen wollen!

Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz, Österreich. Sie hat neben Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften vier Bücher veröffentlicht. Mit ihrem Erstling erhielt sie diverse Stipendien und Literaturpreise, u.a. den Nachwuchspreis zum Bremer Literaturpreis (1986), den Rauriser Literaturpreis (1986), den Hermann-Hesse-Förderpreis (1988) und den Nicolas-Born-Preis (1989). «Ein langes Jahr» (2016) war ihr erstes Buch seit fast 20 Jahren.

Rezension von «Die untalentierte Lügnerin» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Helena Adler «Die Infantin trägt den Scheitel links», Jung und Jung, Gastbeitrag «Konzepte»

Die Österreicherin Helena Adler beherrscht die Kunst der Übertreibung wie weiland der Grossmeister des Grants, Thomas Bernhard. Sie verwandelt eines seiner Lieblingsthemen, die Verkommenheit des Landlebens, in ein Sprachkunstwerk zwischen katholischer Klagelitanei und brachialem Punksong.

Wutrede aus der „Misthaufenresidenz“
Gastrezension von Christian Lorenz Müller

Biobauernhöfe haben ein gutes Image. Anstelle von Gülle und Kunstdünger lässt krümeliger Mist das Gras und das Getreide spriessen; den Kühen wird nicht zwei Mal am Tag ein Protein-Burger aus brasilianischem Soja vorgesetzt, sondern gesundes Vollkorn-Heu von der artenreichen Wiese hinter dem Haus. Die ländliche Idylle ist in den Köpfen der Stadtbevölkerung längst wieder komplett – auch in Salzburg. Dort zerschmetterte in den 1970er Jahren Franz Innerhofer das Bild vom beschaulich-friedlichen Landleben. Der Bergbauernsohn war vom eigenen Vater über Jahre hinweg als Arbeitssklave missbraucht worden; seine stark autobiographisch geprägten Romane zeichnen nach, wie er sich unter grössten Mühen einen Weg aus einer sprach- und fühllosen Familie bahnt, wie er zum Schriftsteller wird, und, von der literarischen Welt tief enttäuscht, schliesslich wieder verstummt. 

Nun hat ein anderes Bauernkind aus Salzburg einen Roman über das Aufwachsen auf dem Land vorgelegt. Helena Adler, Jahrgang 1983, stammt von einem biologisch bewirtschafteten Betrieb, der hoffentlich nicht in allem das Vorbild für den Hof abgegeben hat, den sie beschreibt. Allein schon die Figuren in ihrem provokanten Text sind allesamt zum Fürchten: Zuvorderst das „wilde Vatertier“, das zwar „lieb zu seinen Kindern“ ist, ansonsten aber „alle anderen auffrisst.“ Kurz vor Weihnachten fährt dieses Vieh mit seinem Nachwuchs in die nahe Stadt, kauft auf dem Christkindlmarkt Halbedelsteine, an deren Heilkraft es glaubt, und pöbelt ein paar Minuten später im Dom gegen die katholische Kirche. Die Mutter hingegen, eine Person von „abgründiger Fürstlichkeit“, füllt die Opferstöcke der Gotteshäuser mit einem Geld, das die Familie nicht hat. So überschuldet ist das Anwesen, dass erst ein Blitzeinschlag Erleichterung bringt: Der Stall brennt ab und die Versicherung zahlt. Der Vater hat wieder die Mittel für seine Ausflüge in einschlägige Spelunken und Hurenhäuser, von denen er manchmal erst nach Tagen übel zugerichtet zurückkommt. Und dann gibt es noch die Grosseltern und die Urgrosseltern, und es gibt die älteren Schwestern, Zwillinge, die sich „ihr Erbgut, ihr Hirn und die Jausenbrote“ teilen. Dass sie die Ich-Erzählerin einmal in die Selchkammer einsperren und ihr weismachen, sie werde bald „ganz schwarz“ aussehen „wie der alte Speck“, gehört noch zu den minderen Gemeinheiten, die sie ihr im Lauf der Jahre antun. 

„Der Herrgott in der Ecke am Kreuz streckt die Arme aus, seine Knie schlottern. Meine Zähne klappern. Nicht mehr lange, dann wird er herunterfallen. Wer beschützt mich dann vor den Raubschwestern?“

Es geht also denkbar derb und direkt zu in Adlers Roman. Dementsprechend ist auch die Sprache, sie packt sofort zu, sie zerrt die LeserInnen hinein in eine Welt, in der sich gegen das Beherrschtwerden nur wehren kann, wer kräftige Fäuste hat oder eine – wie man in Salzburg sagt – g‘schnappige Goschen. Die Hände der Erzählerin sind baybyweich wie Pfoten, also bleibt ihr nichts anderes übrig, als Widerworte zu geben. Wohl auch deswegen gerät „Die Infantin trägt den Scheitel links“ über weite Strecken zu einer kunstvollen Wut- und Verteidigungsrede, die immer wieder überrascht, verblüfft und verstört. Adler schwingt sich auf ihre Sprache wie auf einen Traktor, sie tritt das Gaspedal durch und brettert sicher durch schwieriges, literarisch eigentlich längst abgeschriebenes Gelände: Durch das sanft sich dahinhügelnde Katholische zum Beispiel, durch das Bitten und Beten und Psalmodieren; durch tiefe Wälder voller Jäger- und Wildererdramen und einmal sogar über die rauen, kalten Hochebenen körperlicher Arbeit, in der ein knapper Realismus herrscht.

