literaturblatt.ch gratuliert: Martina Clavadetscher ist Schweizer Buchpreisträgerin 2021 #SchweizerBuchpreis 21/12

Laudatio für Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams» (Lenos Verlag)

Wenn die «kleiderlosen Frauen» Werkstatt zwei verlassen und in den Hängeraum kommen, sind sie «genauso, wie sein sollen». Die Körper anatomisch korrekt, die «Haut haarlos, / die Finger- und Fußnägel weiß bemalt, / gewisse Körperstellen auffallend und ausgeprägt». Makellos, findet Ling, die Arbeiterin mit dem makellosen Punktestand.  

Wir sind im südöstlichen China, inmitten einer Art Frauen-Manufaktur, und damit ist nicht gemeint, dass Frauen am Fliessband stehen. «Lebensecht» sollen die Puppen sein, die hier fabriziert werden, und seit die Firma vor allem in die Köpfe investiert, seit die Puppen das Sprechen und Denken, ja sogar etwas menschliche Fehlbarkeit erlernen, werden die Maschinen immer authentischere Menschenimitate.

Wenn die Frauenkörper bei Ling eintreffen, streicht sie zur Kontrolle an Beinen und Rumpf entlang, «sauber und glatt» muss alles sein. Mit den Fingerkuppen tastet sie über die Schultern, den Halsansatz, entfernt überflüssige Fetzen. Sie fasst in den Anus, misst die «Länge der Öffnung mit dem Kontrollstock», «dreht das Objekt um, greift in die Vagina», und wenn sich, während wir all das lesen, in uns ein Unbehagen regt, eine Beklemmung, vielleicht sogar ein tiefes Unrechtsempfinden, dann hat unsere empathische Solidarität mit der Puppenfrau längst eingesetzt. Wir haben sie schon vermenschlicht, noch ehe sie zusammengebaut ist. Martina Clavadetschers Roman wird viele weitere Male unsere Gewissheit bei der Unterscheidung von Mensch und Maschine irritieren.

Das liegt auch an Iris. Denn sie ist es, die wir in Manhattan von ihrer «Halbschwester Ling» erzählen hören (und die sich im Erzählen Stück für Stück von ihrem Mann und den gesellschaftlichen Rollenerwartungen lossagt). Und am Kern, im Zentrum des Buches, stossen wir auf Ada im alten Europa: Ada Lovelace, die erste Programmiererin der Welt, der in der patriarchalen Gesellschaft der verdiente Ruhm verwehrt war. Clavadetscher also hat über Zeiten und Kontinente hinweg drei Geschichten von drei Frauen ineinander verschachtelt, die unterschwellig miteinander in Resonanz treten. 

Das Erzählen selbst gehört zu den grossen Themen dieses Buches. Gleich am Anfang steht ein Erzählerinnenwettstreit zwischen Iris und den beiden Damen mit den anspielungsreichen Namen Wollstone und Godwin (Mary Shelley lässt grüssen). Fortwährend beobachten wir die Figuren beim Verfertigen ihrer Geschichten. Und in welche Sprache und Form Clavadetscher das alles verpackt, ist das eigentliche Ereignis dieses Romans. Der aus Zeilenumbrüchen und sprachlichen Kippfiguren einen Lese-Thrill erzeugt. Der bis in kleinste Details von Klang und Rhythmus durchkomponiert ist. Der seine komplexe Architektur in eine durch und durch sinnliche Sprache hüllt. 

«Die Erfindung des Ungehorsams» ist ein kunstvoller Text über künstliche Intelligenz jenseits der handelsüblichen Anti-Technik-Dystopie. Ein feministischer Empowerment-Roman von grosser literarischer Originalität. Und eine Hommage an die urmenschliche Kraft des Erzählens und Erfindens.

Im Namen der Jury gratuliere ich Martina Clavadetscher zu so viel Ungehorsam gegenüber dem literarisch Konventionellen und zur Nomination für den Schweizer Buchpreis 2021.

Daniel Graf



Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2021? #SchweizerBuchpreis 21/11

Am 7. November werde ich im Theaterfoyer in Basel sitzen, im Gegensatz zum vergangenen Jahr glücklicherweise wieder mit und im Publikum. Ein paar Reihen vor mir, in der ersten Reihe, werden die Nominierten sitzen, Martina Clavadetscher schon zum zweiten Mal, Veronika Sutter, Thomas Duarte und Michael Hugentobler. 

Eine eigenartige Situation, denn Punkt zwölf Uhr wird eine Sprecherin der Jury die Bühne betreten, ein Couvert hervornehmen und die Preisträgerin oder den Preisträger verkünden, auf die oder den dann Sekunden später die Blitzlichter der Presse regnen, wo sich Mikrofone sammeln und Medienbeiträge aus dem Moment gestampft werden. Mit einem Augenblick verschwindet das Interesse für jene, die «zurückbleiben». Man fotografiert zwar noch einmal alle zusammen, aber dann wird es mit einem Mal ziemlich ruhig um jene, die es nicht sein sollten. Man lädt zwar noch einmal zum gemeinsamen Essen ein, lässt Gläser klingen, aber die Namen der Nichtprämierten rutschen weg, werden zwar nicht gleich vergessen, verschwinden aber hinter der Strahlkraft des einen Namens.

«Ist das die dort vor dem Blumenbouquet? Die mit den hochgesteckten Haaren?»
«Wen meinst du? Die mit den Geschichten?»
«Nein, die mit den Puppen ohne Köpfe. Du hast es doch gelesen. Diesen verrückten Roman, der in der Zukunft spielt, aber eigentlich doch eben jetzt.»
«Ach ja, von der mit dem bündnerisch klingenden Namen. Doch, doch. Und die andere sitzt gleich daneben. Die mit den Geschichten.»
«Geschichten? Als ob das Geschichten wären. Das ist Geschichte. Und viel mehr als einfach Frauengeschichte.» 

Alles vergebens? Das ganze Brimborium bei dreien nur Schall und Rauch? Bei weitem nicht. Es gab Publicity für vier Autor:innen. Bei vier Bücher stiegen mit Sicherheit die Verkaufszahlen. Und wenn künftig Bücher der vier erscheinen, ist doch mit Sicherheit die Wiedererkennung stärker. Wenn es nicht zehn Jahre dauern sollte, bis ein neues Buch der Hervorgehobenen auf den Verkaufstischen liegt, werden sich einige erinnern oder zumindest die Verlage. Auch für sie sind solche Scheinwerferaktionen wichtig. Hand aufs Herz: Kannten Sie vorher den Verlag Edition 8? Literarische Perlen wachsen nicht nur in grossen Verlagen heran. (In der Lyrik schon gar nicht.)

