Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.
Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.
Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.
Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.
Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.
Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.
Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.
Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.
Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.
Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess. Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.
Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8
Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.
Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?
Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!
Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.
Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.
du bist den ganzen weiten weg gekommen mit deinen seidigen wörtern und der erde an den sohlen und mit der eisenbewehrten scherbe die du in deiner linken herzkammer verwahrst
ich habe ein kissen gefüllt mit gras und blüten und die schafwolldecke liegt bereit
der wind zerrt an der stadt doch das muss uns nicht kümmern lass dein fieber einfach auf dem esstisch liegen
ich wärme deine füße du trägst meinen ring
***
Für jeden einzelnen Tag
es gab keinen anfang und es gibt kein ende
du hast mich angeschaut und meine hand berührt ich habe wasser geholt für dich wir haben geatmet wie am tag zuvor
und es war wie zuvor bloß eine winzigkeit leichter und seitdem ist das so an jedem einzelnen tag
du gehst deinen weg und ich gehe meinen und keiner von uns geht vom anderen fort
***
Für unsere Eltern
zwischen den müttern liegen fast fünfzehn jahre zwischen den vätern zwei tagesreisen
sie haben unsere knochen gefügt und uns die augen gefärbt
sie haben uns unser alleinsein zugeteilt
und alles was das alleinsein heilt
jeden morgen noch vor der dämmerung beugen sie sich über uns
dann gehen sie und trösten den traurigen tod dass er sanft wird und schwebend wie schnee
***
Für unsere Kinder
wir haben federn unter ihre herzen gelegt und ihnen felsen an die füße gebunden
wir haben ihre adern einzeln ausgewaschen und jede träne für sie vorgeweint
wir wollten sie nicht beschweren
aber wir haben es getan und sie sind gewachsen
sie haben in unserem atem geschlafen so lange bis es ihr eigener war
wenn sie die augen schließen sind wir da
***
Für Scott
er hat sich nach den ersten drei nächten sein ganzes weh aus dem fell geschüttelt und hat es unter dem fußboden vergraben
von da an hat er mein weh getragen und ein stück von deinem
und als ich nicht bei mir war war er bei mir und als du nicht bei dir warst war er in deinen träumen
wäre er nicht da wäre ich nicht mehr da und du wärst hinter den rippen wund
***
Für die Engel und die Frierenden
dies ist für die die millionenmal zuhören mussten für die die von ferne gedichte geschickt haben für die die balsam in den nachtwind gemischt und rote streifen an die wolken geklebt haben dies ist für die engel
und die die schwiegen und ihre kalten arme verschränkten die bekommen ein lächeln
dies ist für die die da waren wo ich nicht war
dies ist für die die da waren wo du nicht warst
***
Für den Bussard, der am Morgen des 25. Juli 2015 auf der umgestürzten Eiche im Warper Wald sass und sitzen blieb
ich hätte ihn beinahe berühren können
aus seinen augen rieselte ruhe auf blatt und halm und borke und mich
einmal hob er die gelbe kralle da muss er die angst erwischt haben
dann zog er sich plötzlich luft unter die schwingen und die federn vibrierten und der wald fiel in schweigen
doch er faltete die flügel und legte sie zurück und sagte deinen namen und sagte dass er bei mir bleibt
***
Für mich
dass ich immer blumen auf den tisch stelle dass ich eine kerze anzünde zum essen dass ich das kreuz mit dem brotmesser schlage dass ich das licht durch den tag wandern sehe dass ich das leben achte auch meins das habe ich von dir gelernt
und dass ich nicht mehr traurig bin von mir
***
Für uns
komm wir gehen ein stück und schweigen
dann gehen wir noch ein stück und schweigen wieder
dann reden wir dann biete ich dir meinen arm und etwas später stehen wir und halten uns
dann ziehen die wolken und von diesem moment an wohnt die sonne in dir in mir
jetzt können wir schlafen und wieder wach werden und tanzen und zu hause sein
***
Bert Strebe, geboren 1958 in Hunteburg, zu Hause in Hannover. Jahrzehntelang Redakteur, vor allem bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Erster Gedichtband 1999 bei Eric van der Wal, seitdem literarische Veröffentlichungen in unregelmässigen Abständen. Aufsätze, Reportagen, Porträts für die Zeitung.
Ursula Bollack-Wüthrich (1967) arbeitet als Keramikerin und Lehrerin. Sie hat sich auf Raku-Keramik spezialisiert, eine alte japanische Technik. Zahlreiche Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland.
Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» ist ein vielschichtiges Porträt dreier Personen, die gefangen in ihrer Zeit, die Polkappen der Pariser Gesellschaft im 19. Jahrhundert ausmachten; die Brüder Edmond und Jules Goncourt, damals ein Dreh- und Angelpunkt der Pariser Kultur – und ihre Dienstmagd Rose, eine Existenz zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe.