Allerdings geht es fast immer mit Höllenradau dahin, was meistens Vergnügen macht, nach den ersten furiosen Kapiteln aber auch enerviert. Etwas vom Gas zu gehen oder den Traktor auch einmal im Leerlauf vor sich hinbullern zu lassen, hätte vor allen Dingen den Figuren gutgetan. Nur selten stolpern sie nicht schrill und überzeichnet durch die Seiten, nur selten gelangen sie kurz zu sich selbst, ehe wieder Vollgas gegeben wird und der thrashige Traktorritt weitergeht. Was steht hinter dem brutalen Gehabe des Vaters, hinter der Herrschsucht der Urgrossmutter, den Bosheiten der Zwillinge? Ist all die brachial inszenierte Wut, sind die Häme, die Verachtung der Hauptfigur vielleicht nur Fassade? Erst gegen Ende des Romans, als der Hof verkauft und die Kühe von ihrem Erzfeind, dem Fleischwolf gefressen worden sind, bringt die Autorin das erste Mal die Familiengeschichte ins Spiel, versucht, so etwas wie ein Innenleben ihrer Figuren zu rekonstruieren: 

„Er erzählt von der erdrückenden Liebe seiner Mutter. Idealisiert den Vater, der mit dem Auto im Suff einen Offizier getötet hat und dafür ins Gefängnis musste, als er, mein Vater, gerade sechs Jahre alt war.“

Derartige Sätze tragen nicht wirklich dazu bei, die Bestien vom Bauernhof nachträglich zu Menschen zu machen. Dass über ihre verschütteten Ängste, ihre unterdrückten Sehnsüchte kaum etwas zu erahnen ist, unterscheidet „Die Infantin trägt den Scheitel links“ grundlegend von Debütromanen zum gleichen Thema, zum Beispiel von Reinhard Kaiser-Mühleckers „Der lange Gang über die Stationen“ oder von Franz Innerhofers „Schöne Tage“. Trotzdem wird klar, dass das Grosswerden auf einer „Misthaufenresidenz“ über die Jahrzehnte nicht eben leichter geworden ist. Auch das Aufkommen der Biolandwirtschaft hat daran nichts geändert.

© Eva-Maria Mrazek

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Diverse Ausstellungen und Kunstaktionen, Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

Diese Rezension ist eine Kooperation zwischen der Literaturzeitschrift «Konzepte» und literaturblatt.ch!

Die Konzepte erscheinen einmal jährlich und versammeln auf bis zu 180 Seiten Texte arrivierter sowie erstklassiger junger Autorinnen und Autoren. Lyrik und Prosa, Essays, Hörspiele und Rezensionen. In jeder Ausgabe werden Arbeiten von bildenden Künstlern oder Fotografen präsentiert.

Werke von bereits etablierten Autorinnen und Autoren stehen neben bislang unbekannten Stimmen. Damit ermöglichen die Konzepte den Zugang zu unterschiedlichen sprachlichen Ebenen und weisen den Weg für junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller. „Jung“ bezieht sich hier weniger auf das Alter, sondern vielmehr auf das „zu festigende Standbein“ neuer Autorinnen und Autoren.

Seit nun schon dreissig Jahren erweisen sich die Konzepte als „Entdeckerquelle“ für schriftstellerische Debüts. Viele der hier erstmals vorgestellten Autorinnen und Autoren sind aus der zeitgenössischen Literaturszene inzwischen nicht mehr wegzudenken. Die Konzepte begleiteten den Weg zahlreicher wichtiger literarischer Stimmen, so z.B. Tanja Dückers, Joachim Zelter, Jan Wagner, Kurt Drawert, Ulrike Draesner, Nico Bleutge, Mirko Bonné, Norbert Hummelt, Marion Poschmann, Björn Kuhligk. Mit den jüngsten Ausgaben der Konzepte zeigt sich verstärkt das Interesse bekannter Dichter, neue Werke in der Zeitschrift vorzustellen, so z.B.  Günter Herburger, Jürgen Brôcan oder José F.A. Oliver.