Weil ich schon öfters bei der Verleihung des Schweizer Buchpreises im Publikum sass, musste ich auch schon beobachten, wie Enttäuschung spür- und sichtbar wurde. Da trösten auch Ermunterungen nicht, kein Blumenstrauss, schon gar kein Schulterklopfen. Und doch sind die Nicht-Preisträger:innen keine Verlierer:innen. Viele Lesende sind auf vier Namen aufmerksam geworden, die ihnen andernfalls vielleicht entgangen wären. Das eine Buch gewinnt ein Etikett, die drei anderen, jene mehr als deutliche Ermunterung, unverzagt in ihrem Schrieben weiterzumachen, zumal es Martina Clavadetscher beweist, dass man auch eine zweite (ja sogar eine dritte) Chance bekommen kann.

«Hast du Feuerland gelesen?»
«Klar doch. Der Mann kann Feuer legen!»
«Der Mann hinter dem Buch oder einer der Männer im Buch?»
«Sie alle. Halt Männerbücher!»
«Das vom Polizeiposten auch?»
«Klar doch. Ein Bekloppter und ein Polizist. Frauen sind dort nur Randerscheinungen.»
«So ganz verstanden habe ich den Roman nicht.»
«Den vom Wörterbuch oder den vom Buchhalter?»
«Eigentlich was von beiden. Die Tatsache, dass es Männern ganz offensichtlich schwerer fällt.»
«Was?»
«Pst – das Couvert!»

Mein Tipp: Ohne dass es für mich ein klar favorisiertes Buch geben würde, ohne dass ich mir einbilden würde, dass mein Blick in die Zukunft ein sicherer sein würde, habe ich doch auch im letzten Jahr danebengetippt. Mein Tipp hat auch nichts mit meiner eigenen Wertung zu tun. Ich glaube, dass die Romane von Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler den Preis unter sich ausmachen werden. Die Umfrage bei SRF gibt Martina die besten Karten. Meine ganz persönliche Rangliste entspricht der Reihenfolge der oben abgebildeten Bücher von links nach rechts.

Ich gratuliere allen vier, denn die vier Namen beweisen eindrücklich, wie vielfältig die Schweizer Literaturszene ist, erst recht neben den Namen, die immer und immer wieder genannt werden. Die Vielfalt zeigt sich sowohl sprachlich, inhaltlich wie formal. Schweizer Literatur braucht sich hinter keiner falschen Bescheidenheit zu verstecken. Auch wenn ich wie jedes Jahr meine ganz persönlichen Favoriten vermisse!

Sondersendung auf Radio SRF2 Kultur

Illustration © leafrei.com

Liebe Manu, lieber Gallus, Teil 2 #SchweizerBuchpreis 21/10

Liebe Manu
Ein «fresh-up»? Da ist der Schweizer Buchpreis noch nicht einmal 15 Jahre alt und schon sollte man ihn aufhübschen? Noch nicht einmal volljährig und schon ein Lifting? Der Nobelpreis für Literatur ist 120 Jahre alt. Ein greises Ding! Kein Wunder sind dort die Strukturen wacklig und Stimmen laut, die nach Erneuerung rufen. Klar, die beiden Preise sind in nichts zu vergleichen, zumal beim Nobelpreis ein Name gefeiert wird und beim Schweizer Buchpreis ein Buch, das sollte so sein. Wahrscheinlich liegt genau dort die Schwierigkeit des Buchpreises. Hinter jedem Buch steht ein Name. Und Namen von Schwergewichten in der Literaturszene wiegen eben doch viel mehr.
Und doch hätte auch ich „Verbesserungsvorschläge“, auch wenn mich niemand danach fragt (ausser du). Beim Österreichischen Buchpreis gibt es neben dem eigentlichen Buchpreis einen Debütpreis. Das entschärft das Nebeneinander von Schwergewichten und Einsteiger:innen doch beträchtlich. Zudem finde ich eine Shortlist mit nur 5 Namen kläglich. Im Vergleich zu unseren Nachbarn macht das den Eindruck, als hätten wir nicht mehr zu bieten. Ist das helvetische Bescheidenheit oder die Schüchternheit der Neutralen? Der Jahrgang hätte noch mehr zu bieten gehabt? Was meinst du?
In ein paar Tagen mache ich eine Auszeit in einem kleinen Häuschen im Misox. Ich werde lesen und schreiben. Hoffentlich auch unter der Sonne. Besuchst du mich?
Liebe Grüsse Gallus

Lieber Gallus,
vorneweg, nichts täte ich gerade lieber, als mit dir im Misox dem Verfärben der Natur zuzuschauen. Ich habe gerade viele Auftritte zum Glück, daher kann ich nicht einfach die Koffer packen und auch der Schulbetrieb der Kinder verlangt mir einiges ab. Was du schreibst, gefällt mir, einen Debütpreis würde ich absolut begrüssen.
Von wegen Debüts, ich habe nun den Duarte wie die Sutter gelesen und gestehe, ich bin beeindruckt. Welchen Eindruck hast du von Duartes Erzählperspektive? Eine Buchhändlerin, welche schreibt, gab es schon oft, aber Veronika Sutter wagt sich sogar an Geschichten und verwebt diese gleich untereinander, gelungen? Ich möchte bald die Besprechung zu «Grösser als du» schreiben, aber je länger ich mich mit Büchern beschäftige, desto schwieriger gestaltet sich das für mich, ich befürchte immer, den Werken auch nicht nur annähernd gerecht zu werden. Du klingst immer so souverän, wenn du schreibst, lieber Gallus, fliesst deine Feder leicht oder haderst du auch manchmal?
Sonst denke ich, ist der Schweizer Buchpreis selbstbewusst und gelassen aufgestellt, er zieht sein Ding durch und kann sich sehen lassen neben den «grossen» Nachbarn. Ich freue mich auf deine Antwort, beame mich in Gedanken mal eben zu dir und hirne daran herum, ob wir uns nicht doch noch real treffen könnten vor der Verleihung …
Herzlich Manu