«Doppeldank an Cornelia Mechler und Gallus Frei für Vorbereitung und Zubereitung, für die Sorge um mein leibliches Wohl und den barocken Schlafplatz mit Blick auf Wasser und Schwäne. Auftreten ist das eine, gut schlafen das andere. Beides hat perfekt geklappt. Danke an die ganze Equipe in Gottlieben, wo ich stets Udo Jürgens› und Lisa della Casas gedenke.»
Alain Claude Sulzer
1998 begann meine Liebe zu Alain Claude Sulzers literarischem Werk, mit einem Schlag und unauslöschlich. Damals las ich seinen Roman «Urmein», der im Schloss eines italienischen Grafen im bündnerischen Urmein spielt. Ein Roman über eine wilde, bunte und bisweilen schräge Gesellschaft, die sich in den Jahren vor und während des 1. Weltkriegs im fiktiven Schloss des Adeligen trifft. Ein Roman, der wie viele Bücher Alain Claude Sulzers das gesellschaftliche und politische Leben der jeweiligen Zeit spiegelt und illustriert. Später las ich auch die früheren Werke und fast alle, die auf «Urmein» folgten – und mit aller Selbstverständlichkeit und dem grössten Lesevergnügen seinen neusten Roman «Doppelleben».
Alain Claude Sulzer hat zweieinhalb Jahre am Roman geschrieben, nachdem er sich schon lange ausgibig sowohl in das Werk der Goncourts und die Zeit, in der die Brüder und ihre Dienstmagd lebten, vertiefte. Edmond und Jules Goncourt lebten wie siamesische Zwillinge, taten alles gemeinsam, und als Jules langsam an Syphilis erkrankte, immer stärker an den Symptomen litt und nicht nur die Fähigkeit zu sprechen verlor, sondern auch die des Schreibens, wurden die drohenden Veränderungen für den älteren Edmond immer existenzieller. Zum einen lebt Sulzers Roman von den Schilderungen dieses Sterbens, zum andern vom Sterben ihrer Dienstmagd Rose, einer Frau und Angestellten, auf die sich die beiden Brüder ganz und gar verliessen, die das Leben der Brüder erst ermöglichte. Einer Frau, die sich in ihren beinahe nymphomanischen Anwandlungen in einen unnahbaren Mann verliebte, ihr Erspartes und mehr verlor, schwanger wurde und das Kind verlieren musste. Ein Leben im Verborgenen. Ein Leben, von dem die Brüder nichts wussten oder nichts wissen wollten.
Es habe ihn das Gegensätzliche interessiert, das Leben eines Bruderpaars, das gemeinsam Bücher schrieb, die langsamen Katastrophen, sowohl jene der Goncours wie jene ihrer Dienstmagd Rose, erklärte der Autor. Alain Claude Sulzers Roman, der nicht nur seinen Protagonisten nahe kommt, auch ihrem Tun, ihrem Wirken, ihrem Leiden, ist ein beeindruckendes Fenster in eine Zeit, in der die Stadt Paris absolute Kulturmetropole der westlichen Hemisphäre war.
Kaum ein Segment in Buchhandlungen ist derart prominent vertreten wie der Sektor Gesundheit/Ratgeber. Kaum ein Thema treibt die Schriftstellerei so sehr um wie die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern. Beides vereint der Roman „Gesund genug“ von Ursula Fricker. Kein Wunder trifft er den Nerv!
2004 erschien Ursula Frickers Debüt „Fliehende Wasser“, schon damals ein Roman über die klaustrophobische Enge einer kompromisslosen Erziehung und ihrer katastrophalen Folgen. 2009 der Roman „Das letzte Bild“, in dem sich ein Mann mittleren Alters mit einem Mal mit seiner 15jährigen Tochter konfrontiert sieht. 2012 der Roman „Ausser sich“, die Geschichte eines Paares, dessen gemeinsame Geschichte an einem Sonntag wortwörtlich schlagartig die Richtung ändert. Katja geleitet Sebastian, der einen Schlaganfall erleidet, im Helikopter ins Spital. Der Roman war nominiert für den Schweizer Buchpreis. 2016 „Lügen von gestern und heute“ über drei Leben, die gänzlich aus den Fugen geraten. Und nun 2022 „Gesund genug“, ein Roman, der an den Erstling anschliesst.
Hanne wird ans Sterbebett ihres Vaters gerufen. Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wird zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen können. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften werden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael können ausbrechen. Die Mutter bleibt.
Eine letzte Gelegenheit zur Annäherung zwischen Tochter und Vater vor der ultimativen Entfernung. Der Versuch, etwas zu verstehen, die verschlüsselte Liebesgeschichte einer Tochter zu ihrem unter Idealen begrabenen Erzeuger, die Sehnsucht nach jenem letzten Schimmer eines Vaterbildes, das sich alle wünschen; Geborgenheit, Sicherheit, Stütze und Kraft. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinem Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon.
Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann? Hanne findet Zeichnungen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? Am Sterbebett liest Hanne ihrem Vater aus Robert Falcon Scotts Tagebüchern. Auch für Scott gab es damals auf seiner Reise zum Südpol kein Zurück. Lieber heldenhaft in den Tod als ein frühzeitiges Eingeständnis, dass Ponys in der Antarktis nicht die richtige Entscheidung waren.
Hannes Vater sah sich stets in der Rolle des Opfers. Eine Haltung, die einen perfekten Nährboden für ein messianisches, selbstloses Engagement ohne Wenn und Aber bieten kann. Hat uns nicht die moderne Psychologie dazu gebracht, uns immer bloss als Opfer zu sehen? Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers.
«Ich habe mich besonders auf den Besuch im Literaturhaus Thurgau gefreut. Danke Monika und danke Gallus für diesen in mancher Hinsicht prächtigen Abend in Gottlieben!» Ursula Fricker
«Doppelleben» ist ein Doppelroman. Zum einen über das Brüderpaar Edmond und Jules Goncourt, die im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der Kulturmetropole Paris spielten, aber auch ein Roman über ihre Magd Rose, der sie nach ihrem Tod mit dem Roman „Germinie Lacerteux“ ein Denkmal setzten.
Wer liest, kennt den Prix Goncourt. Ein Preis, der seit 1903 vergeben wird und trotz des nur noch symbolischen Preisgeldes als Preis mit grosser Wirkung entgegengenommen wird. Edmond de Goncourt, der ältere der beiden Goncourt-Brüder initiierte den Preis in seinem Testament durch die Gründung einer Akademie und einer Stiftung. Edmond und sein acht Jahre jüngerer Bruder Jules verfassten als Brüderpaar Romane und Biographien und waren schon zu Lebzeiten Dreh- und Angelpunkt französischer Kultur. Sie hätten wohl durchaus auch das Zeug gehabt, sich der Malerei zuzuwenden. Aber irgendwann, noch im Elternhaus und wohlbehütet in wirtschaftlicher Sicherheit, von Bediensteten umsorgt, wendeten sich die beiden als Tandem der Literatur zu.
Alain Claude Sulzer erzählt vom damals sehr urbanen und selbstbewussten Leben eines Bruderpaars, dass sich mit grossem Selbstverständnis nicht nur in der damaligen Kulturszene, sondern auch in der politischen Upper Class bewegte. Aber das Paar, das sich wie ein Zwillingspaar gebärdete, stets gemeinsam unter dem gleichen Dach lebte und auch gegen aussen als „Einheit“ auftrat, dass sehr gut vernetzt war, hatte gegen Feinde zu kämpfen, die unsichtbar blieben.
Eine der grossen Plagen der damaligen Zeit war Syphilis, eine ansteckende Geschlechtskrankheit, die bis zur Entdeckung von Penizillin unheilbar war. Jules, der jüngere der beiden Goncourt-Brüder, litt an dieser Krankheit, ohne dass sich die beiden Brüder den immer schlimmer werdenden Symptomen entgegenstellen wollten. Ein Wesenszug, der im Roman von Alain Claude Sulzer symptomatisch für die Zeit, die Gesellschaftsschicht und das moralische Verständnis jener Zeit war. Leben war das Resultat einer Idee. Schriftstellerei „göttliche“ Berufung und Selbstverständlichkeit. Dass das Unternehmen Goncourt nicht ohne Beihilfe funktionieren könnte, übersah man geflissentlich. Auch die Tatsache, dass jene, die unter dem Dach der Schriftstellerbrüder das Schiff auf Kurs hielten als blosses Mobiliar wahrgenommen wurden.
Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani, 2022, 304 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-86971-249-9
Alain Claude Sulzer spiegelt die Geschichte der Brüder Goncourt mit dem stillen Leben ihrer Bediensteten. Während die Brüder ihr Dasein als Künstler zelebrieren, sich mit den Wichtigen ihrer Zeit treffen, rauschende Feste feiern und die Exklusivität ihres Daseins als Normalität und Notwendigkeit hinnehmen, arbeiten Bedienstete fast rund um die Uhr im Dienst der Reichen und Privilegierten. Eine dieser Stillen war ihre Magd Rose, die unbemerkt von den Brüdern ein „Doppelleben“ führte.
Rose, die Haushälterin, die zwar eine schlechte Köchin ist, was man angesichts ihrer Ergebenheit, Diskretion und Zuverlässigkeit über all die Jahre in Kauf nimmt, führt im Haus der Brüder ein unauffälliges Leben, scheinbar ohne Wünsche. Aber dem ist nicht so. Sie verzehrt sich nach Liebe, nach Wärme, will nichts mehr als eine Familie. Von der Liebe immer wieder enttäuscht lernt sie in ihrer Nachbarschaft einen jungen Schuster kennen, verliebt sich und stürzt sich in ein gnadenloses Abhängigkeitsverhältnis, das die Unglückliche an den Rand des Ruins bringt. Ein Unglück allein scheint nicht genug. Rose wird mehrfach schwanger. Aber keines dieser Kinder überlebt. Das, wovon Rose träumt, bleibt ihr verwehrt. Nicht einmal die Schwangerschaften bemerken Edmond und Jules. Die beiden sind zu sehr mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt. Aber als Rose sich immer weiter in einer Spirale aus Schulden, Krankheit, Alkohol verliert und stirbt, reiben sich die beiden die Augen und versuchen sich durch einen Roman über eine junge Frau wie Rose ihrer Schuld freizuschreiben.