Die Chefredaktion hatte von 1999 bis 2003 Markus Orths inne. 2003 übergab er die redaktionelle Verantwortung an die Lyrikerin Christine Langer (Findelgesichter, Jazz in den Wolken, Verlag Klöpfer & Meyer). Seit 2015 wird sie von Christian Lorenz Müller (Wilde Jagd, Roman, Hoffmann und Campe) unterstützt.

Hier bestellen Sie die einmal jährlich erscheinende Literatur-Zeitschrift Konzepte.

Beitragsbild © evatrifft.com

Lorenz Langenegger «Stoffe», Plattform Gegenzauber

Stoffe finden ist die einfachste Sache der Welt. Sie liegen überall herum. Sie lächeln einem aus der Zeitung entgegen. Sie flimmern über Bildschirme. Stoffe wollen gefunden werden. Ich habe keine Ahnung, weshalb sich das Märchen von den Stoffen, die sich in den hintersten und letzten Winkel verstecken, so hartnäckig hält.

Natürlich ist es immer der Schriftsteller, der den Stoff finden muss. Stoffe finden keine Schriftsteller. Das liegt daran, dass sich Schriftsteller in der Öffentlichkeit gerne unauffällig benehmen, durch die Strassen gehen, wie normale Menschen, einkaufen, was alle kaufen, lesen, was alle lesen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Stoff. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich so hübsch wie möglich zu präsentieren, damit ein vorbeigehender Schriftsteller auf Sie aufmerksam wird. Denn woher wollen Sie wissen, wer von den Vorbeigehenden ein Schriftsteller ist.

Stoffe finden ist kein Problem. Viel schwieriger ist der Umgang mit einem Stoff. Haben Sie einen Stoff für gut befunden und mit nach Hause genommen, bildet er sich schnell etwas darauf ein. Stoffe sind ganz schön eitel und alles andere als pflegeleicht. Der grösste Fehler, den Sie machen können, ist, dem Stoff alles zu geben, was er will. Gehen Sie von Anfang an intensiv auf den Stoff ein, verwandelt sich der gleiche Stoff, den sie eben noch in einem schmutzigen Hinterhof zwischen Abfalleimern gefunden haben, in ein grössenwahnsinniges Ungetüm, weil er sich für unersetzlich hält. Das Wesen des Stoffes neigt zum Grössenwahn. Das muss man leider sagen. Arbeiten Sie also nie mit nur einem Stoff. Nehmen Sie von verschiedenen Stoffen, so viel Sie brauchen, aber nie von einem einzigen so viel, dass Sie ohne ihn nicht mehr auskommen. Das spürt ein Stoff sofort. Und ist es erst so weit, macht er Ihnen die Arbeit zur Hölle. Er geht Ihnen nicht mehr aus dem Sinn. Er bestimmt Ihre Gedanken und Handlungen. Er führt Sie an Orte, wo Sie nie im Leben hin wollten.
Ein Schriftsteller darf die Kontrolle über seinen Stoff nicht verlieren, weil sich der Stoff ansonsten entfaltet, wie es ihm passt und nicht wie es der Schriftsteller vorgesehen hat. Und Stoffe sind keine guten Erzähler, das kann ich Ihnen versichern, dazu sie sind viel zu selbstsüchtig.

Mindestens ebenso wichtig, wie der richtige Umgang mit einem Stoff, ist es für den Schriftsteller, die richtigen Stoffe auszusuchen. Die Stoffe, die zu ihm passen. Was selbstverständlich und banal daherkommt, ist alles andere als eine einfache Angelegenheit. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts lässt sich ein exponential ansteigendes Stoffwachstum beobachten. Von Schriftstellerverbänden anfangs begrüsst, werden schon seit einigen Jahren kritische Stimmen laut, die sich gegen den unkontrollierten Stoffwachstum erheben. Die Stoffe haben im ständigen Konkurrenzkampf mit ihresgleichen inzwischen derart geschickte Strategien der Tarnung und Täuschung entwickelt, dass selbst gestandene Schriftsteller nicht davor gefeit sind, daneben zu greifen und einen oberflächlichen Stoff, der sich nur geschickt genug verkleidet, für einen Jahrhundertstoff zu halten. Gerade jungen Schriftstellern sei es deshalb ans Herz gelegt, sich nicht von vermeintlich grossen Stoffen blenden zu lassen, sondern sich kleine, feine Stoffe auszusuchen, mit denen sie umgehen können.

Lorenz Langenegger lebt und schreibt in Zürich und Wien. Davor einige Semester Theater- und Politikwissenschaft an der Universität Bern. Mitglied der Autören. Verschiedene Arbeiten fürs Theater mit Uraufführungen in Zürich, Mannheim und Berlin. Bei Jung und Jung in Salzburg erscheint im Frühjahr 2009 der erste Roman «Hier im Regen». 2014 erschien «Bei 30 Grad im Schatten» und 2019 der Roman «Jahr ohne Winter.

Beitragsbild © Richard Obermayr