Liebe Manu
Das Tessin ist leider schon längst Geschichte. Aber es waren wunderschöne Tage, eingetaucht in Literatur, ins Schreiben und die Lektüre. Wir beide sind Streiter (*) für das gute Buch, Missionare in Sachen Literatur. Aber so wie Lucky Luke bei seinen Abenteuern stets alleine in den Sonnenuntergang reitet, so ist man es auch in Sachen Literatur. Seien es die Schreibenden, die in ihren Stuben, an ihren Tischen, mit Griffel oder Tasten an ihren Texten schleifen, seien es jene, die die Fanfaren blasen, die Tafeln hochhalten. Leider demonstrieren die Menschen nicht für das gute Buch, für den heissen Atem der Kultur. Was wird dereinst bleiben in der Zukunft? Woran erinnern wir uns? Was von der Vergangenheit wird bleiben? Die Kultur!
Ich hadere nicht beim Schreiben. Je länger ich es tue, umso leichter scheint es mir zu fallen. Ich hadere viel mehr mit mir selbst. Vor allem dann, wenn mich Freunde auf mein Schreiben ansprechen und nicht verstehen können, was ich an dem „Schund» so gut finde. Ich habe einen Sohn, der fast ausschliesslich russische Klassiker liest und für das, was ich lese, nur ein müdes Lächeln übrig hat. Ich hadere, wenn ich mit Schreibenden zusammensitze und sie mich bitten, jetzt mal ganz ernsthaft zu erklären und zu erläutern. Ich hadere manchmal, wenn ich eine Lesung organisiere von Schreibenden, die mir am Herzen liegen, alles da ist und fast niemand kommt. Ich hadere manchmal, wenn ich ein Buch nach 50 Seiten resigniert zur Seite lege und Tage später eine hymnische Rezension lese. Doch, doch, ich hadere oft.
Aber letzthin lud mich ein schreibender Freund in die Kronenhalle in Zürich zum Essen ein. „Für all das, was du für die Literatur tust“, meinte er. Da haderte ich nicht.
Bei der letztjährigen Buchpreisrunde staunte ich über die Experimentierfreude der beiden Frauen bei den Nominierten, über die Bücher von Dorothee Elmiger und Anna Stern. Und prompt erhielt Anna Stern den Preis, was mich zum einen überraschte und zum andern für den Preis einnahm. Gemessen an der Experimentierfreude müsste Thomas Duarte den Preis bekommen. Aber diese eine Qualitätsmerkmal kann wohl nicht jedes Mal das Zünglein an der Waage sein. Vielleicht ist es dieses Mal die Farbenfreude!
Wir treffen uns bald. Und dann stossen wir an; auf die wackeren Streiter:innen für die Literatur!
Herzlich Gallus

Lieber Lucky Luke, lieber Gallus,
wir haben uns kürzlich getroffen, das war wunderschön, dich einmal näher kennenzulernen und beisammen sein zu dürfen. Deine Texte haben für mich einen absolut literarischen Sound und ich könnte mir gut vorstellen, ein Buch von dir in den Händen zu halten, und ich wäre gewiss nicht die einzige Leser:in. Wirst du das auch oft gefragt, ob du nicht ein Buch schreiben willst? Mich fragen das die Leute fast wöchentlich und ich winde mich dann immer ein wenig um eine klare Antwort herum. Gewiss habe ich seit Kindesbeinen an bereits eine beachtliche Anzahl von Büchern geschrieben. Die meisten zum Glück für die Umwelt nur in meinem Kopf, einige wenige fürs Altpapier. Jetzt ist eine Buchhändlerin mit ihrem ersten Wurf für den Schweizer Buchpreis nominiert – nicht schlecht, so durchstarten zu dürfen. Aber so geht es ja auch Herr Duarte. Bald sehen wir uns und wir werden wissen, wer den Preis bekommt. Ich war in ein paar Buchhandlungen unterwegs und traf auf wenig bis gar keinen Raum für die Nominierten, dies hat mich doch erstaunt und ich denke an deine Zeilen, es ist tatsächlich oft eine krass einsame Sache für Literatur einzustehen. Dabei finde ich die vier Werke wirklich allesamt herausragend und absolut lesenswert wie auch lesbar für eine breite Leserschaft. Ich darf ja seit einiger Zeit noch alle zwei Monate eine Radiosendung rund ums Buch für ein digitales Radio liefern, jetzt ist dieser Kanal beachtet und wirft sogar etwas ab, Leidenschaft des Gründerpaares trägt Früchte, leider aber müssen diese Gründer nun aus gesundheitlichen Gründen ihre Arbeit und ihr Radio aufgeben. Ich werde vielleicht im Dezember meine letzte Sendung für den Kanal machen und habe beschlossen, die vier Nominierten dann vorzustellen. Vielleicht passiert ja noch ein Wunder und es übernimmt jemand den Radiokanal.
Gallus, noch ein paar «heisse» Fragen im Endspurt um den Schweizer Buchpreis an dich: Was stört dich an Helvetismen im Buch einer Schweizer Autorin? Was würdest du tun, wenn man dich in die Jury bitten würde nächstes Jahr? Kannst du ein Werk nennen, das anstelle von Krachts Platz nominiert hätte sein sollen? Es gibt ja eben keine Verlierer am Sonntag in Basel, hoffen wir auf viele Besucher:innen und eine eindrückliche Veranstaltung. Ich freue mich auf Basel!
Herzlich, Manu

Liebe Manu
Ob ich ein Buch schreiben könnte? Die Frage ist, ob ich ein Buch schreiben sollte. Ich denke nicht. Ich weiss sehr gut, wo meine Grenzen liegen. Ich lese immer wieder Bücher, die mir mehr als deutlich vor Augen führen, wo meine Fähigkeiten aufhören würden, dass es mir schlicht am Talent fehlt, oder zumindest an der Überzeugung, ich hätte welches. Klar, ich schreibe auch. Klar war da einmal vor vielen Jahrzehnten ein Wunsch, eine Sehnsucht. Aber lieber kein Buch als eines, für das ich mich schämen müsste. Und lieber kein Buch, als um jeden Preis (wörtlich) ein Konstrukt zum Erscheinen bringen. Es gibt genüg Bücher, auf die die Welt verzichten könnte. Ich bin Leser, das genügt, braucht es doch neben jenen, die schreiben, auch jene die lesen. Es sollten ja auch nicht alle reden. Es braucht Zuhörer:innen – und zwar gute, aufmerksame.
Was mich an Helvetismen stört? Nichts. Sie stören mich nur dann, wenn sie zufällig auftauchen, wenn ich das Gefühl habe, sie sind durch ein Lektorat geschlüpft, wenn sie nicht Programm, klare Absicht sind.
Juryarbeit für den Schweizer Buchpreis? Eine solche Anfrage würde mich durchaus reizen. Vor allem die Diskussionen in der Jury, die Art und Weise, wie andere an ein Buch herangehen, schmecken, riechen und kosten. Aber ich glaube, dass ich absagen müsste. Es würde meine Kapazitäten wohl übersteigen, lese ich doch als Webseitenbetreiber und Veranstalter schon einiges neben einem Brotberuf, der auch nach 37 Dienstjahren nicht ohne grosses Engagement zu leisten ist.
Ein fünftes Rad am Wagen? „Offene Fenster, offene Türen“ von Hansjörg Schertenleib wäre … hätte, hätte, Fahrradkette
Auf, auf, an die BuchBasel!
Gallus

Michael Hugentobler «Feuerland» #SchweizerBuchpreis 21/9

Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.

Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist.

«Wörterbuch und Grammatik der Sprache der Yámana», auf dessen Umschlag man den Namen des Verfassers Thomas Biedres zu löschen versuchte.
Foto © Michael Hugentobler

Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-28269-7

Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.

Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.

Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.

tūwunaiella — eine Wutrede beenden; zu bellen aufhören, linganāna — sich auf eine Wiese benehmen, dass sich die andere Person verpflichtet fühlt, ein Geschenk zu überreichen, māmihlāpinatapai — einander tief in die Augen schauen, wobei beide hoffen, der andere würde einen Vorschlag unterbreiten, der allgemein erwünscht ist, aber bislang noch nicht ausgesprochen wurde…

Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.

Mein Fazit: Der Roman hätte den Preis verdient. Der Autor hätte den Preis verdient!

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.

«Der alte Mann im Nebel» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, #SchweizerBuchpreis 21/8

Wer geht schon ohne Grund auf einen Polizeiposten. Auch der Mann in Thomas Duartes Roman „Was der Fall ist“ nicht, auch wenn er niemanden und auch nicht sich selbst anzeigen will. Aber manchmal werden Polizeiposten auch zu Beichtstühlen – in Ermangelung einer Alternative. Thomas Duartes Roman ist ein kafkaesker Stich in die Tiefen menschlichen Seins.

Eigentlich ist es seine Stadt, sein Sommer, seine Nacht. Aber das was er tut, ist mitten in der Nacht nicht einfach ein Spaziergang, um Klarheit und etwas Abstand in sein Leben zu bringen. Es regnet, er ist nass bis auf die Haut. Scheinbar rein zufällig kommt er an einem Polizeiposten vorbei, von dem er gar nicht wusste, dass es ihn in seiner Stadt gibt. Und weil er klitschnass ist, durstig und ein Gegenüber braucht, geht er durch die beiden Glastüren zum einzigen Polizisten an einem fast leeren Schreibtisch, der Nachtwache im Posten hält. 

Beide brauchen sie ein Gegenüber, der nasse Mann, um Ordnung in ein Leben zu bringen, das aus den Fugen geraten ist und der Polizist, weil ihm eine Aufgabe in einer sonst ereignislosen Nacht gegeben ist. Der nasse Mann ist vertrieben worden. Vertrieben von seinem eigentlichen Zuhause, seiner Aufgabe, seiner Arbeit, von seiner Chefin, von Franz und Mira, der Frau, die längst viel mehr ist als nur die Putzfrau, die einmal wöchentlich bei ihm im Büro sauber macht. Denn er arbeitet nicht nur in seinem Büro. Er lebt dort. Tagsüber an seinem Schreibtisch, seiner Aufgabe, nachts in dem kleinen, fensterlosen Kabuff hinter seinem Schreibtisch, in dem eine schmale Pritsche steht. Er ist Buchhalter und „Exekutivperson“ in einer Stiftung, die finanzielle Unterstützung an Gesuchsteller auf der ganzen Welt gewährt, die in Notlage geraten sind, an Leute, die auf der Flucht sind, gezwungen werden, für einen Hungerlohn Drecksarbeit zu verrichten, für Menschen, die sich für ihr Recht zur Wehr setzen wollen. Er nimmt Gesuche entgegen, bearbeitet sie, nimmt Kontakt mit Gewährsleuten auf und legt die Gesuche seiner Chefin und Franz, dem Inhaber der Stiftung, vor. Franz residiert einige Etagen weiter oben in seinem vermüllten und zugestellten Büro. Auch er lebt mehr als er dort arbeitet und schreibt an seinem „Buch über den Zustand der Welt“. Franz ist der Mann mit dem nötigen Kapital, Geld, das nicht nach den Regeln von Rendite und Investition eingesetzt werden soll.

Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, 2021, 301 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-016-5

Aber nach der ordentlichen Jahresversammlung des Stiftungsrates hat man dem Buchhalter das Vertrauen entzogen, ihn seines Postens, seines Lebens entzogen, aus seiner ganz engen Welt katapultiert, die er immer mehr nach seiner Fasson zurechtgeschrieben hatte, denn so gefärbt die Wahrnehmung eines jeden Gesuchsstellers (inkl.*) ist, so sehr gab er den Gesuchen bei seiner Endformulierung eine Färbung. Und weil Mira, die Putzfrau, immer mehr zu einer Gefährtin wurde, die im Kabuff hinter dem Büro die schmale Bettstatt mit ihm und gegenseitiger Leidenschaft teilte, weil später noch ein weiterer Ayslsuchender dazukam, weil Bilanzen ganz offensichtlich nicht mehr zum Stimmen gebracht werden konnten, endete die sonst zur Routine gewordene Jahresversammlung im Desaster, auch deshalb, weil selbst Reihen von säuberlich aufgereihten Ordnern das Chaos nicht mehr verbergen konnten.

Zwei Männer eine ganze Nacht lang auf einem Polizeiposten. Der eine erzählt, der andere tippt mehr oder weniger sein Protokoll in den Rechner auf dem sonst blanken Tisch. Der Roman switcht vom Erzählen auf dem Polizeiposten und dem Gespräch zwischen dem Buchhalter und Franz, seinem Chef. Sie färben beide ihre Wahrheit, der eine in seinen Berichten, seinen bearbeiteten Gesuchen, der andere in seinem Lebensprojekt, seinem „Buch über den Zustand der Welt“.

Wer bei seinem Lesestoff den Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“ braucht, ist mit diesem Buch schlecht bedient. „Was der Fall ist“ ist auch weder Krimi noch Enthüllungsgeschichte. Thomas Duarte taucht in eine skurrile Welt, die sich wie die Stiftung selbst nicht an geltende Regeln hält. Das ist äusserst erfrischend, aber auch gleichermassen verunsichernd. Aber weil Thomas Duarte sein Erzählen so selbstverständlich und gekonnt präsentiert, weil sich der Humor des Erzählers nicht an Pointen orientiert, sondern in allem Duartes spezieller Sound unterlegt ist, weil „Was der Fall ist“ nicht zuletzt eine gesellschaftliche Kritik an der Unsinnigkeit geltender Regeln ist, wird dieser Roman zu einem echten Leseabenteuer!