Dieser Roman „Germinie Lacerteux“ erschien 1865, 5 Jahre vor dem Tod des jüngeren Bruders Jules. Ein Roman, der in der Literaturgeschichte als Schlüsselroman bezeichnet werden kann, weil zum ersten Mal eine Frau aus unteren Gesellschaftsschichten zur tragenden Protagonisten wird.
„Doppelleben“ ist ein packend geschriebenes Sittengemälde, nicht zuletzt über das Leben in der absoluten Kulturmetropole Europas. Die Spiegelung zweier Existenzen, jener der Brüder Goncourt und der Magd Rose. Letztlich müssen sich beide dem Leben geschlagen geben. Man lebt auf engstem Raum zusammen und berührt sich nie. Alain Claude Sulzer zeichnet genau und mit grosser Geste, hält sich nahe an die Tagebüchern der Brüder Goncourt und schreibt doch in seinem ganz eigenen Stil das erschütternde Doppelporträt zweier völlig gegensätzlich eingebetteter Existenzen. „Doppelleben“ beschreibt einen kurzen Moment des Erwachens einer Gesellschaft, die fast ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution die Privilegien einer Oberklasse noch immer als absolute und unumstössliche Selbstverständlichkeit hinnimmt. Ein Erwachen, das bis in die Gegenwart reicht.
Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Unhaltbare Zustände». Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
Es brauchte viel, bis sich Hanne von ihrem dominanten Vater emanzipieren konnte. Es brauchte das Sterben, den Tod, die unendliche Verletzbarkeit während des letzten Stücks einer unheilbaren Krankheit. „Gesund genug“ von Ursula Fricker ist Literatur gewordener Freiheitskampf.
Ursula Fricker schreibt die Abnabelungsgeschichte einer Frau aus dem Dunstkreis eines dominanten und unberechenbaren Vaters in der ersten Person, als wär es ihre eigene Geschichte. Aber Literatur will nicht abbilden. Literatur will erschaffen. Ursula Fricker erzählt aus der Ich-Perspektive, weil nur aus dieser die Enge, der Kampf, der Schmerz dem entsprechen kann, was eine solche Beziehung ausmacht. Ein Vater, der der ganzen Familie ein unumstössliches Diktat überstülpt, seine Ansichten zum obersten Gesetz erklärt, nicht verhandelbar. Ein Vater, der sein Tun, sein Denken zum einzig Richtigen erklärt, die Welt in ein grosses Böses, Schlechtes und in ein tapferes Gutes, das all dem Bösen trotzen muss, einteilt. Ein Vater, der seine Familie zu seinem Instrument erklärt. Was als Diktatur im Grossen absolut vernichtend wirkt, wirkt auch im Kleinen, bis in die Familie.
Hannes Mutter meint, er wäre früher ganz anders gewesen. Damals, als sie sich kennenlernten. Und als Hanne von ihrer Mutter zurück ins Haus ihrer Kindheit gerufen wird, wo der Vater krank im Sterben liegt, findet Hanne beim Räumen eine Mappe mit Zeichnungen ihres Vater, von denen sie gar nicht wusste, das sie existieren. Jetzt, wo ihr Vater ausgezehrt und mit kaum noch lichten Augenblicken in seinem Zuhause liegt, kann sie nicht mehr fragen. Wo sie doch so gerne fragen möchte. Nicht nur, warum alles so geschehen musste, wie es geschah, warum ihr Vater all den Schmerz, all die Verletzungen provozierte, auch warum jenes Leben, das in der Vergangenheit einst aufblitzte, endgültig ins Vergessen abtauchte.
„Ich kannte niemanden, wirklich niemanden, der so sehr immer recht haben wollte wie Vater. Und nun. Beispielloses Scheitern.“
Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wurde zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen konnten. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften wurden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael konnten ausbrechen. Die Mutter blieb.
Hanne, die schon mit 17 nach London in einen jüdisch orthodoxen Haushalt als Familienhilfe kommt, von dort in den Dunstkreis einer Sekte, die auf das Kommen eines erlösenden Raumschiffes wartet, versucht sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Fesseln ihrer Vaters zu befreien. Aber so stark die Fesseln, so heftig die Abgründe, in die sie zu fallen droht. Sie will Schneiderin werden. Ihr eigenes Leben schneidern. Sie zieht nach London, schliesst sich einer Theatergruppe an, will ihr eigenes Leben bespielen. Lernt Männer kennen, Männer, die nicht dem Bild des Vaters entsprechen, Beziehungen, die aber immer wieder scheitern.