Fazit: Man muss schon eine gehörige Portion Mut besitzen, um sich von den gewohnten Lesepfaden entfernen zu wollen, will man die Qualitäten dieses Debüts erkennen. Aber weil ihn der Charta des Preises steht: um …“herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen…“, gebe ich der Perle wenig Chancen, weil die breite „Öffentlichkeit“ solche Bücher gar nicht will.

«… Unaufgeregt und mit feiner Ironie entlarvt Thomas Duartes Text Gemeinplätze und bringt vorgefasste Sichtweisen ins Wanken. Dabei reflektiert er nicht nur das Erzählen und Rezipieren von Geschichten, er porträtiert auch mit frohgemuter Verzweiflung die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft…»
(Zitat aus der Jurybedründung zum Studer/Ganz-Preis 2020)

Thomas Duarte, geboren 1967, aufgewachsen bei Basel. Er studierte Geschichte und Philosophie und arbeitete nach Aufgabe des Studiums zuerst als Tramchauffeur, dann als kaufmännischer Angestellter und Sachbearbeiter. Später Studium der Kulturwissenschaften und der Literaturwissenschaft. «Was der Fall ist» wurde 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet. Thomas Duarte lebt in Bern.

Webseite des Autors

Beitragsbilder © leafrei.com

Die König in der Jury #SchweizerBuchpreis 21/7

Annette König studierte an der Universität Zürich Germanistik, Politologie und Neue Geschichte. 2013 doktorierte sie an der Uni Basel in Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Seit 2013 arbeitet sie als Literatur-Redaktorin bei SRF.

Du bist eine unermüdliche Kämpferin für das gute Buch, arbeitest bei SRF als Literaturkritikerin und führst unter diebuchkoenigbloggt.ch eine Webseite, auf der du pointiert deine Meinung zur aktuellen Literatur formulierst. Nehmen Bücher so viel Platz in deinem Leben ein, dass anderes als Nebensache droht?
Ich versuche so zu leben, dass nichts zur Nebensache wird, was mir wichtig ist.

Man sieht dich immer wieder an Literaturfestivals, sehr oft sogar mit deiner Familie. Was bedeuten dir solche Veranstaltungen, zumal solche ja wie viele andere Veranstaltungen und die ganze Kulturszene arg zu leiden hatten?
Es sind für mich Orte der Begegnungen und der Inspiration. Auch liebe ich es, wenn an einer Lesung eine Energie freigesetzt wird, die sich auf das Publikum überträgt und dieses verbindet. Unvergesslich ist mir die ergreifende Lesung von Adonis am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Da haben die Leute geweint.

Nun sitzt du schon zum zweiten Mal in Jury des Schweizer Buchpreises. Ein fünfköpfiges Gremium soll aus fast 100 eingesandten Büchern das beste aussuchen. Was bedeutet das für dich? 100 Bücher lesen?
Für mich bedeutet das viel Arbeit, aber auch grosse Freude, Texte entdecken zu dürfen und in der Interaktion mit den Jurymitgliedern meine literaturkritischen Methoden zu reflektieren und zu schärfen. Das ist wertvoll und bereichernd.

Die Jury setzt sich aus ganz verschiedenen Akteur:innen innerhalb der Buch- und Literaturszene zusammen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Diskussionen über das Gewicht eines Buches sehr kontrovers und heftig werden können. Kann man dann einfach so die Segel einholen, wenn man bei einem „Lieblingsbuch“ bei der Mehrheit der Jury auf taube Ohren stösst?
Ich bin eine Kämpferin, die bis zur letzten Minute der Jurysitzung für meine Favoriten einsteht. Und ja, manchmal muss man sich danach die Wunden lecken, wenn man auf taube Ohren gestossen ist. Aber Lieblingsbücher sind eine Herzensangelegenheit und Herzensangelegenheiten sind als solche nicht demokratisch. Und der Entscheid der Jury ist ein demokratischer. Das sind die Spielregeln.

Ist es nicht schwierig, bei Autor:innen, die ein grosses Werk schuffen und schon lange in der Literaturszene grosse Bedeutung haben, nur das aktuelle Buch zu sehen?
Nein. Jedes Buch nehme ich als eigenständigen Kosmos war. Ich tauche ein und entwickle eine Haltung dazu.

Gab es 2020 nach der Bekanntgabe der Shortlist, jener fünf Bücher, die in die Endausscheidung aufgenommen wurden, Reaktion an dich direkt? Reaktionen, bei denen du dich rechtfertigen musstest?
Ja, es gab Reaktionen im Sinne von: mutiger Entscheid, guter Entscheid.

Gemessen am Medieninteresse ist das Preisgeld des Schweizer Buchpreises mit Sicherheit nicht üppig, wenn man weiss, dass nur ganz wenige Schreibende vom Verkauf ihrer Bücher leben können. Was glaubst du, warum es für grosse Firmen schlicht zu wenig attraktiv ist, für Literatur ihr Banner aufzuspannen?
Ist das so? Vielleicht liegen die Gründe im System. Die Schweizer Kulturförderung ist in meiner Wahrnehmung relativ breit aufgestellt. Man denke an die vielen Förderausschüsse, Kulturstiftungen, Preisgeber und Sponsoringpartner. Mäzenatentum ist zwar wichtig, aber steht nicht im Vordergrund. Klar könnten sich da grosse Firmen vermehrt engagieren. Aber solche Literaturförderung ist auch stark von wirtschaftlichen Faktoren abhängig. Und da habe ich gewisse Vorbehalte. Denn Kunst sollte in erster Linie frei sein.

Bücher suchen nach Leser:innen. Manchen Büchern scheinen die Leser:innen einfach so zuzufallen. Da genügt schon der Name auf dem Buchcover. Gibt es ein aktuelles Buch, dem du gerne eine leidenschaftliche Stimme geben würdest, weil es nicht die ihm zustehende Aufmerksamkeit bekommt?
Es gibt Bücher, die bekommen Aufmerksamkeit, aber gehen ohne Literaturpreis aus. Zum Beispiel gibt es da einen Roman, der den Coming-of-Age-Kultfilm der 80er Jahre decodiert und in hervorragende Unterhaltungsliteratur verwandelt. Ich fühle mich an die Schwelle des Erwachsenwerdens versetzt und erlebe nochmals die Schwere und das Schwebende dieser Zeit. Den Weltschmerz, die Einsamkeit, die Ausgelassenheit und dieses Gefühl die Welt rocken zu können. Ich meine damit «Hard Land» von Benedict Wells und immer wenn ich davon spreche höre ich Don’t you forget about me von Simple Minds in meinem Kopf.
Und dann gibt es auch Bücher, die viel mehr Aufmerksamkeit bekommen sollten, auch wenn der/die Autorin mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Hier denke ich an die Romane «Aufbrechen» und «Überleben» der Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe.

Hand aufs Herz: Was macht eine Vielleserin mit all ihren Büchern? Irgendwann sind die Regal voll!
Öffentliche Bücherschränke zum Bersten bringen!

Beitragsbild © Annette König/SRF

Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, #SchweizerBuchpreis 21/6

„Grösser als du“ ist mit ‹Geschichten› untertitelt. Aber wie schafft es ein „Geschichten-Buch“ in die Shortlist des Schweizer Buchpreises? Veronika Sutter Buch ist alles andere als harmlos. Weder inhaltlich noch sprachlich. Wie gut, dass es auch in der dritten Reihe leuchtet, blitzt und funkelt! 

Geschichten bekam ich von meiner Mutter vorgelesen, wenn ich krank war. Wahrscheinlich glaubte meine Mutter an deren heilende Wirkung. Selbst ich glaube an die heilende Wirkung von Literatur, auch wenn Veronika Sutters Geschichten so gar nichts gemein haben mit den Geschichten, die immer ein gutes Ende hatten, wenn meine Mutter sich an mein Bett setzte und vorlas. Veronikas Geschichten sind alles andere als Geschichtchen. Und ob sie heilsam waren, zumindest für mich, weiss ich nicht, denn sie lösten einiges aus, nicht zuletzt eine ganze Portion Wut.

„Grosser als du“ sind 16 Erzählungen (Geschichten als Bezeichnung ist zu harmlos!) die alle zwischen den Jahren 1991 und 2019 spielen, zwischen den beiden grossen Frauenstreiks. 1991 nahmen Hunderttausende an jenem Streik teil, der für viele, nicht bloss für Frauen, zu einer Zäsur wurde, war es doch erst 20 Jahre her, seit die Männer in der Schweiz über das Frauenstimmrecht abstimmten und noch immer ein Drittel dieser Männer dafür gewesen wäre, es besser beim Alten zu lassen. 20 Jahre, in denen wohl das Frauenstimmrecht funktionierte, aber von gleichen Rechten keine Rede sein konnte. Dass damals Hunderttausende auf die Strasse gingen, nicht nur in Zürich, machte vielen Mut, nicht zuletzt jenen, die in ihrer eigenen Geschichte noch weit davon entfernt waren, sich auf Augenhöhe mit der Männerwelt zu behaupten. Frausein muss immer noch Selbstbehauptung sein, auch wenn es mittlerweile, ein halbes Jahrhundert später, Männer gibt, die sich von der Wucht der Weiblichkeit überrumpelt und bedroht fühlen.

Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, 2021, 192 Seiten, CHF 22.80, ISBN 978-3-85990-421-7

In Veronika Sutters Buch sind aber nicht 16 lose Erzählungen aneinadergefügt, die alle irgendwie mit den beiden Streiks, mit Frauenschicksalen zu tun haben. Wer zu lesen beginnt, merkt nach und nach, dass die Erzählungen miteinander verknotet sind, dass es Momentaufnahmen im Leben von Gloria, Karo und Helen oder Aldo und Walter sind, die miteinander verwoben sind. Momentaufnahmen, die zeigen, wie weit Frauen und Männer bis in die Gegenwart voneinander entfernt sind, wie tief Verletzungen sind und wie sehr sich Menschen hinter ihrem Schweigen, hinter Fassaden und ihren ungestillten Sehnsüchten verstecken.

Was bleibt, wenn man nach einer Flucht aus einer übergriffigen Beziehungen, in die man fast bewusstlos hineinrutschte? Was passiert, wenn sich perfekte Missverständnisse wie Druckwellen ausbreiten? Wenn sich fremde Welten für einen Augenblick nicht wirklich begegnen, dafür sich umso mehr in diesem einen Moment abstossen? Wenn der Tod so kalt wird wie die Gurkensuppe, in der das Gesicht der Mutter liegt. Wenn sich Syphillis in die Seele frisst. Wenn die Enkelin Gloria am Sterbebett ihrer Grossmutter Annie sitzt und sich abhängen lassen muss von der Urgewalt ihrer Junkiemutter Selma.

Veronika Sutters Bilder, die Szenerien ihrer Geschichte gehen unter die Haut, lösen Emotionen aus, bei mir im ersten Teil des Buches sogar Wut. Männer sind fast ausnahmslos Monster, trunkene Schläger, blinde Grobiane. Ich mache der Autorin keinen Vorwurf. Mein Problem, ich bin ein Mann. Und weil Veronika Sutter in ihrer Brotarbeit wohl immer wieder mit Schicksalen, Frauenschicksalen konfrontiert wird und es unbestreitbar wichtig ist, dass man(n) darüber schreibt, sind Erzählungen wie diese von Veronika Sutter Notwendigkeit, wenn man(n) sich nicht vor Tatsachen und Schicksalen verschliessen will.

Aber auch sprachlich ist Veronika Sutters Buch eine Kostbarkeit, auch wenn sich Helvetismen in den Text eingeschlichen haben, für die mir Erklärungen fehlen. 

Fazit: „Grösser als du“ hat die grosse Bühne verdient. Nicht nur, weil das Buch mit wichtigen Themen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit aufrüttelt, sondern weil das Buch klug konstruiert und die Dramatik des Buches Lesern in die Knochen fährt!

Veronika Sutter, 1958 geboren und im Sihltal aufgewachsen, arbeitete Veronika Sutter als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und Journalistin. Seit dem Studium in Kommunikationsmanagement ist sie in der Öffentlichkeitsarbeit für Non-Profit-Organisationen tätig. Sie engagierte sich im Vorstand der Stiftung Frauenhaus Zürich und bei Greenpeace. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich. «Grösser als du» ist ihr erstes Buch.

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Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams» #SchweizerBuchpreis 21/5

Vielleicht ist es die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine, der perfekten Hilfskraft, des perfekten, bedürnislosen Dienens. Ganz sicher ist er der Reiz des Machbaren, Erschaffer:in zu werden. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Ein Roman, der den menschlichen Code zu knacken versucht, jenes Geheimnis, das uns zu Menschen macht.

Schon in ihrem letzten Roman „Knochenlieder“ spielte Martina Clavadetscher derart gekonnt und verblüffend mit ihrer Sprache, ihrem Sound, ihrer Konstruktion, ihrem ganz eigenen Instrumentarium, dass sie für mehr als „nur“ den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die grosse Schwester ihres letzten Romans. Formal ähnlich gestaltet (im Flatter- nicht im Blocksatz), manchmal fast an Lyrik erinnernd, über weite Strecken geschrieben, als wäre die Autorin monologisierend auf einer schwarzen Bühne im Scheinwerferlicht, das Szenario in den Köpfen der Zuhörer:innen aufsteigen lassend. „Die Erfindung des Ungehorsams“ geht aber noch einen Schritt weiter, steht „Knochenlieder“ in nichts nach, überflügelt ihn.