„Gesund genug“ ist das Psychogramm einer Familie, in der letztlich alle am Diktat des einen zu scheitern drohen. Ursula Frickers Roman kulminiert am Sterbebett dieses Vaters, in ganz zarten Momenten, wenn Hanne ihrem Vater aus den letzten Aufzeichnungen des Südpolforschers Robert Falcon Scott, der im Eis an Unterernährung, Krankheit und Unterkühlung starb, vorliest. Er scheiterte. Hannes Vater scheiterte.
Ursulas Frickers Buch ist aktueller denn je in einer Zeit, in der Radikalisierung in jeder Form immer beängstigendere Formen annimmt. Ich denke an Familien mit rechtsradikaler Gesinnung, die ihre Kinder Adolf nennen, an sportfanatische Familien, die ihre Kinder in den Spitzensport pushen u. v. m. „Gesund genug“ ist ein Roman über das verletzliche und filigrane Gefüge einer Familie. Über Verantwortung und die Sehnsucht nach liebender Geborgenheit.
Interview
Zugegeben; Die Erzählperspektive könnte suggerieren, dass es einfach das Nacherzählen eines Befreiungskampfes sein könnte. Die Ich-Perspektive bringt Unmittelbarkeit. Aber, zumindest aus meiner Sicht, ist ihr Roman viel mehr als eine Emanzipierungsgeschichte. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinen Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon. Eigentlich erstaunlich, dass „Familie“ ebenso idealisiert wie verklärt wird – oder?
Ich sehe Hannes „Gehen“ gar nicht so sehr als Befreiungskampf im eigentlichen Sinn, sondern eher als der Beginn einer Entwicklung auf vielen Ebenen. Lassen Sie mich hier kurz eine Passage zitieren, die meine Intention, wie ich finde, ganz gut illustriert. Am Sterbebett ihres Vaters reflektiert Tochter Hanne: „So lange ich denken kann, war dieser Mann da gewesen. Er war der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch heute noch. Unaufhörlich bin ich dankbar, ihm entkommen zu sein. Wie hätte ich, ohne ihn, das Gefühl der Freiheit je so tief empfinden können?“
Im Text verschränken sich zwei Zeitebenen, wie auch zwei Perspektiven, die sich inhaltlich ergänzen; die relativ kurze „Sterbezeit“ am Bett des Vaters, erzählt vom Ich der erwachsenen Tochter Hanne, und die assoziativ eingeschobenen Passagen aus Sicht der adoleszenten Hanne, die ungefähr fünfzehn Jahre umfassen und sich am Ende überlappen.
Hanne geht also in die Welt hinaus und was passiert? Mit zunehmender Lebenserfahrung entdeckt sie Ähnlichkeiten zwischen sich und ihrem Vater. Während des Schreibprozesses ist das Entdecken, Erkennen, Verknüpfen bald in den Vordergrund gerückt. Auch Hannes Umgang mit Versehrungen, mit Scheitern, ihren eigenen Abgründen. Die Schichten, die Ambivalenzen, die nach und nach freigelegt werden. Die Frage, kann man, trotz allem, ein gutes Leben führen?
Warum Familie idealisiert und verklärt wird? Die etwas flapsig-zynische Antwort, weil sonst niemand mehr eine Familie gründen bzw. Nachwuchs grossziehen würde, trifft es natürlich nicht. Es gibt ja tatsächlich ein existenzielles Bedürfnis, sein Leben möglichst in Liebe, mit Menschen zu teilen. Die Vorstellung, allein zu sein, abgeschnitten von der Gruppe, die Schutz und Geborgenheit verspricht, wird oft als schlimmer empfunden als bleiben und aushalten.
Das Wissen um die schiere Unmöglichkeit einer andauernden romantisch-harmonischen Gemeinschaft ist zunächst aus guten Gründen irrelevant – nichts im Leben würde begonnen, wüsste man um die Anstrengungen, das Leid, den Schmerz. Und bei aller Widersprüchlichkeit funktioniert das System Familie ja trotzdem; egal wie schlimm die Verletzungen waren, am Ende fühlt man sich doch meistens zugehörig.
Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann. Hanne findet Zeichen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? So wie Robert Falcon Scott im antarktischen Eis?
32. Literaturblatt mit «Lügen von gestern und heute» von Ursula Fricker
Ja, da gibt es durchaus Parallelen zu Scott, der ja im Roman eine gewisse Rolle spielt. Je länger man geht, desto schwieriger wird es, die Richtung zu wechseln, besonders in der Antarktis… Scotts entscheidender Fehler war wohl, statt Schlittenhunden, Ponys mit auf die Expedition zu nehmen. Eigentlich hätte er das wissen müssen. Und wenn nicht, hätte ihm das jemand sagen müssen. Wahrscheinlich hat er nicht hören wollen. In Scotts Fall wäre ein Eingeständnis ab einem gewissen Punkt unmittelbar tödlich gewesen. So endete die Expedition zwar ebenfalls mit dem Tod, aber bis kurz davor gab es noch Hoffnung: Auf besseres Wetter, auf ein Wunder.
Bei Alwin Tobler, dem Vater im Buch, waren es gesellschaftliche Zwänge, denen er nichts entgegenzusetzen hatte, auch seine eigene Rollengläubigkeit. Zwar künstlerisch begabt, hat er sich zu keinem Zeitpunkt eine Laufbahn gemäss seiner Neigung vorstellen können. Er kam nie mit alternativen Lebensentwürfen in Kontakt, hatte diesbezüglich keine Vorbilder. Und einmal auf der „Familienschiene“, gab es keinen Spielraum mehr für Unsicherheiten, man musste Geld verdienen. Eine Familie ernähren zu können war Alwin Toblers Idee von Erfolg – bis er sich dann in Form dieses Fanatismus krumme Wege aus der Enge gesucht hat. Dass dieser vermeintliche Ausbruch zu noch mehr Enge geführt hat, ist eine Tragik der Geschichte.
So wie ich vieles in der Radikalität vieler Bewegungen und Strömungen verstehen kann, so unverständlich ist mir der Hang zum Absoluten. Wie kann man glauben, jemanden durch die Verteufelung eines Tuns zur Kurskorrektur zu bewegen? Wie soll jegliche Gewalt zu einem Mittel der Überzeugung werden?
Wenn man etwas als richtig erkannt hat. Wenn man denkt, die Rettung der Welt hängt davon ab – klopft der Fanatismus an die Tür. Dann hat man kein Verständnis mehr für menschliche Unzulänglichkeit. Ich kann mal ein Beispiel aus meiner Jugend erzählen. Mit fünfzehn war ich in einer Aktivistengruppe, die gegen Tierversuche kämpfte. Wir organisierten Demos, sammelten Unterschriften, Infomaterial zeigte Fotos mit diesen Affen, die ein Kästchen ins Gehirn implantiert hatten. Ich war so fokussiert auf dieses Tierleid, dass ich jeden einzelnen, der mit einem Schulterzucken vorbei ging, hasste. Bald hasste ich die Freundinnen, die sich gedankenlos Cremes ins Gesicht schmierten. Das Ziel war: Dieses Leid muss aufhören, sofort. Ein richtiges, ein ehrenwertes Anliegen. Aber von einem Teenager radikal absolut gesetzt. Und ist etwas absolut gesetzt, bleibt der Hass nicht aus. Der Drang, andere zu belehren, zu verurteilen, zu zwingen, die Illiberalität, die Diktatur letztlich, wenn politische Macht hinzukommt. Das Gegenteil von Absolut ist die Menschlichkeit. Die Erkenntnis, dass die menschliche Natur eben immer auch weich und inkonsequent ist, zum Glück.
Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang gerne noch ansprechen würde, ist die Frage nach dem selbstlos Guten. Gibt es das selbstlos Gute oder ist bei allem Guttun immer auch eine Form von Eigennutz im Spiel? Sich auf der richtigen Seite zu wähnen etwa. Sich zugehörig zu fühlen. Sich abzugrenzen. Das Bedürfnis, die Spielregeln zu bestimmen. Möglicherweise aber ist auch die Idee des selbstlos Guten schon wieder ziemlich radikal…
In Ihrem Roman steht der Satz „Das Schweigen war schlimmer als jede Wut.“ Dieser Satz traf wie viele andere wie ein Pfeil. In der Wut bricht wenigstens etwas auf. Und Wut kann aufbrechen. Schweigen zementiert. Und trotzdem verabscheuen wir Wut oft grundsätzlich. Warum?
6. Literaturblatt mit «Ausser sich» von Ursula Fricker
Ich würde hier unterscheiden zwischen Wut als Emotion und Gewalt. Aber ja, schon Wut gilt als negative Emotion. Dabei ist es zunächst einfach eine Emotion, wie Freude, Trauer. Alltäglich, unvermeidbar. Neben dem zerstörerischen Potential, birgt Wut aber vor allem eine sehr fokussierte Energie, die man eigentlich produktiv nutzen könnte. Offen ausagierte Wut suggeriert in unseren westlichen Gesellschaften tendenziell Hilflosigkeit, Schwäche, während Ruhe bewahren Stärke und Überlegenheit demonstriert. Formen emotionaler Erpressung wie Schweigen, Ignorieren, Liebe entziehen hingegen, erscheinen zunächst sanfter, sind „unsichtbar“, aber in ihrer Wirkung nachhaltiger und zerstörerischer als ein ordentlicher Wutausbruch, da sie eine existenzielle Bedrohung triggern: Ausschluss aus der Gemeinschaft.
So hat der schweigende Vater im Roman denn auch kein Interesse daran, die Situation zu entschärfen, im Gegenteil, ihm geht es um Erziehung. Darum, Kinder und Frau in den engen Grenzen seines kleinen Königreichs zu halten, und der Lernerfolg ist beachtlich: Anpassung, vorauseilender Gehorsam. Nur nichts tun, das den anderen verärgern könnte, wobei man perfiderweise darüber im Unklaren gelassen wird, was den andern verärgert, heute dies, morgen das.