„Ihr Leben verläuft nach Plan.“

Martina Clavadetscher will nicht einfach eine spannende Geschichte erzählen. Sie erzeugt während des Lesens das Bewusstsein, wie schmal der Grat zwischen Realität und Künstlichkeit ist, wie nah wir uns in unserer Gegenwart einer bedrohlich werdenden Zukunft nähern, wohin uns unsere Fantasielosigkeit gepaart mit Profitdenken führen kann, wie klein der Unterschied ist zwischen Menschlichkeit und Automatismus. Dabei rankt sich ihre Sprache in Sphären, die in der deutschsprachigen Literatur nur selten anzutreffen sind. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist alles andere als künstlich und schafft einen erstaunlichen Kontrast zum fast blutleeren Geschehen in der Geschichte.

„Gesetzmässigkeiten tarnen sich bloss mit Willkür, damit das Logische nach aussen unlogisch wirkt.“

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag, 2021, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-293-00565-5

Iris lebt irgendwo in Manhattan in einem Penthouse. Sie erwartet Gäste, wartet mit Ungeduld. Es wird eine kleine Party sein, wie immer und jedes Mal, mit Godwin und Wollstone, zwei älteren Damen. Iris hat den Part der Erzählenden, während die Gäste lauschen. Iris erzählt aus dem Leben von Ada, Ada Lovelace, die es wirklich gab, die vor mehr als 200 Jahren in England lebte und die Tochter jenes berühmt, berüchtigten englische Dichters Lord Byron (1788–1824) war, den sie aber nie kennen lernte. Von ihrer gestrengen Mutter (im Buch Übermutter) erbte sie das überdurchschnittliche Geschick mit Zahlen, das sie schon in jungen Jahren mit dem Mathematiker Charles Babbage zusammen brachte, der eine Differenzmaschine entwickelte, etwas, das sich als Vorläufer der heutigen Computer entpuppte. Ada, einst ein kränkliches Kind, von der Mutter überbehütet, um es aus dem langen Schatten ihres unseligen Vaters zu zerren, entwickelte mit Charles Babbage die Idee einer Maschine, die weit mehr kann, als jene Spielmaschinen, mit denen man damals ein Publikum zu faszinieren vermochte.

In „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die Geschichte eingebetet in jene der „Halbschwester“ Ling, die an einem andern Irgendwo irgendwann Arbeiterin in einer Produktionsstätte für Sexpuppen ist, alle identisch konzipiert nach dem Vorbild einer Schauspielerin, einer Fanny Lee, die die Hauptdarstellerin eines Film ist, den Ling längst zu ihrem Lebensbegleiter gemacht hat, den sie immer wieder in ihren dämmrigen Feierabenden sieht, nach Tagen, die zwischen Fabrik und Wohnsilo immer gleich aussehen. Lings Arbeit in der Fabrik ist es, die Körper nach dem Guss nach Silikonresten zu untersuchen, bevor sie noch ohne Kopf an einen Haken gehängt werden, um in einer nächsten Halle mit dem Haupt versehen zu werden, einem Modul, das interaktiv auf einen zukünftigen Besitzer regieren soll.

„Ling, das Programm hat gelernt zu lügen.“

Ling ist einsam. Bis sie einen der kopflosen Körper mit nach Hause nimmt, bis sie Jon B., einen der Wachmänner der Sexpuppenfabrik bei sich zuhause einlässt, bis der Wunsch nach Gemeinschaft aus den Treffen in Lings Wohnung Konspiration werden lassen und ein Wagnis daraus entstehen soll.

Martina Clavadetscher verwebt die verschachtelten Erzählstränge aber so, dass ich als Leser nie den Überblick verliere, gewisse Details und Feinheiten aber doch nur bei ganz genauer Lektüre zum Vorschein kommen. So wie etwa das Detail, dass hinter den Namen Godwin und Wollstone die Mutter der Schriftstellerin Mary Shelley, der Schöpferin Frankensteins, Mary Wollstonecraft-Godwin verbirgt. Frankenstein, ein Diener, ein Geschöpf aus der Hand eines Menschen, abgekoppelt von einer natürlichen Ordnung.

„Das Unzähmbare lebt. Es keimt. Und bringt etwas ganz Eigenständiges hervor.“

Martina Clavadetscher gelang mit ihrem Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ Erstaunliches und Verblüffendes! Der Roman bietet genau das, was sich Leser:innen wünschen, die mehr als nur unterhalten werden wollen. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist vielschichtig, vieldeutig und poetisch zugleich!

Mein Fazit: Wenn Mut gewinnt, dann sie!

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin. Ihr Prosadebüt «Sammler» erschien 2014. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Theaterstück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war im selben Jahr für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für «Knochenlieder» erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung und wurde 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Rezension und Interview zu «Knochenlieder» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Ingo Höhn 

Christian Kracht „Eurotrash“, Kiwi #SchweizerBuchpreis 21/4

Christian Kracht hat seinen Roman «Eurotrash» aus dem Rennen des Schweizer Buchpreises genommen. Aber auch wenn sich der Autor aus dem Wettbewerb ausklinkte, melde ich mich als Buchpreisbegleiter. Ich melde mich, weil ich sein Buch gelesen habe und es vielleicht nicht getan hätte, wäre sein Name nicht auf der Shortlist gestanden.

So wie es andere Bücher nie auf die Oberfläche des allgemeinen Interesses schaffen, so tun es andere auf jeden Fall. Und es gibt Bücher, an denen die Medien, Jurys und der Buchmarkt schlicht nicht in der Lage zu sein scheinen, an ihnen vorbeizugehen, weil sich allein die Beschäftigung mit ihnen lohnt, in Sachen Publicity oder in der Brieftasche selbst.

Ich möchte vorausschicken, dass ich zwei Bücher von Christian Kracht über die Massen schätzte und gerne gelesen habe: «Imperium» und «Die Toten» mit dem er 2016 den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen durfte (auch wenn man Dankbarkeit damals nicht aus seiner Reaktion lesen konnte). Beide Romane sind hohe Sprachkunst, genial konstruiert und wie immer bei Christian Kracht genial inszeniert.

Christian Kracht kann zwei Dinge unbestreitbar: Schreiben und Verunsichern. Das beweist er mit seinem Roman «Eurotrash», der es nun, als wäre es perfekt inszeniert, auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Ein Roman, der mich als Leser gleichermassen faszinierte wie befremdete. Das tut dem Roman keinen Abbruch, denn ich unterstelle dem Autor, dass er genau das will. So wie er mich mit seinem Roman verunsichert, so verunsichert er mich als Person. Ich unterstelle dem Autor, dass er sich als Person und Schriftsteller perfekt vermarktet. «Christian Kracht» ist eine Marke, bei dem alles aufhorcht, wenn er sich ankündigt. Ein lebendiges Pulverfass, ein Funkelstein, der schwindlig macht, wenn man ihn lange genug fixiert.

Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-462-05083-7

Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt. Eine von Familie und Geschichte beschädigte alte Frau fährt mit ihrem von Familie und Geschichte beschädigten Sohn mit einem Taxi und einer prallvollen Plastiktüte Geld kreuz und quer durchs Land. Eigentlich tun sich beide gegenseitig nicht gut, bezichtigen sich aller erdenklichen Versäumnisse und Quälereien. Eine Tour durch ein Land durch Städte, die sie beide nicht mögen, manchmal sogar hassen, eine Tour durch Erinnerungen, die sie beide nicht mögen, manchmal sogar hassen. Eine Mutter und ein Sohn. Eine Bindung, die sich nur schwer mit Begriffen wie «Liebe», «Geborgenheit» uns «Wärme» verbinden lässt. Eine Bindung zwischen maximaler Abneigung und untrennbarer Nähe. Jeder, der liest, hat eine Mutter. Wir wissen, wie fragil eine solche Beziehung sein und werden kann. Darum schmerzt die Lektüre dieses Buches zuweilen körperlich. Nicht weil ich denke, dass der Autor die Wirklichkeit abbilden will – keinesfalls. Zuletzt bei Christian Kracht. Aber weil das Hickhack zwischen Mutter und Sohn so meisterhaft und klug inszeniert ist, dass es zumindest bei mir einen Nerz trifft, der bei der Lektüre empfindlich reagiert. Genau das, was ein Autor doch will. Einen Nerv treffen. Lesende konfrontieren, sie zur Auseinandersetzung zwingen.

Man liest «Eurotrash» nicht zur Erbauung. Und meiner Mutter würde ich das Buch zuletzt schenken. Eben perfekt inszeniert. Ein Spiel. Eine Inszenierung. So wie die Figur Christian Kracht auch. Was kann sich ein Autor mehr wünschen, dass sich eine ganze Szene Händeringen fragt, was denn der Autor eigentlich beabsichtigt. Aber möchte ich als Leser bespielt werden? Zu oft nicht. Für einen Kracht reicht es -allemal.

Fazit: Wenn sie sich trauen, dann lesen sie ihn. Wenn er ihnen nicht gefällt, ist das kein Indiz, dass der Roman nicht gut ist.

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«Tūmūhaimana!» Feuer mit Michael Hugentobler #SchweizerBuchpreis 21/3

«Allein für die Stuckaturen im Bodmanhaus würde ich lieber heute als morgen zurückkommen. Und für den knarrenden Boden. Und für die Treppe, deren Tritte alle eine unterschiedliche Höhe haben. Und für die Menschen, die so spannende Fragen gestellt haben und so freundlich und aufgeschlossen waren. Und ganz allgemein für die Zwiebeltürme an der Drachenburg und den Schiffsteg von Gottlieben.» Michael Hugentobler

Michael Hugentobler, einer der Nominierten des diesjährigen Schweizer Buchpreises, war mit seinem Roman «Feuerland» Gast im Literaturhaus Thurgau, mit einem Roman um den drohenden Verlust von Geschichte, über Besessenheit und Leidenschaft und die Magie der Sprache!

Für sein Schreiben zu recherchieren, ist das eine. Nichts über gute und gewissenhafte Recherche! Wenn das Geschriebene danach, die eigentliche Geschichte aber vom leicht abgestandenen Geschmack der Recherche durchzogen ist oder gar der Eindruck entsteht, der oder die Schreibende müsste mit jeder Formulierung den Gehalt oder die Tiefe der Recherche beweisen, dann kann Recherche aufstossen, dann wird das Geschriebene zum Machwerk. Dass Michael Hugentobler die Recherche zu seinem Roman über ein Buch, ein Wörterbuch über die Sprache der mittlerweile ausgestorbenen Yamana-Indianer, das er durch ein ganzes Jahrhundert begleitet, von Patagonien bis ins British Museum in London, zu einem wichtigen Instrument des Erschaffens machte ist klar und nachvollziehbar. Michael Hugentobler ist Reporter! Und wenn etwas den Reporter auszeichnet, dann ist es eine solide Recherche. Aber Michael Hugentobler drängt alles, was nach Wissen und Recherche riecht bei seinem schriftstellerischen Schreiben in unmerklichen Hintergrund. Sie trieft und schwitzt nicht! Er verbirgt sie gekonnt hinter Erlebtem, Aufgeschnapptem, hängt sie hintergründig an seine Fantasie und Fabulierkunst.

© leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Ein Wörterbuch, verfasst von einem britischen Missionar im dünn besiedelten Patagonien des 19. Jahrhunderts wird zum letzten Rest einer ganzen Kultur, die durch Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche vernichtet wurde. Ein Wörterbuch, dass windige Polarforscher und schrullige Völkerkundler wie einen Schatz, einen Gral durch die Zeit tragen.

Eigentlich Wunder genug, dass es ein Roman über verschrobene Wissenschaftler und eifrige Missionare, ein Buch über ein Buch, ein Roman, in dem Frauen nur am Rande vorkommen und dann auch noch ziemlich schnell sterben, auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises schafft. Selbst das Thema eines vernichteten Volkes scheint in einer Zeit, in der man sich schamlos des Begriffes «Genozid» bedient, nicht unproblematische und schon gar nicht verkaufsfördernd zu sein.

Aber «Feuerland» ist ein Roman, der funkelt, der Türen aufreisst. Wenn es ein Buch schafft, Reiseführer in verborgene Innen- und Aussenwelten zu sein, wenn es mich mitnimmt zu Wanyamwezi-Gesängen oder Nongkrem-Fabeln, wenn man im Lesen Napfschnecken und Mähnenrobben isst und erfährt, dass man mit Schwefelkies und einem Pilz namens Gunda Feuer machen kann, dann werde ich als Leser glücklich, weil Michael Hugentobler den Szenerien jenes Leben einhaucht, dass nur der Gereiste erzeugen kann.

Ein wunderbarer Abend mit einem wunderbaren Buch und einem wunderbaren Schriftsteller!