Hannes Vater sieht sich als Opfer. Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers. Warum fällt es uns so schwer, an dem zu arbeiten, was uns stark macht?
Das ist eine gute Frage, sie zu beantworten aber etwas heikel. Ich versuche es mal. Eine Opferrolle kann sehr stark machen. Wer wagt es, ein Opfer in Frage zu stellen? Opfer bekommen Privilegien, die sonst in weiter Ferne lägen. Opfer produzieren schlechtes Gewissen bei anderen. Opfer sind Meister der Distinktion. Sie definieren, woran und worunter sie leiden. Sie schliessen ein und aus. Sie tendieren dazu, Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme auszunutzen. Und nicht selten finden sich Opfer plötzlich an der Spitze der Pyramide wieder.
Genauso verhält es sich mit der Figur des Vaters im Buch. Natürlich ist er tatsächlich ein Opfer, unter anderem seiner Klasse, seiner proletarisch-kleinbürgerlichen Herkunft. Nach und nach beginnt er unter der Prämisse „Gesundheit“, sich vermeintlich zu emanzipieren. Während er die Grenzen des Zumutbaren enger und enger fasst, produzieren unvermeidliche Übertretungen neue „Verletzungen“, neue Empfindlichkeiten – der Opferstatus wird also permanent bestätigt und macht eine Gegenwehr moralisch nahezu unmöglich. Irgendwann ist dann sogar das normale Leben eine Zumutung, die ganz normalen Bedürfnisse seiner Frau, seiner Kinder. Da ist die persönliche, an sich begrüssenswerte Emanzipation, längst zu einem ideologischen Projekt geworden.
Insofern, um auf Ihre Frage zurückzukommen, behindert sich jemand, der sich als Opfer definiert, vielleicht in seiner persönlichen Entwicklung, gewinnt aber, je nach Bereitschaft seines Umfelds, sensibel auf die Bedürfnisse von Opfern zu reagieren, an sozialem Status, sei es im Mikrokosmos Familie, sei es in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen.
Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Sie hat bisher vier Romane veröffentlicht. Auf ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004) folgten «Das letzte Bild» (2009), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis 2012, und «Lügen von gestern und heute» (2016). Mit «Gesund genug» war sie Finalistin des Alfred-Döblin-Preises 2021; für das Manuskript erhielt sie ein »Arbeitspaket«-Stipendium des Landes Brandenburg. Im Herbst 2022 wird sie mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen ausgezeichnet. Ursula Fricker lebt in der Märkischen Schweiz in der Nähe von Berlin.
Der Physiker Lew Mischenko wird während der Stalin-Ära für 14 Jahre in einensowjetrussischen Gulag verbannt, ein Straf- und Arbeitslager im kalten Norden Russlands, weg von seiner Frau, weg von seinem Leben. Jahrzehnte später fährt Lew zusammen mit dem Historiker Alexander noch einmal mit dem Zug an den Ort verlorenen Lebens.
In sowjetrussischen Gulags starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Bereits in den 70ern machte Alexander Solschenizyn mit Büchern auf das permanente Massaker in diesen Lagern aufmerksam. Was Stalin als Notwendigkeit in seinem Machtapparat zur Waffe gegen das eigene Volk machte, ist bis heute eine offene Wunde in der gemarterten russischen Seele. Obwohl „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und später „Archipel Gulag“ vom Alexander Solschenizyn millionenfach gelesen wurden und der Autor nicht zuletzt für seinen Kampf gegen Unrecht 1970 den Nobelpreis bekam, ist die Tatsache, dass ein ganzes Volk im tödlichen Würgegriff eines totalitären Machtapparats war, fast vergessen. Was in der Gegenwart passiert, müsste deutlich genug sein, dass Staaten, die sich eine einzig richtige Farbe auf ihr Banner schreiben, noch immer alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Folge davon war nicht zuletzt die faktische Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021. Das Nicht-Erinnern-Wollen wird zur staatlichen Maxime. Und wenn man sich erinnern will, dann an ein geschöntes, verklärtes Zerrbild der Vergangenheit. Nicht nur in Russland, auch in vielen anderen Staaten, nimmt man Menschen wegen Nichtigkeiten ihre Freiheit, reagiert man mit aller Härte gegen nicht uniformiertes Tun und Denken.
Lew, Tochter Anastasija (stehend), Swetlana und der Hund Primus. (Bild: Viktor Funk)
Der Schriftsteller Viktor Funk ist Historiker mit sowjetrussischen Wurzeln. In „Wir verstehen nicht, was geschieht“ erzählt der Autor die Geschichte des Physikers Lew Mischenko, den er in Moskau besucht. Lew ist alt und wohnt mit seinem ebenfalls alt gewordenen Hund allein in einer kleinen Wohnung. Seine Frau Swetlana, mit der er fast sein ganzes Leben teilte, wenn auch über ein Jahrzehnt unfreiwillig über tausende von Kilometern voneinander getrennt, musste Lew zu Grabe tragen. Was ihm geblieben ist, sind seine Erinnerungen, Swetlanas Briefe, ein paar zerfledderte Bücher aus seiner Zeit im Lager – und der Hund. Im Roman heisst der Historiker Alexander. Wohl darum, um dem Erzählen jene Distanz geben zu können, um sich nicht in Emotionen zu verlieren.
Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was passiert», Verbrecher, 2022, 156 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95732-536-5
Alexander will jene Menschen interviewen, die den Gulag überlebten. Was gab jenen Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in diesen Lagern aller Menschenwürde beraubt wurden, Hoffnung? Was gab ihnen Kraft, den inneren Kampf aufzunehmen? Wie konnte eine Liebe wie jene zwischen Lew im Lager und seiner Frau Swetlana in Moskau die Zeit der ungewissen Trennung überstehen? Wie kann ein Leben danach funktionieren? Lew empfängt den Historiker in seiner Wohnung, beginnt zu erzählen, etwas, das vielen mit einer Gulag-Vergangenheit auch nach Jahrzehnten schwer fällt.
Doch während der Tage in Moskau bittet Lew den jungen Historiker, ihn nach Petschora zu begleiten, eine Reise zu unternehmen an jenen Ort, der ihm ein grosses Stück seines Lebens nahm, auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Gleichsam überrumpelt wie neugierig geworden treten die beiden die lange Reise in den Norden mit dem Zug an, eine Reise weit weg und ganz nah, eine Reise durch die Gegenwart in die Vergangenheit, eine Reise an einen Ort, von dem Lew gar nie richtig weggekommen ist, eine Reise an einen Ort, an dem viele einen langsamen Tod erleiden mussten und der Physiker Lew nur deshalb überlebte, weil seine Fähigkeiten gefragt waren und Freundschaften hinter den Stacheldrähten ihn am Leben hielten.
„Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Reisebericht eines Historikers in eine eisig kalte Vergangenheit. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Liebesgeschichte zwischen Swetlana und Lew, die allem trotzte. Und „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Geschichte einer zarten Freundschaft zwischen einem jungen suchenden Historiker und einem alten Physiker, der in seinem Leben gefunden hat, wonach andere ewig suchen. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist unsäglich zärtlich geschrieben und von erschütternder Aktualität. Da versucht jemand zu verstehen, was geschieht, im Kleinen und im Grossen.
Das ehemalige Lagergefängnis des Petschor-Lager (Bild: Viktor Funk).
Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Viktor Funk arbeitet als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau. Sein erster Roman «Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich» erschien 2017. Er lebt in Frankfurt am Main.
10 AutorInnen aus der Schweiz; Dieter Boller, Gianna Olinda Cadonau, Marc Philippe Gallus, Corina Heinzmann, Rebecca Holzer, Agnes Weber, Alessandro Weiler, Stefan Wenger-Ledermann, Pascal Witschi und Katharina Wüthrich lasen aus ihren Texten und diskutieren über ihr Schreiben.
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Schreibkurse, Schreibschulen gibt es viele. Diskussionen darüber, ob „kreatives Schreiben“ erlernt werden kann werden zuweilen heftigst geführt. Auch wenn ihre Wirksamkeit umstritten ist, sind Schreibschulen, sei es eine Vollzeitschule wie das Schweizerische Literaturinstitut in Biel oder Schreibkurse wie das Schreibwerk Ost oder die SAL Zürich, Orte, an denen Schreibbegeisterte ihren Willen, ihre Energie fokussieren. Man will mit dem Schreiben und der Auseinandersetzung darüber Perspektiven öffnen, Techniken erlernen, Mut finden.
Literaturhäuser sind keine Elfenbeintürme, sondern Orte des Wortes, der Poesie, für Stimmen aller Couleur, für ein Publikum, das sich nicht allein mit dem Endprodukt „Buch“ auseinandersetzen will, sondern mit Prozessen, Auseinandersetzung.
Und weil solche Prozesse nie ein Ende finden, haben sich 10 AutorInnen aus allen Teilen der Schweiz in einem Kollektiv zusammengefunden, dass sich auch nach abgeschlossener Ausbildung immer wieder zum gegenseitigen Austausch trifft. Das Literaturhaus Thurgau ermöglichte es diesem Kollektiv, Auszüge aus ihrem Schaffen einem Publikum zu präsentieren. In drei Blöcken mit kurzen Diskussionen gaben AutorInnen mit ganz unterschiedlichen literarischen Absichten einen konzentrierten Einblick in ihr Schaffen. Während des Apéros im Anschluss bot sich auch für das Publikum Zeit, um auf das Gehörte zu reagieren, sowohl direkt durch Gespräche oder indirekt über Kommentare auf Plakate.
«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer
«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert
«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm